Goethe, Schiller oder das Antiklassische der Weimarer Klassik
- Johannes Bauer
- 11. Dez. 2018
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Okt. 2020

Mag Goethes Spätwerk auch Affinitäten zur Idee der Zweckimmanenz und der Teleologieproblematik in Kants Kritik der Urteilskraft oder zum Einheits- und Dynamikgedanken in Schellings Philosophie der Natur oder dessen Weltseele-Schrift aufweisen: das Unerhörte seines poetischen Ausdrucks gründet gerade in der Differenz zur philosophischen Argumentationslogik. So sperrt sich Goethes Spätwerk und sein "paradox Utopisches, das ebendeshalb in sonderlich entlegenen, seltsamen, durchaus nicht arrondierten Formen umgeht" (Ernst Bloch), schließlich auch gegen die Ordnung klassifizierender Eingemeindungsversuche. Zumal gegen jene exegetischen Trennungs- und Vereinigungsvarianten von Kunst und Leben, Natur und Geist, hellenischer Antike und christlicher Neuzeit, Orient und Okzident, die im dualen Schematismus hinter der Komplexität des Gedichteten zurückbleiben. Ebenso nichtssagend bleibt der Terminus des Manierierten, mit dem das Lakonische und Elliptische oder der Zug zur Didaxe in Goethes später Lyrik belegt werden. Eher wäre die Rede vom altersweisen Mystizismus in ein Verständnis für die Lust der Überschreitung im Spätstil des Dichters zu übersetzen. In ein Verständnis dafür also, wie die artistischen Wortinnovationen etwa im Westöstlichen Divan sich an der Verwertungsmentalität der vom Zeitkritiker Goethe als "Halbkultur" inkriminierten Ära des frühen Industrialismus und seinem kommunikativen Sprachverfall reiben; oder wie die Produktivkraft des poetischen Eros als Energie der Verwandlung die effizienzfixierte "Unrast" des bürgerlichen Lebens und seiner gedankenlos erstarrten „Schnelligkeit" (Goethe) provoziert. Und doch ist nicht zu übersehen, was die orphische Dichtung des späten Goethe, vornehmlich in ihrer Naturmetaphorik und ihren meteorologischen Gleichnissen, an Entdämonisierung, Beschwörung und Stilisierung aufbieten muss: gegen den Schmerz der eigenen Vergänglichkeit, der von keinem Versöhnungsgestus zu tilgen ist, selbst wenn Goethes letzte Transgressions- und Transsubjektivierungsfiguren in der Feier des erfüllten Augenblicks die Endlichkeit von Welt und Leben stoisch zu überwinden scheinen.
Goethes Motive des Wanderns und des Wanderers, angefangen von Wandrers Sturmlied bis hin zum wandernden Sarastro in der Fortsetzung des Zauberflötentextes und zum späten Roman der Wanderjahre, sind Figuren der Welterfahrung und der Gegenbewegung gegen die Gefahr der Erstarrung und des Sesshaften - und damit zugleich Charakterisierungen seiner Sprache: ihrer Verflüssigung, ihres Sich-Wandelns und Erneuerns im Zeichen des Proteischen, kurz: ihrer Wanderung in unbekannten Regionen, mögen Goethe im Unterschied zum romantischen Weltpanorama Zeitmessungen am ruhelosen Körper auch noch fremd sein. (Bemerkenswert, dass im Andante von Mozarts Sonate für Klavier und Violine A-Dur, KV 526, die Musik beinahe bis zum Schritt des exilierten Wanderers Schubertscher Prägung ausgreift.)
Der zeitgenössischen Kritik am Charakter des Marquis Posa und seiner scheinbar inkonsequenten dramaturgischen Entfaltung antworten Schillers Briefe über Don Carlos mit einer bisweilen gnadenlosen Entzauberung seines Protagonisten. Sie dürfte das Klischee vom hohlen Ton des poetischen Idealismus gründlich stören. Verfolgt doch Schiller trotz der Verteidigung Posas und der Rechtfertigung seiner als unmotiviert beanstandeten Intrigen- und Opferlogik die Kollisionsspur von "Tugend und Weltlauf" in psychologischen Grenzgängen, die Kants ethische Physiognomie auf die Maske Robespierres hin durchlässig werden lassen. Daß Autonomie in Autismus umschlagen kann, wird ebenso unerbittlich analysiert wie die Allianz zwischen dem Rigorismus des Ideals und der despotischen Praxis seiner Einlösung.
Wie verhalten sich nun aber Pathos und Ethos zur moralischen Autonomie der dramatis personae des Don Carlos, gemessen an der Adaption der Kantischen Analytik des Erhabenen in Schillers Konzeption des Tragischen; wie vermittelt sich das Wechselspiel von "Tugend", "Schwärmerei", "Liebe" und "Leidenschaft" zur Ökonomie der Affekte und zur tragischen Ironie des Don Carlos? Kann sich der Organismus des Dramas noch gegen die Prosa der Intrigenmaschinerie und deren gesellschaftliche Gewaltspur behaupten? Wird die Spannungsquadratur des Don Carlos zwischen Können, Sollen, Müssen und Dürfen nicht schon a priori auf der Basis einer moralischen Nötigung im Namen der Noumenon-Phaenomenon-Dichotomie Kants entworfen? Findet sich womöglich das "Reich des Nichts und des Todes", das Hegel der Wallenstein-Trilogie attestiert, bereits im Don Carlos? Fragen über Fragen also.
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