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  • Johannes Bauer, Rhizom - Ein Beschreibungsmodell Neuer Musik?

    Rhizom Ein Beschreibungsmodell Neuer Musik? ​ Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten. Der Formenkreis des Rhizoms: ein zeitrelevantes Reflexionsniveau? Oder lediglich ein modisches Begriffsmobiliar, das sich innerhalb verschiedenster Theorie-Ressorts beliebig einsetzen und verschieben lässt? Offensichtlich ist jedenfalls, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Liegt also womöglich in der Affinität zwischen Musik und Philosophie die Eignung der Rhizom-Theorie, zeitgenössisches Komponieren modellhaft zu beschreiben? RHIZOM Ein Beschreibungsmodell Neuer Musik? Von Johannes Bauer (DeutschlandRadio Berlin, 2002) ​ Bspl. 1: Claus-Steffen Mahnkopf, Rhizom [Tr. 5, bei 11´01´´(aufbl.)–13´20´´; ab 11´45´´ Textbeginn][2´19´´] Rhizom : ein Klavierstück von Claus-Steffen Mahnkopf. Dazu notiert der Komponist: »Ursprüngliche Idee für Rhizom war, die Polyphonie derart voranzutreiben, dass aufgrund der Ausdifferenzierung der beteiligten Ereignisschichten (in diesem Falle: 13) der Hörer eine in sich schizophrenisierte Gleichzeitigkeit nicht nur von Verschiedenem, sondern von verschiedenen Zeitebenen mit divergierenden Ereigniskomplexen vernimmt. [...] Unter komplexer Polyphonie verstehe ich, dass gleichzeitig [...] völlig Gegensätzliches, mitunter Überlappendes, netzwerkartig Verknüpftes mit mehr unterirdischen Verweisungszusammenhängen in eine Werktotalität gebannt ist [...]. Es obliegt letztlich dem Hörer, den jeweils eigenen, höchst individuellen Weg durchs Labyrinth zu finden«. Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten. Der Formenkreis des Rhizoms – ein zeitrelevantes Reflexionsniveau? Oder lediglich ein modisches Begriffsmobiliar, das sich innerhalb einzelner Theorie-Ressorts beliebig einsetzen und verschieben lässt? Offensichtlich ist jedenfalls, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Möglich, dass sich gerade aufgrund dieser Affinität zwischen Musik und Philosophie die Rhizom-Theorie zu einem Beschreibungsmodell zeitgenössischen Komponierens eignet. Was macht nun die Eigenschaften eines Rhizoms aus? Deleuze/Guattari geben sechs Charakteristika an: »1. das Prinzip der Konnexion, 2. das Prinzip der Heterogenität, 3. das Prinzip der Vielheit, 4. das Prinzip des asignifikanten Bruchs, 5. und 6. das Prinzip der Kartografie und des Abziehbildes«. Ästhetisch interessant sind vor allem die ersten vier Prinzipien, zumal die der Konnexion und der Heterogenität, zu denen es im Rhizom-Text heißt: »Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nichtsignifikante Zustände.« Rhizom: das bedeutet demnach ein Ernstnehmen von Dynamik und Verflüssigung. Das Ernstnehmen einer Dynamik, die keine Fixa und qua Macht separierten Bereiche zulässt. Frei von einer mittelpunktszentrierten Ordnung und ihrer hierarchischen Vermittlungsregie verwandelt das Rhizom Strukturgefälle in transversale Netzwerke. Unbekümmert um Brüche und Widersprüche und interessiert an universellen Verknüpfungen unterwandert das Rhizom Territorien und bricht sie auf, indem es die Details wuchern und sich verästeln lässt. So wie die musikalische Textur rhizomatisch zu wuchern beginnt. Bei Boulez etwa, den Deleuze/Guattari des Öfteren als Zeugen ins Spiel bringen. Wurde nicht für Boulez die Methode der Wucherung so bedeutsam, dass der Komponist selbst mehrmals von seinem »angeborenen Sinn« für die »Wucherung der Materialien« sprach? »Für mich [ist] die Wucherung wichtig. Die Ideen gehen mir so lange nicht aus dem Sinn, bis ich diese Wucherung voll ausgeschöpft habe.« »Wenn ich eine musikalische Idee vor mir habe oder wenn ich einem von mir erfundenen Text einen bestimmten musikalischen Ausdruck geben möchte, so entdecke ich in diesem Text [...] immer mehr Möglichkeiten, ihn zu variieren, zu transformieren, zu erweitern, anzureichern. Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samenkorn: man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. [...] Ich weiß, dass die Tendenz zur Wucherung gefährlich ist, weil sie zur immer gleichen Dichte führen kann, zu einer größten Dichte, einer höchsten Spannung oder einer äußersten Variierung in jedem Augenblick. [...] So weisen etwa »die beiden Sätze des Livre pour quatuor à cordes, die zu einem Livre pour orchestre à cordes geworden sind, eine derartige Wucherung, eine derartige Überfülle von Ideen auf«. Bspl. 2: Pierre Boulez, Livre pour orchestre à cordes [Tr. 7, 2´12´´–3´58´´][1´46´´] Einen der Formanten seiner Dritten Klaviersonate überschreibt Boulez mit »Konstellation«. Bezeichnend dabei die Nähe zu Mallarmés Livre-Projekt und zur ›Konzeption des offenen und umfangreichen Buchs‹, bei dem »die Entwicklungen immer komplexer werden, je mehr das Buch anschwillt«. »Die Entwicklungen verdichten und vermehren sich und werden zu Tropen, welche Tropen aufgepfropft sind, welche ihrerseits wiederum Tropen aufgepfropft sind, so dass es zu unterschiedlichen Graden von strukturellem Reichtum kommt. Diese Häufung, die von einem sehr einfachen Tatbestand ausgeht und zu einer chaotischen Situation führt, weil sie durch ein Material erzeugt ist, das um sich selbst kreist und zu solcher Komplexität anwächst, dass es alle individuellen Züge verliert und Teil eines ungeheuren Chaos wird – das ist ein für mich sehr bezeichnender Vorgang.« [...] »Das Geheimnis eines Werkes besteht gerade in der Polyvalenz seiner Leseebenen. [...] Für mich muss ein Werk wie ein Labyrinth sein, man muss sich darin verlieren können«. Das »Prinzip des Tropus«, der Wucherung und der »weitläufigen Variation« hat Boulez vor allem in der Dritten Klaviersonate eingesetzt. Wobei das Prinzip darin besteht, »dass man einen ziemlich einfachen Text nimmt und ihn wuchern lässt, indem man bestimmte Elemente sagen wir vom Typ A, in Parallele setzt zu Elementen vom Typ B, und sie durch diese B-Elemente beeinflusst, variiert und erweitert«. Bspl. 3: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano [Tr. 7, 2´30´´–4´13´´][1´43´´] Für Boulez war die Auseinandersetzung mit Mallarmé eine Art künstlerischer Wahlverwandtschaft. Neben der Auseinandersetzung mit dem Livre-Projekt vor allem auch die mit Mallarmés Coup de dés von 1897 und dessen polyvalent gestreuter Syntax. Eine Streuung um der Vielfalt der Konstellation willen, die die eindimensionale Leserichtung zur »vision simultanée de la Page« weitet. Damit zielt Mallarmés Traum vom »œuvre pure« auf das »sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überlässt«, und auf den Vorrang des geformten Materials: Eine Intention jenseits der »persönlich-enthusiastischen Satzführung« und eine Intention, die die auktoriale Regie des Autors bricht. Bei Boulez liest sich das so: »Die Form erlangt ihre Autonomie, sie strebt nach einer Absolutheit, die sie vorher nie gekannt hat, sie weist das Eindringen von rein persönlichen Zufälligkeiten ab. Die großen Werke, auf die ich mich bezogen habe – Mallarmé, Joyce – stellen die Grundgedanken einer Epoche heraus: der Text wird dort gewissermaßen ›anonym‹, ›spricht aus sich selbst, ohne die Stimme des Autors‹. Gälte es, den tiefsten Beweggrund aufzuspüren für das Werk, das zu schreiben ich versucht habe, so läge er im Streben nach solcher ›Anonymität‹.« Nicht anders argumentieren Deleuze/Guattari im Rhizom-Text: »Ein Buch hat weder Objekt noch Subjekt, es ist aus den verschiedensten Materialien gemacht, aus ganz unterschiedlichen Daten und Geschwindigkeiten. Sobald man das Buch einem Subjekt zuschreibt, vernachlässigt man die Arbeit der Materialien [...]. Nur wenn das Viele als Substantiv, als Vielheit behandelt wird, hat es keine Beziehung mehr zum Einen als Subjekt und Objekt, als Natur und Geist, als Bild und Welt.« Veraltet, zurückgeblieben das Ideal des aristotelischen Werkorganismus und seines ehernen Zusammenhangs zwischen dem Ganzen und seinen Teilen: Eines Zusammenhangs, dessen geringste Störung den Sinn kollabieren lässt. Vorbei die »organische Innerlichkeit«, in der »jede Schicht signifikant und subjektiv« ist. Stattdessen kann entsprechend dem Modell des »asignifikanten Bruchs« »ein Rhizom [...] an beliebiger Stelle gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seinen eigenen oder anderen Linien weiter.« Vorbei das unabdingbare Bündnis zwischen der gewissenhaften Durchkonstruktion des Werks und dem schöpferischen Wissen und Gewissen, gerade damit der Repräsentanz von Welt und Zeit im Werk zu genügen. Eine Zeit, in der es musikalisch weit mehr um strukturelle Faltungen und Dehnungen von Mikrovarianten geht als um Kollisionsdramatik und Ecce-homo-Pathos; weit mehr um die Grenzgänge zwischen Chaos und Ordnung als um die Beschwörung trivialisierter Subjekt- und Weltlegenden – eine solche Zeit lässt auch das Ideal des geschlossenen Werks nicht unberührt: als Kritik an einem ebenso hehren wie statischen Refugium der Kunst inmitten der Prosa des gesellschaftlichen Vermittlungsgetriebes und seiner Vernetzungsenergien. Das Werk »hat aufgehört, ein Mikrokosmos nach klassischer und abendländischer Art zu sein. [Es] ist kein Bild der Welt [mehr] und noch viel weniger Signifikant. Es ist nicht schöne organische Totalität, auch nicht mehr Einheit des Sinns.« Erinnern diese Ausführungen Deleuzes/Guattaris nicht an das Verfahren der variablen Form in der Neuen Musik? Daran also, dass Zeit nicht mehr als absolute Einheit und in gleicher Weise allen Ereignisse vorgegeben ist? Auch ästhetisch ist der newtonsche Zeitcontainer brüchig geworden. Und damit die Vorstellung von der Schicksalsmacht Zeit und ihrer Verinnerlichung als kausales Regime. Gegen den formdogmatischen »Triumph der Zeit« kommt von nun an zunehmend die Praxis von »Verantwortung und Freiheit« zum Tragen, wie sie eben variable oder vieldeutige Formen verlangen, deren Interpretation nicht nur eine einzige Lösung zulässt, sondern verschieden viele, die »gleich gültig« sind. Wobei die Auswahlkriterien der Interpreten samt ihren Auswirkungen auf den Formverlauf zum Bestandteil des Werks werden. So wie im »Konstellation«-Formant der Dritten Klaviersonate von Boulez »gewisse Richtungen obligatorisch sind, andere fakultativ«. »In gewisser Weise ähnelt diese Konstellation dem Plan einer unbekannten Stadt«. »Die Marschroute bleibt der Initiative des Interpreten anheim gestellt«. ​ Bspl. 4: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano [Tr. 7, 9´43´´–11´27´´][1´44´´] ​ Eine Form, »die ebenso fixiert wie beweglich ist«, mit dem Resultat jeweils individueller Fassungen, hat nur noch wenig mit einem Organismus-Modell zu tun, in dem jedes Detail unverrückbar durch die »Idee des Ganzen« bestimmt ist. Von solchen Ganzheitsfantasien hat sich die Neue Musik vor allem der variablen Formen weitgehend verabschiedet. In ihren Rhizomen können Teile wegbrechen, umgruppiert werden oder verschwinden, unhörbar, unspielbar bleiben, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten Gesprengt wird die Einheitszeit des geschlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt. Und wenn die Vielfalt variabler Formen zur hintersinnigen Anspielung auf die Veränderbarkeit von Ordnungen und Systemen wird, erinnert auch das an die antihierarchische Schubkraft des Rhizoms, wie Deleuze/Guattari sie verstehen. Und noch etwas: mit der Detonation des geschlossenen Werks kann sich Musik neben dem Unhörbaren und Unspielbaren endlich auch dem vormals Kunstfremden von Geräusch, Lärm oder Rauschen öffnen. Nach Art eines Fadings etwa, eines subtilen Ein- und Ausfädelns von Kunst und Empirie wie in Peter Ablingers Quadraturen IV ; »Selbstporträt mit Berlin«. Bspl. 5: Peter Ablinger, Quadraturen IV (»Selbstporträt mit Berlin«) [Tr. 7, 0´00´´–2´31´´][2´31´´] Ausgeklügelte kompositorische Programme auf der Basis moderner Naturwissenschaften oder neuester philosophischer Theorien garantieren nicht schon a priori ästhetisches Niveau. Sie verlangen zunächst ihre werkspezifische Umsetzung und Einlösung. Und dass die »Verwendung einer bestimmten noch so ›fortgeschrittenen‹ Technik über den ästhetischen Wert des Kunstwerks nicht das Geringste besagt«, fiel schon Max Weber auf. Es wäre ein Kurzschluss, Komplexität ausnahmslos als Hochrüstung und Anhäufung technischer Mittel und struktureller Techniken zu verstehen. Wie sehr die umstandslose Höherwertung einer an logischer Komplexität orientierten musikalischen Ereignisfülle gegenüber einer als Ereignisleere missverstandenen anderen, zweiten Komplexität in die Irre geht, zeigen Konzeptionen, die das Thema Komplexität differenzierter begreifen. Nämlich nicht nur als eine minutiös und ereignisdicht durchgearbeitete, subjektgesteuerte Werkfaktur, also als Positiv einer komplexen Welt; sondern ebenso als eine Komplexität, die komplex ist gerade aufgrund ihrer selbstreflexiven Zurücknahme – im Bruch, in der Zäsur, im Zero: also als Negativ einer übermächtigen Sinnpräsenz der Signale. Erinnern wir uns: »Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nichtsignifikante Zustände.« »Nichtsignifikante Zustände« also. Das Rhizom musikalisch – wie so oft – ausschließlich mit Komplexität in Verbindung zu bringen, wäre zu kurz gegriffen. Zum Rhizom gehören nicht weniger die Leerstellen und Wüsten des Sinns, die Risse in der Textur der Zeichen, die die Ordnung der Signale in ein anonymes Pulsieren fallen lassen. Lücken und Löcher, die als Vergrößerungen des »asignifikanten Bruchs« alles andere als sinnlos sind. Musik wird hier – vergleichbar der monochromen Malerei eines Ives Klein – zum Detektor nahezu unhörbarer, leicht überhörbarer Kräfte und Intensitäten. So in John Duncans NAV-flex , realisiert vom Zeitkratzer-Ensemble: Bspl. 6: John Duncan, NAV-flex [Tr. 1, 2´00´´(aufbl.)–4´20´´(ab 4´15´´ausbl.)][2´20´´] Zäsuren in die übermächtige Sinnpräsenz der Signale treiben: Das leisten auch Verfahren, die die Sprache rhizomatisieren. Verfahren, die die Syntax zum Bersten, zum Stottern bringen und im Zero des Sinns aufgehen lassen. In der Klang- und Lautspur zerfällt der Signifikanz- und Sinnprimat der Sprache und mit ihm ein Stück Realitätsprinzip, das sich im Zwangscharakter der Sprache verschanzt. Ein Dekomponieren, das wie in Cages Mesostics zugleich die unterdrückten physiologischen, phonetischen, gestischen und vieldeutigen Aspekte der Sprache freisetzt, Sprache somit auch jenseits ihres logischen Korsetts denkbar werden lässt. Für Deleuze/Guattari heißt »die Sprache mit einer rhizomatischen Methode analysieren«, »sie auf andere Dimensionen und andere Register hin zu dezentrieren. [Denn] nur als Funktion von Entmachtung zieht sich eine Sprache auf sich selbst zurück.« ​ Bspl. 7: John Cage, Sixty-two mesostics Re Merce Cunningham [Tr. 5, 5´56´´–6´59´´][1´03´´] ​ Rhizom: das bedeutet offene, »nicht zentrierte Systeme«, frei von der Synchronisierung und Organisation durch eine »zentrale Instanz«. Gerichtet gegen die Kommandobäume der Macht wie gegen die ödipalen Strukturen selbst noch der Kunst, und seien es die der geschlossenen Form und ihres Gesetzescharakters. Dazu Deleuze/Guattari: »Was wir in einem Buch [respektive in einem Werk] suchen, ist die Art, wie es etwas durchgehen lässt, was den Codes entkommt: Ströme, aktive revolutionäre Fluchtlinien, Linien der absoluten Decodierung, die sich der Kultur widersetzen.« Entscheidend bleibt der Impuls gegen die ständige Wertung nach Wichtigem und Unwichtigem, nach Richtigem und Falschem, welche die an den Baum, die an den Erkenntnisbaum gebundene Scheidung von Gut und Böse aufnimmt, um dualistische Urteilsmoral und binäre Logik mit dem Effekt eines universalen Sinngenerators einzusetzen. »Die binäre Logik aber«, so Deleuze/Guattari, »ist die geistige Realität des Wurzelbaums«, ›verhaftet dem klassischen Denken‹. Einem Denken, das »die Vielheit nie begriffen hat: es muss von einer starken, vorgängigen Einheit ausgehen, um zu zwei zu kommen«. Es ist deshalb notwendig, »über korrigierende Denkweisen zu verfügen, um die Dualismen aufzulösen«. Natürlich setzt das Modell vom Rhizom das Ende jener göttlichen Regie voraus, die als absolute Identität den Grund aller Dinge und Ereignisse geliefert hatte. Erst mit der Zersplitterung der absoluten, göttlichen Zeit Newtons in die Eigenzeiten der Relativitätstheorie kann schließlich die Faszination am Chaos aufkommen: Als »Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos« und als Überlagerung »heterogener Bewegungsabläufe«. ​ Bspl. 8: György Ligeti, San Francisco Polyphony [Tr. 5, 8´35´´(aufbl.)–10´25´´][1´50´´] ​ Ligetis San Francisco Polyphony : In ihr wird Zeit zum Energiegefüge, in eins erzeugt und aufgesaugt von den Zentripetal- und Zentrifugalkräften divergierender Kraftlinien. Vergleichbar jener Verschränkung von De- und Reterritorialisierung, auf die das Rhizommodell Deleuzes/Guattaris so großen Wert legt: »Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet usw.; aber auch Deterritorialisierungslinien, auf denen es unaufhaltsam flieht. Jedes Mal, wenn segmentäre Linien in eine Fluchtlinie explodieren, gibt es Bruch im Rhizom, aber die Fluchtlinie ist selbst Teil des Rhizoms. Diese Linien verweisen ununterbrochen aufeinander.« Auch in Isabel Mundrys Streichquartett no one entwickeln die vier Stimmen mit je eigener Taktierung eine zugleich deterritorialisierende wie reterritorialisierende Verzeitlichung unterschiedlicher Eigenzeiten. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: asynchrone Zeitverläufe einer mehrdimensionalen Zeitlichkeit. Ein Rhizom à quatre mit Überlagerungen, Verschränkungen und Abweichungen, die sich dem Zufälligen der »Ereignisse« öffnen. Polyphonie als Polychronie unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen in einem Streichquartett, so könnten Deleuze/Guattari formulieren, mit »Linien der Artikulation oder Segmentierung, Schichten und Territorialitäten; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung. Entsprechend diesen Linien gibt es Fließgeschwindigkeiten, mit denen Phänomene relativer Verzögerung und Zähigkeit oder im Gegenteil, der Überstürzung und des Abbruchs einhergehen.« Die Komponistin selbst gebraucht das Bild von vier Reisenden, die vom Centre Pompidou zum Eiffelturm gehen, zwar alle die Seine überqueren, alle durch St. Germain müssen, aber verschiedene Wege und Tempi wählen, sich gelegentlich treffen, einige Schritte gemeinsam gehen, sich dann wieder trennen. Bspl. 9: Isabel Mundry, no one [Tr. 2, 0´03´´–3´50´´(ab 3´40´´ausbl.)][3´50´´] Anregungen für ihr Streichquartett gewann Mundry vor allem auch aus der Begegnung mit zentralafrikanischen Webmustern. »Diese Muster sind ein ganzer Organismus von variativen Prozessen, ein Spiel mit Form und Farbe nach dem einfachen Prinzip, manches zu belassen, manches zu verändern, unter Beibehaltung gliedernder Elemente – das Auge kommt hier nie an ein Ende.« Auch bei Mundry finden sich also die Begriffe von Texturen und Mustern, die in den Beschreibungsmodellen Neuer Musik so häufig kursieren. Begriffe, die auf Mikrobereiche zielen, darauf, dass es der Neuen Musik weit mehr um rhizomatische Verknüpfungen und Auflösungen geht als um Drama und Tragik. Auch Cage greift etwa für Sixty-eight mit der Figur des »audible cloth« bewusst die Metapher vom Komponierten als Stoff und Gewebe auf. Nicht anders flechten die Klangfäden seiner späten Zahlenstücke Musik regelrecht zum »hörbaren Stoff«. Organisiert über flexible oder fixe »time brackets«, mit dem »brushing in and out« der Töne in die und aus der Zeit, distanzieren sich solche Gespinste entschieden vom Koordinationsgitter rhythmischer Zeitskandierung: Ein absichtsloses Fließen, das die Fluktuationen der »number pieces« ohne dramaturgische Vektoren zwischen den Graden von Dichte und Transparenz wuchern lässt. Bspl. 10: John Cage, Sixty-eight [Tr. 1, 2´38´´–4´38´´][2´00´´] Cages Sixty-eight : ein azentrisches Zeichengewebe der Trennungen und Bündnisse; ein Text, eine Textur, ein Rhizom, das den Synthesisanspruch des ästhetischen Subjekts als zentrale Sinnmacht absurd und vermessen zugleich erscheinen lässt. Mehr noch, um Roland Barthes zu zitieren: »Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, dass der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.« Rhizom bedeutet demnach auch eine grundlegende Änderung der Wahrnehmung: So wie Neue Musik nach der Demontage des Kausalitäts- und Homogenitätsfilters zuweilen wie ein Sieb wirkt, das die Vorstellung kompakter Realität pulverisiert. Darin vergleichbar der modernen Fuzzylogic, jener krausen und haarigen Logik der feineren Zwischenwerte, die den Baum der zweiwertigen Logik auflöst und überwuchert: Rhizomhaft zwischen den Kategorien changierend. Denn das Rhizom »lässt sich weder auf das Eine noch auf das Viele zurückführen. Es ist nicht das Eine, das zwei wird, auch nicht das Eine, das direkt drei, vier, fünf. etc. wird. Es ist weder das Viele, das vom Einen abgeleitet wird, noch jenes Viele, zu dem das Eine hinzugefügt wird (n+1). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen. Ohne Subjekt und Objekt bildet es lineare Vielheiten mit n Dimensionen«. Natürlich bedingt die rhizomatische Entgrenzung auch einen Umbruch hochbetagter Text- und Zeichenarmaturen mitsamt der theologisch-teleologischen Sinnmatrix von Schrift und Notation. Einen Umbruch, der die diachrone Vermittlungshierarchie und ihre Verbildlichung im Schema von Lineatur und Blocksatz grafisch auf eine neue Wahrnehmungssemiotik hin überschreitet. Ist es doch nach Deleuze/Guattari »nicht leicht, die Dinge von ihrer Mitte her wahrzunehmen und nicht von oben nach unten, von links nach rechts oder umgekehrt: versucht es und ihr werdet sehen, dass alles sich ändert.« Mallarmés Coup de dés soll deshalb keineswegs Literatur bleiben. Könnten nicht variable Typographien den Parcours herkömmlicher Schriftökonomie unterminieren und damit die Bastion eines Textkörpers, der Blick und Denken im Gitter der Lineatur gefangen hält? Dazu der Rhizom-Text weiter: »In zentrierten [...] Systemen herrschen hierarchische Kommunikation und von vornherein festgelegte Verbindungen; dagegen ist das Rhizom ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General [und] ohne organisierendes Gedächtnis [...]; es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert«. Der Zeilenprogress als Zeremonienmeister des Gedankens, sein linear befangenes Gedächtnis und der Zwang syntaktischer Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien: Vielleicht muss all dies zum Teil aus der Verinnerlichung kommerzieller und bürokratischer Konstanten erklärt werden. Um diese auch für die musikalische Diachronie bestimmenden Konstan­ten zu sprengen, setzt schon Cage auf eine Transformation des Noten­textes, um die »Gutenberg-Galaxis« auch der Musik hinter sich zu lassen. So demonstrieren die rhizomatischen Notationen im Solopart des Klavier­konzerts bildhaft und befreiend, was noch Nietzsche als den Fall der Mo­derne ins Bodenlose dramatisiert hatte – unter Aufhebung aller Rich­tungskonstanten: »Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?« Cages Graphismen freilich unterlaufen das Sinngebot herkömmlicher Notation mit experimenteller Lust: das Sinngebot des Linearen und mit ihm jene Instanzen des Früher und Später, des Ersten und Folgenden, die Nietzsche als Regulative einer Verschwisterung von Zeit und Moral ausgemacht hatte. Bspl. 11: John Cage, Concert for Piano and Orchestra [Tr. 1, 4´33´´–7´31´´][2´58´´] Rhizom: das entspricht in der Neuen Musik auch der Abkehr von zielgerichteten Formationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln. Stattdessen: Zeitnetze, Zeitgitter, Zeitlabyrinthe. Offen, ausschnitthaft, unabgeschlossen, mit einer Fülle an Zwischenwerten. Eine akausale Energetik der Musik, an der das Hörbewusstsein kausalorientierter Sinnbezüge abgleitet. Ein Geflecht, ein Gewebe der Momente und Mikroprozesse samt ihren individuellen Eigenzeiten. Rhizom, Netz, Gewebe: Etwas davon trifft wohl für jedes Komponieren und jedes Werk der Neuen Musik zu. Programmatisch jedenfalls für Iannis Xenakis' Komposition Aroura , in der es explizit um »Klanggewebe« geht; um »Gewebe« als »primäre Elemente«, wie der Komponist erläutert: »Innere Teile werden genügend oft wiederholt, um ein Gefühl von Gewebe zu schaffen. [...] Wir sehen uns daher einer Substanz, einem Gewebe gegenüber – viel verzweigter und komplizierter als die Phänomene, woraus sie bestehen; [...] Von diesem Punkt ausgehend, kann man immer weitreichendere Gewebe im Entstehen beobachten und zwar aus den Geweben, die sich auf der vorhergehenden Ebene zusammensetzten. [...] Daher entstehen aufeinander folgende, in sich greifende Lagen [...] von vielen sukzessiven oder einander folgenden Strata, entweder der Zeit gehorchend oder unabhängig von ihr«. Und wo bleibt in dieser Textur, in diesem Netz die kompositorische Instanz? – Zitieren wir als eine der möglichen Antworten nochmals Deleuze. Auch er insistiert wie Roland Barthes immer wieder auf dem Bild von Netz und Spinne. Etwa bei der Analyse von Prousts Recherche, die »weder wie eine Kathedrale noch wie ein Kleid geformt« ist, »sondern wie ein Netz«. Wo bleibt also nun die kompositorische Instanz, der Autor des Werks? Zu ihm, dem Autor als »Spinnenerzähler«, lesen wir bei Deleuze nach Art einer gut rhizomatischen Symbiose: »Der Spinnenerzähler, dessen Netz selbst die Recherche im Laufe ihres Entstehens ist«: zu diesem Spinnenerzähler ist nichts weiter zu sagen, als dass »Netz und Spinne [...] ein und dieselbe Maschine sind«. Bspl. 12: Iannis Xenakis, Aroura [LP, S. 1, Tr. 2, 1´20´´-Ausschnitt][1´20´´] ​ Musikbeispiele ​ Dauer ​ Bspl. 1: Claus-Steffen Mahnkopf, Rhizom (Baldreit-Edition 1995) 2´19´´ ​Bspl. 2: Pierre Boulez, Livre pour orchestre a' cordes (SONY SMK 68 335) 1´46´´ ​Bspl. 3: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano (ASTREE E-AUVIDIS 7716) 1´43´´ ​Bspl. 4: Pierre Boulez, Troisième Sonate pour Piano (ASTREE E-AUVIDIS 7716) 1´44´´ ​Bspl. 5: Peter Ablinger, Quadraturen IV (»Selbstporträt mit Berlin«) (KAIROS 0012192KAI) 2´31´´ ​Bspl. 6: John Duncan, NAV-flex (Zeitkratzer 2002 zkr AQ 03) 2´20´´ ​Bspl. 7: John Cage, Sixty-two mesostics Re Merce Cunningham (CRAMPS RECORDS CRS CD 101) 1´03´´ ​Bspl. 8: György Ligeti, San Francisco Polyphony (WERGO WER 6906-2) 1´50´´ ​Bspl. 9: Isabel Mundry, no one (WERGO WER 6542-2) 3´50´´ ​Bspl. 10: John Cage, Sixty-Eight (hatART CD 6168) 2´00´´ ​Bspl. 11: John Cage, Concert for Piano and Orchestra (WERGO WER 6216-2) 2´58´´ ​Bspl. 12: Iannis Xenakis, Aroura (DECCA 6.42286 AW) 1´00´´ ​ ​

  • Johannes Bauer, Ästhetische Facetten Neuer Musik

    Experiment, Engagement, Ereignis Ästhetische Facetten Neuer Musik Bayerischer Rundfunk (2010) Bspl. 1: Morton Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 0´03–0´59 (ab 0´40 ausbl.)] [0´59] Neue Musik und Experiment, Neue Musik als Experiment - eine Paarung der Begriffe, die mittlerweile zur stehenden Redewendung geworden ist. Doch was heißt hier Experiment? Womit experimentiert Neue Musik und vor allem mit welchem Ziel, falls es denn überhaupt ein Ziel gibt? Zumeist sind unsere Vorstellungen vom Status des Experiments inmitten einer na­turwissenschaftlich beherrschten Theorie und Praxis so verengt, dass über all den methodi­schen Versuchsreihen und den im Labor gewonnenen Resultaten das Leben selbst in Verges­senheit gerät: eine Realität mithin, die im Bedeutungsfeld des Experiments von Anfang an eine entscheidende Rolle spielt. Hebt doch schon der griechisch-lateinische Sprachhorizont mit seiner Verwandtschaft zwischen Experiment und Empirie, zwischen „peira“ (πεῖρα) und „periculum“, zwischen „Wagnis“ und „Gefahr“ also, auf das Leben als einen riskanten Versuch ab. Es ist der Sprung aus dem Vertrauten und Gewohnten ins Ungewohnte, Unvertraute, der als eine Schule der Erfahrung die vitale Dimension des Experiments ausmacht. Ungewohntes, Unvertrautes als Spur einer jeden Lebensfahrt und Lebenserfahrung also, grundiert von Wagnis und Gefahr. Wie steht es nun mit dieser Zone des Ungewohnten und Unvertrauten im Bereich einer Musik, die John Cage als eine „Art Versuchslabor“ beschreibt, in dem man „das Leben ausprobiert“? Und was hat das Experiment Neuer Musik mit jenem Pakt von Kunst und Leben zu tun, auf den Cage rekurriert? Leben basiert auf Konventionen und seit langem schon auf der Konvention einer zielorientierten Logik, die nicht nur jeden Aussagesatz auf die Effizienz eines folgerichtigen Urteils verpflichtet, sondern mittlerweile auch eine globale Praxis der Arbeit, der Verwer­tung und der Rendite in Gang hält. Erst im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts wurde den sensibleren Autoren in Kunst und Philosophie fragwürdig, welche Ausschlussverfahren diese Logik der Schlüsse und des Schlüssigen produziert und über ihre Ideale der Eindeutigkeit und der Richtigkeit, der Praktikabilität und der Zurichtung stabilisiert. Das besagt freilich nicht, wir sollten unsere Lebenspraxis in einen Taumel verrückter Diskurse auflösen. Dennoch lässt die Verunsicherung unserer logischen Ausrüstung erahnen, wie sehr uns unsere Norm zu denken und zu sprechen als absolut und unveränderlich gilt, gleichwohl sie doch ihrer Geltung nach überwiegend auf Übereinkunft und Einvernehmen gründet. Mit einer ebenso subtilen wie radikalen Leidenschaft hinterfragen längst auch zahlreiche Experimente Neuer Musik unsere herkömmlichen Denk- und Sprachmuster. Die experimentelle Sonde zeitgenössischen Komponierens will erkunden und uns kundig machen, wie achtlos, wie schnell und zäh die Instrumentarien von „Grammatik und Logik“, so der Philosoph Michel Serres, sich eine geschlossene „Welt schaffen, in der sie recht haben“. Auch in der Musik der Gegenwart geht es deswegen um Unterhöhlungen unserer immer noch und nahezu ausnahmslos zweiwertigen Logik, deren moralisches Fundament von gut und böse unser Denken und Handeln allzu oft vergröbert und militant aufrüstet. Bspl. 2: Karin Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–2´45 (ab 2´30 ausbl.)] [2´07] Was sind das für Töne, die uns Karin Rehnqvists Komposition Davids Nimm für drei Frau­enstimmen hier zumutet? Klingen sie nicht - bis auf wenige folkloristische Splitter - wie eine gegen die Zeit gebürstete Musik? Und tatsächlich: Rehnqvist notiert hier das Original eines schwedischen Volkslieds rückläufig, von seinem Ende her. Auch wenn dieses Rückwärtsnotat seitens der Komponistin alles andere als stur schematisch erfolgt: Die Rückläufigkeit hat zur Folge, dass von der ursprünglichen Fassung der Musik und des Textes so gut wie nichts mehr zu erkennen und zu verstehen ist. Obwohl der Schrift nach präsent, kaschiert sich die Vorlage als fremd und unkenntlich. Bspl. 3: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´00–0´24] [0´24] Bspl. 4: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–2´45 (ab 2´30 ausbl.)] [2´07] Die Überlieferung, der breite Konsens einer Volksmusik-Tradition, verspannt in eine polyphone Umkehrung und Auflösung in der Zeit. Verspannt in eine Musik demnach, die ihren Sprachduktus, ja den Sinn von Sprache aufhebt. Selbst wenn zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit zu unterscheiden ist: Rückläufigkeit bedeutet den Tod jeder Sprache: sie wird unverständlich, sinnlos. Oder doch nicht? Gewiss: eine Musik, für die die Sprache zum Klangsubstrat und selbst die Zeit zum formbaren Material geworden ist, verstößt gegen die zeitgerichtete Sprachlogik. Trotzdem: Mag Rehnqvists Komposition auch nicht dem konventionell etablierten Sinn genügen, sinnlos ist sie keineswegs. Sprache, die der Musik wie die des Textes, wird in Rehnqvists Davids Nimm vielmehr zu einer Sprache, die sich selbst spricht. Indem Sprache folglich nicht mehr die Trägerin eines Sinns ist, der von der kompositorischen Struktur abzulösen wäre, kommen in ihr all jene physiologischen, phonetischen und gestischen Ressourcen zur Geltung und damit ihr körperhafter Grund, der im gängigen regelfixierten Diskurs der Verständigung eher untergeht. Und außerdem: Lässt uns Rehnqvists Rücklaufmodell und seine Orientierung an der Umkehrtechnik des Tonbands nicht zugleich eine sonderbar anmutende Anmerkung Albert Einsteins besser verstehen? Einsteins Anmerkung zur physikalischen Zeit nämlich und seinen Zweifel, ob die „Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ womöglich doch „nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ habe? Damit indes der Gedanke der Rückläufigkeit überhaupt gedacht werden konnte, mussten Denken und Einbildungskraft Abschied nehmen von Isaac Newtons Idee einer gottgegebenen „absoluten, wahren und mathematischen Zeit“, die für Newton noch „gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand“ dahinströmt. Verabschiedet werden musste allerdings und vor allem auch jener Glaubenssatz menschlicher Erkenntnis, dem Logik und Wahrheit als identisch gelten. Karin Rehnqvists Modulation der Zeit, die Musik und Sprache widersinnig werden lässt, bahnt einen Weg in unbekanntes Gelände. Musik, die ihren Text in pure Lautdichtung verwandelt und überdies ihren eigenen Sprachcharakter unterläuft - einen Sprachcharakter, der sich über Epochen an der Intonation des gesprochenen Worts orientiert -, eine solche Musik gerät zu einem Abenteuer des Ausdrucks und der Reflexion. Es ist dieser Wendekreis des Sinns, an dem das überkommene Regelwerk der Sprache seine tagtäglich überhörten Unklarheiten und sein praktikabel gemachtes Moment der Willkür offenbart. Denn praktikabel gemacht wird das Willkürmoment jeder Sprache nur durch den Vertrag zwischenmenschlicher Kommunikation, der stets aufs Neue und unentwegt durch Rede und Gegenrede bestätigt wird. Verträge indes neigen zu Erstarrung und faulen Kompromissen. Sprache kann deshalb ihre Möglichkeiten, ihre Freiheit mitunter erst wieder erfahren, wenn sich ihre förmlichen und formalen Verkrustungen im Abstreifen der Sinnfesseln auf offene Horizonte hin weiten. Mag und muss diese Offenheit auch wie bei Rehnqvist im Dunklen, im Unverständlichen bleiben, eben weil Sprache sich nicht per Dekret als allgemein verbindlich erzwingen und verordnen lässt. Bspl. 5: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–6´23] [5´45] Experiment, Engagement, Ereignis. Ähnlich wie der experimentelle Zug zeitgenössischer Kompositionen setzt auch das politische Engagement Neuer Musik auf die Erschütterung eingeschliffener Unempfindlichkeiten. Und hier zumal auf die Erschütterung der Verdrängungs- und Beruhigungszonen im Kult des Privaten und seiner Abschottungsrituale. Bspl. 6: Mathias Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 10 (ganz)] [0´30] Atemzüge, Atemstöße, gepresst und „stimmlos“, dicht am Geräusch - das Ende eines Streichquartetts. "’Àñð` ãû~" , „Von hier“, überschreibt Mathias Spahlinger eine Komposition, die ihren Titel dem Gedicht Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen von Jannis Ritsos entlehnt. Dreimal taucht dieses leitmotivische „Von hier“ in der Höllenfahrt des Gedichts auf, einem Poem des Widerstands aus der Zeit der NS-Okkupation Griechenlands. Dreimal in Form des visionären Kürzels „Von hier zur Sonne“. Ein Kürzel, auf das der Komponist mit dem Melodie-Fragment „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ anspielt, das heißt mit dem Beginn der Solidaritätshymne der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Allerdings verflüchtigt sich dieses Melodie-Fragment bei Spahlinger ins kaum Vernehmbare einer eher hintergründigen als demonstrativ offenkundigen Analogie zwischen Text und Musik. Verweist nicht der Komponist in der Partitur selbst darauf, dass etwa „alle press-klänge“ primär als „klangmaterial absoluter musik“ ohne „programmatische inhaltlichkeit“ gemeint sind? Spahlingers Musik des Engagements versucht nicht die Gräuel von Krieg, Folter und Tod zu illustrieren. Sicher, es gibt in diesem Streichquartett Stellen, die an Sirenen oder Schüsse erinnern, ohne doch in solcher Direktheit aufzugehen. Spahlinger weiß um die Ohnmacht und den Verrat, den es bedeuten würde, die Schreie der Gefolterten ästhetisch aufzubereiten. Und er weiß, dass das Politische Neuer Musik nicht mehr in plakativen Absichtserklärungen und bildhaften Schilderungen liegen kann, sondern darin, die Vernetzung einer nicht selten lautlosen Gewalt in den Strukturen des Komponierten und des Bewusstseins hörbar zu machen. Erst durch solche strukturelle Vernetzungen wird das Politische auf das Alltägliche und das Alltägliche auf das Politische hin durchlässig. Nur so kann engagierte Neue Musik noch zum Zeugnis ihrer Zeit werden und zu einer Zeugenschaft, deren griechischer Name bekanntlich Martyrium lautet. Ähnlich wie in Ritsos´ Gedicht beiläufige Beobachtungen in den Sog surrealer Metaphern geraten und in Entsetzen umschlagen, erzeugt auch bei Spahlinger die Verweigerung jeder realistisch gemeinten Programmmusik den Albtraum allgegenwärtiger Beklemmung. Bspl. 7: Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 9, 1´23–3´05] [1´42] Der Ausdruck des Schreckens wird in dieser Musik des Ausnahmezustands durch die Spur der komponierten Atemgeräusche noch intensiviert. Sie schlagen bei Spahlinger eine weite Bühne der Assoziationen auf. In einer Musik, die zum verminten Gelände wird und harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt, durchzieht Atmen das ästhetische Gefüge wie ein leibsinnlicher Riss. Von diesem Riss her, der Berührung mit Dasein und Existenz aufnimmt, werden die Atemsequenzen zu einem Einspruch von Leben und Überleben gegen Ersticken und Tod. Es ist dieser Einspruch, der die Atemgeräusche in Spahlingers Quartett zwischen Angst und Hoffnung, zwischen Bedrohung und Entronnensein changieren lässt. Und es ist insbesondere der Gestus des Seufzens, den Spahlinger ausdrücklich als Spielanweisung notiert, der das Ein- und Ausatmen zu einem Bündnis zwischen Atmen und Hoffen auflädt: „Dum spiro, spero“, „Solange ich atme, hoffe ich“. Bspl. 8: Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" “ [Tr. 10 (ganz)] [0´30] In einem Quartett, in dem sich der Ton als Tonus - als Spannung - zur Detonation schärft und der gepresste Bogen der Streichinstrumente regelrecht Pression und Repression verkörpert, signalisieren die Atemgeräusche ein Symptom der Angst und ein Stenogramm der Gefahr im Bann der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nochmals: Spahlinger interessieren nicht Illustrationen, sondern jene Strukturen von Macht und Gewalt, die Krieg und Unterdrückung erst ermöglichen. Damit weitet das Streichquartett den Terror der Besatzung Griechenlands auf eine jede Enteignung des Bewusstseins hin, die die Würde der Person vernichtet und den Einzelnen zum bloßen Material erniedrigt. So wird Spahlingers kompositorisches Engagement zu einer brisanten Chiffre im Text der Zivilisation, zu einer Chiffre, die das Grauen im Athen des Jahres 1942 auch auf eine Diagnose der Moderne und des Heute hin liest. Denn auch im Hier und Jetzt wird Atmen zu einem Kürzel von Leben und Tod: in einer Zeit somit, die uns atemlos macht, in der Geld, Worte und Bilder mit einer Schnelligkeit zirkulieren, als sollten im Geschwindigkeitsrausch Alter und Tod samt der Unumkehrbarkeit der Zeit überwunden werden. Je mehr aber die Kultur des Berechnens und Messens Menschen und Dingen unter die Haut dringt, umso entschiedener sprechen die Atemenergie und das Atemholen Neuer Musik vom Hunger nach Leben, befreit vom „stahlharten Gehäuse“ des Funktionalismus. Damit jedoch sprechen sie in einer Ökonomie der Rastlosigkeit und des Aufschubs gleichfalls von einer Art Krieg, der ebenso unverhohlen wie verdeckt jeden Augenblick nach Gewinn und Verlust zu taxieren anhält und dabei Leben tilgt, Leben und Atmen. Bspl. 9: Mathias Spahlinger, Streichquartett"’Àñð` ãû~" [Tr. 10 (ganz)] [0´30] Als ein vom industriellen Aufschwung hypnotisiertes Zeitalter am Beginn eines neuen Jahrhunderts stand, protokollierte ein damals noch namenloser Prager Autor das wohl hellsichtigste Kurz-Bulletin der Epoche. Poetisch und gleichwohl prosaisch genug richtete er den Blick auf die Tragik des Atmens, um den Sturm der Moderne vom menschlichen Maß der Lunge her zu denken. Zitat: „Was sollen unsere Lungen tun, atmen sie rasch, ersticken sie an sich, an inneren Giften; atmen sie langsam, ersticken sie an nicht atembarer Luft, an den empörten Dingen. Wenn sie aber ihr Tempo suchen sollen, gehen sie schon am Suchen zugrunde.“ Erinnern wir uns an dieser Stelle - mit Franz Kafkas tödlichem Dilemma einer über­forderten Lunge im Ohr - an ein anderes Dilemma, nämlich an einen der Konflikte beim Hören Neuer Musik und an die unduldsam ungeduldige Frage „Wo bleibt hier das Gefühl, genauer: das Gefühl, das mich trägt und mich im Wiederfinden meiner selbst spiegelt?“. Es ist dies eine Frage vergleichbar derjenigen nach der Bedeutung und dem Inhalt sogenannter abstrakter Gemälde. Auch solche Ratlosigkeiten basieren auf massiven Enttäuschungen des Gewohnten. Im Fall der Neuen Musik vor allem auf der Enttäuschung des vermeintlichen Gewohnheitsrechts, Musik und der narzisstische Spiegel des Gefühls seien seit je und darum für immer untrennbar miteinander verbunden. Es ist diese Sprengung des Genormten, die - wie in den Fällen von Experiment und Engagement - auch für das Phänomen des Ereignisses in einer Musik des Unverfügbaren wesentlich ist. Diese Unverfügbarkeit des Ereignisses setzt die Wahrnehmung eher einem ungedeckten, unwägbaren Geschehenlassen aus, anstatt das Komponierte auf das Einheitsverlangen und die Kontrolle des Bewusstseins hin zu hören, ja zu verhören. Wie sehr indes Ereignis und Unverfügbarkeit einander korrespondieren, lässt sich an Morton Feldman erfahren. In Abkehr vom Echoraum der Innerlichkeit entdramatisiert Feldman die melodische Überwältigung der Musik, indem er das traditionell auf wenige Takte konzentrierte Gefühlssiegel der Melodie zum ziellosen Melos entgrenzt. Dementsprechend wird Feldmans zeitgedehntes Spätwerk zu einer Musik „between categories“, wie der Komponist selbst einmal einen seiner Essays betitelt hat: zu einer Musik zwischen den Kategorien. Weder unerbittlich noch anbiedernd, weder ich-denunzierend noch ich-hörig, weder gefühlsresistent noch gefühlsselig, weder katastrophisch noch nostalgisch, ist dieser Musik des Ereignisses mit den Rastern des Entweder-oder nicht mehr beizukommen. Und schon gar nicht mit dem Schema von Zusammenhang und Nicht-Zusammenhang. Bspl. 10: Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 3´13–7´08] [3´55] War Musik fast durchweg eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert Feldman das Gedächtnis selbst: seine Vernetzungsarbeit, seine Leerstellen, seine Zeitfenster. Der „große Maßstab“ seiner späten Kompositionen verwickelt die Wahrnehmung in den äußerst raffinierten Wechsel und Wandel kleinster, oft kaum bemerkbarer Motivmodulationen. Musik wird zu einem Nullsummenspiel aus Scheinwiederholungen und unscharfen, weil vermeintlichen Akten des Wiedererkennens. Damit aber die Tradition zerlegbarer und beherrschbarer Formen in den „großen Maßstab“ überführt werden kann, muss das Gedächtnis sich selbst fremd werden. Daher durchsieben Feldmans Kompositionen des Weder/Noch die erkennungsdienstlichen Ortungs- und Ordnungsfilter des Hörens. In den Reibungen seiner Musik zwischen Bewusstheit und Vergessen zersetzen sich mit der kausalen Organisation zugleich die Verknüpfungsarbeit und die Einheit des Gedächtnisses in der Zeit. Feldmans Musik des Ereignisses irisiert in einer unablässigen Schwebe zwischen Erwartung und Erinnerung. Nicht mehr durchhörbar sperrt sich das Komponierte gegen die Kalkulierbarkeit überschaubarer Formen. Damit entzieht sich die Musik Morton Feldmans dem Fassungsvermögen auf ähnliche Weise wie diejenige John Cages, die uns, so der Komponist, als eine Entstandardisierung der Wahrnehmung beim Vergessen hilft, um nicht in der Standardisierung zu versinken. Warum also das Gedächtnis zur Identität des Selbstbewusstseins und seiner Sinnkonstanten verklären, wenn Identität und Sinn doch überwiegend Variationen und Effekte der Kultur und des Zeitgeistes sind? Die Klangbahnen in Feldmans Kompositionen setzen geläufige Hör- und Gliederungsleistungen außer Kraft. Einzig auf sich als ihre eigene Wahrnehmungs- und Deutungsmaterie gerichtet, lässt Feldmans Musik die rezeptive Aufmerksamkeit durch die Maschen einer Konstruktion ohne Konstruktion gleiten. Musik organisiert ihre Einzelmomente nicht mehr zu Trägern einer Idee und verweist auf keinen ihr vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Kein Wunder, dass diese Textur des Ereignisses ein anderes Verständnis der Wahrnehmung verlangt als jenes, das im Gewebe der Musik einen Schleier mithört, hinter dem Sinn und Wahrheit verborgen liegen. Die Frage aber, ob Feldmans Musik etwas mit dem Endspiel des Subjekts und seiner Autonomie zu tun habe, wird Feldman gegenüber zu keiner Frage des Verlusts, gar des Verfalls, sondern zu einer Frage, getragen von der Ahnung einer verlockenden Überschreitung ins Transsubjektive. Bspl. 11: Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 3´13–7´08] [3´55] Experiment, Engagement, Ereignis. Lassen sich diese Bereiche im Formenkreis der Neuen Musik überhaupt säuberlich voneinander trennen? Wird das Experiment der Neuen Musik nicht immer auch zum Engagement gegen verhärtete Wahrnehmungsmuster und somit zum Ereignis innerhalb des Gewohnten? Ist es nicht das Unvertraute und Unberechenbare, wodurch Experiment, Engagement und Ereignis in gleicher Weise charakterisiert werden? Freilich: Experiment und Engagement unterscheiden sich vom Ereignis zumindest nach dem Grad ihrer Absicht. Ist es nicht so, dass ein Ereignis sich gegen alle Planung entweder ereignet oder eben nicht ereignet? Dennoch: Ist Kunst, ist Musik überhaupt ohne Intention realisierbar? Und behauptet nicht selbst die kompositorische Entscheidung für den Zufall einen letzten Rest an Willen, ganz zu schweigen von den Praktiken, mit denen der Zufall erreicht werden soll? Vielleicht hilft uns bei unserem Thema das Faktum weiter, dass der bahnbrechende Wandel der Kompositionsgeschichte der letzten zweihundert Jahre in einer Wendung vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs liegt: in einer Wendung von der ausgefeilten musikalischen Logik der tonalen Ära hin zu einem eher vom Eigenleben der Klänge bestimmten Diskurs der Moderne, in dem Experiment, Engagement und Ereignis wahlverwandt ineinander übergehen. So wie am Ende von Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern mit seinen erstickt klingenden Pochimpulsen. Bspl. 12: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.)–Tr. 11, 2´01] [2´19] Experimentell ist in dieser Musik allein schon die Faktur der Klopfgeräusche, bei denen so schnell niemand erkennt, dass es sich dabei um die höchsten Lagen zweier Klaviere handelt. Zum Engagement und zum Ereignis aber wird der Ausklang dieses Dramas um Kälte und Tod im Zusammenhang mit der unmittelbar vorausgehenden Shô-Episode. Lässt doch das von westlichen Stimmungsregistern und Konfliktstrategien unbehelligte Spiel der japanischen Mundorgel Shô anklingen, was das europäische Komponieren lange übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ichabstinenz und der Schwebe. Es ist diese Region zwischen Gefühl und Nichtgefühl, die den fernöstlichen Ton schwerelos werden lässt. Entgegen der abendländischen Geschichte, die dem Status von Kampf und Polemik eine so überaus hohe Wertschätzung zugesteht, eröffnet die Shô bei Lachenmann eine Klangoase ohne Konfrontation und Gewalt und einen Ort, an dem sich die Musik von ihrer eigenen Willensanstrengung und Gewolltheit befreit. Erst in Verbindung mit den appellhaften Pochimpulsen des „Epilogs“ jedoch machen die intentionslosen Klänge der japanischen Mundorgel bewusst, worauf es Lachenmann ankommt: nämlich auf eine Abrüstung der abendländischen Ich- und Willensemphase und ihrer Verfügungsmacht, ohne mit dieser Abrüstung einer Passivität der Gleichgültigkeit zu verfallen. Vor allem aber trifft uns der Schluss von Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern - sein Experiment, sein Engagement und sein Ereignis - mit der Wucht und dem Zauber einer akustischen Erscheinung, deren Fülle an Verweisungen begrifflich nicht auszuloten ist. Kann der pochend klopfende Abgesang dieser Oper nicht wie eine Kunde aus den arktischen Zonen einer Welt gehört werden, die kurz davorsteht, an der fanatischen Verwertung des Werts zu zerbrechen? Erinnern die Klopfgeräusche vielleicht an ein Grabmal mit den letzten Signalen lebendig Eingemauerter und womöglich daran, dass wir schon zu Lebzeiten in einem Dasein der Kälte und der Fühllosigkeit begraben sind? Macht das skandierte Pochen nicht die Opfer begreifbar, die uns eine immer mehr ins Technische und Instrumentelle abdriftende Vernunft zumutet: eine Vernunft, die sich umso souveräner dünkt, je technischer sie über die äußere und innere Natur triumphiert? Spiegelt demnach Lachenmanns Musik nicht auch unsere Naturferne wider, unsere Selbst- und Weltentfremdung, und eine daraus resultierende blinde Ideologie des Fortschritts? Deshalb wohl klingt das mysteriöse Klopfen in den Klavieren am Schluss der Komposition wie ein akustischer Kassiber inmitten einer Schöpfung ohne Jenseitsbonus und mit einer angemahnten Verantwortung für das Gegenwärtige: Als würde durch die Risse in der Mauer vereister Konventionen ein unbekanntes, mit einer unerhörten Musik in Szene gesetztes Sternbild aufleuchten - vergleichbar dem Lichtzauber der Schwefelhölzer in der Hand des frierenden Mädchens vor tödlich kalten Hauswänden; ein Sternbild, rätselhaft in seiner Unverfügbarkeit und mit der geheimen Pracht eines Sinnbilds der Hoffnung. Doch erst von diesem Sinnbild her wandelt sich der Ort der „Himmelfahrt“ in Lachenmanns Oper in ein Gleichnis weder der Erlösung noch der Verzweiflung; vielmehr in ein Gleichnis, das uns bewusst macht, wie sehr das Problem des verborgenen Gottes mittlerweile zu einem Problem des verborgenen Menschen geworden ist. Bspl. 13: Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.)–Tr. 11, 2´01] [2´19] Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Morton Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 0´03–0´59 (ab 0´40 ausbl.)] [0´59] [Ives Ensemble] [hat[now]ART 4-144] Bspl. 2: Karin Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–2´45 (ab 2´30 ausbl.)] [2´07] [Neue Vocalsolisten Stuttgart] [LC 09632 Frau Musica 001] Bspl. 3: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´00–0´24] [0´24] Bspl. 4: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–2´45 (ab 2´30 ausbl.)] [2´07] Bspl. 5: Rehnqvist, Davids Nimm [Tr. 4, 0´38–6´23] [5´45] Bspl. 6: Mathias Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 10 (ganz)] [0´30] [Arditti String Quartet] [Auvidis Montaigne 782036] Bspl. 7: Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 9, 1´23–3´05] [1´42] Bspl. 8: Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 10 (ganz)] [0´30] Bspl. 9: Spahlinger, Streichquartett "’Àñð` ãû~" [Tr. 10 (ganz)] [0´30] Bspl. 10: Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 3´13–7´08] [3´55] [Ives Ensemble] [hat[now]ART 4-144] Bspl. 11: Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 3´13–7´08] [3´55] Bspl. 12: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.)–Tr. 11, 2´01] [2´19] [Elizabeth Keusch, Sarah Leonard, Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi, Mayumi Miyata, Salome Kammer , Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek] [KAIROS 0012282KAI] Bspl. 13: Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.)–Tr. 11, 2´01] [2´19] ​ ​

  • Johannes Bauer, Philosoph, Maler, Süderlügum

    Johannes Bauer, geboren 1950 in München; Studium der Philosophie, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Byzantinistik und Klassischen Archäologie in München, Zürich, Wien, Berlin und Frankfurt am Main; Promotion am Fachbereich Philosophie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main mit einer Dissertation zum Reflexionsspektrum des Deutschen Idealismus, insbesondere Hegels, und seiner Wirkung auf die Strategie- und Rhetorik-Modelle in Beethovens Neunter Symphonie . Veröffentlichungen über Kant, Goethe, Adorno, Cage. Zahlreiche Aufsätze und Rundfunkessays zu zeitdiagnostischen, medientheoretischen und musikästhetischen Themen sowie zur philosophischen Analyse Neuer Musik. Seit 2006 zunehmend auch künstlerisch als Maler tätig. Lebt nach vielen Jahren in Berlin gegenwärtig in Süderlügum nahe der dänischen Grenze.

  • Johannes Bauer, Virtuose wider Willen. Charles-Valentin Alkan

    Johannes Bauer Virtuose wider Willen Charles-Valentin Alkan Südwestrundfunk (SWR 2), 2003 Bspl. 1: Alkan, La chanson de la folle au bord de la mer (Ronald Smith, Klavier) [Tr. 9, 1´11–4´20] [3´09] Monotonie der Wiederholung; eine in sich kreisende Melodik, die zu delirieren beginnt und schließlich zerfällt: eine dunkle Musik, eine musique noire, die den Kritiker François-Joseph Fétis 1847, kurz nach Erscheinen des Préludes, zu einer Warnung an den Komponisten veranlasst: «Im Allgemeinen dominiert in den Kompositionen dieses Künstlers die Schwer­mut». «Seine Produktionen sind von einer Traurigkeit, die (...) den schmerzlichen Zustand seines Gemüts erkennen lässt». «Nun wird aber die Melancholie nie populär sein (...). Die Menge, insbesondere das gewöhnliche Musikpublikum, begreift nicht viel von solcher Musik und gibt sich nicht die Mühe, aufmerksam zuzuhören.» Ein irritierendes Prélude also, das aufhorchen ließ, die Kritik zumindest. Ein Prélude, exzentrisch wie sein Titel: La chanson de la folle au bord de la mer, Das Lied der Irren am Meeresufer . ​ 1888, gut vierzig Jahre nach Veröffentlichung dieser düsteren Stimmungs­skizze, stirbt in Paris ein exzentrischer Einsiedler; ein gelehrter Eremit, der ei­nem Nachruf zufolge seine Existenz erst durch seinen Tod beglaubigte, und der doch von Ferruccio Busoni zu den bedeutendsten Klaviermeistern nach Beethoven gerechnet wird. Charles-Valentin Alkan – um ihn handelt es sich bei jenem legenden­umwobenen Schöpfer der Chanson de la folle – wird 1813 in Paris als Kind jü­disch orthodoxer Eltern geboren. Bereits mit sechs Jahren als pianistisches Wunderkind am Pariser Conservatoire aufgenommen, gilt elf Jahre später der Siebzehnjährige als neuer Komet am Virtuosenhimmel. Bewundert selbst von Liszt, steht Alkan am Beginn einer glanzvollen Pianistenkarriere. ​ Bspl. 2: Alkan, Grande Sonate op. 33 , 1. Satz (Marc-André Hamelin, Klavier) [Tr. 1: 3´49–5´48] [1´59] ​ Der enthusiastische Aufbruch im Scherzo von Alkans bekenntnishafter Grande Sonate wird sich allerdings trüben. Und mit ihm die siegreiche Geste eines Satzes, der das Motto «Vingt Ans», ‹im Alter von zwanzig Jahren›, trägt. Ver­weigert sich doch der Virtuose Alkan der Rolle des Virtuosen. Immer seltener stellt er sich dem großen Publikum, um schließlich 1848 das Konzertieren für nahezu ein Vierteljahrhundert aufzugeben. «Mitunter glaube ich, ein Misanthrop geworden zu sein», schreibt Alkan 1849 an George Sand. Wie sehr freilich Alkans Rückzug auch gesellschaftlich grundiert ist, zeigt ein Ereignis 1848. In diesem Jahr ist am Pa­riser Konservatorium die Klavierprofessur neu zu besetzen, die lange Zeit Al­kans Lehrer Pierre-Joseph Zimmermann innehatte. Obwohl Alkan aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten als Favorit gilt, bevorzugt das Entschei­dungsgremium unerwartet einen Bewerber zweiter Wahl: Antoine-François Marmontel. Dass für die Zurückweisung Alkans im Revolutionsjahr 1848 politische Gründe den Ausschlag gaben, dürfte sicher sein. War für die Ernennung Mar­montels die Protektion durch den Direktor des Conservatoire, den später von Napoleon III. zum kaiserlichen Hofkapellmeister gekürten Daniel-François-Esprit Auber, entscheidend, mag sich Alkan allein schon durch die Fürsprache George Sands kompromittiert haben. Nur allzu gut war den staatlichen Orga­nen das republikanische Engagement der Schriftstellerin während der Revolu­tionstage im Gedächtnis. Alkan, empört über offensichtliche Intrigen, zieht sich schließlich also, verletzt und gedemütigt durch den Ablehnungsbescheid, in einer Mischung aus melancholischer Disposition und Weltverachtung für fast 25 Jahre von der Öffentlichkeit zurück. Die depressive Klangaura als Ausdruck von Klausur und refugialem Asyl aber hatte Alkan schon in der Grande Sonate von 1847 in Szene gesetzt. «Cinquante ans, Prométhée enchaîné» ist ihr vierter Satz überschrieben: ein «äußerst langsam» zu spielendes Finale, das über die Identifizierung des fünf­zigjährigen Künstler-Helden mit der Gestalt des gefesselten Prometheus auf das Stigma künstlerischer Opposition in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts anspielt: auf das Charisma eines Erwählten und zugleich Ausgegrenzten, als den Gustave Flaubert den Künstler überhaupt charakterisiert: «Zwischen der Menge und uns, den Künstlern, gibt es kein Band. Umso schlim­mer für die Menge, insbesondere aber umso schlimmer für uns. Man muss jedoch, unabhängig von den Dingen und der Menschheit, die uns ver­leugnet, seiner Berufung leben, seinen Elfenbeinturm besteigen und dort wie eine Bajadere in ihren Parfums allein mit seinen Träumen bleiben.» Gleich Prometheus, dem schmachvoll an den Felsen geschmiedeten Feuerbrin­ger und Zivilisationsheros, steht der Künstler isoliert inmitten einer Welt, die dem «J’accuse» und dem Überschreitungspotenzial der Kunst ge­genüber ertaubt. Unter der Last von innerem Exil, von Leere und Lebensüber­druss aber verwandelt sich die prometheische Qual in Melancholie. So wie die bleierne Zeit im Schlusssatz von Alkans Grande Sonate selbst noch die The­men der früheren Sätze in den Abgrund einer Schwermut sinken lässt, die dem programmatischen Kontext der Sonate zufolge die bittere Summe des Lebens zieht. «Wann wird jemals mir der Mühsal Ende sich zeigen!» – «Seht, welch Unrecht ich erdulde!» Solche Sätze aus Aischylos' Prometheus -Tragödie färben den Ausklang von Al­kans musikalischer Selbstreflexion. Kehrt das den Satz einleitende, das Rasseln der Ketten wie die innere Empörung des gefesselten Künstler-Titanen stilisierende Symbol des Trillers wieder, dann schließt sich der Zirkel aus Re­signation und Rebellion zur Entsagung. Nach den aufsteigenden Skalen im Gestus des Flehens gleitet der dissonant verlöschende Schluss endgültig ins Hoffnungslose. Erstarrung wird zum Signum des Satzes, Erstarrung, wie sie Berlioz am «Spleen», am Todessog der Melancholie diagnostiziert. «Der ‹spleen›, das ist das Gefrieren», «das ist der Eisblock». Und Baudelaire? Dichtet er nicht im Motiv der Fremdheit des Künstlers zur Masse und im Motiv der Trauer um das verlorene Leben das Motto zu Alkans Finale? «Ma Douleur, donne-moi la main; viens par ici, / Loin d'eux.» «Gib mir die Hand, mein Schmerz, komm von der Menge / Weit weg. Vom Himmel über Balustraden neigen / Verblichene Jahre sich in alter Tracht.» Bspl. 3: Alkan, Grande Sonate , 4. Satz (Ronald Smith) [Tr. 4, 8´27–11´56] [3´29] Alkans Eremitage fällt in das «Second Empire» Napoleons III. In eine Zeit der Spekulation und des Aufschwungs der industriellen Bourgeoisie. In eine Epoche militärischer Großmachtgelüste mit einer rasanten Entwicklung der technischen Produktivkräfte, die in den Pariser Weltausstellungen von 1855 und 1867 ihre monumentale Bühne finden. Und Paris selbst, die Metropole? Sie inszeniert sich im Zug des militär- und verkehrsstrategischen Modernisie­rungseifers des Präfekten Haussmann endgültig zur «Kapitale der Welt». Bspl. 4: Jacques Offenbach, La Vie Parisienne , 4. Akt, Finale (Jean-Christophe Benoit, Régine Crespin, Luis Masson, Mady Mesplé, Christiane Chateau, Michel Jarry, Or- chestre et Chœur du Capitole de Toulouse, Michel Plasson) [Tr. 10, 1´07(rasch aufbl.)–3´05] [1´58] Von Louis-Philippes «Juste-milieu» und der tatkräftig umgesetzten Parole des «Enrichissez-vous!», des «Bereichert euch!», über deren Steigerung im Zwei­ten Kaiserreich bis hin zum Finanzkapitalismus und zur imperialen Politik des «Empire français» der Dritten Republik: all diese Stadien der «rastlosen Ver­wertung des Werts» begrüßen nach Marx «im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips». Eines «Lebensprinzips», das Gobseck, der Wucherer aus Balzacs gleichnami­ger Novelle, auf den Punkt bringt: «Ist das Leben nicht eine Maschine, die vom Geld in Bewegung gesetzt wird? (...) Das Gold ist der Spiritualismus der heutigen Gesellschaft.» ​ Und doch bleibt im mondänen Taumel des Zweiten Kaiserreichs der Abgrund spürbar: eine doppelbödige Scheinwirklichkeit, in der die Gewinneuphorie und der Luxus der Begüterten das Elend der proletarischen Massen manisch überblenden. Und damit den Unterstrom republikanisch-sozialistischer Ideen, gefärbt vom Blut der revolutionären Erhebungen von 1830, 1848 und 1871 mit all den Niedergemetzelten, Eingekerkerten, Deportierten und Hingerichteten. Bspl. 5: Berlioz, Grande Symphonie funèbre et triomphale op. 15 , Marche funèbre (London Symphony Orchestra, Colin Davis) [Tr. 7, 1´24–2´55(ab 2´50ausbl.)] [1´31] Hector Berlioz – Symphonie funèbre et triomphale : ein monumentales Me­mento zum zehnten Jahrestag des Juli-Aufstands von 1830; eine Prozessi­onsmusik, die kollektive Trauer in solidarisches Schreiten umsetzt; eine Musik für die Opfer, die den Bogen zurückschlägt zu den Freiluftmusiken der Großen Revolution, zu den Postulaten der Menschenrechte und zu den Forderungen einer «Sozialen Republik» im Zeichen der «Égalité»: Forderungen, von denen die Barrikadenkämpfe gerade des Pariser Proletariats während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zehren. Auch für Alkan bedeutet republikanisches Bewusstsein vorrangig die Hoffnung auf die Wirkung sittlicher Appelle. Und wie ein Großteil der künstlerischen Elite so entzieht sich auch Alkan nach dem Ausbleiben gesellschaftlicher Erneue­rung dem politischen, dem öffentlichen Leben. Hatte Alkan noch 1848 in ei­nem Brief an George Sand von seiner «glühenden Liebe» zur Republik ge­sprochen, schreibt er 1861 an Ferdinand Hiller: «Ich werde täglich misanthropischer». «Meine Lage macht mich entsetzlich trau­rig und elend. Jede musikalische Produktion hat ihre Anziehungskraft für mich verloren, kann ich doch weder Sinn noch Ziel erkennen.» Alkan jedenfalls ist Berlioz’ öffentlich triumphaler Kondukt nicht mehr komponier­bar. Er zieht den Trauermarsch ins Innere seiner Symphonie op. 39 , die selbst schon in einer Art Gattungsparadoxie für Klavier solo geschrie­ben ist. Mit der Spannung zwischen dem Gemeinschaftspathos des Marsches und seiner Adaption an das Soloinstrument des Flügels aber lässt Alkan den Widerspruch zwischen Postulat und Wirklichkeit aufbrechen: Im Protest gegen die unerlösten sozialen Verhältnisse und das Trauma des Künstlers in ihnen; verwandt jener Strophe, mit der das letzte der «Spleen»-Gedichte Baudelaires schließt: «Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, / Défilent lentement dans mon âme». «Und lautlos zieht ein langer Leichenzug / Durch meine Seele seine schwar­zen Bahnen, / Die Hoffnung weint. Das Grauen, das sie schlug, / Das Grauen pflanzt in meinem Hirn die Fahnen.» ​ Bspl. 6: Alkan, Symphonie für Klavier op. 39 , 2. Satz («Marche funèbre») (Ronald Smith) [Tr. 10, 4´46–8´12] [3´26] Alkans Anstrengung liegt, vergleichbar der Baudelaires, in der Bewältigung von «Spleen» und «Ennui»: von Trübsinn, Leere, Wahn und Todessehnsucht inmitten einer vom Dämon Ökonomie beherrschten Gesellschaft. Wie Baude­laire die Rituale von Gebet und Arbeit als einen Damm der Selbstdisziplin ge­gen Rausch und Exzess beschwört, so bindet auch Alkans athletische Virtuo­sität entfesselte Sinnlichkeit an die Fron pianistischer Arbeit. Und wie Baude­laire dem Abgrund des «Ennui» so sinnt auch Alkan der «Hölle» aus Selbst­qual und Verzweiflung nach. Etwa im zweiten, «L'Enfer» betitelten Satz seines Grand Duo concertant für Violine und Klavier . Lautet das Kainsmal des ruhe­losen Helden nicht schon in Byrons Manfred : «Du selbst sollst deine Hölle sein!»? Bspl. 7: Alkan, Grand Duo concertant pour violin et piano, op. 21 , 2. Satz («L’Enfer») (Dong-Suk Kang, Violine / Olivier Gardon, Klavier) [Tr. 2: 4´37(aufbl.) –5´59] [1´22] Gleichwohl vermischt sich der puritanische Habitus, den Zeitgenossen an Al­kan hervorheben, in seiner Musik mit einem ausgeprägten Zug an Witz und Sarkasmus als der hellen, aggressiv nach außen gerichteten Seite des melan­cholischen Temperaments. Immer wieder verunsichert Alkan den Formkanon durch eine musikalische Prosa des Grotesken und Trivialen. Immer wieder schärft er die Züge des Ausladenden und der Klitterung zur Provokation von Glätte und Rundung, unbekümmert um die ästhetischen Gebote und Tabus von Originalität und Eklektizismus. So im Finale des Concertos für Klavier solo, in dem die Buntheit der Einfälle die Idee der Homogenität empfindlich stört: In einer bezeichnender­weise mit «Allegretto alla barbaresca» überschriebenen Musik, die Steigerun­gen und Höhepunkte als Versatzstücke montiert, Polonaisen-Grandezza mit etüdenhaftem Figurenwerk kreuzt und konzentrierte Durchführungsarbeit mit motivischen Leerläufen. StrukturelI aber korrespondiert das krass Rhapsodi­sche des «Allegretto alla barbaresca» mit dem Divertissement des Zweiten Kaiserreichs und seinem hektischen Wechsel der Bilder und Eindrücke. Und es korrespondiert mit der Dramaturgie der politischen Bühne dieser Zeit. «Sprunghafte Ausfälle und überraschende Entschlüsse gehören zur Staatsrai­son des second empire und waren für Napoleon III. kennzeichnend», notiert Walter Benjamin in seinen Baudelaire-Studien . Und Marx beschreibt schon den Präsidenten Louis Bonaparte als einen Mann, der wie ein «Taschenspieler» genötigt ist, «durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich (...) gerichtet zu halten, also jeden Tag ei­nen Staatsstreich en miniature zu verrichten». Es ist dieses Abrupte und Unkalkulierbare im Wesen des Staatsstreichs, des Coup d'État, das seine ästhetische Parallele im pianistischen Coup de main findet, dem Handstreich par excellence. So bereits zu Beginn des «Allegretto alla barbaresca», wenn ein Fortissimo-Zugriff D-Dur und Cis-Dur zusammen­zwingt, um danach im willkürlichen Aufgebot unterschiedlichster Charaktere einen regelrechten Putsch gegen das Sinnregime der Kontinuität auszukom­ponieren. ​ Bspl. 8: Alkan, Concerto pour piano seul , 3. Satz (Ronald Smith) [Tr. 3, 0´00–2´30(ab 2´25ausbl.)] [2´30] ​ Alkan unterhöhlt den Schlusssatz des Concertos mit einem Kaleidoskop an Rupturen und Brüchen – auf einen unbekannten und aufgerauten Ton hin, der sich in einer achttaktigen Passage verdichtet: dominiert von Oktaven, Quinten und Quarten und einer impulsiven Schlagwirkung, dominiert also vom Ausspa­ren verfeinerter musikalischer Mittel. ​ Bspl. 9: Alkan, Concerto pour piano seul , 3. Satz (Ronald Smith) [Tr. 3, 0´24–0´39] [0´15] ​ Was indes im «Allegretto alla barbaresca» noch eine Nuance ist, wird in Al­kans Etüde op. 35 , Nr. 5 zum Prinzip. ​ Bspl. 10: Alkan, Allegro barbaro (Ronald Smith) [Tr. 10, 0´00–1´01] [1´01] ​ Für die Zeit um 1850 weist Alkans Allegro barbaro ein extremes Maß an Irrita­tion auf. Nicht nur, dass das Klavier bereits hier als Schlaginstrument einge­setzt wird. Die Etüde hebt sich zudem seltsam von der Klangwelt des Dur-Moll ab: obwohl in F-Dur notiert, bleibt die Auflösung des Vorzeichens b verbind­lich. Damit konzentriert sich wohl zum ersten Mal in der Musikgeschichte ein Klavierwerk ausschließlich auf die weißen Tasten des Instruments. Die lydi­sche, äolische und dorische Tonart, die akkordlos kahlen Oktavschläge, der Hang zur Pentatonik, ostinate Rhythmusformeln und eine Crescendo und De­crescendo äußerst sparsam verwendende Dynamik – 80 der 120 Takte for­dern hartes Fortissimo –: all dies verleiht der Musik den Ton des fremdartig Barbarischen. ​ Bspl. 11: Alkan, Allegro barbaro (Ronald Smith) [Tr. 10, 1´50–2´31] [0´41] ​ Um die Jahrhundertmitte steht Alkans tonal assimilierter Barbarismus für ein Ko­lorit, das das Dur-Moll-System mit dem Klangreiz ethnischer Fernen zu durchsetzen beginnt. Kam doch Frankreich seit 1830 durch die Eroberung Al­geriens in enge Berührung mit dem islamischen Kulturkreis und mit arabischer Musik. Und was lag näher, als dass der frühfauvistische Exotismus im 19. Jahrhundert von zahlreichen französischen Künstlern als zivilisationskritisches Ferment, ja als Lebensimpuls gefeiert wurde? Allen voran von Charles Bau­delaire und seiner Kontrastierung des korrumpierten Stands des «l'homme ci­vilisé» mit den heroischen Eigenschaften des Wilden, des «l'homme sau­vage». Und Alkans Barbarismen? Sie werden zum Affront gegen die zeitge­nössische Repräsentationskunst und ihre selbstgefällige Spiegelfunktion. Im Zeichen einer prosaischen Realität wird die Blendfassade des Konformismus mit Rissen überzogen. Zumal die Fassade einer dem Zweiten Kaiserreich im Bund mit Zensur, Militär und Kirche angedienten Propagandakunst, die dem Imperativ des «Bereichert euch!» das Schlagwort vom «Embellissement», vom schönen Schein, als passende Losung im Kult der Oberfläche zugesellt. Alkan geht es darum, das Poetische im Namen der realen Widersprü­che prosaisch zu kontrapunktieren. So wie im Adagio seiner Sonate de Con­cert für Violoncello und Klavier , das Mystik und Trivialität, Sakralität und irdi­sche Niederung hart aneinander fügt und zu einem Monolog der Wehmut ent­bindet. Hier rückt Alkans jüdische Sensibilität für die Integration auf Widerruf den gebrochenen Ton der Musik in die Nähe Heines und Mahlers: der senti­mentalisch reflektierte naive Tonfall wird zum Wundmal des Fremden. ​ Bspl. 12: Alkan, Sonate de Concert pour violoncelle et piano, op. 47 , 3. Satz, (Yvan Chiffoleau, Violoncello; Olivier Gardon, Klavier) [Tr. 6: 1´18–3´09 (ab 3´06 ausbl.)] [1´51] ​ Alkans Musik ist vom Körper inspiriert, von der Obsession des Schlags, vom sforzatoverstärkten metrischen Schwerpunkt. Wobei das Repertoire der Schlagwirkung außerordentlich mannigfaltig ist. Ob es sich in den harten Trommelsalven eines Kondukts äußert: ​ Bspl. 13: Alkan, Concerto pour piano seul, op. 39 , 2. Satz (Ronald Smith) [Tr. 2, 6´58–7´48] [0´50] ​ ob als hämmernder Taktimpuls: ​ Bspl. 14: Alkan, Concerto pour piano seul, op. 39 , 1. Satz (Ronald Smith) [Tr. 1, 27´43 – 28´00 (züg. ausbl.)] [0´17] ob als molossischer Rhythmus: Bspl. 15: Alkan, En rythme molossique op. 39 , Nr. 2 (Ronald Smith) [Tr. 6, 0´00–0´21] [0´21] oder als akzentverschobener Stoß: Bspl. 16: Alkan, Symphonie pour piano seul, op. 39 , 3. Satz (Ronald Smith) [Tr. 11, 4´05–4´43] [0´38] Den Widerhall der Zurichtung des Körpers durch die industrielle Maschinerie lässt Alkans Musik um der Bändigung willen ein. In einer Zeit, die den Unter­gang des Flaneurs besiegelt, werden Schock und Attacke der Formkraft des Werks einverleibt, um der Entkörperlichung standzuhalten. Zugleich übersetzt Alkans Musik die motorische Energie, die das Getriebe der Takte in Gang hält, oft genug in die Unrast des Triebs, in Leidenschaft. Wobei sich die Spannung zwischen der eruptiven Passion und ihrer Rückbindung an die Konstruktion nicht selten als dämonische Qualität äußert: mit dem «Formwidrigen», dem «Überraschenden und Verblüffenden» als einem Leitmotiv der Kunst. So arbeitet auch Alkans Scherzo diabolico mit dämonisierenden Gestaltverunklärungen. Wie das huschende Motivpartikel und die chromatisch absteigenden, hohlen Oktaven des Beginns eine prägnante Themengestalt verweigern; wie unmittelbar danach ein Fortissimo-Ausbruch jäh einschlägt und am Ende des Scherzohauptteils die von Sforzato-Akzenten durchzuckten Bassoktaven bei offenem Pedal chaotisch ausufern: Es sind solche Elemente der Dekonturierung und des Unerwarteten, die gegen das Ideal des reinen Tons und der klaren Konstruktion den anarchischen Grund von Material und Form ins Spiel bringen. Bspl. 17: Alkan, Scherzo diabolico (Roland Smith) [Tr. 7, 0´00–1´46] [1´46] Die zwölfte der 1857 veröffentlichten Etüden durch alle Molltonarten opus 39 überschreibt Alkan mit Le Festin d'Esope, Äsops Festmahl . Einem Kompen­dium raffiniertester Pianistik gleich setzt die Etüde eine Bühne von 25 Variati­onen in Szene, basierend auf einem äußerst eingängigen achttaktigen Thema: Bspl. 18: Alkan, Le Festin d'Esope (Marc-André Hamelin) [Tr. 10, 0´00–0´15] [0´15] Natürlich illustrieren Alkans Variationen keine Tierporträts nach dem Muster Äsops, des Vaters der antiken Fabelliteratur. Was in Le Festin d'Ésope an Tiere erinnert, liegt im Undomestizierten animalischer Spuren: im geräuschhaft fahrigen Ausdruck oder im lauthaft gestischen Tonfall, der sich bisweilen zu rasenden Läufen und panischen Fluchtbewegungen weitet. Erzeugt von einer launigen Charakterisierungskunst, die die These Sigmund Freuds vorweg­nimmt, nach der «die komische Wirkung, welche Tiere auf uns äußern», in der «Wahrnehmung solcher Bewegungen an ihnen (liegt), die wir nicht nachahmen können». Aufgrund des prägnanten Themas werden die Variationen in ihren Abweichun­gen mühelos vergleich- und erfassbar. Alkan wird zum hintersinnigen Rhapso­den, der die Musik spielerisch am roten Faden des Themengerüsts entlang­laufen lässt, um sie mit der Befreiung von angespannter Hörarbeit der Lust an der Komik und emotionaler Abfuhr zu öffnen. Bspl. 19: Alkan, Le Festin d'Ésope (Marc-André Hamelin) [Tr. 10, 3´09–3´24)] [Tr. 10, 4´10–4´40)] [0´45] «Tempestoso», «stürmisch», steht über den Variationen XXIII und XXIV, über einer Musik der verwischten Kontur, in der sich die Trennung von äußerer und innerer Natur aufhebt: Im Erschauern sollen Interpret und Publikum vielmehr ihrer eigenen verdrängten Natur innewerden. Sturm und seelischer Aufruhr werden ununterscheidbar und mit ihnen Drohgebärde und Furcht, Schrecken und Erschrecken. So lässt Musik Natur und Kultur in wechselseitiger Brechung changieren. Eingeschoben zwischen eine Jagdszene und eine triumphale Marschpartie wird Musik zur Zivilisationschiffre. Und der Virtuose zum Pros­pero von des Komponisten Gnaden, der im Klangsturm den Naturgrund der Gesellschaft freilegt. Hatte nicht schon zwanzig Jahre zuvor der Sittenspiegel der Tier-Mensch-Karikaturen in Grandvilles Métamorphoses du jour die bür­gerliche Welt auf ihre animalische Basis hin durchlässig werden lassen? Bspl. 20: Alkan, Le Festin d'Ésope (Marc-André Hamelin) [Tr. 10, 5´23–6´20(ab 6´13 ausbl.)] [0´57] Verliert sich die Coda in Alkans Le Festin d’Ésope schließlich in einigen Tak­ten motivischer Arbeit, klingt die Musik, als wollte sie ihr Gefangensein in der Maskerade der Variationen als einer ständigen Umgestaltung des Gleichen abschütteln, ohne doch an ein Ziel der Befreiung zu gelangen. Es klingt, als wollte Musik den Ton jenes Wörtchens «Mutabor» treffen, an das in Wilhelm Hauffs Märchen vom Kalif Storch die Rückverwandlung vom tierischen in den menschlichen Leib gebunden bleibt. Die Komik freilich, die Alkans Metamor­phosen über weite Strecken erregen und die bei Hauff das erlösende Wort im Lachen vergessen lässt, erstirbt am Ende des musikalischen Variationenrei­gens. Als wäre eben mit der Komik das Unterpfand zur ersehnten Entzaube­rung entschwunden. Nach dem fortefortissimo gesteigerten, schließlich er­mattenden Versuch, dem Motivlabyrinth zu entkommen, geistert das Thema nur noch geduckt und wie entstellt durch ein Schattenreich der Musik. Bspl. 21: Alkan, Le Festin d'Ésope (Marc-André Hamelin) [Tr. 10, 7´12(züg. aufbl.)–8´36] [1´24] Die Schlusstakte von Alkans Le Festin d'Ésope erinnern an die Spannung von Natur und Kultur. Beide sind aufs Engste vermittelt und doch durch einen schmerzlichen Riss getrennt, der sich dem identifizierenden Wort entzieht, weil die Sprache der Worte als eine der Ware immer auch entstellt ist. Eher schon lässt den Riss ein Lied ohne Worte fühlbar werden, wie es «dolce e semplice» im wiegenden 6/8-Takt der g-Moll-Barcarolle Alkans Klang wird; der Sprache nahe und doch wortlos und im ‹alla barcarola› das Wasser zitierend und das Meer, in dem sich wie bei Baudelaire innere und äußere Natur inein­ander verrätseln: «Oft trägt mich die Musik, dem Meere gleich, Zu meinem bleichen Stern, Durch Nebelrauch, durch Lüfte klar und weich Ich segle fern.» Bspl. 22: Alkan, Barcarolle op. 65, Nr. 6 (Marc-André Hamelin) [Tr. 9, 1´58(aufbl.)–3´48 ] [1´50] Johannes Bauer, Alkan oder „Polyphem kann auch polyphon sein“. Zur musikalischen Physiognomie des Second Empire (Dreiteilige Sendereihe für den Westdeutschen Rundfunk)

  • Johannes Bauer, Monteverdis "Orfeo" und Liza Lims "Oresteia"

    Vom Text der Zivilisation SWR 2001 Claudio Monteverdis Orfeo und Liza Lims Oresteia Die Orestie des Aischylos: ein unzeitgemäßer Sagenstoff aus dem alten Griechenland? Ein Stoff von vorrangig akademischem Interesse? Die australische Komponistin Liza Lim kommt zu einem anderen Ergebnis. Ihrer Oresteia von 1993 geht es um unvermindert brisante Urszenen der Menschheitsgeschichte. So versteht sich Lims »memory theatre« auf der Basis des antiken Dramas als ein Theater der Erinnerung und der Erkenntnis. Und als eine Arbeit am Mythos: als eine Arbeit an der Karte des kollektiven Gedächtnisses - gegen die zunehmende Enteignungsgeschwindigkeit des Vergessens. Der Gang in die Nacht der Sinne wird zu einer Spurensuche im Labyrinth von Gier, Gewalt, Verrat und Wahnsinn. Aber auch zu einem Abstieg in die Katakomben des Bewusstseins, hellhörig für das Verfemte und Verdrängte menschlicher Existenz, für die Träume, Ahnungen und Verblendungen. Komponiert werden solche Erkundungen mit der ganzen Bandbreite stimmlicher Artikulation, in die sich die Ästhetik des schönen Tons aufhebt. Dieser Luxus an Mitteln ermöglicht Lims Musik ein Höchstmaß an Tiefenschärfe: der Text der Zivilisation öffnet sich im Wechselspiel von Nähe und Ferne auf verborgene Lesarten hin, auf Abgründiges, auf Wundmale und Ekstasen. Mehr noch: der griechische Mythos verwandelt sich ohne übereilte Anbiederung und ohne philologisches Distanzgebaren in einen Spiegel der Gegenwart. Seit Monteverdi hat das Musiktheater immer wieder Themen des klassischen Altertums aufgegriffen. Fragt sich nur, worin die Unterschiede zwischen den Anfängen der Oper und ihrer Spätphase in der Auseinandersetzung mit dem antiken Mythos liegen. Was bedeutet es, dass sich Monteverdis Orfeo dem grausamen Tod seines Helden verweigert, während Lims Oresteia auf die Rituale eines »Theaters der Grausamkeit« setzt? Was ist bei Lim aus dem Ideal einer Stimme geworden, die im Orfeo selbst noch die exzentrische Bahn der Leidenschaft auf das Vernunftgebot des klaren Sprechens und reinen Singens hin ausrichtet? Und was bedeutet die Entfesselung des Körpers in der Neuen Musik für die klassische Operntradition? Fragen, die im Versuch einer Antwort einiges zum Befund und zum Verständnis des archaischen Unterbaus der Moderne beitragen können. A Wie tief muss Musik schneiden, um auf den Grund der Zivilisation zu gelangen? So tief? Bspl. 1: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 20, 2´15´´–3´02´´] [0´47´´] B Oder verlangt der Abstieg in die Katakomben der Zivilisation andere Schnitttechniken? Schärfere? Bspl. 2: Lim, Oresteia [Tr. 2, 3´25´´–4´06´´] [0´41´´] A Und was heißt überhaupt Zivilisation? Was Grund? B Vielleicht kann uns fürs Erste Goethe weiterhelfen. »Glaube mir«, schreibt er 1781 an Lavater, A «unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.» B Früh schon hatte Goethe A «in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht.» B Man erkennt hier den Blick in einen «Grund», in dem, wie der Philosoph Schelling es formuliert, immer noch A «das Regellose (liegt), (...) und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden». B Eines allerdings ist sicher: um auf den Grund zu kommen, müssen die Decksteine angehoben werden. Wie sieht es also aus, dieses Anheben der Decksteine in Claudio Monteverdis Orfeo und Liza Lims Oresteia ? Wie hört es sich an? Bspl. 3: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 2, Tr. 11, 0´43´´–2´15´´] [1´32´´] A Claudio Monteverdi, Orfeo , fünfter Akt. Orpheus, der Sänger, der Heros, in auswegloser Lage. Orpheus, nach seiner Hadesfahrt, nach der misslungenen Befreiung Eurydikes aus der Unterwelt, dem Selbstmord nahe. B Uns interessiert hier der Triumph des heroischen Subjekts, das für einen Augenblick die Weltordnung außer Kraft setzt, das Gesetz von Leben und Tod, das im Moment des Triumphs aber, beim Versuch der Rückführung Eurydikes, umso tiefer stürzt. Wie komponiert Monteverdi dies alles? A Zunächst einmal ist im fünften Akt kaum noch etwas von jener Souveränität zu spüren, die den Gesang des Orpheus vor Charon auszeichnet. Nichts von jener virtuosen Vokalrethorik des «Possente spirto», das im dritten Akt das Tor zur Unterwelt öffnet. Bspl. 4: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 6, 0´00´´–1´15´´] [1´15´´] A Im fünften Akt dagegen unterliegt der Vokalpart des wahnsinnsnahen Orpheus Schwankungen in der Deklamationsgeschwindigkeit. Die melodischen Linien wirken zusammenhangsloser, das modale Zentrum beginnt beunruhigend zu irisieren. Verzweifelt am Leben, ein Frauenhasser zuletzt, wird Orpheus eher vom Gesang gesprochen, als dass er den Gesang steuern würde. Bspl. 5: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 20, 2´15´´–3´02´´] [0´47´´] B Nach dem zweiten und endgültigen Verlust Eurydikes wird die Ausdrucksregie vom Pathos der Klage regelrecht zersetzt; als würde der Schmerz das singende Subjekt ausfransen, zum Fragmentarischen hin auflösen. A Ob das nicht etwas zu stark formuliert ist? Zu stark, indem sich damit der Abstand zwischen Monteverdi und einer Musik aufhebt, wie sie knapp 400 Jahre später die 1966 geborene australische Komponistin Liza Lim komponiert hat: in ihrer Oresteia von 1993. Bspl. 6: Lim, Oresteia [Tr. 4, 0´00´´–3´05´´] [3´05´´] B Geht man vom Kontrast zwischen Monteverdi und Lim aus, hört sich Monteverdis Musik zunächst fast idyllisch an. Vergleicht man die Ausdrucksregister von Monteverdis Orfeo allerdings immanent miteinander, wird der Verzweiflungston zu Beginn des fünften Akts schon deutlicher. A Nochmals also die Frage: wie tief ist kompositorisch zu schneiden, um auf den Grund der Zivilisation zu kommen? Oder, anders gefragt: droht sich Monteverdis Orpheus am Ende tatsächlich in die Nacht des Wahnsinns zu verlieren? B Sicher ist es zunächst der Wendekreis des heroischen Subjekts, der Monteverdi fasziniert. Genauer: der Umschlag von Autonomie in Autismus; vom Bewusstsein der Allmacht in Zerrüttung und Einsamkeit. Schließlich verstummt im fünften Akt des Orfeo selbst noch das Echo als einziger akustischer Spiegel des Narziss. Nicht nur die Natur versteinert dem einstmals selbst Felsen erweichenden Sänger zur natura morta, auch der Gesang erstarrt zu einem gnadenlos in sich geschlossenen Monolog. Selbst von der Musik vermag Musik nicht mehr getröstet zu werden. Bspl. 7: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 19, 3´49´´–Tr. 20, 1´04´´][2´12´´] A Kann aber Monteverdis Musik überhaupt so etwas wie Wahnsinn ausdrücken? Schließt nicht die syntaktische Unversehrtheit von Monteverdis Musik und Sprache den delirierenden Gestus von vornherein aus? B Ob Monteverdis Musik und Sprache gar so konsistent ist, sei zunächst dahingestellt. Machen wir uns lieber klar, dass der Orfeo von 1607 aufs Engste jenen weltliterarischen Gipfelwerken benachbart ist, in denen der Wahnsinn des modernen Individuums ebenso früh wie exemplarisch thematisiert wird. Shakespeares König Lear nämlich und Cervantes' Don Quichotte , beide 1605 erschienen. Und war nicht auch der vom Wahnsinn geschlagene, umherirrende, zuweilen internierte Dichter Torquato Tasso, von Monteverdi überaus geschätzt, eng mit Mantua verbunden? Nämlich ein Schützling des gleichen Herzogs Vincenzo I., der 1590 Monteverdi an den Hof der Gonzaga geholt hatte? A Demnach stünde Orpheus im fünften Akt genau an dem Punkt, an dem der Don Quichotte des Cervantes und Shakespeares Lear zu ihrer Fahrt im Irrgarten des Wahnsinns aufbrechen. Wäre, B ja wäre da nicht Apollon. Apollon also, der dem Hoffnungslosen Rettung durch Sublimierung verheißt. In Maximen, die da lauten: A «Ewigen Ruhm (...) verdient nur der, der sich selbst besiegt»; nur die ‹himmlischen›, unvergänglichen Freuden gewähren das Glück von «diletto e pace», von «Freude und Frieden», nicht aber der ‹vergängliche› Genuss ‹irdischer› Leidenschaft. Und vor allem: Ìçãå`í à¢âàí : nichts zu viel! Zu große Freude, zu tiefes Leid; das «troppo gioisti» und «troppo piangi»: sie sind nach Apoll die Extreme, deren Überwindung zum «immortal vita», zum «ewigen Leben» führt. ​ Bspl. 8: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 2´24´´–3´14´´] [0´50´´] B Werden demnach bei Monteverdi die maßlosen «affetti» von Liebe und Leidenschaft dem Maß einer rigorosen Affekt-Ökonomie unterworfen? A Maß nimmt diese Ökonomie vor allem schon am Arbeitsethos der protestantischen Ethik und ihrer Pflicht des Aufschubs als einer besonders raffinierten Art der Selbstverleugnung. An einer Ökonomie, die Arbeit als göttliche Sinnstiftung begreift und als das beste Mittel gegenseitiger Anerkennung. B Und als ein Mittel zur Bewältigung der Einsamkeit des Individuums in einer Welt schwindender verbindlicher, gar göttlicher Wahrheiten. Einer Welt, die ihrerseits gerade infolge schwindender Wahrheiten so etwas wie das Bewusstsein von Individualität erzeugt: in all seinem Glanz, aber auch in all seiner Ohnmacht. A Deshalb ist die Rettung, die Apollon gewährt, eine Rettung, die das Subjekt aus sich heraus nicht zu Stande bringen kann. B Apollon also. Er ist es auch, der in Liza Lims Oresteia eine zentrale Rolle spielt. Nun aber gerade als eine subjektauflösende, zerstückelnde, polyphone Macht, eingezogen ins Binnenszenarium der Psyche. Eine radikal veränderte Perspektive von Subjektivität und Individualität somit, die Lim vornehmlich am Beispiel der Seherin Kassandra demonstriert. Und eine Perspektive, die bis ins Innerste der Faktur hineinreicht. A Dies zeigt sich schon am Beginn der Oresteia : einem keuchenden Atemgrund im dreifachen Piano aus gedämpftem Schreien und Stöhnen. Ein Grund von «mysteriösem Timbre», der – laut Partitur – die Unterscheidung nach Lust oder Schmerz hinter sich lässt, ohne deshalb ins Unerklärliche zu entgleiten. Mysteriös, weil sich in der Welt des Berechenbaren die Vieldeutigkeit des Atmens um den Bereich des Unheimlichen streut. B Aus diesem Atemgrund heraus erzeugt Lim erste Artikulationen – wie unter Geburtswehen, einer schmerzhaften Initiation gleich. «Otototoi popoi da»: Kassandras Stammellaute – pulverisierte Sprache in einer Grau- und Dämmerungszone zwischen Laut und Wort, nahe am Delirium. Bspl. 9: Lim, Oresteia [Tr. 1, 0´00´´– 1´23´´] [1´23´´] A Übrigens finden sich einige der sprachlichen Entgrenzungen von Lims Oresteia bereits in der griechischen Tragödie. Ihr war über das Ritual des Totenkults ein breites Repertoire an Verzweiflungsgesten geläufig. Vom Zerreißen der Kleider über das Zerkratzen des Gesichts und das Ausreißen der Haare bis hin zu heftigen Faustschlägen auf Brust und Erde. Und natürlich kannte die antike Tragödie auch ein entsprechendes Register verbaler Ausbrüche: Interjektionen des Entsetzens, des Ekels, des Jammers. Einige jener stöhnenden und lallenden Laute also, die Lims Oresteia so virtuos auskomponiert. B Neue Musik und griechische Tragödie – beide gleich nah am körperlichen Grund der Sprache? A Zumindest in einigen Facetten. So lässt auch Aischylos den Auftritt Kassandras mit den silbischen Konvulsionen «Otototoi popoi da» beginnen. B Und so gleitet Kassandra auch bei Lim in die helle Nacht prophetischer Ekstase. Verspannt zwischen Schrei und Schweigen – «otototoi popoi da» – von den Rändern der Sprache her kommend und auf sie zulaufend. Bspl. 10: Lim, Oresteia [Tr. 1, 0´00´´–1´23´´] [1´23´´] A Auch wenn die Zwischenwerte nicht zu überhören sind: müsste man für Lims Oresteia eine Palette der Grundfarben angeben, so wäre es die von schwarz, rot und grau, die von Tod, Blut und Asche. Noch die Sprache pulverisiert Lim immer wieder zu einer Asche von Lauten und Silben. Als Spur einer Gewalt des Sujets B aber auch als Spur eines dionysischen Elements der Sprache. Sprache muss von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können. Sie muss in ihren Bedeutungen sterben, um neu geboren und für Ausdrucksbereiche empfänglich zu werden, die dem konventionellen Sprachgebrauch verschlossen sind. Deshalb bricht Lims Musik zusammen mit dem logischen Ausschlusscharakter der Sprache die Mauern des Bewusstseins auf, die Dinge und Welt einschließen, um das hinter diesen Mauern liegende Terrain in den Blick zu bekommen. A Bei Lim erzeugt die Sprache des Körpers den Körper der Sprache. Formt sich die Sinnspur durch das Gitter des Begriffs hindurch, dann verdunkelt sich der Sinnzusammenhang, sobald das Gitter des Begriffs geweitet oder zerbrochen wird. Erst jetzt aber kann Sprache auf ihren körperhaften Grund hin dekomponiert werden. B Und was für eine Sprache. Oft genug löst sie sich in Lims Oresteia in ein Gestöber von Lautpartikeln auf. Oft erstickt sie an sich selbst. Oder sie gerät ins Taumeln. Immer wieder werden Satz und Urteil zum Schrei zerrieben. An anderen Stellen treiben Körperlaute und Atemgeräusche wie Hauchen, Wimmern, Flüstern, Stottern, Röcheln oder Stöhnen entgrenzte Bedeutungshöfe aus dem Innern der Sprache hervor, nach Luft ringend, stimmlos, gepresst. Bspl. 11: Lim, Oresteia [Tr. 3, 2´46´´(aufbl.)–5´25´´] [2´39´´] A Diese Sprachlava hängt eng mit Lims analytischer Sensibilität für die Fusion von Macht und Wahrheit, von Recht und Gewalt zusammen. Fusionen, die am besten mit einer Sprache der Detonation zu entlarven sind. Wenn in der zweiten Sequenz von Lims Oresteia an die Opferung Iphigenies erinnert wird, zu der ihr Vater Agamemnon sich gezwungen sah, um günstige Winde für das Auslaufen der griechischen Flotte nach Troja und damit in den Krieg zu erreichen, dann kommentiert der Chor das Ungeheure zunächst mit dem Zweckkalkül der Kriegslogik: «The war-effort wants it, the war-effort gets it». Bis sich das Einhämmern der Parole zu einer Hysterie steigert, in der Sprache sich überschlägt und mit ihrer Raserei zugleich den Wahnsinn von Krieg und Zerstörung aufdeckt. Bspl. 12: Lim, Oresteia [Tr. 2, 1´06´´–2´10´´] [1´04´´] A Wenig später, als ein Herold das verbrannte Troja beschwört, laufen die Worte vom «empire gone putrid» irre stotternd aus der Bahn. Als wäre der Versuch, das Unfassbare von Trojas «dahingefaultem Reich» der regulären Sprache einzugemeinden, selbst nichts anderes als eine Kollaboration mit der Gewalt. Bspl. 13: Lim, Oresteia [Tr. 2, 2´10´´–3´24´´] [1´14´´] B Ein Anheben der Decksteine demnach auch auf dem Gebiet der Sprache. Das bringt uns wieder zum Motiv des Wahnsinns zurück. Und zum Motiv, dass auch der Wahnsinn geschichtlich gebrochen ist. Welten etwa liegen zwischen der Diagnose des Wahnsinns als Wahnsinn, das heißt seiner Interpretation als Krankheit um 1600, und dem manisch-göttlichen Ergriffensein seiner antiken Physiognomie, geschweige denn seinem modernen klinischen Formenkreis. A Können mithin der Wahnsinn von Monteverdis Orpheus und der von Lims Kassandra überhaupt miteinander verglichen werden? B Vergleichbar sind sie zumindest als Phänomene der Abweichung, als Stadien des Deliriums. Sofern man Delirium, der Medizin des 17. Jahrhunderts entsprechend, als eine Abweichung von der «lira» versteht, von der Furche, vom gebahnten Weg. Delirium folglich als ein «de lira ire», als ein Verlassen der geraden Linie. A Trotzdem. Mag der Monolog im fünften Akt von Monteverdis Orfeo auch an die Grenze der Zerrüttung führen: die personale Einheit des Protagonisten bleibt gewahrt. Im Gegensatz zur Bewusstseinsspaltung Kassandras bei Lim. Während der Wahnsinn bei Shakespeare und Cervantes sich zur Maske einer zweiten Identität formt, zersplittert Kassandras Identität in multiple Facetten: «dismembered by her». Bspl. 14: Lim, Oresteia [Tr. 3, 9´23´´–10´45´´] [1´22´´] A Ist der zivilisatorische Druck so angestiegen, ist das Leben so tödlich geworden? B Mit solchen tragischen Komponenten sollten wir vorsichtig sein. Ebenso gut könnte man sagen: während bei Lim der Wahnsinn Kassandras die Aura einer Entgrenzung des Subjekts annimmt, bedeutet die Zerrüttung des Orpheus bei Monteverdi primär eine Schmach. Zumindest vom Libretto her. Nämlich eine charakterschwache Abweichung vom Ideal der Sublimierung, das den körperlichen Verlust Eurydikes mit der Zähmung der Leidenschaft rechtfertigen wird. A Ewigkeit ist eben nur um den Preis des Triebverzichts zu haben. B So jedenfalls lautet das Gesetz des Gottes der Contenance, das Gesetz Apollons. Ein Gesetz der Mäßigung A und ein Gesetz des Vaters, durch das der Gott dem gedemütigten Orpheus, der dem Mythos nach Apollons Sohn ist, die nötige Rettung zubilligen kann. Selbstverständlich spielt hier das Tugend-Ideal der Platon- und Aristoteles-Renaissance eine Rolle. B Tugend verstanden als die goldene Mitte zwischen den Extremen A und als eine stoische Überwindung der Leidenschaften. Die apollinische Balance soll sicher über den Abgrund und durch die Hölle der Sinnlichkeit geleiten, von der im Schlusschor des Orfeo die Rede ist. Sicherheit im Dienst des paternalen, B des patriarchalen A Regelwerks der Zivilisation. So wird die Himmelfahrt des Orpheus zum feudalen Gnadenakt, ebenso göttlich wie fürstlich. B Und deshalb kann in Ponnelles Züricher Orfeo -Inszenierung Apoll auch in der Gestalt des Großherzogs von Mantua auftreten, um das aus seiner Bahn geschrittene, selbstherrliche Individuum wieder in die Ordnung des fürstlichen Staatswesens einzubinden. – Aber zurück zur Sublimierung. Was bedeutet es, dass Orfeos ängstlich-bange Frage nach einem Wiedersehen mit Eurydike von Apoll mit der ungemein verführerischen Wendung beantwortet wird: A «In der Sonne und in den Sternen wirst du ihre schöne Gestalt erkennen». «Nel sole e nelle stelle vagheggerai le sue sembianze belle». Bspl. 15: Monteverdi, Orfeo [Harnoncourt: CD 2, Tr. 32, 2´57´´–3´27´´] [0´30´´] B Bedeutet Apolls schmeichelhafte Dolce-Wendung eine Verführung zum Verzicht? A Oder artikuliert sie den Schmerz des endgültigen Abschieds? B Oder beides? A Oder noch viel mehr? B Sicher ist nur, dass die Himmelfahrt des Orpheus zum Läuterungsunternehmen und Apoll zur Läuterungsinstanz wird. A Zu einer Instanz, die hinter ihrer antiken Maske das christliche Antlitz nur schwer verbergen kann. War doch das sonnenhafte Changieren von Christus und Apollon schon lange ein Topos der christlichen Kunst. B Und der geläuterte Orpheus als vernichteter und wieder auferstandener Heros selbst eine bekannte Christusparallele. A Ein Phönix, der zum Himmel aufsteigt. Bspl. 16: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 4´02´´–5´12´´] [1´10´´] B Fragt sich nur, was wir mit der Asche dieses Phönix machen. Mit der zu Asche geläuterten Sinnlichkeit. Oder mit dem Feuer der Leidenschaft, das brennt und verzehrt und erstickt werden muss. Erstickt, weil wieder einmal die alte Tragödie vom Widerstreit zwischen Geist und Natur aufgeführt wird, drapiert zum Triumph wahrer Ewigkeit über schale Vergänglichkeit. A Unbestritten ist das eine Dimension des Orfeo . Hindurchgegangen durch die Zerstörungsmacht von Lust und Schmerz bis hin fast zum Identitätsverlust, eröffnet sich für Orpheus der Aufstieg: «Saliam cantando al Cielo»: «Singend steigen wir zum Himmel empor». Bspl. 17: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr. 21, 4´02´´–5´12´´] [1´10´´] B Orpheus, ein Auserwählter. Einer, an dem erst die Fallhöhe von Verblendung und Sturz und der dunkle Grund von Opfer und Tod das Göttliche zur Erscheinung bringt. A Blind vor Leidenschaft sein, um sehend zu werden, heißt die Devise. Eine frühe Form des Prinzips «Durch Nacht zum Licht». Denn erst in der Katastrophe schlägt die Nacht der Leidenschaft in den Tag des wahren, sinnlichkeitsentrückten Bewusstseins um. B All dies hat mit dem Glanz und dem Elend des frühen Subjekts in einer Welt zunehmender Autonomiegebote zu tun. Und mit den ersten Exilen von Einsamkeit – mögen auch Orpheus' Abstieg in die Unterwelt, sein Wiederaufstieg zur Erde, das Herabsteigen Apolls vom Himmel, endlich das gemeinsame Auffahren in die hohen Sphären die innere Landschaft des Menschen nahezu verlässlich durchqueren. Das heißt die Regionen von Körper, Geist und Seele, die sich in der Topographie von Unterwelt, Erde und Himmel spiegeln. A Die Aufklärung indes, mit der Apollon die Anmaßung ins rechte Maß zurückführt, ist dem Tag geschuldet: am Ende einer Fahrt in die Nacht der Sinne. B Dennoch ist Monteverdis Musik mehr als nur ein Manifest zur Läuterung der Passionen im Prozess der Selbsterkenntnis. Mit ihrer Irrfahrt durch den Sturm der Affekte formuliert sie zugleich das Drama von Liebe und Tod und das von der Desillusionierung der Träume. Und sie macht bewusst, was sich im Licht von Renaissance und Aufklärung allmählich alles zu verdunkeln begann, um in der taghellen Nachtblindheit der Moderne und im Funktionalismus des Lebens schließlich konturlos zu werden: vornehmlich die soziale Einbindung von Schmerz und Tod. Ohne Rituale und öffentliche Räume lassen Schmerz und Tod erst in ihrer Tabuisierung erkennen, was ein solches Tabu für das Leben bedeutet. Wenn dagegen im zweiten Akt von Monteverdis Orfeo der Tod jäh in die Lust der pastoralen Idylle einbricht, bleibt die Intensität des Ausdrucks dieselbe, nämlich eine des leidenschaftlichen Chiaroscuro – eben weil die Sphären nicht zerrissen sind. Bspl. 18: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 9, 0´00´´–Tr. 10, 0´38´´] [3´29´´] B Von hier aus ergeben sich grundlegende Korrespondenzen zu Lims Clair-obscur; zu ihren Mischungen von Hell und Dunkel und zu ihrer Musik eines Bündnisses von Tag und Nacht, von Leben und Tod, gegen deren ökonomieverrückte Spaltung. Wie Monteverdi formuliert ja auch Lim ein Stück Zivilisationskritik. Schon indem ihre Musik kein Stimmgeräusch als zu unrein ausschließt. Damit nimmt sie die Ausgrenzungsgewalt des Zivilisationsprozesses ein Stück weit zurück. Zu Gunsten des im Namen von spiritueller und technischer Reinheit Tabuisierten, des körperhaft Unreinen und geräuschhaft Unterirdischen. A Steht diese Rehabilitation des Verfemten nun aber nicht doch in einem unüberbrückbaren Kontrast zur Klarheit der verbalen wie der musikalischen Sprache bei Monteverdi? Seine Praxis hebt ja gerade auf den Vorrang des Worts ab, auf den Geist der Sprache. Das verständlich gesungene Wort – eine Offenbarung der Vernunft, selbst wenn das Wort im Feuer des Affekts auflodert. Übrigens zeigt sich diese Hochschätzung des Worts auch darin, dass das Orfeo -Libretto bei der Aufführung von 1607 an das Publikum verteilt wurde – zum Mitlesen. So reguliert in Monteverdis Orfeo ein apollinisches Prinzip selbst noch der Sprache den Affekt. Noch im Strudel der Verzweiflung hat Sprache die Affekte magnetisch zu binden. Und nur innerhalb dieser Ordnung des klaren Worts können sich Abweichungen ergeben. B Und doch wird auch Monteverdis Orfeo von einem unhörbaren, unterirdischen Lärm grundiert. Vor allem in der Stille und Einsamkeit des fünften Akts. A Und was sollte das für ein Lärm sein? B Wahrscheinlich ist es der Lärm vom erstickten Aufruhr der Leidenschaft. A Trotzdem. Selbst wenn sich die Naht zwischen Ich und Welt aufzulösen beginnt: Monteverdis Orpheus muss nicht röcheln, nicht stöhnen, nicht schreien. B Muss er nicht oder darf er nicht? Auf alle Fälle umkreist Monteverdis Geometrie der Passionen ein Areal der Wunden. Trotz, ja gerade wegen ihrer Souveränitätsmuster ist Monteverdis Orfeo eine Fahrt über den Styx des Bewusstseins. A Und doch endet der Orfeo nicht dionysisch-anarchisch, nicht tragisch. B Zumindest nicht vordergründig. Gleichwohl erfolgt das Erscheinen Apollons entgegen jeder Subjektpotenz von außen her, nach dem Deus-ex-machina-Prinzip. Und endet der Orfeo nicht mit der berühmten «Moresca», jenem seinem Ursprung nach zutiefst heidnischen Tanz? Mit einer hochgradigen Verstörung des Läuterungskonzepts also? Bspl. 19: Monteverdi, Orfeo [Rogers/Medlam: CD 2, Tr.23 (ganz)] [1´00´´] B Erinnern wir uns: A «Es ist kein Zeichen von einem großen Herzen, der Leidenschaft zu dienen». B So die Botschaft Apollons an den verzweifelten Orpheus, die «Freuden der Ewigkeit» gegen die Flüchtigkeit des sinnlichen Augenblicks zu setzen. Und flüchtig wie ein sinnlicher Augenblick lässt auch noch der schmerzhaft kurze Zauber der «Moresca» das Leben als Schaum erscheinen. Weit mehr aber irritiert dieser Tanz das Ziel der Läuterung. A Die Himmelfahrt des Orpheus bleibt also geerdet? B Sie bleibt geerdet, weil das Oben an das Unten gebunden bleibt. Mag die «Moresca» auch das Gebot der Läuterung wie mit einem letzten sinnlichen Trost versüßen: ihrem tänzerisch bacchantischen Sog, ihrer Körperlichkeit kann die Idee der Sublimierung nur schwer standhalten. Es ist, als würden die apollinischen Attribute von Leier und Bogen zerschlagen, deren straff gespannte Saiten und Sehnen selbst etwas Strangulierendes an sich haben. Bspl. 20: Monteverdi, Orfeo [Harnoncourt: CD 2, Tr. 34 (ganz)] [0´46´´] A Das Unternehmen Zivilisation: von Monteverdi wird es in Richtung einer Naturgeschichte des Geistes reflektiert. Und von Lim? B Ihre Oresteia kann nicht davon absehen, dass dem abendländischen Rationalisierungsprozess seine Natursedimente über weite Strecken lediglich nach dem Zwangsmuster von Bedrohung und Unterwerfung in den Blick kamen. A Mit diesem Memento wird Musik bei Lim wie bei Monteverdi zu einer Arche des Bewusstseins. Zumal sich auch noch einer der Gründe für die Gewalt- und Zerstörungseruptionen in Mythos und Geschichte aus dem Vergessen herleitet. Aus dem Vergessen als dem Gegensatz zu Mnemosyne und Eros, den Kräften von Eingedenken und Wiedererkennen. B Kräfte, auf denen Lims Konzept eines «memory theatre» basiert. Nicht umsonst ist «Mnemosyne» im Mythos die Mutter der Musen und der Künste. Die Mutter von Poesie und Musik, die nicht vergessen können. A Mnemosyne, Eingedenken aber auch verstanden als jener Prozess der Bewusstwerdung, den Lims Musik mit einem Höchstmaß an Tiefenschärfe in Szene setzt, bis die Arbeit am Mythos den Text der Zivilisation auf neue Lesarten hin öffnet. B Und indem Lim mit avanciertesten Mitteln den verwischten, vernarbten, zum Teil unkenntlich gewordenen Spuren des archaischen Erbes im Zivilisationsterrain nachspürt, bricht sich dieses Erbe im Erfahrungsraum moderner Angst- und Katastrophenerfahrungen. Geschichte offenbart sich als Mythos mit anderen Mitteln. A Lims Oresteia zeigt, dass es im Mythos der Orestie um brisante Urszenen der Menschheit geht. In der Geschichte vom Krieg um Troja also, von der Ermordung des siegreich aus Troja heimkehrenden Königs Agamemnon durch seine Gemahlin Klytaimnestra oder in der Geschichte von der Tötung der Seherin Kassandra, die Agamemnon als Kriegsbeute und sexuelles Freigut zufiel. Schließlich in der Geschichte von der Blutrache des Orest an seiner Mutter Klytaimnestra und der Entsühnung des Mörders. Von diesem Material her arbeitet Lims «memory theatre» an einer Karte des kollektiven Gedächtnisses – gegen dessen hohe Enteignungsgeschwindigkeit. B Lim geht es um das unerledigte Erbe aus dem «Schlachthaus» des Mythos, wie das schon bei Aischylos heißt. Um seine aktuelle Hypothek in den zwischen Geburt und Tod verspannten Geschlechter- und Generationskonflikten und den Szenarien von Macht und Krieg. Deshalb seziert Lim das Gefüge des Mythos: seine Vergeltungssymmetrien und -serien aus Gier und Mord, Verrat und Gegenverrat. A Und sie weitet diese Symmetrien über Aischylos hinaus aus, indem sie frühere Stränge des Mythos einbezieht. So in der Bankett-Szene das Motiv der Schlachtung und Einverleibung von Blutsverwandten, oft der eigenen Kinder, aus Gründen des Götterfrevels, der Vertuschung oder der Rache. Damit werden Mahl und Gelage in Lims Oresteia zu Schlüsselsequenzen für die verschlingende Zeit des Mythos, einer vom Fressen und Gefressenwerden. Komponiert wird dies alles in einer musikalischen Sprache, die an ihren Tönen und Worten wie an Innereien und Eingeweiden zu ersticken droht. Und noch etwas: Lim komponiert hier eine Kassandra, deren Ekstase Zeit entsiegelt: in den Zeitstaus, Zeitrissen und Zeitkorridoren wird die Prophetie des Grauens auf Gegenwart hin durchlässig, werden Vergangenheit und Gegenwart verwechselbar. Bspl. 21: Lim, Oresteia [Tr. 3, 0´00´´–2´50´´(ab 2´47´´ausbl.)] [2´47´´] B «It stinks like an abattoir drain» – «Es stinkt wie der Abzugsgraben eines Schlachthauses»: Kassandras Diagnose der Gräuel des Atridenhauses gibt die Richtung für die Spurensuche in der Krypta des Bewusstseins vor, hellhörig für die Träume und Wünsche des Unbewussten und seine Schubkräfte von Lust und Zerstörung. A Es leuchtet ein, dass sich eine solche Lesart von Zeit und Geschichte nicht an den Einbahnstraßen von Sinn und Moral orientieren kann. Lim vertont die Orestie nicht in Form einer dramatisierten Nacherzählung. Für sie wird der Mythos zu einem Kraft- und Resonanzfeld der Zeichen und Aktionen im Spiegel des Heute B und zu einem Tableau der Wechselwirkungen von Schuld und Gewalt, die sich immer wieder zu dem aufschaukeln, was die Physik eine Resonanzkatastrophe nennt: zu einem Schwingungsgleichklang der Gewalt mit katastrophischen Folgen. A Zurück zu Monteverdi. Bei ihm hängt die syntaktische Konsistenz der musikalischen und verbalen Sprache eng mit dem Repräsentationscharakter der Musik zusammen. Das heißt mit dem Charakter des Festlichen, des Erzählens und der Erbauung, wie ihn kürzelhaft schon die Eröffnungsfanfare des Orfeo verdichtet. Eine fünfstimmige Trompeten-Toccata, feierlich-zeremoniell, eine Reverenz zugleich an den Großherzog von Mantua, mit feudal-kriegerischem Herrschaftskolorit und einer Signalwirkung, die auf das kommende Spektakel hinlenken soll. Bspl. 22: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 1, 0´05´´–1´37´´] [1´32´´] B Fanfaren, oder was davon übrig geblieben ist, können allerdings auch anders klingen, zumal am Ende eines Stücks. Etwa so: Bspl. 23: Lim, Oresteia [Tr. 7 (ganz)] [1´58´´] B «Athena's trumpet», «Athenas Trompete» überschreibt Lim das Ende ihrer Oresteia -Komposition. Es ist ein Ende, das mit den hohen und hellen Valeurs von Sopran und Piccolotrompete wie aus weiter Ferne vom barocken Glanz zehrt. Einem Glanz, auf den auch die Vortragsanweisung anspielt: «With an unearthly brilliance», «mit überirdischer Brillanz». Gleichzeitig verweist diese Hoheitssymbolik auf den Schluss der Orestie des Aischylos, wenn der von den Furien gehetzte Muttermörder Orest auf den Rat Apollons hin nach Athen flüchtet, um dort von seiner Blutschuld entsühnt zu werden: durch die Rechtsinstitution des Areopags; jenem von der Göttin Athene aus freien Bürgern versammelten Gerichtshof, der den Mythos der Blutrache aufhebt. A Auch hier interessiert Lim wieder ein Tableau, das den blutigen Grund des Rechts nicht außer Acht lässt. Deshalb vor allem verläuft dieses Finale von der Höhe des ‹Überirdischen› in abgründige Tiefe. Ablesbar an den instrumentalen und vokalen Fallkurven. So sinkt etwa die Trompete, nun als «rau» und «roh» charakterisiert, mit «halbem Ventil» in die Zone der Pedaltöne unterhalb des Grundtons des Instruments ab. Kurz zuvor hatte bereits die Singstimme ihre lange Abwärtsbewegung auf der ersten Silbe von «FURY» begonnen. «Fury», das furienhafte Leitmotiv der Raserei in Lims Oresteia, nunmehr auch das letzte Wort der Komposition. Endlich dann, nach einem heftigen, gewaltsamen Ausatmen, ein Abdriften der Stimme ins pure Atemgeräusch und «al niente» ins Nichts. Damit schließt sich Lims Oresteia über den gemeinsamen Atemgrund von Anfang und Ende zum Kreis, der Grundfigur des Mythos. B Mit dem Unterschied freilich, dass bei Lim der komponierte Prozess der Bewusstwerdung die mythische Kreisform aufbricht und Musik zur Zäsur wird. Am deutlichsten wohl, wenn der Sopran in «Athena's trumpet» die Leitmotive von «memory», «dream» und «FURY», von «Eingedenken, Traum und Raserei», signalhaft präsentiert und zugleich silbisch demontiert: als Postulat, als Memento und als Menetekel. Bspl. 24: Lim, Oresteia [Tr. 7 (ganz)] [1´58´´] A Als ginge es um den «Hauch» der Zivilisation, von dem Hegel spricht: nicht anders wirkt das Atemgeräusch am Ende von Lims Oresteia – ein hintergründiger Kommentar zum Projekt Menschheitsgeschichte auf der Bühne eines «Theaters der Grausamkeit»; ohne Verklärung und ohne Fatalismus. B Zumal im Motiv des Atmens kommt diese Hintergründigkeit zum Tragen. Im Atemgeräusch, das Lim der menschlichen Gattung wie zur Erinnerung an den eigenen Naturgrund einzuschreiben scheint und das doch zugleich in die individuelle Existenz hineinreicht wie keine Sprache sonst. Atmen als Einspruch von Leben. A Atmen aber auch als das Pendant von Ersticken und Tod. In diesem Spannungsfeld wird bei Lim der Sprachschatten des Atmens zu einer mächtigen Schattensprache, die in den archaischen Unterbau der Moderne hinabreicht. B Es wäre unsinnig, Monteverdis Orfeo und Lims Oresteia nach Maßgabe eines Fortschritts der Kunst gegeneinander auszuspielen. Wesentlicher ist die Korrespondenz beider Werke über die Zeit hinweg. Offenbart Monteverdis Musik die Gestehungskosten der Sublimierung – darin ein Gedächtnistheater eigener Art –, wird Lims Musik zum «memory theatre», weil sie unter dem Sujet der Gewalt nicht zerbricht. Sie gibt dem Triebpotenzial der Zivilisation eine körperhafte Sprache und damit mehr als einen bloßen Reflexionstribut. Und, wie gesagt, es sind gerade Lims Verschiebungen an den Grenzen der Sprache, die die Musik zu einer Archäologie des Verschütteten schärfen. Zu einer Archäologie, die die Oberfläche der Welt aufraut, bis sie rissig wird und einen Blick auf das freigibt, was Goethe die «unterirdischen Gänge, Keller und Kloaken» genannt hatte. Sicher: es sind schärfere Schnitte als bei Monteverdi, die Lims kompositorisches Skalpell durch den Körper des Mythos zieht. Schnitte, die den Muskel- und Sehnenapparat seines Aktionsradius sichtbar machen und seine Wundherde und Schmerzzentren wie in einer Operation am offenen Herzen der Zivilisation freilegen. Und doch – mögen die Schnitte bei Lim auch schärfer geworden sein: mit gleicher Schärfe ist zu sehen, wie bei Monteverdi der Affekt die Ordnung des Logos aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. A Außerdem, selbst wenn im Hintergrund von Monteverdis Orfeo ausgefeilte Symmetrien Regie führen: vom barocken Zentralaffekt und von der tonalen Funktionsharmonik her wirkt die Musik des Orfeo geradezu exotisch. Statt einer hierarchischen Organisation ein eher rhapsodischer Diskurs mit knappen akkordischen Zielgefällen. B Eben dieses reihende Modell aber wirkt wie ein Modell der Konstellation. Wie der Kontrapunkt einer stellaren Streuung der Struktur in ihrer Spannung zur apollinischen Idee des Orfeo: zur Idee von Läuterung und Charakterstärke also, orientiert am Zentralismus von Sonne und Tag. Bis in Orfeos Nacht und Verzweiflung nach dem Tod Eurydikes die stellare Struktur schließlich selbst zum Wort drängt und das Funkeln der Sterne beschwört, das den Glanz und die Sonne Apolls überstrahlt und für Augenblicke versinken lässt. Bspl. 25: Monteverdi, Orfeo [Gardiner: CD 1, Tr. 10, 7´07´´–9´28´´(rasch ausbl.)] [2´21´´] B Auch bei Lim tritt Kassandra in die Stern- und Mondsphäre ein. Hier nun allerdings mit demonstrativer Bühnenpräsenz, am Schluss der Gastmahl-Szene. Und nachdem sie wie in Rage den apollinischen Bann gesprengt und mit den «trappings of prophetess» den Ornat des Sehertums zerrissen hatte. Und nur hier, hier im matriarchalen Mond-Bereich von Sapphos Nachtgedicht, wirkt Kassandra zum ersten und einzigen Mal wie zur Besinnung und Ruhe gekommen. «Zwar die Sterne bergen ihr lichtumstrahltes Antlitz, Um den herrlichen Mond versammelt, Wenn er, voll geworden, am hellsten funkelt über die Erde.» Bspl. 26: Lim, Oresteia [Tr. 3, 10´14´´–12´34´´(=Ende] [2´20´´] B Monteverdis «Favola in musica», Lims «Gedächtnistheater» – sie machen vor allem eines klar: dass das Gedächtnis der Zivilisation vorrangig eines des Schmerzes ist. Eines Schmerzes, den noch bis in den Bereich des Individuellen hinein eine jede Geschichte des Ichs kennt, sobald die Wünsche und Sehnsüchte im Kältestrom der Gesellschaft untergehen. A Die Spannung zwischen dem Ideal des Kultur-Über-Ichs und dem «Leitfaden des Leibes» bestimmt auch die beiden Fassungen des Orfeo und damit das Problem, wie denn der tragisch-bacchantische Schluss des Textbuchs von 1607 und der der Apotheose des Orpheus in der Partitur von 1609 zueinander stehen. Eine eindeutige philologische Klärung ist unmöglich. Vielleicht, weil das Problem alles andere als nur philologisch ist. Mag deshalb die folgende Einspielung Gabriel Garridos auch fragwürdig sein: indem sie den Schlusschor und die «Moresca», die christlich gefärbte Sublimierungsidee und die bacchantische Lebenslust ineinandertreibt und miteinander verzahnt, bringt sie die Spannung zwischen Wunsch und Gesetz vermutlich nachhaltiger zum Ausdruck als die interpretatorisch gängige Reihung von Chor und Tanz. B Und wenn der Chor der Hirten am Ende den «glücklichen» Orpheus preist, entrückt in den Himmel, «wo es kein Leiden gibt»; wenn sich dann auch noch die Sublimierungsleistung mit biblischem Pathos feiert – A «Und wer unter Schmerzen säet, Erntet die Frucht der vollen Gnade / E chi semina fra doglie, D'ogni grazia il frutto coglie» – B dann, ja dann holt die tänzerische Verve in Monteverdis Orfeo den verklärt entsinnlichten Körper wieder zurück auf die Erde. A Und wie Liza Lims Oresteia so stellt auch der Orfeo des Claudio Monteverdi die provokante Frage, ob sich womöglich das Ideal der Askese immer raffinierter und lautloser als Leben drapiere. B Und wie die Oresteia spricht auch der Orfeo vom Wunsch und von der Hoffnung, der Zauber der Nacht und der Leidenschaft möge sich nicht vollends in der Geschäftigkeit des Tags und seinem mächtigen Regime verlieren: damit Orpheus die Stimme bleibt, die «singt und nicht befiehlt». Bspl. 27: Monteverdi, Orfeo [Garrido: CD 2, Tr. 16 (ganz)] [2´48´´] ​ ​ ​ Interpretationen Monteverdi, Orfeo: Gardiner (ARCHIV PRODUKTION 419 250-2) Garrido (K617 066) Harnoncourt (TELDEC 2292-42494-2) Rogers/Medlam (EMI 7 64947 2) Lim, Oresteia: Elision Ensemble, Sandro Gorli (Dischi Ricordi CRMCD 1030) ​

  • Johannes Bauer, Spuren, Schnitte, Schleifen.Das Tonband als Instrument

    Spuren, ​ Schnitte, ​ Schleifen Das Tonband als Instrument DeutschlandRadio Berlin (2003) ​ Bspl. 1: Samuel Beckett, Das letzte Band [1´10] Krapp’s Last Tape : Becketts Einakter von 1958. Ein alter Mann spielt sich ein Stück Leben vor: alljährlich auf Band gesprochene Jahresrückblicke und Erinnerungen; etwa die an ein dubioses Erleuchtungserlebnis, konserviert vor 30 Jahren. Das Tonband: als akustisches Gedächtnis vermeintlich lebendige Gegenwart und doch nur ein Archiv toter Vergangenheit. Die Mechanik des Vor- und Zurückspulens: Suche und Sucht nach dem geglückten Augenblick und im Wahn, ihn dingfest machen zu können, eine regelrechte Parodie auf Prousts «mémoire involontaire». Technik als Surrogat. Ist das Tonband möglicherweise das zweckgerechte Instrument enttraditionalisierter Gesellschaften, die speichern, registrieren, mumifizieren müssen, je mehr die Zeugenschaft von Erzählung und Überlieferung schwindet und mit ihr das Erbe gelebter Erfahrung? Speichern und Wiederholen: gängige Techniken des Tonbands. Und doch zeigt der Formenkreis der Wiederholung vielfältige Varianten, je nach dem Grad der Differenz in der Wiederholung; abgesehen davon, ob Wiederholung überhaupt möglich ist. Während die Wiederholung bei Samuel Beckett Züge einer Totenmaske annimmt, verwandelt Alvin Luciers Stück I am sitting in a room Wiederholung in eine Szene der Verwandlung, die weder im Muster der Kopie noch in dem der Variation aufgeht. Bspl. 2: Alvin Lucier, I am sitting in a room [Tr. 1, 0´00–1´14] [1´14] «Ich sitze in einem Raum, verschieden von dem, in dem Sie sich gerade befinden. Ich nehme den Klang meiner sprechenden Stimme auf und spiele ihn in den Raum zurück, wieder und wieder, bis die Resonanzschwingungen des Raums sich selbst verstärken, so dass jede Ähnlichkeit mit meinem Sprechen, ausgenommen vielleicht der Rhythmus, zerstört wird. Was Sie dann hören werden, sind die natürlichen Resonanzschwingungen des Raums, artikuliert durch Sprache. Ich halte diese Aktivität weniger für die Vorführung eines physikalischen Sachverhalts als für einen Weg, sämtliche Unregelmäßigkeiten zu tilgen, die mein Sprechen haben mag.» Es ist der Raum, der bei Lucier zum Akteur wird: Der Raum mit seinen je spezifisch architektonischen und akustischen Eigenschaften. Wenn der von Lucier gesprochene Text, von einem ersten Tonbandgerät aufgenommen, über Lautsprecher in den Raum zurückgespielt, auf ein zweites Tonbandgerät aufgenommen, erneut abgespielt, wieder aufgenommen wird und so fort, verstärken sich von Aufnahme zu Aufnahme die Resonanzeigenschaften des Raums: Bis die Sprache in Klang, in Musik übergeht. Ein Prozess mit fließenden Grenzen und Geschwindigkeiten und ein Prozess, der ohne Tonband nicht zu realisieren ist. Und wenn der Raum bei der Ausstrahlung des akustischen Signals allmählich alle Frequenzen der Sprache mit Ausnahme seiner Eigenfrequenzen ausfiltert, kann er womöglich, wie in Luciers Middletown-Aufnahme von 1980, schon nach 40 Minuten zu klingen beginnen. Denn, so Lucier, «jeder Raum hat eine Melodie, die so lange verborgen bleibt, bis sie zum Klingen gebracht wird». Bspl. 3: Alvin Lucier, I am sitting in a room [Tr. 1, 43´30 (aufbl.) – 45´21] [1´51] Sprache – allgemein und doch persönlich zugleich aufgrund der Eigenheiten jeder einzelnen Sprechweise, bei Lucier etwa der des Stotterns. Text und Stimme – aufgrund ihrer Verwandlung in reinen Klang zugleich Medien einer spielerischen Verflüchtigung von Begriff und Identität. Verlieren sich mit der Klarheit von Stimme und Sprache allmählich die Merkmale personaler Unverwechselbarkeit und die Spuren der Gattung, dann löst sich diese Dekonturierung auch von einer Denkökonomie, die darauf trainiert ist, Wahrnehmungen eher auf den Begriff zu bringen als sich ihnen zu überlassen. Auf den Begriff bringen, vom Phänomen abstrahieren: Im Fall Luciers könnte das bedeuten, die für unnötig erachtete Verwandlungssequenz der Komposition auf ihren Anfang und auf ihr Ende und damit auf einen physikalischen Versuch zu reduzieren. So wie das Lucier denn auch als Vorschlag von einem Toningenieur zu hören bekam. Und was das Ideal der Speichermedien betrifft, das Ideal der unzerstörbar klaren Reproduktion der Daten: ihren Gesetzen nach wäre I am sitting in a room schlicht ein Desaster. Klarheit, Genauigkeit und Beständigkeit sind Inbegriffe der Speichertechnik. Doch während Forschung und Industrie bei der Herstellung von Tonbandgeräten eine äußerst konstante Drehzahl und eine nahezu perfekte Synchronität zu erreichen suchen, macht die ästhetische Praxis im Umgang mit den Apparaten nicht selten gerade deren technische Irregularitäten produktiv, das Nicht-Perfekte, die Störung, den asymmetrischen Bruch. So basiert etwa Steve Reichs It’s gonna rain auf dem Faktum der Gleichlaufschwankung; darauf also, dass es keine zwei Tonbandmaschinen gibt, die absolut synchron laufen. Das Verfahren selbst ist so einfach wie verblüffend. Grundlage der Komposition ist eine jener ekstatischen Auslegungen der Bibel, hier der Erzählung von der Sintflut, wie wir sie aus Gospel-Meetings kennen. Bspl. 4: Steve Reich, It’s gonna rain [Tr. 4, 0´00 – 0´13] [0´13] Reich lässt nun die Predigtworte «It’s gonna rain» in Form zweier exakt gleicher Bandschleifen auf zwei Bandgeräten abspielen. Mit dem Resultat, dass der Verlauf der Schleifen neben Synchron- und Echostrukturen immer wieder hochkomplexe Rhythmen zeitigt. Bspl. 5: Steve Reich, It’s gonna rain [Tr. 4, 5´00 (aufbl.) – 7´47] [2´47] Das Faszinierende an Reichs It’s gonna rain liegt in der geradezu expressiven Intensität, mit der der mechanische Rapport wie in einem akustischen Kaleidoskop immer wieder in eine Fülle an Differenzen und Differenzierungen umschlägt. Wobei das Zusammenspiel der beiden Bandmaschinen zum Generator für unendlich feine Zwischenwerte wird. Zwischenwerte, die als nichtlineare, mikrostrukturelle Fluktuationen unvorhersehbare Wirkungen auf der Makroebene erzeugen, das heißt plötzlich wechselnde Energieniveaus der Interferenz. Als Thomas Alva Edison 1877 das Liedchen «Mary had a little lamb» in einen Trichter sang und dabei die Ausschläge einer vom Schall zum Vibrieren gebrachten, an einer Membran befestigten Nadel aufzeichnete – auf einem mit Stanniol bespannten und von Hand gedrehten Metallzylinder –, revolutionierte er mehr als nur die Technik der Konservierung. Nicht nur, dass es von nun an möglich war, Schall zu archivieren und wiederzugeben. Edisons Erfindung setzt zudem eine Zeitmaschine in Gang. Wie sehr sich auch die Aufzeichnungs- und Wiedergabetechniken von Klängen und Geräuschen verfeinern sollten – vom Nadeltonverfahren über die magnetische Schallaufzeichnung bis hin zu digitalen Speicher- und Bearbeitungsmethoden: Erst mit seiner Konservierung war der Schall beweglich und manipulierbar geworden. Insbesondere durch das Magnettonverfahren. Erst jetzt konnten Klänge und Geräusche mit Schnitt- und Kombinationstechniken bearbeitet und transformiert werden. Und vor allem: sie konnten beschleunigt oder verlangsamt werden, ja sie konnten sogar – und das ist das Entscheidende – ihre Zeitrichtung ändern, vorwärts so gut wie rückwärts wiedergegeben werden. Nicht anders als die manipulierbaren Filmbilder. Im Unterschied zum gerichteten Zeit- und Lesesinn des Buchs als Buch und fixes Medium stehen Phonograph und Kinematograph am Beginn einer neuen, anderen Art von Zeitmaschinen. Was dieser Wandel des Bewusstseins auch musikalisch bedeutet, wird klar, wenn man sich den absurden Gedanken erlaubt, Beethoven hätte beim Komponieren etwa seiner Neunten Symphonie deren Rückläufigkeit mitbedacht: nicht im Sinn krebsgängiger Kompositionsverfahren, sondern im Sinn ihrer generellen Umkehrung in der Zeit. Bspl. 6: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 11´56 – 12´45 in Rückwärtswiedergabe] ​ Natürlich hängt die Resistenz von Beethovens Komposition gegen eine Umkehrung in der Zeit mit ihrem musikalischen Sprachcharakter zusammen, mit der davon bestimmten Relation zwischen Teil und Ganzem und mit dem Verständnis von Sinn und Sprache zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Umkehrung ist der Tod jeder Sprache: sie wird unverständlich, sinnlos. Darüber hinaus aber steht diese Resistenz in einem nicht weniger engen Zusammenhang mit dem damaligen Stand der technischen Produktivkräfte. Gravierend und doch nachvollziehbar ist deshalb der Abstand zu einer Musik, für die Sprache mittlerweile zum Klangsubstrat und Zeit zum modellierbaren Material geworden war. Weshalb sollte es noch Probleme mit reversiblen Verläufen geben? Karin Rehnqvists Komposition Davids Nimm jedenfalls setzt mit der Umkehrung eines schwedischen Volkslieds demonstrativ auf Rückläufigkeit und damit auf eine genuine Tonbandtechnik. Bspl. 7: Karin Rehnqvist, Davids Nimm Auch wenn zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit zu unterscheiden ist: mit den Techniken von Film und Tonband wird vielleicht nachvollziehbarer, was Einstein für die physikalische Zeit zu bedenken gegeben hat: ob nämlich die «Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» nicht doch «nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion» haben könnte. Hat der Richtungspfeil der Zeit, das Empfinden ihrer Unumkehrbarkeit, womöglich etwas mit Statistik zu tun, mit Wahrscheinlichkeit? Einfach, weil bislang noch keine Ausnahme vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beobachtet wurde? Eine Ausnahme von jenem Satz also, der das Gleichbleiben oder die Zunahme der Unordnung in geschlossenen Systemen behauptet? Wie auch immer. Damit der Gedanke der Rückläufigkeit überhaupt gedacht werden konnte und nicht als verrückt außerhalb des Bewusstseins blieb, mussten Erfahrung und Denken von Newtons Idee der «absoluten, wahren und mathematischen Zeit» Abschied nehmen. Abschied nehmen auch von den Autonomiekonzepten der Subjekttheorie bis hinein in den Gedanken von der Einheit und Beständigkeit des Ich mit all seinen semantischen Fallen. Und schließlich mussten Theorie und Praxis einander zuarbeiten, um mit der Speichermöglichkeit des Schalls seine räumlichen und zeitlichen Modulationen freisetzen zu können. Dass Karin Rehnqvist eine spezifische Technik des Tonbands problemlos auf Vokalstimmen übertragen kann, zeigt den Bewusstseinswandel nur umso deutlicher. Und das ganz im Sinne Cages. Sah Cage doch mit dem Tonband «eine grundlegende Veränderung des musikalischen Handelns herbeigeführt», «dessen Konsequenzen nicht ausschließlich auf Tonbandmusik beschränkt sind, sondern alle Musik betreffen werden, ganz gleich wie traditionell die Instrumentation auch ist». Und so setzt auch Tristan Murails Mémoire / Erosion eine klassische Tonbandtechnik mit herkömmlichen Instrumenten um: Ein live gespielter Instrumentalton wird von einer ersten Bandmaschine aufgenommen und auf eine zweite übertragen, von dort auf die erste zurückgespielt, erneut mit instrumentalen Livetönen vermischt, wieder auf das zweite Gerät rückübertragen und so weiter, bis sich der Klang allmählich ins Geräuschhafte verliert. Dieses Imitations- und Kopierverfahren, bekannt als «reinjection loop», spielt Murail nun in der Interaktion zwischen einem Solo-Horn und neun Instrumentalisten durch, wobei das Ensemble die Funktion des Tonbands übernimmt. Bspl. 8: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1: 0´05–1´40 (ab 1´35 ausbl.] [1´40] Nach und nach verschwimmen nun die Konturen, der Klang verzerrt sich und verliert sich ins Geräuschhafte, bis mit dem Ende der Musik auch zugleich das imaginäre Tonbandgerät abgeschaltet wird. Bspl. 9: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1: 16´35 (aufbl.)–17´38] [1´03] Mémoire / Erosion – Gedächtnis und Erosion im Zeichen der Entropie, der Zunahme von Unordnung und Chaos als Ziel aller geschlossenen, sich selbst überlassenen Systeme. Auch hier sensibilisiert eine Technik des Tonbands über Momente der Störung und des Geräusches für jenes Rauschen, aus dem heraus Musik und Sprache erst Gestalt gewinnen. Ein Rauschen, das vom Ideal der Vernunft und der Reinheit des Tons allzu lange ausgeblendet wurde; vergleichbar dem «Weißen» bei Mallarmé oder der Stille bei Cage. Dass das Tonband bei der Aufnahme nicht zwischen erwünschten und unerwünschten Klängen, zwischen Tönen und Geräuschen, fast möchte man sagen: zwischen Kunst und Leben sondert, macht es zum bahnbrechenden Medium, wenn es darum geht, das Geräusch von seiner anrüchigen Existenz im Herrschaftsbereich des reinen Tons zu emanzipieren. Damit setzt das Tonband eine radikale Veränderung der Klangvorstellung, des Komponierens und des Hörens in Gang, eine Demokratisierung der Klänge, von der Cage im Zusammenhang mit einer music for tape gesprochen hatte. «Free-ranging music», «freigelassene Musik» – eine Musik mit der Gleichberechtigung von Ton und Geräusch und eine Musik, die mit dem Verzicht auf stoffsublimierende Reinheitsfilter kompositorische Metaphysikkritik praktiziert: insofern nämlich, als Sinn und Idee vom Material nicht zu trennen sind. Bspl. 10: John Cage, Williams Mix Cages Williams Mix : Musik als Intensität einer Geschwindigkeit, die den Zeitsinn für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufhebt. Ein solches Geschwindigkeitsmodell ist erst mit dem Zeitgenerator Tonband zu realisieren. Mit der Folge, dass der rasende Transport der Schnitte weniger das Verhältnis von «Struktur und Erlebniszeit» modifiziert, als dass er mit tradierten Formen der Wahrnehmung überhaupt bricht. Die Idee von der Einheit des Selbstbewusstseins, Kants «Ich denke, das alle meine Vorstellungen soll begleiten können» oder die Zeitmodi «Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein» aus der Kritik der reinen Vernunft helfen bei dieser ständig differenten Heterogenität von Klängen und Geräuschen wenig weiter. Ebenso wenig die Vorstellung von der Kontinuität der Diskontinuität, die nach wie vor auf den Grund des Kontinuums setzt. Cages Musik ist eher eine, die durch den Relativierungsschock der Eigenzeiten hindurchgegangen ist und darin die Bedeutung von Zufall und Wahrscheinlichkeit erkannt hat. So wird das Tonband bei Cage zum anatomischen Instrument, zum Skalpell, dessen Schnitte das Kontinuum der affektiven Zeit zertrennen und pulverisieren. Und mit ihm jene kontemplative, gefühls- und ichfixierte «Versenkung», die Walter Benjamin vom Mittel der Montage her als eine «Schule» des «asozialen Verhaltens» kritisiert hat, weil sie unfähig sei, auf die Anforderungen und Schocks der modernen Welt angemessen zu reagieren. Hatte nicht schon 1950 Pierre Schaeffer angesichts der Gedächtnis wie Erfahrung attackierenden Gewalt der Dinge gefragt, wie darauf musikalisch zu antworten sei? Wohl kaum, wie er meinte, ‹mit Violinen oder Oboen›. Und, so Schaeffer weiter, «welches Orchester könnte sich rühmen, jenen anderen Schrei auszugleichen, den unterdrückten Schrei des Menschen in seiner Einsamkeit? Verzichten wir also auf die Eigenart des Cellos, das zu träge ist für seine kollektive Angst. Schritte, Stimmen, alltägliche Geräusche mögen genügen (...) Schritte bedrängen ihn, Stimmen durchdringen ihn, Laute, die Liebe oder Krieg bedeuten, das Zischen der Bomben oder die Melodie eines Liedes». Wird aber in der industriell beschleunigten Massengesellschaft der frühen Musique concrète noch das vermeintlich Vertraute zum Fremden, werden Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz – dann liegt ein adäquater Ausdruck dieser Entfremdung eben in rotierenden Bandschleifen und geschlossenen Rillen. Ihre maschinellen Wiederholungen lassen den subjektiven Zeitsinn leer laufen. Oft mit slapstickartiger Wirkung und doch im Innersten existenzialistisch gemeint: «Jeder ist der Andere und Keiner er selbst». Reflexe einer Mechanisierung des Lebens und Sartres Nausée , dem angstverstrickten Ekel an der Existenz, näher als Chaplins Modern Times . Bspl. 11: Pierre Schaeffer / Pierre Henry, Symphonie pour un homme seul, Erotica Beschleunigung, Verlangsamung, Verzögerung und Umkehrung der Zeit in der Zeit – denn natürlich bewegen sich der historische und der thermodynamische Zeitpfeil weiter: all dies sind bekannte Transformationsverfahren des Tonbands. Es sind nicht minder gängige Schlüsseltechniken wie die des Kopierens, das in einer Welt brisant wird, der manche Theorien das Verschwinden von Geschichte und Realität prophezeien; ein zirkuläres Selbstläufertum von Dingen, Zeichen und Ereignissen, freigesetzt im «Hyperraum der Simulation», ortlos und ohne Konsequenzen, voneinander entkoppelt wie Original und Reproduktion. Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung; die Kopie der Kopie der Kopie: Wie sich Musik unter Einsatz des Tonbands mit der Welt der Simulationen und Doubles auseinander setzen kann, zeigt Nicolaus A. Hubers Orchesterstück To «Marilyn Six Pack» von 1996. Ein Stück, das auf Warhols Siebdruckserie The Six Marilyns von 1962, dem Todesjahr Marilyn Monroes, Bezug nimmt. Huber interessieren an Warhol vor allem «die multifokale Bildkomposition, bei der mehrere gleichgewichtige, oft auch völlig identische Bilder zu einem Bild gehören» sowie «die Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden». Aus diesem Grund entwirft Huber das Stück als ein Projekt aus drei Stück-Sphären. Das heißt 1. der live gespielten Partitur; 2. der Wiedergabe des aufgezeichneten Orchesterstücks über acht Filtereinstellungen unterschiedlicher Qualität; 3. der medial reproduzierten «zeitgefalteten Version» des Originals in Form gestückelter, übereinander geschichteter und zeitversetzter Tonbandschleifen. Den Aufführungsvarianten des Werks mit ihrem Wechsel zwischen der Live-, Filter- und Schleifenversion korrespondiert also eine mediale Technik der Überblendungen und Schichtungen. Multidimensional in der Überlagerung vereinter Schnitt- und Perspektivenwechsel, die eine komplexe Wahrnehmung verlangen. «Mehrfachdarstellung eines Gedankens» jenseits einer Unterscheidung nach Haupt- und Nebensachen. Bspl. 12: Nicolaus A. Huber, To «Marilyn Six Pack» [CD 1, Tr. 2, 4´40 – 9´10] [4´30] Was ist in der Verschränkung von Live-Aufführung und medialer Wiedergabe Original, was Reproduktion? Was bedeutet in der Vernetzung simultan geschichteter Loops noch Gegenwart? Was Anwesenheit und Abwesenheit? Als Simulationsapparat wird das Tonband in Hubers Musik zum Instrument und zur Sonde von Spiegelungen und deren Wirkung im Bewusstsein der Hörer. Dabei umschreiben die Serien der Loops und Doubles mit ihren Faltungen, Dehnungen, Verschränkungen und Stauchungen der Zeit weniger eine Spur des Vergleichens. Sie erzeugen vielmehr eine Textur der Verdopplungen und Multiplikationen, in der das unentscheidbare Spiel von Wiederholung und Differenz Weitungen des Bewusstseins auslöst; entbunden vom Diktat eines einheitlichen Hörzentrums. Und ebenso wenig wie Warhols Serien einer Wiederholung der Wiederholung bloße Trugbilder sind, sondern facettenreiche Verschiebungen der Wirklichkeit, ebenso wenig ist auch Hubers To «Marilyn Six Pack» eine Musik, die die Präsenz des Körpers und die Geschichte des Bewusstseins und der Sinne im Hyperraum der Multimedialität verdunsten lassen will. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Geschichte der Musik von der Präsenz elektroakustischer und elektronischer Klangverwandler nicht mehr zu trennen. Und auch dabei spielt das Tonband, zumindest anfänglich, eine gewichtige Rolle: als Medium beim Gang ins Innere der Töne. Bei Stockhausen kann man nachlesen, welche Funktion dem Tonband bei der Zerlegung des Tons in seine kleinsten akustischen Elemente und bei der Komposition mit Sinustönen zukam. «Eine Sinusschwingung wird auf Tonband aufgenommen, eine zweite, dritte usw. wird hinzugefügt. Dabei erhält durch elektrische Regulierung jede Sinusschwingung ihren eigenen Intensitätsverlauf, dann wird der Intensitätsverlauf des ganzen Schwingungskomplexes (die ‹Hüllkurve›) nochmals geregelt. Die Klangdauer wird bestimmt, indem man das Tonband in Zentimeterlängen misst und schneidet – ausgehend von der Bandgeschwindigkeit. (...) So wird Klang für Klang zusammengefügt und archiviert. Wenn alle Klänge für eine Komposition auf Tonband vorbereitet sind, werden die Bandstücke der Partitur gemäß aneinandergeklebt und, wenn nötig, nochmals mit Hilfe mehrerer synchroner Magnetophone übereinanderkopiert.» Bspl. 13: Karlheinz Stockhausen, Studie II [Tr. 3, 0´09 – 3´10] [3´01] Der Gang ins Innere der Töne: das Tonband als analytisches, äußerst fein geeichtes Instrument. Es ist gerade diese Eigenschaft, die das Tonband in ästhetischer Hinsicht zu einem Instrument seiner Zeit macht; zu einem Apparat, der das «Auffinden neuer Spuren» ermöglicht, gegen eine bloße Wiederholung der Oberfläche. Geist und Technik einer Epoche aber sind sich geheime oder offene Doppelgänger. Und wenn Jacques Derrida Texte der abendländischen Philosophie wie Schleifen auf der Bandmaschine der Sprache und der Sprachen so lange wiederholt, mit Echos, Verzögerungen und Schnitten versetzt, bis sie unerkannte Kontexte erkennen lassen, bis der historische Firnis der überkommenen Lesarten rissig wird und die Sprache durch die Vielstimmigkeit ihrer Begriffe wie unter ihren eigenen Rückkopplungen sich verlangsamt oder geräuschhaft wird, dann zeigt sich die Nähe zwischen Denkstrukturen und technischen Verfahren hier nur einmal mehr. Vielleicht liegt die kompositorische Tragweite des Tonbands in seiner akustischen Lupenfunktion. Gleichsam in der Funktion eines empfindlichen Ohrs, das sonst kaum mehr wahrgenommene Nuancen hört und hören lässt und damit Ritardandomomente gegen die Übereilungen des technisch-industriellen Fortschritts setzt, schnelligkeitstrainierte Funktions- und Wahrnehmungsmuster irritiert und der übermächtigen Gegenwart von Kurzzeitgedächtnis und elektronischer Zeitüberlistung neue Eigenzeiten aufmoduliert. Und wenn die Verstörung überalteter Sinn-Normen eine Verstörung von Macht-Normen bedeutet, spricht alles dafür, vor Hör-Klischees nicht Halt zu machen. Hören wir also am Ende dem Instrument Tonband bei einer Musik des Rauschens zu, einer Musik des Rauschens von Bäumen, und versuchen wir dabei, die unermüdliche Begriffs- und Urteilsarbeit der Sinnstiftungsagentur Mensch für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen. Bspl. 14: Peter Ablinger, Weiß/Weißlich [Tr.1 – 7, 0´00 – 4´35] [4´35] Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Samuel Beckett, Das letzte Band (DEUTSCHE GRAMMOPHON 431 062-2) Bspl. 2: Alvin Lucier, I am sitting in a room (Lovely Music LCD 1013) Bspl. 3: Alvin Lucier, I am sitting in a room (Lovely Music LCD 1013) Bspl. 4: Steve Reich, It’s gonna rain (ELEKTRA/NONESUCH 979 169-2) Bspl. 5: Steve Reich, It’s gonna rain (ELEKTRA/NONESUCH 979 169-2) Bspl. 6: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie (EMI 5 60094 2) Bspl. 7: Karin Rehnqvist, Davids Nimm (LC 09632 Frau Musica 001) Bspl. 8: Tristan Murail, Mémoire / Erosion (ACCORD 202122) Bspl. 9: Tristan Murail, Mémoire / Erosion (ACCORD 202122) Bspl. 10: John Cage, Williams Mix (wergo 6247-2) Bspl. 11: Pierre Schaeffer/Pierre Henry, Symphonie pour un homme seul (Musidisc 292572) Bspl. 12: Nicolaus A. Huber, To «Marilyn Six Pack» (col legno WWE 20008) Bspl. 13: Karlheinz Stockhausen, Studie II (Stockhausen Verlag 2001) Bspl. 14: Peter Ablinger, Weiß/Weißlich (Maria de Alvear World Edition 0008) ​

  • Johannes Bauer, Zur Musikgeschichte der Nacht und des Nächtlichen

    Dass die Hektik des Tags den Zauber der Nacht zu einer Art romantischem Gefühlsluxus abwertet, gehört zur Betriebsroutine der Moderne. Und doch erweisen sich die Lockungen der Nacht und des Nächtlichen als äußerst beständig. Gerade die Musik bringt in zahlreichen Nachtstücken zum Sprechen, was vom Aktivitäts- und Wachheitsgebot der Arbeits- und Industriegesellschaft zunehmend abgedämpft und ausgeblendet wird: die verführerischen Regionen des Schwärmerischen und Leidenschaftlichen, des Unbewussten und Traumhaften, aber auch die dunklen Zonen von Wahn und Tod. Ob bei Orlando di Lasso, bei Mozart, bei Schumann oder bei Gérard Grisey: Stets verwandeln sich die geheimnisvollen und unheimlichen, die fantastischen und ekstatischen Töne des Nächtlichen in eine Meteorologie der Seele, in der sich Vertrautes und Unbekanntes ineinander verrätseln. Eine Stimme freilich bleibt in all diesen Klängen unüberhörbar: die Stimme, die das magische Rauschen der Nacht gegen die nüchterne Rastlosigkeit des Tags beschwört. Traumeswirren Eine kleine Musikgeschichte der Nacht und des Nächtlichen Bayerischer Rundfunk (2010) ​ Bspl. 1: Orlando di Lasso, La Nuit froide et sombre [2´18] Die Nacht, kalt und dunkel, Bedeckt mit undurchdringlichen Schatten Die Erde und den Himmel. So süß wie Honig lässt sie vom Himmel Den Schlaf in die Augen fließen. Der folgende Tag dann Lässt zu harter Arbeit Sein Licht erstrahlen, Und schmückt und gestaltet Mit schillernden Farben Dieses große Universum. La Nuit froide et sombre : eine Chanson Orlando di Lassos, komponiert um 1560 auf eine Sequenz aus Joachim du Bellays De l'Inconstance des choses . Ein Kontrast zwischen Nacht und Tag, zwischen Schlaf und Arbeit. Aber geht es in Lassos Musik wirklich um einen Kontrast? Du Bellays umfangreiches Gedicht, aus dem Lasso lediglich die Partie über den Wechsel von Tag und Nacht auswählt, handelt von der „Unbeständigkeit der Dinge“. Der Sturz von Herrschern und Imperien, der Zyklus der Tages- und Jahreszeiten: alles verweist auf das immer wiederkehrende Steigen und Fallen im Bann des Vergänglichen und Vergeblichen. Und wie komponiert Lasso diesen melancholischen Befund? Auffallend ist zunächst, wie subtil die Musik auf die Verse du Bellays eingeht. Etwa im Höhenzug der Stimmen zu den Worten „les cieux“, die vom „Himmel“ sprechen. Ohne Bassfundament entrückt hier ein ätherisch aufblitzender F-Dur-Klangbereich das Ohr in eine ebenso ferne wie verlockende überirdische Sphäre. Und wie setzt Lasso erst das allmähliche Herabsinken des Schlafs in Musik! Im Unterschied zum ruhigeren Gleiten der Klänge im ersten, der Nacht gewidmeten Teil, dann die zweite Strophe, die vom Tag und seiner Mühsal spricht und von seiner Buntheit. Hier setzt Lasso, dem tätigen Treiben des Tages entsprechend, eine beweglichere und dichtere Imitationstechnik ein. Es braucht allerdings feinere Ohren als unsere überreizten, um in dieser geradezu stoischen Musik die fein ziselierte Reibung zwischen der nächtlichen Ruhe und der täglichen Arbeit, zwischen der Dunkelheit der Nacht und den Farben des Tages zu hören. Dennoch können auch wir das „les cieux“ als die flüchtige Spur einer Musik erfahren, die einen Moment lang - vom Himmel her - den Wunsch nach Entlastung vom irdischen Getriebe streift. Gleichwohl geht es Lasso nicht um den spannungsgeladenen Gegensatz von Tag und Nacht. Eine Psychogrammatik der Affekte, wie sie Kompositionen der Nacht in Zeiten der Dur-Moll-Tonalität entwickelt haben, ist Lasso fremd. Und vielleicht ist es in unserer rastlosen Welt gerade diese Gelassenheit, die uns an einer Musik wie derjenigen Orlando di Lassos berührt. Bspl. 2 = Bspl. 1: Orlando di Lasso, La Nuit froide et sombre [Tr. 7 (ganz)] [2´18] Knapp achtzig Jahre später - in Monteverdis Hor che’l ciell e la terra aus dem Achtem Madrigalbuch von 1638 - wird die Nacht bereits zu einer Bühne ungestümer Affekte. Jetzt schärft sich der Riss zwischen der nächtlichen Stille und einem taghellen Liebesschmerz zum Seelendrama des passionierten Ich. Zu einem Seelendrama, verspannt zwischen der Eintracht der äußeren und der Erregung der inneren Natur. In Monteverdis Madrigal nach einem Gedicht Francesco Petrarcas übernimmt die Nacht eine Regie, die ins Innere der Psyche führt. Dabei wird der Kontrast zwischen dem Schweigen der Welt und dem Gefühlschaos der Liebe mit einer Vielfalt gegensätzlicher Affekte vorgeführt. Sind es doch diese „Gegensätze“, so der Komponist, die unser Gemüt stimulieren. ​ Nun, da der Himmel, die Erde und der Wind schweigen Und Schlaf die Tiere und Vögel zur Ruhe bringt, Nun, da die Nacht den gestirnten Wagen in die Runde führt, Und das Meer ohne Welle in seinem Bett ruht: Bin ich wach, denke, brenne, weine; und die mich verzehrt Steht immer vor mir zu meiner süßen Pein. Krieg ist mein Zustand, voll Zorn und Schmerz; Und nur in Gedanken an sie finde ich Frieden. ​ Es ist also die Atmosphäre der Nacht, die in den ersten Takten von Monteverdis Madrigal den Vorhang zu einer Szene emotionaler Erschütterung aufzieht. Der statische Beginn, gleichsam rezitativisch gemurmelt, wird zur Ruhe vor dem Sturm, der im Innern des Liebenden aufbranden wird. Affektschattierungen mit je eigenen deklamatorischen Geschwindigkeiten steigern den Emotionsgehalt der Worte beinahe zum Aufschrei. Das „veglio, penso, ardo, piango“, das Wachen, Grübeln, Brennen, Weinen des von seinen Empfindungen überwältigten Ich entäußert sich in Eruptionen, die in der letzten Strophe durch den „stile concitato“, den „erregten Stil“, mit seinen Sechzehntelreibungen in den Violinen verstärkt werden. Nicht umsonst steht Monteverdis Hor che’l ciell e la terra in der Sammlung der Madrigali guerrieri et amorosi , die Krieg und Liebe miteinander in Beziehung setzen. Und wenn das Ende des Madrigals den Bogen der Empfindungen zwischen „guerra“ und „pace“, zwischen Krieg und Frieden spannt, dann spielt die lösende Kraft des Friedens erneut auf die Stille des Beginns an. Ist es doch die Stille der Nacht, die dem Aufruhr der Passionen Kontur gibt, einem Aufruhr, der Musik und Sprache zum Beben bringt und zugleich durch Musik und Sprache gebunden bleibt. Bspl. 3: Claudio Monteverdi, Hor che´l ciel e la terra [3´57] Wie sehr die Spannung zwischen Emotion und Konstruktion gesteigert werden kann und dennoch musikalisch formbar bleibt, wird während der nächsten 250 Jahre zu einem Leitmotiv des Komponierens auch und gerade von Nacht- und Traumszenen. So lotet etwa der zweite Aufzug aus Richard Wagners Tristan und Isolde den Triebgrund des Nächtlichen bis an seine Grenzen aus: in einer mit höchster Präzision gearbeiteten Musik der Leidenschaft. Hier wird die Obsession der Affekte zum kompromisslosen Affront gegen die Normen des Tags und seiner Askese. Spricht in dieser orgastisch-orgiastisch erhitzten Musik des Taumels und der Katastrophe die Nacht nicht aus, was der Tag verdrängt? In einem Rausch von Worten, die zumeist im Tosen der Musik untergehen, wenn auch mit der klaren Botschaft: „Lass den Tag dem Tode weichen!“. Todessehnsucht schlägt in eine Ekstase der Erlösung um, in der Liebe und Tod verwechselbar werden, ja der Tod selbst zum Leben wird. In eine Ekstase auch, die gegen die „Not“ des „Erwachens“ das „Nie erwachen!“ setzt, gegen den „öden“ Tag mit seiner rigorosen Selbstbehauptung und Abgrenzung das „Wunderreich“ der „ewig währenden Nacht“. Und immer wieder der Drang nach „Umnachtung“. Und immer wieder die Lust nach Verschmelzung und nach Loslösung von der Welt. „Nacht“ und „Tod“, „Liebesnacht“ und „Liebestod“ entfachen bei Wagner ein Feuer der Verzückung und der tagesmüden Regression, wenn Regression ein Zurückgehen in den Grund des Willenlosen bedeutet, eine Rückkehr in das „Vergessen“ der großen Weltnacht mit ihrer unendlichen Ausdehnung des Raumes und der Zeit: „ungemessen“ - „endlos“ - „ewig“. Getragen und gesteuert aber wird diese Eigendynamik aus Verlangen und Verlöschen von einer gleitenden und fließenden musikalischen „Kunst des Übergangs“, in der die Musik selbst zum erregten Körper wird und die Anziehungskräfte des Begehrens samt ihren Energiekurven alles Starre verflüssigen, zumal den Identitätspanzer von Person und Geschlecht. Bis endlich - am Ende einer rauschhaften Fahrt in die Nacht der Sinne - mit der Morgendämmerung das Realitätsprinzip in Gestalt König Markes in das Geschehen einbricht und mit ihm die Gesetze des Tages, die von Treuebruch und Verrat. Bspl. 4: Richard Wagner, Tristan und Isolde , 2. Aufzug [Tr. 8, 2´23 - Tr. 9, 0´26] [5´37] Der zweite Tristan-Aufzug entfesselt, was der Nachtblindheit der Moderne und ihrem Funktionalismus, was dem Aktivitäts- und Wachheitsgebot der frühen Arbeits- und Industriegesellschaft konturlos zu werden beginnt: die heißen und kalten Zonen des Schwärmerischen und Ekstatischen, des Unbewussten und Traumhaften. Wie sehr muss das Leben unter dem Druck einer gnadenlosen Optimierung aller Ressourcen zum Schwergewicht geworden sein, um eine Musik von solcher Vehemenz auszulösen. Schon 1827 berichtet Heinrich Heine in seinen Reisebildern aus London von den „Menschenwogen“ und all der „grauenhaften Hast der Liebe, des Hungers und des Hasses“. „Dieser bare Ernst aller Dinge, diese kolossale Einförmigkeit, diese maschinenhafte Bewegung, diese Verdrießlichkeit der Freude selbst [...] erdrückt die Phantasie und zerreißt das Herz“. Es regieren die Knute des „Geldes“ und die Unrast, „Tag und Nacht zu arbeiten“, und dies in einer Welt der Konkurrenz, „wo derjenige, der zu Boden fällt, auf immer verloren ist, wo die besten Kameraden fühllos einer über die Leiche des andern dahineilen, und Tausende [...] in die kalten Eisfluten des Todes hinabstürzen.“ Dieser unmenschlichen Hektik des Profits begegnet bereits die nächtliche Wunschlandschaft der Frühromantik mit einer Imagination des Wunderbaren. Sie lässt das Panorama der Welt über den „praktischen Abgrund“ frühindustrieller Nützlichkeit hinweg noch einmal aufleuchten: im Glanz einer letzten Illumination. Und auch in der Musik spiegelt sich diese nächtliche Magie in den Erscheinungen des Phantastischen, im Aufblitzen der Spuren eines unsteten, aufgeregten Ich, das trunken, in bizarren Kapriolen, vom Schwindel erfasst oder als Doppelgänger seiner selbst agiert: ein regelrechter Vagabund der Nacht und oft wie in „Traumeswirren“. Bspl. 5: Robert Schumann, Traumeswirren [Tr. 17] [2´01] Nach dem Scheitern der Ideale der Französischen Revolution und mit der restaurativen Erstarrung des Metternich-Regimes lässt sich ein Rückzug der Kunst in den Innenraum der Psyche beobachten. Der Bruch zwischen Traum und Wirklichkeit und der Abgrund zwischen Tag und Nacht werden zum Ausdruck eines schmerzhaften Weltrisses. Nur zu oft kollidiert deshalb in den Mondnächten des romantischen Empfindungskosmos der nüchterne Tag mit dem Mysterium der Nacht. „Muss immer der Morgen wiederkommen?“, heißt es beim Dichter Novalis. „Endet nie des Irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. […] Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft. - Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf - beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in diesem irdischen Tagewerk. Nur die Toren verkennen dich und wissen von keinem Schlafe als dem Schatten, den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst.“ Diese Toren „wissen nicht“, dass „aus alten Geschichten du [heiliger Schlaf] himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender Bote.“ Die Musik der Nacht weist den Weg in ein inneres Universum der Selbsterkundung, in ein Universum der Wunder und der Begeisterung, der Auflösung und der Entregelung. Musik wird zu einer exzentrischen Fahrt ins Unbekannte und zu einer ebenso geheimnisvollen wie unheimlichen Stimme der Verführung, die im „Rauschen“ der Nacht die Prosa der Tags nur umso deutlicher hörbar werden lässt. Bspl. 6: Robert Schumann, In der Nacht [4´04] „Die Nacht ist auch mir das liebste [der Fantasiestücke ]. Später habe ich die Geschichte von Hero und Leander darin gefunden“, schreibt Robert Schumann 1838 an seinen Freund Karl Krägen. Freilich muss man für das Verständnis von Schumanns Fantasiestück In der Nacht nicht erst ein tragisches Liebespaar der Antike bemühen; nicht das allnächtliche Durchschwimmen des Hellesponts, das Leander zu Hero bringt, bis Leander sich im Unwetter verirrt und ertrinkt und Hero ihm von einem Felsen aus in den Tod nachspringt. Auch ohne Programm lassen sich der Kontrast, die Überlagerung und das Einander-Durchdringen des Stürmischen und Beruhigten, des Dramatischen und Elegischen in Schumanns „Nacht“ wie eine Meteorologie der Seele hören. Das Tosen dieses f-Moll-Stücks im Wechsel mit kantilenenhaften Partien lässt das Rapide und Diskontinuierliche der Bewusstseins- und Seelenzustände wie in einer Musik der Gezeiten anbranden: Als wäre Schumanns „Fantasiestück“ in der Ebbe und Flut seiner Affekte vom Verlangen ergriffen, die Sprache der Natur selbst zu sprechen, ungeachtet ob sich dabei das Vertraute sirenenhaft verrätselt oder das poetische Ich wie Leander im Strudel der Lockungen untergeht. ​ Bspl. 6 aufblenden + Ende Bspl. 6. Die Nacht kennt andere Rhythmen, andere Stimmungen als der Tag. Sie kennt Entgrenzungen und Auflösungen im Bereich des Dämonischen und im Bereich von Angst und Tod. Und doch gibt es auch das sanfte Gesicht des Nächtlichen, das tröstliche, entrückende, etwa in der ersten der Hymnen an die Nacht des Dichters Novalis oder in Chopins b-Moll-Nocturne . Bspl. 7: Frédéric Chopin, Nocturne b-Moll [3´40] Dunkle Nacht, […] was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner Hand, aus dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüts hebst du empor. Dunkel und unaussprechlich fühlen wir uns bewegt […]. Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun - wie erfreulich und gesegnet des Tages Abschied“. „Himmlischer als jene blitzenden Sterne dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet.“ ​ Bspl. 7 aufbl. + Ende Bspl. 7. Neben dem aufwühlenden und neben dem versöhnlichen Bild der Nacht zeigt sich uns indes noch eine weitere Facette des Nächtlichen, eine Facette, die sich zugunsten des Bündnisses von Tag und Nacht deren ökonomieverrückter Trennung entzieht. So, wie in Gérard Griseys 1979 entstandener Komposition Jour, Contre-Jour , die von altägyptischen Mythen inspiriert ist. Dass das Verdrängte umso stärker lockt, je mehr der Imperativ der Betriebsamkeit den Zauber der Nacht und der Fantasie als hinderlichen Seelenluxus reglementiert, liegt auf der Hand. Sehnsucht kommt auf nach vergangenen Kulturen, zumal nach derjenigen Ägyptens, in der das Reich der Nacht und des Todes von dem des Tags und des Lebens nicht abzuspalten ist. Allerdings sucht man in Griseys Komposition Jour, Contre-Jour vergeblich nach orientalisierender Exotik. Vergeblich auch nach einer programmmusikalischen Bebilderung des Laufs der Sonne durch das Land der Schatten. Grisey verwandelt das Spiel von Nacht und Tag einzig aufgrund der kompositorischen Struktur in ein faszinierendes Changieren von Hell und Dunkel. Beginn Bspl.8. Unter den Text legen ​ Schon die Puls- und Herzschläge und die vereinzelten Atemzüge der ersten Takte wirken wie der Aufbruch zu einer Seelenfahrt in Bezirke, die der Tagesfixiertheit der modernen Zivilisation unzugänglich werden. Sirrend und mit langen Dauern beginnt ein unentwegt sich wandelnder und schichtender Strom von Klängen im Kosmos ihrer Teil- und Obertöne: ein Oszillieren auf der Bahn einer gleitenden Mischung von Licht und Schatten, in der sich Nacht und Tag, Leben und Tod atmosphärisch in vielfältigen Nuancen brechen - fern jeder starren Polarisierung. ​ Bspl. 8: Gérard Grisey, Jour, Contre-Jour [3´03] ​ Und doch basiert das Arbeits- und Leistungsprinzip der Gegenwart weiterhin auf einer Entfremdung zwischen Nacht und Tag, auf einer Entfremdung, die die verwertungsorientierte Vereinnahmung der Nacht durch den Tag erst ermöglicht. Auf einer Entfremdung aber auch, die die Kunst der Moderne als die Kluft zwischen einer tagaktiven Massengesellschaft und der nächtlichen Einsamkeit isolierter Individuen spürbar macht. So ist auch die namenlose Frau, die in Schönbergs Erwartung durch die Nacht irrt, um ihren Geliebten zu suchen und ihn schließlich ermordet findet, jener alltäglichen Anonymität ausgeliefert, von der es gegen Ende der Komposition heißt: „Tausend Menschen ziehn vorüber ... ich erkenne dich nicht“. Und die Nacht selbst? Sie gibt der Angst und der Verlassenheit in Schönbergs Monodram erst ihre trostlose Resonanz. „Was soll ich allein hier tun […] in diesem endlosen Leben […] allein in meiner Nacht?“. Wenn zuletzt Schönbergs Erwartung , noch während der Vorhang fällt, mit einem Glissando-Sog im drei- und vierfachen Piano eher abbricht als schließt, dann schockiert dieser Schluss - aber ist das überhaupt ein Schluss? - durch das Zufällige, ja Beliebige seines bloßes Aufhörens: Als würde dieses Ende abrupt und kürzelhaft das Zufällige und Beliebige zahlloser Einzelschicksale zitieren, deren Leid im Zeitalter der „einsamen Masse“ keine andere musikalische Lösung mehr zulässt. Bspl. 9: Arnold Schönberg, Erwartung [3´37] Wie man sich das nächtliche Firmament in Schönbergs Erwartung wohl zu denken hat? Erinnert es womöglich an die rätselhafte Absurdität der Sterne in Franz Kafkas Erzählung Ein Brudermord ? „Der Nachthimmel hat ihn angelockt, das Dunkelblaue und das Goldene. Unwissend blickt er es an, unwissend streicht er das Haar unter dem gelüpften Hut; nichts rückt dort oben zusammen, um ihm die allernächste Zukunft anzuzeigen; alles bleibt an seinem unsinnigen, unerforschlichen Platz.“ Sollen das nun die letzten Töne, die letzten Worte unserer Sendung sein? Gibt es nicht doch noch eine Musik der Nacht, die die Kümmernisse und Zumutungen des Lebens übersteigt - für eine Weile zumindest? Eine Musik, die tröstet, indem sie verspricht, und dieses Versprechen über ein bloßes Versprechen hinaushebt? Im letzten Akt der Hochzeit des Figaro hat Mozart eine solche Musik komponiert und mit ihr einen verwirrenden Irrgarten der Nacht, in dem es nach all den Verwechslungen und Intrigen, nach all den Kränkungen und Qualen der Eifersucht zuletzt doch noch Pardon gibt. Dass dem Grafen Almaviva vergeben wird, der seine eigene, durch Verkleidung unerkannte Frau verführen will, hat Mozart auf eine Weise komponiert, die der Naturgeschichte der Seele die Treue hält. Hier zeigt sich, wie antitragisch Mozarts musikalischer Eros ist, wenn Tragik Unversöhnlichkeit und Ausweglosigkeit bedeutet. Wie die Nacht die Tagesschärfe der Konturen mildert, so mildert Mozart im nächtlichen Park des Figaro-Finales die harten Konturen einer Moral, die jeden Fehltritt nach der Konvention von Schuld und Sühne verrechnet. Nur so kann der Akt des „Perdono“ die Gnade - die gratia und Grazie der Vergebung - ohne jede Erwartung einer Gegengabe gewähren. Zugleich erreicht die Musik mit dem „Ja“ der verzeihenden Gräfin jenen beispiellosen Ausdruck jenseits aller Geschlechterrollen, in dem sich die Zeit in einem unerhörten Moment staut und die Folge der Zeiten aussetzt: Als beharrte die Musik auf einem Jetzt, das weder Vergangenheit noch Zukunft kennt. Bspl. 10: Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro , Finale [1´10] Nach der Aussöhnung des gräflichen Paares dann die feierlich besinnliche Beschwörung des glücklichen Endes durch das Ensemble, wie in Erleichterung darüber, dem nächtlichen Labyrinth der Passionen und dessen Turbulenzen noch einmal entkommen zu sein. Die drei an diese Beschwörung anschließenden Pianissimo-Takte der Streicher, der Oboen und der Flöte sprechen hintersinnig genug die Sprache eines Ernstfalls auf des Messers Schneide. Danach freilich sind die Musik und ihr ausgelassener Festjubel nicht mehr zu halten. Denn „nur die Liebe ist fähig“, den „Tag der Leiden, der Verrücktheiten und Tollheiten zufrieden und in Freude zu beschließen“, wie es im Libretto heißt. Es ist diese Sensibilität für den dunklen Formenkreis der Psyche, der es dem nächtlichen Schluss des Figaro ermöglicht, das Spiel der Irrungen nicht resignativ zu verschatten, sondern zu epikureischer Heiterkeit zu wenden. Frei von jeder Verachtung gegen das Leben zeigt Mozart Begehren und Verführbarkeit als eine schmerzliche Schwäche des Menschlich-Allzumenschlichen. Musik senkt die Ich-Schranken im Namen der Verzeihung und im Namen einer verweigerten Ankunft im Prinzipiellen. So entzündet sich unter dem Sternenzelt des Figaro-Finales die Hoffnung, die Nacht und mit ihr die Milde des Nachtsichtigen und Nachsichtigen mögen sich nicht vollends im Regime des Tages und seiner Ökonomie der Härte und Kälte verlieren. Ob also wenigstens die Musik den Zauber des Nächtlichen gegen die Routine des Tages zum Leuchten bringen kann, damit die Stimme des Orpheus weiterhin hörbar bleibt - als eine Stimme, die „singt und nicht befiehlt“? ​ Bspl. 11: Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro , Finale [Tr. 8] [4´33] ​ ​ Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Orlando di Lasso, La Nuit froide et sombre [Ensemble Gilles Binchois] [veritas 7243 5 45458 2 5] Bspl. 2: Orlando di Lasso, La Nuit froide et sombre [Aufnahme wie in Bspl. 1] Bspl. 3: Claudio Monteverdi, Hor che´l ciel e la terra [Concerto Vocale, René Jacobs][harmonia mundi HMC 901736.37] Bspl. 4: Richard Wagner, Tristan und Isolde, 2. Aufzug [Wolfgang Windgassen, Birgit Nilsson, Karl Böhm, Bayreuther Festspiele] [Deutsche Grammophon 449 772-2] Bspl. 5: Robert Schumann, Traumeswirren [Sviatoslav Richter] [Supraphon SU 3795-2] Bspl. 6: Robert Schumann, In der Nacht [Alfred Brendel] [DECCA 480 3472] Bspl. 7: Frédéric Chopin, Nocturne b-Moll [Arthur Rubinstein] [EMI 50999 5 09668 2] Bspl. 8: Gérard Grisey, Jour, Contre-Jour [Ensemble l’Itinéraire, Pascal Rophé] [ACCORD SACEM 201952] Bspl. 9: Arnold Schönberg, Erwartung [Janis Martin, BBC Symphony Orchestra, Pierre Boulez] [SONY SMK 48466] Bspl. 10: Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro, Finale [Cesare Siepi, Hilde Güden, Lisa della Casa, Wiener Philharmoniker, Erich Kleiber] [alto ALC 2501] Bspl. 11: Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro, Finale [Aufnahme wie in Bspl. 10] ​

  • Johannes Bauer, Wer hat Angst vor Neuer Musik?

    Ein Dialog Wer hat Angst vor Neuer Musik oder Wie verlernt man die Tradition? Bayerischer Rundfunk (2008) An Festivals Neuer Musik besteht wahrlich kein Mangel. Dennoch beschränkt sich die Präsenz zeitgenössischen Komponierens überwiegend auf eine Szene von Insidern. Abgesehen davon, dass der Bereich der Kultur zunehmend als eine Art Dienstleistungssektor für Entspannung und Unterhaltung verstanden wird, abgesehen auch davon, dass die Musik der Gegenwart anders als die moderne Malerei nicht zu Anlagezwecken taugt: eine Ursache für das Ghetto-Dasein Neuer Musik liegt sicherlich darin, dass ihre Rezeption von zu viel Tradition blockiert wird. Wer glaubt, ein Werk Karlheinz Stockhausens nach den gleichen Kriterien hören zu können, ja hören zu müssen wie eine Beethoven-Symphonie, wird unvermeidlich scheitern. Die Sendung will einige dieser Verstellungen ausräumen und zeigen, dass Neue Musik zwar andere, zum Teil aber durchaus freiere Hörweisen verlangt und anspricht als die sogenannten klassischen Werke. Neue Musik - eine Musik der Entregelung und des schöpferischen Hörens? Wäre das nicht einen Hör-Versuch wert? ​Bspl. 1: Johannes Brahms, Dritte Symphonie , 2. Satz Kreuzblende Bspl. 2: Karlheinz Stockhausen, Gruppen A Zwei Kompositionen, zwei Epochen. B Zwei musikalische Welten würde ich eher sagen, durch einen Abgrund voneinander ge­trennt. A Und doch liegen zwischen diesen musikalischen Welten lediglich 73 Jahre. B Trotzdem: Waren das noch Zeiten, als Musik etwas mit klaren Strukturen zu tun hatte. A Ein schönes Klischee gleich zu Beginn! Klare Strukturen! Meist handelt es sich dabei doch nur um ein routiniertes Zurechthören, um hohe Wiedererkennungswerte. B Nun gut, vielleicht haben Sie Recht. Also ein zweiter Versuch. Waren das noch Zeiten, als Musik die Hörer gleichsam im Ohr hatte; als Musik noch auf das Publikum zuging, es umwarb und so etwas wie Bestätigung vermittelt hat. A Sie meinen im Unterschied zu einer Musik, die alle Sicherheiten entzieht und das Publi­kum auf Distanz hält, B nicht nur auf Distanz, sondern es rundweg abweist und jede Orientierung entzieht. A Ob es sich Ihre Schwarz-Weiß-Unterscheidung zwischen einer Musik, die sich öffnet, und einer, die sich abriegelt, nicht doch etwas zu leicht macht! Erinnern Sie sich nur an Beet­hovens Klagen über seine Hörerschaft. - Zugestanden, am Ghetto-Dasein der sogenannten Neuen Musik gibt es nichts zu beschönigen. Aber liegt das nur an der Musik? Oder nicht auch am Publikum? B Am Publikum? Ich finde, Musik hat in erster Linie für das Publikum da zu sein. Ist die Ver­bindung zu den Hörern unterbrochen, stimmt etwas mit der Musik nicht. A {Ironisch}Und mit dieser Verbindung meinen Sie womöglich auch noch die von Angebot und Nachfrage. B Warum nicht? Wenn auch nicht nur! Als wäre das Leben nicht schon anstrengend genug, er­höht Neue Musik den Stress, wie mir scheint, auf eine beinahe lustvolle Weise. Die At­tacken mancher Kompositionen grenzen doch teilweise nahezu an Körperverletzung. Oder wie wirkt das folgende Stück Lärm auf Sie? Bspl. 3: Masami Akita, crack groove A Sicher! Der Lärmexzess in Masami Akitas crack groove wirkt nicht nur wie eine Attacke, er ist eine Attacke. B Eben! A Und doch ist dieser Lärm nicht der von Autobahnen oder Jumbo-Jets. Dafür ist die Musik viel zu konstruiert. B Meinetwegen. Dann eben konstruierter Lärm. A Etwas mehr ließe sich zu Akitas crack groove schon noch sagen. Etwa dass die Musik, B {Ironisch}Musik ist gut, A etwa dass die Musik - oder wenn Sie so wollen - dass ihr Klang-Bombardement zunächst einmal gegen den realen Lärm abdichtet, ihn auslöscht und damit paradoxerweise so et­was wie eine negative Stille erzeugt. Zumindest vermittelt Akitas akustische Offensive, mit welcher zivilisatorischen Gewalt es das ästhetische Unternehmen mittlerweile zu tun hat. Komponiert wird eine Spur alltäglichen Athletentums, dem Druck einer technisierten Welt und ihrem Funktionalismus standzuhalten. Liegt darin nicht auch ein Moment an Freiheit? B Sie meinen allein aufgrund der klanglichen Reflexion dieses Drucks und seines - wie soll ich sagen – seines Banns durch die Komposition? A Ich denke schon. Indem sich Musik in eine dröhnende Eruption verwandelt, wohlgemerkt in eine, die konstruiert, die komponiert ist, schlägt sie eine Schneise des Widerstands in eine Zeit, in B {ungeduldig}ein Leben, das einem den Atem nimmt. Ich verstehe schon. Dennoch: mir ist das alles viel zu weit hergeholt, viel zu theoretisch. Freilich sehe ich ein, dass Musik - verwechselt man sie nicht völlig mit der Sphäre von "Schöner-Wohnen" - nahe an den Problemen und mehr noch an den Möglichkeiten ihrer Zeit sein muss. Eine Musik, die etwas taugt, kann sich nicht arglos vom Weltlauf lossagen, ohne zur puren Wellness-Ku­lisse zu werden. Aber müssen es unbedingt solche Attacken sein? A Vermutlich ist für unser Gespräch Akitas Lärm-Stück, wie Sie es nennen, wirklich kein brauchbarer Einstieg. Es eignet sich einfach zu gut, um sämtliche Vorurteile über Neue Musik zu bestätigen. Außerdem steht zeitgenössisches Komponieren längst nicht mehr unerbittlich in Waffen. Nach ihrer Geschichte im Zeichen der Katastrophen des 20. Jahr­hunderts hat Musik die Bürde von Klage und Anklage zunehmend abgerüstet - und zwar auf höchstem Niveau. Zu hören ist dies etwa in einer Komposition wie Morton Feldmans Patterns in a Chromatic Field . B Jetzt gehen Sie aber wirklich ins Extrem. Feldman - ist das nicht der Komponist unend­lich langer, monotoner Pianissimo-Exerzitien? Ein bis zwei Stunden hat man bei ihm doch mindestens abzusitzen. A Ob wir nicht trotzdem ein wenig in die Musik hineinhören? Bspl. 4: Morton Feldman, Patterns in a Chromatic Field B Wie ich bereits sagte: Eine Musik der Monotonie und der Reduktion. Für mich ist das der äußerste Gegensatz zu einer Musik der Fülle. Was soll diese Zurücknahme? A Ob Sie sich da nicht ein wenig täuschen. Wahrscheinlich zeigt gerade Feldmans Komponie­ren, wie sehr sich das Deutungsmuster der Fülle inzwischen in sein Gegenteil verkehrt hat. B Auf mich jedenfalls wirkt Feldmans Musik wie eine, die aufhören will und nicht aufhören kann. Ungefähr so, wie es bei Samuel Beckett heißt: „man muss weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muss weitermachen, ich werde also weitermachen“. Beabsich­tigt denn Feldman so etwas wie eine Gesellschaftskritik in Tönen? A Wie meinen Sie das? B Ich meine eine musikalische Gesellschaftskritik, sofern sich Komponieren in einer Welt der vollmundigen Sprachlosigkeit und pausenlosen Kommunikation womöglich - das heißt für Feldman - nur noch auf den Rand des Verstummens zubewegen kann. A Ich vermute, dass solche vordergründig gesellschaftskritischen Hörweisen den Zugang zu Feldmans Musik eher verstellen. Ich dagegen möchte Sie vorerst nur um etwas Offenheit bitten. B Um welche Offenheit? A Um eine Offenheit, die ich zunächst so umschreiben will: Neue Musik, das bedeutet in wei­ten Bereichen auch eine Lockerung von Wachsamkeits-, von Kontrollgeboten. B Also eine Art Nebenbeihören? A Das eben gerade nicht. B Sondern? A Nun: Eine Beethoven-Symphonie adäquat zu hören, verlangt Präsenz in jedem Augen­blick. Das heißt eine anhaltende detektivische Detail-Entschlüsselung, um das komplexe harmonische und motivische Gewebe der Komposition zu dechiffrieren und auf seinen - sagen wir ruhig – musikalisch-philosophischen Gehalt hin zu hören. Erst aus dieser Ent­schlüsselungsarbeit ergibt sich die ästhetische Fülle des Hörens. Dass dieser Anspruch das heutige Konzertpublikum kaum noch interessiert, macht die Sache nicht besser. B Und diese unentwegte Detail-Entschlüsselung, von der Sie sprechen, spielt in vielen Arbei­ten Neuer Musik keine Rolle mehr? Sicher: die Sprache der sogenannten Klassi­schen Musik arbeitet mit Motiven und Themen und deren Geschichte auf der Basis subti­ler harmonischer Pläne, kurz: mit einem ganzen Katalog an rhetorischer Dramatik, deren Details im Kontext einer gewissen musikalischen Sprachlogik gehört werden wollen. Da­von ist in zeitgenössischen Kompositionen nun wirklich kaum mehr etwas zu hören. A Und nicht nur das. Indem Musik Ausdruck ihrer Zeit ist, geht diese Zeit mit all ihren Ten­denzen zweifellos in die Struktur der Musik ein. Wenn auch nicht abbildhaft. B Könnten Sie etwas konkreter werden? A Nehmen Sie etwa den Bereich der Zeiterfahrung in der Moderne. Isaac Newtons Vorstel­lung von einer "absoluten" und "wahren" Zeit, die "gleichförmig" dahinfließt und allen Ereignissen ihren Takt vorgibt, ist ihrem Universalanspruch nach doch längst passee. Und dies nicht nur seit Einsteins Relativitätstheorie. B Sie wollen doch jetzt nicht das Kapitel „Neue Musik und Naturwissenschaft“ aufschlagen und mir klarmachen, moderne Komponisten hätten nach den Vorgaben moderner Physik zu komponieren. Obwohl sich manche neuere Stücke für meine Ohren tatsächlich so an­hören. A Und doch ist Neue Musik keine Quantenphysik! Aber bleiben wir noch ein wenig bei unse­rem Zeitmodell. Nicht nur dass die Vorstellung einer gleichsam göttlich vorgegebe­nen Einheitszeit seit Einstein in voneinander unabhängige Eigenzeiten zerfällt; bereits un­sere alltägliche Wahrnehmung zersplittert doch zunehmend in ein Zeit-Puzzle unter­schiedlichster Einzelzeiten. Wobei aus dieser Überlagerung, B aus der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Eigenzeiten, A ja, wobei aus dieser Überlagerung eigenständiger Zeitverläufe ein seltsames "Wechsel­spiel zwischen Ordnung und Chaos" resultiert, wie dies der Komponist György Ligeti einmal formuliert hat. Wenn also Ligetis San Francisco Polyphony verschiedenartige und voneinander abweichende Bewegungsabläufe kombiniert, dann geht es dabei trotz aller kompositorischen Raffinesse immer auch um ein Stück Alltagserfahrung. Bspl. 5: György Ligeti, San Francisco Polyphony B Ein Energiegefüge aus Zentripetal- und Zentrifugalkräften, ein Erzeugen und Umschich­ten von Kraftlinien: so würde ich die komponierte Zeit dieser Musik umschreiben. A Eben weil es in ihr um das Ausfiltern vielfältiger Energieniveaus geht. B Und damit eher um diverse Grade von Dichte, Zufall und Wahrscheinlichkeit, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit und weniger darum, motivisch-thematische Entwick­lungsstränge zu entschlüsseln wie etwa in der Klassischen Tradition. Ich verstehe. Über­haupt scheinen mir Form und Zeit bei Ligeti eine Art flexibler Container zu sein, der die kontrastierenden melodischen Linien bündelt. A Worin Ihnen der Komponist übrigens beipflichten würde. Spricht Ligeti anlässlich der San Francisco Polyphony doch selbst von der "riesigen Unordnung" in einer "Schub­lade", in der ›Chaos herrscht‹, während die Schublade als Rahmenform durchaus "wohl­gestaltet" sei. Aber wählen wir noch ein anderes Beispiel für unsere Zeit-Diskussion, nämlich das Streichquartett no one von Isabel Mundry, einer 1963 geborenen Komponistin. Auch hier entfaltet sich Zeit aus den jeweiligen Eigenzeiten der vier Streicherstimmen. B Könnte man anlässlich dieser von Ihnen beschriebenen Zeit der Eigenzeiten nicht auch sagen, dass Zeit mehrdimensional wird und ein Tableau fortwährender Überlagerungen und Abweichungen in Szene setzt? A Sicher! Und etwas davon hatte wohl auch die Komponistin im Sinn, wenn sie das Bild von den vier Reisenden gebraucht, die auf dem Weg vom Centre Pompidou zum Eiffel­turm zwar alle die Seine überqueren, alle durch St. Germain müssen, für diese Route aber verschiedene Wege und Tempi bestimmen, sich gelegentlich treffen, einige Schritte ge­meinsam gehen, um sich dann wieder zu trennen. Bspl. 6: Isabel Mundry, no one B Sie erinnern sich schon, dass wir noch über Feldman sprechen wollten! A Aber ja. Wobei ich überzeugt bin, dass uns unser Umweg, wenn er denn einer ist, direkt zu Feldman zurückbringen wird. Aber nochmals zum Thema Zeit, das doch für jede Mu­sik von entscheidender Bedeutung ist. B Gut, ich stimme Ihnen darin zu, dass unsere Zeitwahrnehmung, besser: unsere Wahrneh­mung in der Zeit, zunehmend in eine Vielzahl kontrastierender Eigenzeiten und Zeit­rhythmen zersplittert. Während Sie jedoch für ein Auskomponieren dieser Zeitmuster in der Musik plädieren, meine ich, dass inmitten der allgemeinen Zeitzersplitterung wenig­stens die Musik so etwas wie eine stabile Einheitszeit gewährleisten sollte. A Aber die können Sie doch haben, wenn Sie eine Beethoven-Symphonie hören. Sagten Sie vorhin nicht selbst, Musik hätte sich der Komplexität ihrer gesellschaftlichen Situation zu stellen? Zumal darin doch auch enorme Möglichkeiten liegen. B Welche denn, wenn nicht die eines ästhetischen Chaos? A Nun zum Beispiel die Möglichkeit variabler Formen. B Und was heißt das? A Wenn Zeit nicht mehr als Einheitszeit allen Ereignissen vorgegeben ist, was läge dann nä­her, als diese Einheitszeit auch in der Musik aufzuheben? Indem nämlich die Geschlos­senheit einer Komposition gesprengt wird. B Und die Musik improvisiert wird, oder wie meinen Sie das? A Nicht ganz. Offene, variable, vieldeutige Formen sind fixierte Formen, deren Interpreta­tion nicht nur eine einzige Lösung zulässt, sondern verschieden viele, die alle gleich gül­tig sind. B Gleich gültig oder gleichgültig? Verzeihen Sie meinen Einwurf, aber Ihre Ausführungen scheinen mir doch regelrecht eine Ästhetik der Beliebigkeit zu hofieren. Was bedeutet diese variable Form denn konkret? A Für Mathias Spahlingers Komposition 128 erfüllte augenblicke bedeutet sie, dass die Aus­wahl einzelner Momente, einzelner Augenblicke aus dem Repertoire der 128 losen Partiturblätter den Ausführenden überlassen bleibt. Damit wird die Entscheidung der In­terpreten zu einem Bestandteil des Werks und seines Formverlaufs. Das Werk selbst wird zu einer Vielfalt von Werken. So hört sich etwa der Beginn der Komposition in einer ersten Version folgendermaßen an: Bspl. 7: Mathias Spahlinger, 128 erfüllte augenblicke A Und jetzt der Beginn, also eine andere Möglichkeit des Beginns, in einer zweiten Version: Bspl. 8: Mathias Spahlinger, 128 erfüllte augenblicke B Abgesehen von den Zumutungen in der Behandlung der Stimme, A auf die wir noch zu sprechen kommen werden, B abgesehen davon ist es zweifellos interessant, wie sich der Beginn einer Komposition in den Formenkreis ver­schiedener Anfänge auffächert. Es gibt zwar einen Beginn, aber nicht den Beginn. A Und natürlich beschränkt sich diese Vielfalt nicht nur auf den Anfang einer Komposition. B Im Grunde sprengen solche Verfahren die Einheitszeit des geschlossenen Werks und mit ihr eine Zeitstruktur, deren Kontinuität jede andere ausschließt. A Genau! In den offenen Formen Neuer Musik können Segmente umgruppiert, ausgetauscht oder weggelassen werden, ohne dass das Ganze aus den Fugen gerät. Ist das nicht ein Stück Freiheit von der Schicksalsmacht Zeit und somit ein Stück Freiheit gegenüber un­veränderlich scheinenden Normen und Satzungen? B Die Frage ist nur, ob das, was Sie Freiheit nennen, nicht wesentlich mehr mit Willkür zu tun hat. A Nun ja, dass diese Freiheit auch Angst macht und aufgrund der Sehnsucht nach Orientie­rung und nach der Verbindlichkeit einer musikalischen Sprache auch Abwehr erzeugt: was wäre daran verwunderlich? B Ich verrate Ihnen jetzt sicher kein Geheimnis: Auch mir liegt daran, von Musik nicht irri­tiert, sondern getragen zu werden. Und selbst wenn Musik Irritationen komponiert - ich weiß, davon gibt es in der tonalen Tradition genug -, selbst dann sollte Musik doch nie­mals den tragenden Grund ihrer Sprache verlassen. Wo bleibt diese Ordnung in der Neuen Musik? A Endlich fällt das Stichwort, auf das ich gewartet habe: Ordnung! Sie könnten auch sagen Si­cherheit. Und dabei wäre es beim Hören Neuer Musik so überaus wichtig, von jenem Kontrollsubjekt loszukommen, das in der klassischen Tradition ein Stück weit unabding­bar ist. Loszukommen von einem Hören, das orten und ordnen oder immer wieder das Gleiche hören muss, um nur ja nicht im Ungewissen zu sein. Es ist dieser Typus von Si­cherheitsdenken, der beim Hören Neuer Musik so viel verstellt. B Und doch ist das Verlangen nach Sicherheit nur zu gut zu begreifen. Die inneren und äuße­ren Kampfkünste, die uns im alltäglichen Funktionieren abverlangt werden, sind so schnell nicht aufzugeben. Wie sollte das beim Hören von Musik plötzlich anders sein? A Dennoch: Ein bisschen weniger Sicherheit und etwas mehr Risiko! Zumindest im Bereich der Kunst. Diese ständige Angst vor dem Offenen! B Offenheit ist wohl einer ihrer Lieblingsbegriffe? A Sie könnten dafür auch Atmen sagen, Aufatmen - oder Gelassenheit, Zulassen. Endlich ein­mal die Subjektfilter und die innere Radiophonie abdämpfen. Am besten, ich demon­striere Ihnen an einer Komposition, die wir bereits angespielt haben und die nicht sofort auf Abwehr stoßen wird, was ich mit dieser Offenheit meine. Bspl. 9: Johannes Brahms, Dritte Symphonie , 4. Satz B Johannes Brahms, Dritte Symphonie . Und was wäre nun die Offenheit dieser Musik? A Zunächst einmal handelt es sich hier nicht um die letzten Takte eines langsamen Mittelsat­zes, sondern um die eines Schlusssatzes, also um den Schluss des Schlusses einer Symphonie. Und noch dazu um einen, der für die Zeit um 1883 äußerst ungewöhnlich ist. B Sie meinen, weil sich dieser Schluss weder dem tragischen noch dem heroischen oder dem enthusiastischen Typ von Symphonieschlüssen zurechnen lässt? A Genau! Was Brahms hier komponiert, ist von der Tradition her ungeheuer. Er lässt seine Dritte Symphonie mit einer Coda enden, die kein Scheitern, keine Resignation, kein Be­stehen heroischer Kämpfe, keinen Triumph formuliert, B sondern einen Abschied vom beethovenschen Erbe, eine Abkehr von Drama und Trauma. Eine Musik der Zwischentöne gleichsam. A Ja, mit einer Ankunft im Offenen, die den Versuch, dieses Offene sprachlich dingfest ma­chen zu wollen, auf eine unendliche Irrfahrt schicken würde. Dieses Symphoniefinale je­denfalls wird die Musik nicht mehr vergessen. Und von hier aus ist - mit einer Karte der Neuen Musik gelesen - der Weg nicht mehr weit zu Erik Satie, der 10 Jahre nach Brahms’ Dritter Symphonie in seinen Danses gothiques nicht nur die finale Gewichtung, sondern den musikalischen Zeitverlauf selbst in Frage stellt. Bspl. 10: Erik Satie, Danses gothiques B Eine Musik wie aus dem Baukasten: Ein Bestand von einigen wenigen Motivelementen in jeweils unterschiedlichen Folgen. Dass dieses Montageprinzip Konsequenzen für das An­fangen und Schließen der Musik hat, liegt auf der Hand. Musik kann aufhören, wo sie will, und sie kann beginnen, womit sie will. Form wäre demnach eine Frage der Kombi­nation beliebig vertauschbarer Materialien, deren jeweilige Reihenfolge Stücke unter­schiedlicher Länge erzeugt. Eine Musik ohne Entwicklung, in der alles auf alles folgen kann. Liegt Ihrer Meinung nach womöglich auch in dieser Aushöhlung des linearen Zeit­stroms ein Moment des Widerstands gegen die Schicksalsmacht Zeit? A Vielleicht zunächst eher die Möglichkeit, Zeit, lineare Zeit, von außen zu denken. B Immerhin - und das ist im Jahr 1893 ästhetischer Extremismus pur - immerhin ist Saties Mu­sik eine, die sich nicht mehr für eine aufgeregt aufregende Dramatik, für starke Kon­traste, zwingende Fortsetzungen oder entschiedene Schlüsse interessiert. A Wirklich erstaunlich, wie Ihre Charakterisierung Kriterien ins Spiel bringt, die auch für Karlheinz Stockhausen, einen der herausragenden Komponisten Neuer Musik, von zen­traler Wichtigkeit waren. Und zwar in seiner Idee von der "Momentform", das heißt von einer Musik, die "sofort intensiv" ist und "ständig gleich gegenwärtig". B Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, hier handelt es sich um eine Musik, die keinen Auf­schub kennt, kein Gefälle, keine Nebensachen, keine Überleitungen und so weiter. Je­der ihrer Momente ist der Moment. A Ja! Und deshalb besteht bei dieser in jedem ihrer Momente gleich intensiven Musik auch nicht mehr die Notwendigkeit, sie von Anfang bis Ende durchzuhören. Ein Moment ge­nügt. Was selbstverständlich nicht ausschließt, alle Momente zu hören. Bspl. 11: Karlheinz Stockhausen, Kontakte B Ich kann mir nicht helfen: Ob diese Momentkompositionen nicht doch eher Stückwerkkom­positionen sind, ein Zugeständnis an die Unfähigkeit zur Konzentration, an A Beliebigkeiten. Sagen Sie es ruhig. Sie kommen einfach nicht los vom Dilemma zwischen klassischer Ordnung und moderner Willkür. B Mag sein, aber ich spreche zunächst einmal aufgrund meiner Hörerfahrung. Liegen Fülle und Erfüllung nicht gerade darin, den Weg einer Symphonie, etwa den der Dritten von Brahms, zur Gänze mitgegangen zu sein? Um sich dann, pathetisch formuliert, nach dem Schlussakkord zumindest ein wenig verwandelt zu fühlen? A Aber diese Erfahrung nimmt Ihnen doch niemand, außer Sie unterstellen die unversöhnli­che Alternative „Entweder Brahms oder Stockhausen“. Dabei geht es doch um beide. Was Sie Beliebigkeit nennen, nenne ich jedenfalls Freiheit. - Im Übrigen: vielleicht grün­den so viele Vorurteile über Neue Musik darin, dass sie selbst mit so vielen Vorurteilen aufräumt. B Eine Wortspielerei? Oder was meinen Sie damit? A Nun, nehmen Sie etwa die Sphäre des reinen Tons; immerhin die Basis der abendländi­schen Musik über Jahrhunderte. Es gehörte und gehört schlicht zum guten, schönen Ton, sauber und rein artikuliert zu werden. Und mit "gut" meine ich durchaus eine moralische Quali­tät. B Gott sei Dank, dass es in dieser Lärmwelt noch so etwas wie reine Töne gibt. A Trotzdem: So wie in der Philosophie - etwa bei Nietzsche - die Idee eines reinen und ewi­gen Geistes auf ihren menschlich-allzumenschlichen Trieb- und Erkenntnisgrund hin ent­zaubert wurde, so hat auch die Musik nach 1945 das Gesetz vom reinen als dem wahren Ton entkräftet. Musik will die körperhaft-materiale Basis des Tons bewusst machen oder, besser gesagt, emanzipieren: seinen Unterbau, sein bislang Knechtisches. Und zwar in seiner ganzen Vielfalt - bis hin zu den Nuancen des Unsauberen, Hässlichen. B Sein Knechtisches? A Ja, sein Knechtisches, bislang Unterdrücktes. Denken Sie an die Stimme. Ihr expressives Spektrum - wir haben das ja schon vorhin bei Mathias Spahlinger gehört - besteht aus mehr als schön gesungenen Tönen und deutlich artikulierten Worten. Atmen, Röcheln, Stöhnen, Schreien - all diese Facetten gehören zum stimmlichen Ausdrucksrepertoire. Und Neue Musik tabuisiert keine dieser Nuancen. In ihr wird die Unterscheidung zwi­schen Rohem und Gekochtem gegenstandslos. Bspl. 12: Helmut Lachenmann, temA B Na, ich weiß nicht. Die Stimme ist in der abendländischen Geistesgeschichte doch nicht um­sonst eng mit Logik und Vernunft und deren Ausdruck im klaren Sprechen verbunden. Und mit dem reinen Singen, das von der Emanzipation des Subjekts nicht zu trennen ist. Was wäre die klassische Operntradition denn anderes! Weshalb dieses Stöhnen, Röcheln, Schreien, Atmen? A Mit der Emanzipation des Subjekts ist das so eine Sache. Aber Sie haben Recht: es reicht si­cher nicht aus, sich der expressiven Ressourcen zu bedienen und zu glauben, damit sei es getan. Es muss schon etwas mehr dazukommen. So wie in der zuletzt gehörten Kom­position temA von Helmut Lachenmann. B Sie hören also bei Lachenmann gleichsam eine musikalische Archäologie des Verfemten mit. Ein Ernstnehmen des Körpers und seiner Organsprache. So weit, so gut. Aber diese Rettung des vom reinen Ton Verdrängten kehrt das Ganze doch nun selber autoritär um. A Wieso? B Indem der reine Ton zum bloßen Sonderfall des Geräuschs zu werden droht. Frei nach dem Motto: Kampf jedweder Konsonanz! Dabei ist es doch diese Rigorosität, die die Abwehr der Neuen Musik durch das breite Publikum nach sich zieht, dieser - fast möchte ich sagen - Negativismus. Als müsste jede Hörerin, jeder Hörer geprüft werden, was sie auszuhalten imstande sind. A Auch wenn meine Antwort ausweichend klingt: Glauben Sie nicht, es sei nur recht und bil­lig, nach Jahrhunderten des Schönklangs endlich einmal auch rauere, bislang aus dem Klangkosmos ausgeschlossene Töne zuzulassen? Und außerdem, wie ich eingangs sagte: Neue Musik steht schon lange nicht mehr unerbittlich in Waffen. Das wird vor allem an Morton Feldmans Musik hörbar, auf die wir ja noch zu sprechen kommen. - Doch noch­mals kurz zu Lachenmann. Sie werden mir zustimmen, dass Lachenmann sich an der Prä­senz des Körpers orientiert, etwa am Formenkreis des Atmens. Und dies unter Verab­schiedung des gängigen schlackenlosen Schönheitsideals. B Das ist ja wohl kaum zu überhören. Natürlich habe ich verstanden, dass die ausgefallenen Vokaltechniken bis hin zu Schnarchgeräuschen den Seelenton der Stimme auf den Körper hin erden und das Ranggefälle zwischen Geist und Materie mindern wollen. Ich befürchte nur: Ein wenig weiter und wir landen in den Sitzungen musikalischer Selbsterfahrungs­gruppen. A Wofür Lachenmanns Musik nun wahrlich zu virtuos ist, zu komplex, zu durchdacht. B Also gut: Es geht in dieser Musik um Ausgeschlossenes, Tabuisiertes, wobei die Atemge­räusche den materialen Grund von Artikulation und Sprache hörbar machen. A Und dieser materiale Atemgrund von Artikulation und Sprache wird noch brisanter kraft der Tatsache, dass das Geräusch des Atmens und die Dekomposition der Sprache fast zeitgleich in der Neuen Musik auftauchen. B Was mich nicht wundert nach all den Zersetzungstendenzen, A die auch solche einer Befreiung sind, davon lasse ich nicht ab. Beweisen doch die von Ih­nen bemängelten Zersetzungstendenzen - ich wiederhole mich -, dass sogenannte Ewigkeitswerte ihren Zeitkern haben, dass sie folglich veränderbar sind und damit ihr autoritäres Schwergewicht verlieren. B Aber die Sprache! Die Zersetzung der Sprache! Das geht doch wohl an die Substanz! A Und was meinen Sie zu dieser Musik? ​ Bspl. 13: Luciano Berio, Visage ​ B Ich gebe zu, beeindruckend ist das allemal. Wenn auch ein wenig beängstigend. Dieser ganze Formenkreis des sinnlichen Triebgrunds! Man kann die Lust und Last der Artiku­lation kaum eindringlicher zu Gehör bringen. Entstehung von Sprache wie unter Ge­burtswehen. Und wenn die silbischen Relikte wie nach einer schmerzhaften Initiation im italienischen Wort für Sprache, nämlich im Ausdruck „parole“ kulminieren, dann liegt darin etwas von Beschwörung. A Und ein Bedürfnis nach Halt. B Aber auch die Erkenntnis, dass dieser Halt der „parole“, der Worte und der Sprache, trüge­risch ist. Diese Musik klingt für mich, als verdichte sich in ihr die Erkenntnis, dass Sprache zwar einen Boden an Verständigung schafft, dass sie aber aufgrund ihres kon­ventionell verabredeten Gebrauchs auch ein Abgrund ist, der auf die Leere zwischen den Worten hin durchlässig wird. A Und damit auf das Rauschen des Atems. B Ich werde übrigens den Eindruck nicht los, dass für alle unsere Musikbeispiele ein Zug der Unschärfe kennzeichnend ist. Und zwar - auch wenn eine solche Äußerung bei mir verwundern mag: Unschärfe gemeint nicht als Mangel, sondern im Sinn einer anderen Er­fahrung von Welt: Einer Erfahrung, die die Regie und Selbstsicherheit des traditionellen Erkenntnissubjekts und seiner klaren Weltordnung ins Wanken bringt. Mir scheint, als ginge es Neuer Musik um etwas zwischen den Zeilen, zwischen den Tönen, um etwas beinahe Abgründiges, das unhinterfragte Konventionen sprengt. A Höre ich in Ihren Worten jetzt eine gewisse wohlwollende Irritation, eine gewisse Nach­denklichkeit? B Irritation, Nachdenklichkeit - ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir nochmals auf Feld­man zu sprechen kommen wollten. A Und dafür ist der von Ihnen eingebrachte Begriff der Unschärfe bestens geeignet. Geht es doch auch in Feldmans Musik um eine Art Unschärfe. Um die nämlich, in einem subtilen, nicht mehr identifizier- und auslotbaren Veränderungs- und Verwirrspiel von Mikrova­rianten, ihren Wiederholungen und Scheinwiederholungen, das Gedächtnis zu verunsi­chern; es gleichsam in seinen erkennungsdienstlichen Gewohnheiten und Sinngebungen zum Vibrieren zu bringen, B {etwas heftig}um das Bewusstsein zu unterhöhlen und ortlos werden zu lassen. A Also doch wieder einer Ihrer Rückfälle ins Altbekannte. Vergessen Sie bitte nicht, dass es hier um Kunst geht und nicht um einen musikalischen Anschlag mit Alzheimer im Ge­päck. B Aber ich habe Sie doch richtig verstanden: Die über eine lange Zeitdauer gedehnten, nicht mehr als Zusammenhang hörbaren Motivmodulationen in Feldmans Musik sollen die Ko­härenz des Gedächtnisses auflösen. A Ja, und zwar im Sinn einer Überschreitung des kausalen Zwangs, im Sinn einer Wei­tung,→ B einer Öffnung, ich weiß. Möglicherweise einer Offenheit hin zum Unbekannten. A Warum nicht. Übrigens ist fraglich, ob für Feldmans Musik die Begriffe Zusammenhang und Nicht-Zusammenhang überhaupt noch tauglich sind. Für eine Musik somit, die eher zwischen solchen ichgesteuerten Kategorien liegt: „Between categories“, wie der Kom­ponist selbst einmal einen seiner Essays betitelt hat. Schließlich nähert Feldman das Hö­ren einem ungedeckten Geschehenlassen an - gegen jedes Erlebnis- und Sicherheitsver­langen. ​ Bspl. 14: Morton Feldman, Patterns in a Chromatic Field A Bemerken Sie beim Hören dieser Musik den Unterschied zum Hören etwa einer Beetho­ven-Symphonie? Es gibt demnach Fälle, in denen es notwendig ist, die Tradition zu ver­lernen. B Im Grunde läuft Ihre Feldman-Exegese doch wieder auf die Figur der Offenheit und die Ab­dämpfung des Kontrollsubjekts hinaus. A Und darauf, dass auch das Publikum allmählich die Ohren öffnen sollte. Verlockt vom Ex­peditionsunternehmen Neuer Musik und ihrer Fahrt zu anderen Ufern des Hörens und Erkennens. - Wird es Ihnen denn gar nicht langweilig, immer nur das Bekannte, Vertraute zu hören? Immer nur in den alten akustischen Spiegeln sich zu bespiegeln? B Sie vergessen, dass diese Spiegel Bestätigung und Entspannung vermitteln. Aber gut: Ich will Sie nicht ganz entmutigen. Zumindest haben Sie mich, was das Neue der Neuen Mu­sik anbelangt, etwas neugieriger, etwas - verzeihen Sie - offener gemacht. Und wer weiß, schließlich kann sich die Dosis dieser Neugier ja noch steigern. A Also wäre sie doch einen Hörversuch wert, diese Neue Musik mit all ihren Entregelungen und ihrem Angebot an schöpferischem Hören? B Ich denke schon - und bestimmt nicht nur einen. Bspl. 15: Morton Feldman, Coptic Light Musikbeispiele Bspl. 1: Johannes Brahms, Dritte Symphonie, 2. Satz [Tr. 6, 0´00 – 0´52 (ab 0´49 =Kreuzblende mit Bspl. 2)] [0´52] [George Szell, Cleveland Orchestra] Bspl. 2: Karlheinz Stockhausen, Gruppen [Tr. 2, 0´03 (aufblenden=Kreuzblende mit Bspl. 1) – 1´35] [1´35] [Berliner Philharmoniker, Claudio Abbado] [Deutsche Grammophon 447 761-2] Bspl. 3: Masami Akita, crack groove [Tr. 1, 4´30 (zügig aufblenden) – 5´43] [1´13] [Zeitkratzer] Bspl. 4: Morton Feldman, Patterns in a Chromatic Field [CD 2, Tr. 2, 16´07 - 17´58] [1´51] [Marianne Schroeder, Rohan de Saram] Bspl. 5: György Ligeti, San Francisco Polyphony [Tr. 5, 8´33 – 10´25] [1´52] [Sinfonie-Orchester des Schwedischen Rundfunks, Elgar Howart] [WERGO WER 6906-2] Bspl. 6: Isabel Mundry, no one [Tr. 2, 1´52 –3´52] [2´00] [Klangforum Wien][WERGO WER 6542-2] Bspl. 7: Mathias Spahlinger, 128 erfüllte augenblicke [CD 1, Tr. 3, 0´00 – 0´58] [0´58] [ensemble recherche] [ACCORD 206222] Bspl. 8: Mathias Spahlinger, 128 erfüllte augenblicke [CD 1, Tr. 5, 0´00 - 0´58] [0´58] [ensemble recherche] [ACCORD 206222] Bspl. 9: Johannes Brahms, Dritte Symphonie, 4. Satz [Tr. 8, 7´25 – 8´50] [1´25] [George Szell, Cleveland Orchestra] Bspl. 10: Erik Satie, Danses gothiques [Tr. 20, 0´00 – 1´08] [1´08] [Steffen Schleiermacher] [Musikproduktion Dabringhaus und Grimm MDG 613 1064-2] Bspl. 11: Karlheinz Stockhausen, Kontakte [Tr. 1, 0´00 – 2´23] [2´23] [David Tudor, Christoph Caskel, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig] [WERGO 6009-2] Bspl. 12: Helmut Lachenmann, temA [Tr. 2, 9´49 – 11´36] [1´47] [ensemble recherche, Linda Hirst] [AUVIDIS MO 782023] Bspl. 13: Luciano Berio, Visage [Tr. 3, 1´45 – 3´43] [1´58] [BV HAAST RECORDS CD 9109] Bspl. 14: Morton Feldman, Patterns in a Chromatic Field [CD 2, Tr. 1, 14´23 - 16´30] [2´07] [Marianne Schroeder, Rohan de Saram] Bspl. 15: Morton Feldman, Coptic Light [CD 2, Tr. 2, 21´34 - 23´29] [1´54] [SWR Sinfonieorchester, Michael Gielen] [hänssler 93.061] ​ ​ Johannes Bauer 28. Nov. 2018 Neue Musik

  • Johannes Bauer, Souverän und Untertan. Kants Ethik und einige Folgen

    ​SOUVERÄN UND UNTERTAN Sklavenmoral oder Via regia der Sittlichkeit? Kants Ethik und einige Folgen Große Philosophie hat immer etwas mit Wahnwitz, Radikalität und artistischem Risiko zu tun. Als Kant daran ging, den Nachweis moralischer Gesetze a priori zu liefern, war auf ethischem Terrain zudem ein athletischer Akt der Reflexion geboten. Eine Gewichtsverlagerung von unten nach oben, vom Gefühl zur Vernunft. Beanspruchten doch moralische Gesetze a priori vor aller Erfahrung und ohne Rücksicht auf psychologische Beweggründe zu gelten. Und dies, obwohl David Hume das Phänomen Sittlichkeit plausibel vom Bereich der Empirie her entwickelt hatte. Angesichts solch sensualistischer Vernunftbeschränkung betrat Kant eine Bühne moralphilosophischer Debatten, die sich vorwiegend am Maßstab von Glück und Eudämonie orientierten. Mit einem Gegenentwurf, den er 1785 in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten umrissen und schließlich in der Kritik der praktischen Vernunft zum systematischen Abschluß gebracht hatte. Magna Charta einer Ethik rein aus der Vernunft und mit dem Gipfel jenes Sittengesetzes, das als "kategorischer Imperativ" einen der suggestivsten Sätze der Philosophiegeschichte repräsentiert: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne."(1) Kants Intention: wider die Unmündigkeit und Zufälligkeit des menschlichen Triebwesens ein absolutes ethisches Prinzip zu inthronisieren. Neuralgischer Punkt seiner Unternehmung: kann Freiheit gegen Naturgesetzlichkeit und Determinismus gerettet werden. Gegen eine Physik der Moral, wie sie etwa d'Holbachs Système de la nature von 1770 propagierte: "Die Fatalität ist die in der Natur festgesetzte ewige, unwandelbare, notwendige Ordnung". Ihr zufolge "gehen die Men­schen gesellschaftliche Verbindungen ein, verändern sie sich gegenseitig, werden sie gut oder böse"(2). Kant wußte, was auf dem Spiel stand, wenn er den Fatalismus das "alle Moral affizierende, gewaltsame Prinzip"(3) nannte. Nicht umsonst erscheinen in seiner Philosophie immer wieder Varianten des "homme-machine" als Gegenbild der Freiheit: der Mensch als Marionette und Vaucansonsches Automat inmitten eines Szenariums, in dem "alles gut gestikulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde"(4). Die Hypothek von Determinismus und Fatalismus tilgt Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft mit einem Modell der Doppelkausalität. Einer nach der Natur und einer aus Freiheit. Mit einem Modell arbeitsteiliger Koexistenz also. Ihm zufolge offenbart sich Vernunftkausalität an den Imperativen, am Gebot des Sollens . Fremd einer Natur, die in den Triebgrund des Wollens ver­strickt bleibt. Vernunftstringent und gut aufklärerisch indes verweist das Faktum des Sollens auf die Potenz des Könnens. Das Sittengesetz auf unsere Freiheit. Du sollst, denn Du kannst - Du kannst, denn Du sollst!(5) Stringent demnach auch, daß für Kant eine Handlung nur dann moralischen Wert besitzt, wenn sie "ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht"(6) geschieht. Allein aus Achtung für das Sittenge­setz. Unbehelligt vom Aufruhr der Leidenschaften, die den sittlichen Grundsätzen in die Parade fahren. Setzen doch solche "passiones animi" als "Krebsschäden für die reine praktische Vernunft"(7) die Armatur von Freiheit und Autonomie außer Kraft. Vernunft soll deshalb den Willen "ohne Voraussetzung irgendeines Gefühls" bestimmen. Ein Diktum, dem Goethe/Schillers Xenien -Spott­lust nicht widerstehen konnte. "Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. / Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten, / Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut."(8) Wie vom Determinismus und vom Spannungsfeld der Triebvektoren reklamiert Kants Sit­tenprinzip Unabhängigkeit auch von den ökonomischen Mechanismen. Zwar interpretiert Kant den gesellschaftlichen Antagonismus als Motor des kulturellen Fortschritts, doch bleibt der Kampfplatz der bürgerlichen Warengesellschaft letztlich empirische Niederung. Vergleichbar der Triebmacht der Leidenschaften im Willensspektrum der praktischen Vernunft. "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erha­ben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."(9) Die Würde des sittlichen Charak­ters nämlich. Einzig dessen Moralität ist nach Kant in der Lage, die Funktionalität der Austausch­barkeit zu überschreiten. Deutlicher könnte sich die Reaktion auf den Faktor Ökonomie in Kants Humanum nicht manifestieren. Gegen den allmächtigen Tauschzusammenhang und die Herrschaft der nivellierenden Äquivalenzform soll die Einzigartigkeit des sittlichen Charakters, gegen ein blindes Konkurrenzgefüge, das den einzelnen zum Objekt schicksalhafter Marktdiktate instrumen­talisiert, die Autonomie des Vernunftsubjekts behauptet werden. Realistisch genug allerdings, wenn eine Variante des Sittengesetzes gebietet: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest."(10) Nicht zufällig wurde der kategorische Imperativ zu einem Zeitpunkt als sittliche Lo­sung ausgegeben, als Konkurrenz in der Arena der bürgerlichen Gesellschaft noch liberalistisch ausbalanciert zu denken war, während sich der Garantiefonds der Aufklärung, die Konvergenz der Gattungsvernunft mit der des einzelnen, unaufhaltsam zu zersetzen begann. Kants radikale Gesinnungsethik weiß sich ausschließlich der Achtung für die "Majestät" des Sittengesetzes verpflichtet, ohne Rücksicht auf Wirkung und Erfolg des moralischen Handelns. Eine genial ausgezirkelte Konstruktion, die subjektive Verantwortung und makroethische Belange zum Einstand bringen will, indem sie den kategorischen Imperativ von empirischem Ballast frei­hält. "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Natur­gesetze werden sollte."(11) Übrig bleibt die reine Form des Gesetzes. Von nun an geht in Kants Hohe Schule, wer lernen will, wie sich Gattungsappell und Subjektemphase zur Formel zwingen lassen; wie ein Prinzip universal wird oder, nach Auskunft der Kritik, formalistisch. ​ * * * ​ Um den Blocksberg der Triebe und Begierden zu kultivieren, verinnerlicht Kant die Machtkonstel­lation von Herr und Knecht. Souverän und Untertan in Personalunion zu verbünden heißt, sie ins Refugium des ethischen Subjekts einzuziehen. Zwar "demütigt" das moralische Gesetz, indem es das Verlangen der Neigungen bricht, schafft dadurch aber auch zugleich ein Gefühl der "Erhebung" im Triumph sittlicher Freiheit. Von "freier Unterwerfung" wird gesprochen. Davon, daß jene Nöti­gung "durch die Gesetzgebung der eigenen Vernunft" ausgeübt werde. Euphorisch hochgestimmt deshalb Kants Hymne an die Pflicht: "Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbst im Gemüte Eingang findet, (...) vor dem alle Neigungen verstummen, (...) wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschen allein selbst geben können?"(12) Kants nüchterner Stil entäußert sich hier zum Überschwang aus Devotion und schwärmerischer Verzückung. Zur Huldigung an eine Vernunft, die den Exorzismus von Sinnlichkeit als Freiheit zu feiern erlaubt. Rückten nicht schon dreizehn Jahre zuvor dem hellsichtigen Blick des Jakob Mi­chael Reinhold Lenz im Hofmeister -Drama Autonomie und Kastration in bedrohliche Nähe? Daß das Sittengesetz ein "Faktum der Vernunft" ist(13), das Gewissen eine "ursprüngliche intel­lektuelle und moralische Anlage"(14), und das, "was Pflicht sei, sich jedermann von selbst darbietet"(15), zielt bei Kant nicht nur auf eine Ethik, die fern allen Privilegien und Klassenschranken jedes vernünftige Wesen unter Vertrag nimmt. Gerade das Motiv vom niedergehaltenen Terror der Passionen und Neigungen kennzeichnet Kants sittliches Leitprinzip als bürgerliche Konfession par excellence. Scharf abgesetzt von aristokratischer Libertinage und Genußeuphorie. So verwundert es nicht, wenn Kants Begeisterung bis in den Duktus hinein an die eines anderen Heroen bürgerlicher Aufklärungsphantasien erinnert. An Rousseau und dessen ersten Discours von 1750: "O Tugend! erhabene Wissenschaft der schlichten Seelen (...) Sind deine Prinzipien nicht in alle Herzen einge­graben? Genügt es nicht, um deine Gesetze zu erkennen, wenn man in sich geht und die Stimme des Gewissens hört, wenn die Leidenschaften schweigen?"(16) Später wird Rousseaus Jünger Robespierre Laster, Sinnenreiz und Lust der aristokratischen Tyrannen sittenstreng vom Ideal der Tugend, Armut und Einfachheit republikanischer Gesinnung scheiden und über diesen puritanischen Zug zu Kant in Wahlverwandtschaft treten. Über die Ver­dachts- und Denunziationsorder gegenüber jeglicher Insurrektion von Sinnlichkeit und Luxus. Entsprechend konsequent führt Robespierre vor Augen, wie politische Praxis den Tugendrigoris­mus in Terrorismus umschlagen läßt: im Zeichen der Guillotine, die dem corps social in Serie das Gesetz der Trennung von Körper und Geist als tödliches Menetekel einritzt. Damit wird ein Trans­fer zwischen Ethik und Politik manifest, der das Reflexionsspektrum Kants und des deutschen Idealismus entscheidend mitbestimmt. Innere Vollkommenheit basiert hier auf Selbstbeherrschung qua Vernunftzentralismus. Schon erkenntnistheoretisch gilt als ausgemacht, "daß der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbei­tet werden könnte"(17). Was Wunder, wenn Kants Prioritätsakzent hochbrisante Herrschaftsfiguren formuliert. "Die Sinne gebieten nicht über den Verstand. Sie bieten sich vielmehr nur dem Ver­stande an, um über ihren Dienst zu disponieren."(18) Jener platonischen Tradition verpflichtet, die den Mikrokosmos menschlicher Seelenkräfte (Leidenschaften wie Tugenden) dem ständestaatli­chen Makrokosmos korrespondieren läßt, signalisiert die Analogie zwischen Sinnlichkeit und Pöbel Furcht. Furcht sowohl vor einer Transformation der Gesellschaft von unten wie vor der hedonisti­schen Entmachtung vernunftzentrierter Bändigungsethik. Furcht also, die sich dem Wahn bürgerli­cher Absolutheit nur als sittenlose Zügellosigkeit, als Anarchie konkretisieren konnte. "Gesetzlo­sigkeit ist der ursprüngliche Charakter der Sinnlichkeit", heißt es bei Kants Meisterschüler Fichte(19). Nur indem ihr die "Uniform der Vernunft" angelegt wird, kann die herrschaftslüsterne und ständig zum Komplott bereite Triebcanaille gezähmt und einer "Kultur zur Freiheit" förderlich gemacht werden. Nicht weniger deutlich Schiller, der mit Blick auf die Französische Revolution Naturtrieb und Sinnlichkeit dem "brutaleren Despotismus der untersten Klassen" assoziiert: "In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedi­gung eilen"(20). Am Hochgefühl der Textpartien Rousseaus und Kants läßt sich die Rendite ablesen, die die Fron der Triebkontrolle verbuchen kann. Die Lustprämie für die Dressur der Lust. Zugleich scheint das hehre Vokativ-Pathos zu ahnen, daß das Versagen von Verinnerlichungsregie und Koordinati­onsdiktat im "stahlharten Gehäuse" des Arbeitsethos tödlich ist. Kant-Lektüre also auch mit Max Weber? Nur zu gut harmoniert die Abhängigkeit zwischen der Freiheit des Willens und der Rigi­dität der Triebkontrolle mit dem Sittengesetz der Profitgesellschaft; dem der Ökonomie. So fällt es nicht schwer, in der Morallehre des Philosophen Leitmotive der Protestantischen Ethik auszuma­chen und die rationale Spur der christlich-innerweltlichen Askese aufzudecken. Etwa in der "Sup­rematie des planvollen Wollens" über die unberechenbare "Macht der irrationalen Triebe" als oberster Aufgabe im Erziehungsprozeß der "Persönlichkeit" zu "aktiver Selbstbeherrschung"(21). Bestimmt nicht auch Kant Persönlichkeit als "Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur"? Etabliert nicht auch er die Instanz des Gewissens als "inneren Gerichtshof"? Schließlich, gründet nicht auch Kants Autonomieideal auf der von Weber betonten Opposition der Askese gegen personelle und institutionelle Autoritäten, sprich Obrigkeiten? Allerdings nur, um das Gebot der alleinigen Schuldigkeit gegen das Sittengesetz um so rigoroser zu stabilisieren? * * * Natürlich verbietet Kants sittliches Apriori die Vermischung von Tugend und Glück nach Art einer Buchführungsmentalität, die ethisches Soll und hedonistisches Haben bilanziert. Zu sehr ist das Prinzip der Eudämonie subjektiven Heilsprogrammen hörig: den Impulsen von Vorteil und Egois­mus (und sei es in Form einer kalkulierten Zufriedenheitsrendite nach guter Tat), als daß es der Unbedingtheit einer Lex ethica gerecht werden könnte. Das Streben nach Glück bricht sich im Kaleidoskop privater Wunsch- und Erfüllungsstrategien. Eudämonie als oberste sittliche Instanz führt zur "Euthanasie aller Moral"(25). Zudem: Glück und Tugend decken sich nicht in einer vom Motor egoistischer Interessen in Gang gehaltenen Gesellschaftsmaschinerie und ihrer Energie aus Gewinnsucht und persönlichem Nutzen. Glück wird zur Fata Morgana inmitten der Wüste puritanischer Geschäftigkeit. Zum Refu­gium von Verlangen, Resignation und dem Trost der kleinen Freuden. Oder es verkümmert zum Sperrbezirk reglementierter Scheinvergnügen und Genußparodien unter dem Zeitdiktat der Profit­quanten. Bestenfalls zur Befriedigung am erfolgreichen Wechselspiel von Investition und Ertrag. Also kann weder das Trachten nach Glück zur Grundlage des Sittengesetzes gemacht noch umgekehrt eine Entsprechung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit gemäß dem Genre von belohnter Tugend und vom zuschanden gewordenen Laster als Realität unterstellt werden. Und doch wird jene Entsprechung nach Kant vom Vollkommenheitsanspruch des moralischen Prinzips gefordert. Unter einem Blickwinkel allerdings, der auf die Sphäre der Transzendenz verweist: auf Gott und Unsterblichkeit als den postulierten Garanten des "höchsten Guts" und seiner Harmonie von Tugend und Glück. Das couragierte Wagnis, mit dem Descartes seiner Methode des Zweifels für einen Augen­blick auch die göttliche Instanz unterwarf, eröffnet den Prolog zum Drama von der Entgöttlichung der Welt. Einer Säkularisierung, der mit dem Einzug der Transzendenz in die Immanenz der Ge­schichte die gottzentrierte Moral porös wird. Kant selbst betont nachdrücklich, daß Ethik keiner theologischen Basis bedürfe. Mehr noch: eine religiös abgeleitete Sittenlehre kollidiere mit dem Autonomieprinzip der praktischen Vernunft, dem unverzichtbaren Gütesiegel moralischer Authen­tizität. Allerdings führe Moral unumgänglich zur Religion. Bekanntlich liegt das Manko des exegetischen Geschäfts in einer Art von Eingemeindungs­zwang. Darin, Neues mit dem Kompaß des Althergebrachten vorschnell auf Vertrautes hin auszu­richten. Entsprechend häufig wird Kants Umwertung des religiös-ethischen Begründungsverhält­nisses retheologisiert. Etwa wenn Heine an der Kritik der praktischen Vernunft moniert, sie habe den "Leichnam des Deismus" wiederbelebt. Oder Nietzsche den Rückfall Kants - mit dem kategorischen Imperativ im Herzen - in die Sucht nach transzendenten Werten kritisiert.(27) Dabei verblaßt, daß Kants Umkehrung der Argumentationsrichtung in Sachen Religion und Moral früh und vehement einer Konstante der Moderne Ausdruck verleiht: der vom Leben in der Fiktion und mit der Maske des "Als ob". Zweifellos bleibt Kants Sittengesetz seinem Unbedingtheitsanspruch nach theologisch inspiriert; zweifellos okkupiert die mit geradezu beneidenswerter Arglosigkeit konstruierte Basis der Kritik der praktischen Vernunft einen Ort, den seit je das Tremendum des christlichen Gottes einnahm; und zweifellos klingt es nach Scholastik, wenn Kant die Idee der Pflicht und des moralischen Gesetzes zur "Undurchdringlichkeit des Geheimnisses" verklärt. Wenn er dem Leser immer wieder suggeriert, daß das Interesse an Sittlichkeit "unmöglich zu erklären", das Faktum einer reinen praktischen Vernunft "unbegreiflich" und eben nur die 'Unbegreiflichkeit des moralischen Imperativs' zu begreifen sei. Dennoch: Kant präsentiert das Numinosum der Transzendenz lediglich als regulative Idee, mitnichten jedoch als dogmatischen Gottesbeweis. Sich zu verhalten, als ob ein "moralischer Weltherrscher und Gesetzgeber" existiere, lautet die Devise, die die "herrlichen Ideen der Sittlichkeit" erst zu "Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung" potenziert. Kant setzt den göttlichen Fluchtpunkt als Sinngaranten. Nicht zuletzt aus Grauen vor einer entgöttlichten Welt, die vom Lärm ihrer eigenen Mechanik widerhallt und sich mit kopernikani­scher Optik in der Weite des Alls verliert. Eine von zahllosen Kugeln im unendlichen Raum, auf der "kluge Tiere das Erkennen erfanden"(28). Droht doch im Vakuum des metaphysischen Zentrums das ethische Gravitationsfeld zusammenzubrechen, das die Leitbahnen des Sinns auf der Karte der Moral fixierte. Was Dostojewskij am Problem einer Ethik ohne Gott durchspielt und Nietzsche zur großen Abrechnung mit der Moral herausfordert, kündigt sich deshalb bereits konsequent in de Sades Poème La vérité von 1787 an: als Apotheose des Verbrechens bei gleichzeitiger Demontage des göttlichen Mysteriums und eines zum "Organ der Vorurteile" bagatellisierten Gewissens. Stir­ners Destruktion der Ideale, dieser "fixen Ideen", im Namen des je einzigen Ich markiert nur eine weitere Station im Inflationsprozeß des Sinns, bis schließlich die Dignität von Wahrheit und Ver­nunft über das sprachkritische Ferment dem Bankrott des Absoluten zufällt. Nietzsches Provokation: "als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt!"(29), präzisiert die Legitimationskrise säkularer Ethiken. Von nun an ergänzen sich die Suche nach trag­fähigen moralischen Normen und jene philosophische Unerbittlichkeit, die mit detektivischem Blick den Spuren des alten Gottes folgt, um dessen Sinnmetastasen mit genealogisch geschärftem Skalpell bloßzulegen. So gehört spätestens seit Nietzsche zum Fundus des Denkens, ob dem Re­gime des Sinns und dessen theokratischer Wahrheitsgier ungeachtet zahlreicher, primär ästhetischer Attentate und Revolten je zu entkommen sei. Zumal aus dem der Sprache. Vielleicht werden wir Gott wirklich nicht los, "weil wir noch an die Grammatik glauben"(30). Damit etabliert sich das Struktiv vom geschlossenen System als labyrinthischer Zirkel der Erkenntnis: daß der Nichtsinn selbst wiederum zum Sinn wird, die Destruktion von Metaphysik sich erneut als Metaphysik mani­festiert oder die Subversion von Ökonomie der Ökonomie verschworen bleibt. Damit etabliert sich aber auch die Sucht, über die Figur des Unhintergehbaren neue Sicherheit, womöglich den großen Akt der Sinnstiftung zu inszenieren. Daß Kommunikationsverweigerung dem kommunikativen Apriori nicht entrinnen kann, avanciert bei Apel und Habermas zu einem Begründungsprinzip der Diskursethik. * * * Intersubjektivität des Genus humanum behauptet die Diskursethik unter Berufung auf das sozio­kulturelle Essential der Sprache. Auch wenn sie die Kommunikationsdesperados und Sprachdefä­tisten dem Sprachverbund mit nahezu dogmatischer Obsession integriert: nach Maßgabe eines methodisch-logischen Arsenals und seiner Beweiskraft, daß dem sozialen Kommunikations- und Verständigungsapriori so gut wie nicht zu entkommen sei. Aus der Sprache und ihrer transsubjekti­ven Vernetzung können wir nicht fallen. Verlockung genug, das Postulat einer idealen Kommuni­kationsgemeinschaft zu konstruieren, auf die jedes Sprachsubjekt eben aufgrund seines sprachfun­dierten Verständigungs- und Vernunftpotentials a priori hin ausgerichtet sei. Doch kann das Argu­ment von der Sprache als der kommunikativ-ethischen conditio sine qua non menschlichen Lebens nicht verdrängen, die Immanenz ihrer operationalen Ratio immer auch als mentales Gefängnis zu begreifen. Zudem lassen sich Genesis und Geltung nicht so voneinander trennen, daß über der normativen Sprachvernunft die Spur zivilisatorischen Zwangs zu vergessen wäre: die Fusion mit dem Trieb der Selbsterhaltung und seinen Behauptungs- und Machtstrategien. Vielleicht zu viel Logik-Optimismus, die irdische Not der Verständigung allzu forsch zur moralischen Tugend der Kommunikation zu verklären und zu sehr auf kritische Konsensfähigkeit zu vertrauen. Während schon Kant mit Netz und doppeltem Boden arbeiten mußte, um einer säkularisierten Ethik Potenz zu verleihen, glaubt die Diskursethik den Hiat zwischen theoretischer und praktischer Philosophie mit transzendental-pragmatischen Sicherheitsgarantien überbrücken zu können. Karl-Otto Apels Versuch einer Letztbegründung in Sachen Ethik jedenfalls visiert einen ar­chimedischen Punkt der Gewißheit an. Gilt es doch, im Theorien- und Methodenbabel einen allge­mein verbindlichen Ort philosophischer Wahrheit zu behaupten. Einen, der den versprengten Dis­kursen das Asyl eines zwar minimalen, aber desto sichereren Konsenses gewährt. Ohne allerdings verhindern zu können, daß die Diskursethik selbst zum Sonderdiskurs gerät. Als einer ihrer heraus­ragenden Ideenlieferanten fungiert Kant. Was die Abstraktheit der ethischen Prinzipien anbelangt ebenso wie hinsichtlich des Instrumentariums regulativer Topoi. Etwa in der Figur einer unendlichen Annäherung an die ideale Kommunikationsgemeinschaft. Und wie Kant muß auch die Konsenstheorie um des umfassenden Gültigkeitsanspruchs willen all das in Schach halten, wenn nötig ausschließen, was dem Regel-, Ordnungs- und Sauberkeitsideal einer universalistischen Prin­zipien-Philosophie gefährlich werden kann: die Vermischung verschiedener Diskursgattungen, die Subversion logisch-argumentativer Gesetzmäßigkeiten, die Mißachtung des kommunikativen Goodwill. So charakterisieren durchweg Prädikate wie "ernsthaft", "zurechnungsfähig", "höflich" oder "sinnvoll" die Grundbedingungen einer Theorie, die über ihre Kontrollmechanismen jener Not der Praxis verpflichtet bleibt, die sie im rationalen Konsens bewältigen will. Solche Sicherheitsphantasien vergessen zu leicht, daß seit Kant Moderne und Wagnis Syno­nyme sind. Im Zeitalter der Kritik wandelt sich Philosophie zum Expeditionsunternehmen, der Philosoph, der den Kontinent des Wissens neu vermißt, zum Forschungsreisenden. So wirkt bereits die Lektüre Kants in einigen Passagen wie die des Logbuchs eines James Cook der Philosophie; eine Logonautik, deren maritime Bildwelt das Szenarium von Aufbruch, Gefahr und vom Orten neuer Ufer präzis zur Sprache bringt. Ihr wird das "Land der Wahrheit" zur Insel, umgeben vom "weiten und stürmischen Ozeane (...) des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald weg­schmelzende Eis neue Länder lügt", ein Land, das "den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht" und "in Abenteuer verflicht"(31). Gerade die methodischen Klippen und Abgründe in Kants Erkenntnisodyssee, ihr Risiko ei­ner Irrfahrt des Geistes, eingeschlossen vom unbekannten An sich einer Erkenntnis jenseits der Erfahrung, orientiert am Leitstern des Als ob einer gnadenlos innerweltlichen Moralszenerie, schär­fen sich bei Nietzsche zur Radikalisierung von Fiktion und Schein. Sein Anschlag auf die philoso­phische Tradition setzt eine Sprengkraft frei, die die Bastion transhistorischer Wahrheiten in Trümmer legt. Ontologisch Letztes ebenso wie Nietzsches eigenes Reflexionsdrama. Eine innova­tive Destruktion, die zunächst sämtliche Identitäts- und Gewißheitsdomänen enteignet. Weniger mit der Konsequenz eines totalen Relativismus der Sprachspiele und Spezialtheorien als mit der des Verstummens. Ihr müßte sich stellen, wer von nun an dem Vorwurf des logischen Fanatismus und der Konspiration zum Abbruch des Denkens entgehen will. Allein im ständig präsenten Bewußtsein dieser erkenntnistheoretischen tour de force und angesichts der mächtigen metaphysischen Be­griffshydra setzt Nietzsche auf einen Perspektivismus der Interpretation, auf regulative Fiktionen und die plastische Kraft des schöpferischen Entwurfs. Natürlich ließen die logischen Fallensteller nicht lange auf sich warten: bleibe doch Nietzsches Wendung von Sprache und Moral gegen das Vernunft- und Wahrheitsmonopol schließlich selbst unrettbar ans logosfixierte Denkterrain gefes­selt. Ein Einwand, dem Entscheidendes entgeht: daß nämlich von nun an die Hauptagenten des logischen Diskurses, die von Identität und Widerspruch, nicht mehr vom Bodensatz ihrer eigenen Zersetzung zu lösen sind; daß der Götze der formalen Logik zum Popanz wird, sobald er sich zum Universalen aufspreizt, das Instrument des performativen Widerspruchs zum repressiven Kalkül der Ausgrenzung. Zu viel fällt durch die Maschen des logischen Netzes, als daß sich die sprach­philosophische Rettung des Vernunftbegriffs mit ihrem Ideal von Verständigung, Solidarität, Ko­operation und dem Fluchtpunkt der idealen Kommunikationsgemeinschaft zum Universaldiskurs von Wahrheit und Vernunft stilisieren dürfte. Natürlich wäre es absurd, Bedeutung und Notwendigkeit rational-argumentativer Diskurs­formen in Abrede zu stellen. Etwa was die Belange einer bedürfnis- und zweckorientierten politi­schen Praxis betrifft. Oder zu verkennen, daß eine Ethik, die sich nicht im Vorteils- und Interessen­geflecht des gesellschaftlichen Molochs verlieren will, schon allein um des Gattungskonsenses wegen auf die Weitwinkeloptik makroethischer Belange zu achten hat. Auf "Weltprobleme" wie die "weltweite Ausbeutung der Natur, den Hunger in der Welt und die Bedrohung des Weltfrie­dens"(32). Ob sich allerdings ein Denken über formallogische Regelstimmigkeiten, über den Fetisch von Allgemeinheit und Abstraktion und einen "schwachen Vernunftbegriff" mit Wahrheit verwechseln darf, bleibt mehr als fraglich. Vielleicht liegt der Kurzschluß gerade darin, angesichts der gesellschaftlichen Komplexität und ihrer entstellten Potentialitäten auf die Eindimensionalität eines Vernunftdiskurses zu setzen, auf eine Philosophie des Reißbretts, die Einheit und Sicherheit nur um den Preis des logisch regle­mentierten Ausschlusses bewahren kann. In diesem Sinn eignet der Diskursethik, abgesehen vom Ideal eines männlichkeitsfixierten Moralentwurfs, etwas Naives und Anachronistisches. Zudem die Weigerung, sich einem Wagnis auszusetzen, das die Separierung der Diskursvielfalt aufhebt und riskant in die eigene Konstruktion aufnimmt. Als Befreiung von jener erzbürgerlichen Angst, die sich die Transformation eingespielter Ordnungsstrukturen nur als eine in Richtung Chaos vorstellen kann. * * * Zur Ethik Kants gehört der Kontrapunkt ihrer Kritik. Schon der Kantianer Schiller opponierte ge­gen einen Rigorismus, der jede Spur von Neigung aus dem Bereich des Sittlichen verbannt, und titulierte den Königsberger Weltweisen gar als Drakon. Hegel entdeckte im Formalismus des kate­gorischen Imperativs das "Prinzip der Unsittlichkeit" selbst. Schopenhauer prangerte Kants Pflicht- und Sollensethik als "Sklavenmoral" an, sofern sie den Drohungen und Versprechungen einer "ge­bietenden Stimme" in eigennützigem, moralisch wertlosem Gehorsam ergeben sei. Hatte Nietzsche das "Königsberger Chinesentum" auf "Widernatur" und "décadence" hin seziert und der ontologi­schen Würde von Moral genealogisch den Gnadenstoß versetzt, so ließ Freud die ethische Bastion auf ihren archaischen Grund hin transparent werden. Er sensibilisierte den Blick für die Verwandt­schaft zwischen Moral und Tabu, für das Zwangsartig-Blinde des kategorischen Imperativs, für die Pathologie der Pflicht. Er ortete die Ideale des "Kultur-Über-Ichs" mit einer Topologie von Wunsch und Gesetz, die die ödipale Verfaßtheit der Kultur fixieren sollte, ihr Drama von Triebbegehren und Triebverzicht. Schließlich hob Adorno das repressive Instrumentarium der kantischen Ethik auf den Prüfstand: ihre Aufrüstung gegen den Skandal der Sinnlichkeit, das Arsenal ihrer Herr­schafts- und Gewaltfiguren, die Vernunftdespotie der "Nötigung" und "Unterwerfung". Von hier aus wäre manches besser zu verstehen, was dem Abwehrschema von Gut und Böse allzu leicht als unfaßbar anheimfällt. Daß etwa Adolf Eichmann vor Gericht unermüdlich von Pflicht und Gesetz sprach, ist be­kannt. Weniger vielleicht, daß er auf eine Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft verwies und mit einer Wiedergabe des kategorischen Imperativs aufwartete. Nun gilt Kant gerade als Prüfsonde sittlichen Handelns, ob die einzelne Willensmaxime zum ethischen Prinzip einer allgemeinen Ge­setzgebung tauglich sei. Ideal einer Autonomie, das bei Eichmann zur Unterwerfung unter den Willen des Massenmörders Hitler pervertiert, zur Hörigkeit eines Verwaltungsmörders, der die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisiert, ohne sich je in die "Nesseln einer eige­nen Entscheidung" zu setzen. Getreu Hans Franks "kategorischem Imperativ des Handelns im Dritten Reich": "Handle so, daß der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde."(33) Hier geht es nicht mehr um die Souveränität des moralischen Subjekts. Hier geht es um das reibungslose Parieren des einzelnen im Staatsapparat. Originalton Frank: "Das Großdeutsche Reich Adolf Hitlers muß eine Technik des Staates erhalten, die unserer Zeit, ihrer Größe und den Zukunftsnotwendigkeiten unseres Volkes restlos mit der Sicherheit eines maschi­nellen Funktionierens entspricht."(34) Eichmann selbst sprach von "Kadavergehorsam", vom "kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch des kleinen Mannes". Wie groß jedoch die Entfernung zwischen Kant und Eichmann aufgrund der Differenz von Autonomie und verbrecherischer Hörigkeit im Pflichtverständnis auch sein mag, sie verringert sich mit Nietzsche über die Theodizee des imperativischen Diktats: "Der Mensch muss Etwas haben, dem er unbedingt gehorchen kann". "Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgenheit, - das ist deutsche Tugend". "Schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur deshalb genommen, um zum Gehorsam gegen die Person zu gelangen". Entsprechend sieht auch Hannah Arendt in ihrem Bericht von der Banalität des Bösen einen Bezug zwischen der Motivation des NS-Schergen und der Reflexion des Philosophen im Dogma von der Absolutheit des Gesetzes. "Gesetz war Gesetz, Ausnahmen durfte es nicht geben."(36) Sobald sich Gattungsbonus und Menschheitsemphase in der pessimistischen oder kritischen Perspektive des Kulturdiagnostikers zersetzen, wandelt sich der ethische Kosmos vollends zum notwendigen oder überflüssigen Übel. Zur historischen Kulisse pragmatischer Bändigungsnormen. Der kategorische Imperativ wird auf den "kategorischen Imperator" hin transparent. Hat doch der Röntgenblick des Genealogen die Komplizenschaft der durch und durch christlich infizierten Moral mit Ressentiment, schlechtem Gewissen und asketischem Ideal demaskiert und ihren barbarischen Grund, ihr Gewaltpotential nach innen und außen als konstitutiv bestimmt. Vielleicht läßt sich die Ethik Kants am ehesten als eine der Melancholie und des Protests begreifen. Als die Erfahrung jenes Wechselspiels von Autonomie und Einsamkeit, das den Einspruch gegen die Instrumentalisierung des Subjekts grundiert. Eine Ethik mit der Physiognomie der Verbissenheit, durchzogen von Spuren der gesellschaftlichen Gewalt. Kants Einsicht, "die Tugend wird immer nötiger aber auch immer unmöglicher in unsrer jetzigen Verfassung"(37), formu­liert ein aktuelles Dilemma. Das Dilemma einer Ethik, die nicht mehr auf das heteronome Gebot des "Du sollst!" und dessen theologischen Kanon von Gut und Böse setzen kann oder auf Univer­sal-Postulate, die letztlich nur der Praxisapathie und dem Zynismus zuarbeiten. Schließlich sind auch die Ethikmodelle der Kommunikationstheorie und des "Prinzips Verantwortung" argumentativ hohl darin, als sie mit dem abstrakten summum bonum der Gattungsvernunft operieren müssen. Das Regulativ, "in allem Tun und Lassen" das "Überleben der menschlichen Gattung als der realen Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen"(38), nützt wenig, dem schlecht unendlichen Delegations- und Vermittlungsgetriebe der arbeitsteiligen Profitökonomie in concreto zu begegnen. Ebenso wenig wie die Variante eines neuen kategorischen Imperativs bei Hans Jonas: "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden."(39) Gerade solche Redundanzen dürften dafür verantwortlich sein, daß sich die Imperativ-Ethiken trotz ihrer Konjunktur immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt se­hen, ihren ideellen und methodischen Fundus als Konkursmasse des idealistischen Repertoires zu verwalten. Ethische Großregulative entschärfen sich im geschlossenen System von Moral und Amoral zum Ornament. Zu massiv ist der ökonomisch stabilisierte Terror der Einverständnisideologien, deren vollmundige Sprachlosigkeit und strangulierendes Moderatorenideal die privaten Hörigkeiten in Bann hält. Ethik heute wäre deshalb auf eine Theorie der Souveränität hin zu transformieren. In Richtung einer Verweigerung jenseits der brutalen Dummheiten privatistischer Regression. Im Bündnis mit einer Logik der Imagination, der Offenheit nicht zwangsläufig als angstgeladenes Chaos erschiene. Einer listigen Autonomie, die ihr eigenes Dereglement einließe. Die kompromißlos für das Tableau der Widersprüche sensibilisiert wäre, ohne es ständig mit dem Firnis einer Distanz- und Bewältigungsrationalität zu überziehen. Konsenstheoretisches Vernunft-Engineering jedenfalls läuft leer, solange es dem Anderen der Vernunft mit einer Art Entwicklungshilfementalität auf die Sprünge helfen will. Solange es sich insgeheim dem expressiven Surplus eines ästhetischen Sensoriums überlegen glaubt, das seit je stärker am "Leitfaden des Leibes" orientiert war und vom Seismograph des Schmerzes aus somatisch fundierten Protest anmeldet. Uneingeschränktes Plädoyer für einen Diskurs stringenter Rationalität, wo er nottut: auf dem Gebiet der Politik mit Blick auf eine human freigesetzte Ökonomie. Aber Skepsis gegenüber einem Denken, das sich aufgrund seiner Gleichsetzung von methodischer Richtigkeit und Vernunftdignität zur universalen Legitimationsinstanz aufspreizt und weiter an der Verdrängungs- und Triumphgeschichte der alten Metaphysik partizipiert. ​ Anmerkungen ​ 1 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft , WW VII, Hg. Wilhelm Weischedel, Frank­furt/M. 1968, S. 140 2 Paul Thiry d'Holbach, System der Natur , Frankfurt/M. 1978, S. 182 3 Kant, Rezension zu Johann Heinrich Schulz: "Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen, ohne Unterschied der Religion" , WW XII, S. 776 4 Kant, KpV , S. 282 5 Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis , WW XI, S. 142. Desgleichen Friedrich Schiller, Sämtliche Werke Bd. I, Hg. Gerhard Fri­cke u. Herbert G. Göpfert, München 1980, S. 299. Welch therapeutische Wirkung diesem Frei­heitsmodell für zweifelnde und ringende Gemüter inmitten der Angst vor dem "größten Despoten der Menschheit", dem "Determinismus", zukam, bezeugt ein Brief Johann Heinrich Jung-Stillings an Kant nach Lektüre der Kritik der praktischen Vernunft:Es "durchdrang mich ein Ge­fühl von Beruhigung, das ich nie empfunden hatte". Ich "finde nun apodiktische Wahrheit und Gewißheit allenthalben. Gott segne Sie! - Sie sind ein großes, sehr großes Werkzeug in der Hand Gottes". (Zit. nach Jürgen Zehbe [Hg.], Briefe an Kant , Göttingen 1971, S. 73f.) 6 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , WW VII, S. 24 7 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht , WW XII, S. 600. 8 Zit. nach Schiller, WW I, S. 299f. 9 Kant, Grundlegung , S. 68 10 Ebd., S. 61 11 Ebd., S. 51 12 Kant, KpV , S.209 13 Ebd., S. 141 14 Kant, Die Metaphysik der Sitten , WW VIII, S. 573 15 Kant, KpV , S. 149 16 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft , in: Schriften zur Kulturkritik , Hamburg 1978, S. 57 17 Kant, Anthropologi e, S. 433 18 Ebd., S. 434 19 Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französi­sche Revolution , Hamburg 1973, S. 53 20 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen , WW V, S. 580 21 Max Weber, Die protestantische Ethik , Bd. I, Hamburg 1975, S. 135 22 Kant, KpV , S. 210 23 Kant, Metaphysik der Sitten , S. 573 24 Weber, Protestantische Ethik , I, S. 158 25 Kant, Metaphysik der Sitten , S. 506 26 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland , in: Sämtliche Schriften , Hg. Karl Pörnbacher, Bd. V, S. 605 27 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft , KSA III, S. 562 28 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne , KSA I, S. 875 29 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente , KSA XII, S. 148 30 Nietzsche, Götzen-Dämmerung , KSA VI, S. 78 31 Kant, Kritik der reinen Vernunft , WW III, S. 267f. 32 Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit , Berlin 1981, S. 46 33 Hans Frank, Die Technik des Staates , München 1942, S. 15f. 34 Ebd., S. 18 35 Nietzsche, Morgenröthe , KSA III, S. 187f. 36 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen , Reinbek/Hbg. 1978, S. 175 37 Kant, Handschriftlicher Nachlaß , Ges. Schr. Bd. XX (Hg. Preußische Akademie der Wissenschaften), S. 98 38 Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie , Bd. II, Frankfurt/M. 1976, S. 431 39 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung , Frankfurt/M. 1984, S. 36 ​ ​

  • Johannes Bauer, Wie viel Routine verträgt die Neue Musik?

    © Johannes Bauer , Stereotypie der Vielfalt, Computergrafik Deutschlandfunk (2011) Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht Wie viel Routine verträgt die Neue Musik? Von Beginn an kennt Neue Musik den Vorwurf, Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht würden die kompositorische Praxis im Bann eines isolierten und publikumsfernen Selbstversuchs halten. Selbst heute noch sei die Musik der Gegenwart trotz ihres mannigfaltigen Formenkreises einem Konsonanztabu verpflichtet, das disharmonischen Kompositionsroutinen Vorschub leiste. Lässt sich indes die Bedeutung einer Musik im Zeitalter der Antiquiertheit der Seele überhaupt vom Grad der dissonanten Attacke oder vom Maß des Eingängigen her beurteilen? Weist also der kompositorische Freiraum zwischen dem brüchigen Ausdruck der Ich-Rhetorik und den unerbittlichen Materialexperimenten der Avantgarde nicht zu viele Klang- und Strukturfacetten auf, um exakt entscheiden zu können, was an Neuer Musik eingespielte Gewohnheit, was ästhetische Notwendigkeit wäre? ​ ​ ​Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra Ein Konzert; ein Violinkonzert; komponiert 1987. Neue Musik also! Oder doch nicht? Diese melodisch simplen Takte aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra : Berühren sie, irritieren sie, verärgern sie? Womöglich sollte man mit Kompositionen solcher Fasson kurzen Prozess machen und sie umstandslos zum Kitsch erklären, zu einer Art Wellness-Sound, regressiv in jeder Note. Gemessen an Neuer Musik, die ihren Namen verdient, wäre man mit einer solchen Wertung immerhin auf der sicheren Seite. Oder macht es sich eine solche Kritik zu leicht? Wäre nicht auch ein Urteil möglich, das Glass’ Violinkonzert ernster nimmt? Ein Urteil mithin, das in diesem ach so belanglos komponierten Stück eine Musik des „Als-ob“ mithört? Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleichsam eine in Anführungszeichen? Eine Musik somit, die selbstverliebt in sich kreist und mit der kulinarischen Aufbereitung alltäglicher Sequenzen und Kadenzen etwas vom einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart zelebriert, wenn nicht gar diagnostiziert? Immerhin zehrt Glass’ Violinkonzert raffiniert vom Kult der emotionalen Gestimmtheit, um diesen Kult und seine melodischen Relikte sofort wieder durch tonal abgegriffene Versatzstücke zu unterlaufen. Musik versagt zugleich, was sie verspricht: Mit dem Resultat einer cool gestylten Softmusic, fast ohne Eigenschaften. Beschreibt diese tönende Hohlraumversiegelung einer diffusen Innerlichkeit nicht einen Grundzustand heutigen Lebensgefühls? Hat demnach eine gewisse Dosis unterkühlter Sentimentalität auch noch in der sogenannten Ernsten Musik unserer Zeit eine Zukunft? Oder ist Philip Glass’ Violinkonzert lediglich ein Dokument der Beschreibung und weniger ein Kunstwerk, sofern sich Kunstwerke - den Prinzipien der Avantgarde gemäß - am fortgeschrittensten Stand der ästhetischen Produktivkräfte zu orientieren haben? Als Kunstwerk hätte sich gegenwärtiges Komponieren demnach anders anzuhören. Etwa so: Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester So kennt man sie, die Neue Musik, gefühls- und melodieabstinent bis zum Äußersten. Während das Violinkonzert von Philip Glass die melodisch fundierte Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt Helmut Lachenmanns Ausklang für „Klavier mit Orchester“ eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Die historische Dimension dieses Sprachgrunds auszuloten, sein Werden und Vergehen, und zwar über die Andeutung und den Entzug musikalischer Sinneffekte, darum geht es in Lachenmanns Komposition. Lachenmann interessiert nicht das lyrisch-dramatische Wechselspiel des Konzertanten, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Zielt Glass aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Hat folglich Neue Musik auf der Höhe ihrer Zeit etwas mit dem Unberechenbaren und Unerbittlichen zu tun, fern von allen nostalgischen Ichlegenden und abseits jeder Gefühlsdramaturgie? Handelt es sich demnach bei den 1985 und 1987 entstandenen Kompositionen Lachenmanns und Glass´ um zwei Kulturen von Musik? Um eine wahre und eine falsche? Oder geht es hier schlicht um zwei Wahlmöglichkeiten in einem Katalog vielfältiger Angebote? Neue Musik also. Von Beginn an kennt sie den Vorwurf, Gefühlsabstinenz und Dissonanzpflicht würden ihre Kompositionen unter dem Bann eines publikumsfernen Selbstversuchs halten. Selbst heute noch sei die Musik der Gegenwart trotz ihres mannigfaltigen Formenkreises einem Konsonanztabu verpflichtet, das disharmonischen Routinen und damit einer resonanz- und seelenlosen Kunst Vorschub leiste. Gäbe es demnach gefälligere Optionen, solche, die das gegenwärtige Komponieren gleichsam betriebsblind ausschlägt? Oder weist das kompositorische Areal zwischen den Extremen einer brüchigen Ich-Rhetorik und den rigorosen Materialexperimenten der Avantgarde bereits zu viele Spielarten auf, um entscheiden zu können, was an Neuer Musik eingespielte Gewohnheit und was ästhetische Notwendigkeit wäre? Bspl. 3: Thomas Adès, Asyla Thomas Adès, Asyla . Geht es in dieser Komposition womöglich um ein therapeutisches Konzept der Enttraumatisierung? So, als gälte es einer unmenschlich gewordenen Musik wieder menschliche, melodiegestützte Proportionen einzuziehen? Und mit diesen Proportionen das Erlebnis einer musikalischen Zeit, die dem Hören zuarbeitet, indem sie auf Bekanntes und Sicheres anspielt? Adès weiß, dass Sinngarantien des Erzählens und Wiedererkennens stressmindernde Faktoren erster Güte in einer gestressten Welt sind. Und doch - oder gerade deshalb - kultiviert Adès den Verschnitt überlieferter Espressivo-Praktiken mit musikgeschichtlichen Beständen. Ohne Gespür für die Spannung zwischen Tradition und Innovation organisiert der Ausdruckswille des Komponisten ein vergreistes Triebleben der Klänge über postmodernen Stiltrümmern. Kein Wunder, dass die Bindungs- und Rückbindungsverfahren dieses neopathetischen Sammelsuriums einer Musik gleichen, in der sich Mahlers und Puccinis späte Träume vom großen Passionato mit Schönbergs schockgrundierten Ekstasen kreuzen: auf anheimelnde Weise freilich, ohne Risiken und Nebenwirkungen. Gleichwohl ist das Gefälle zwischen einer solchen Alibi-Moderne und so mancher als authentisch klassifizierten Neuen Musik mitunter nicht allzu groß. Klingt nicht eine Vielzahl jüngst komponierter Werke nach dem Trott von Altbewährtem? Warum sollte die Sprache der Neuen Musik nicht wie jede Sprache Klischees produzieren? Insbesondere der expressiv-gestische Tonfall mit seinen eruptiven Ausbrüchen, um den es in dieser Sendung vorrangig gehen soll, ist inzwischen zu einem Idiom verkrustet, das die Codes der Neuen Musik eher verwaltet als sie aufzubrechen. Schocks in Permanenz jedoch nutzen sich ab. Sie werden zu Milieu- und Erkennungssignalen einer Musik, in der ein Zuviel an Rhetorik jede Offenheit erstickt. In dieser Musik geschieht alles, aber nichts ereignet sich. Zumeist scheint es, als fürchte sie nichts so sehr als Leere und Stille. Will man etwas von der Routine zeitgenössischen Komponierens erfahren, ist in erster Linie an den Mainstream dieses gestischen Expressionismus zu denken. Im Folgenden sollen deshalb drei Beispiele auf ihre expressive Routine hin gehört werden, drei zwischen 1992 und 2005 entstandene Kompositionen, die damit zugleich die Übersicht über einen Zeitraum von knapp fünfzehn Jahren ermöglichen: nämlich Johannes Maria Stauds Komposition für großes Ensemble A map is not the territory , Johannes Kalitzkes Klavierkonzert Hände im Spiegel und Carsten Hennigs Orchesterstück Massen . Drei Beispiele auch, die aufgrund ihrer unterschiedlichen thematischen Anregungen einen Einblick in den Reibungsgrad zwischen dem expressiven Gestus und dem jeweiligen inhaltlichen Sujet erlauben: mag sich dieses Sujet nun - wie bei Staud - auf die semantische Differenz zwischen Notenschrift und Klanggestalt beziehen oder - wie bei Kalitzke - auf die historische Brechung geschichtlicher und musikgeschichtlicher Traditionen oder schließlich - wie im Fall Carsten Hennigs - auf die naturwissenschaftliche Anlehnung an Theorien der Chaosforschung. Doch beginnen wir nun mit Johannes Maria Staud. Bspl. 4: Johannes Maria Staud, A map is not the territory Auch wenn der Titel des Orchesterstücks von Johannes Maria Staud A map is not the territory auf semantische Probleme anspielt, auf die Differenz zwischen der Schriftgestalt einer Partitur und deren klanglicher Realisation etwa: Unbehelligt von solchen thematischen Vorgaben wirkt Stauds Komposition aus dem Jahr 2001 wie eine Verspätung wider Willen. Und dies aufgrund ihrer unentwegt expressiv-reflexhaften Gestik, deren ausdruckspsychologische Tradition - ob gewollt oder nicht - eine Bühne dramatisch-traumatischer Assoziationen aufschlägt. Als würde eine von Schönberg her komponierte Musik auf ein greifbares Szenarium der Bedrohung reagieren, ohne zu spüren, dass sich die existenzielle Wucht dieser Bedrohung seit geraumer Zeit zu einer subtileren, anonymeren Schwere der Lebenswelt gewandelt hat. Während es in Schönbergs musikgewordenen Seismogrammen der Angst und der Katastrophe noch um den Zerfall des abendländischen Subjekts und dessen Humanitätsversprechen geht, wirken die expressiven Gesten heutiger Kompositionen meist wie eine perfekt demonstrierte Materialbeherrschung. Als hätte sich der existenzialistische Habitus nach dem Grauen zweier Weltkriege und einer beispiellosen Barbarei der Vernichtung inzwischen zu einer beliebig reproduzierbaren Konfektionsware des Ausdrucks verbraucht. Es scheint, dass der Duktus einer zerklüfteten Gegenwartsmusik der Rupturen und Schnitte allmählich an Substanz und Gehalt verliert. Genauer: Der Duktus einer von Stößen durchbebten, unentwegt aufrüttelnden Musik und damit der Duktus einer Musik, die über die Ferne hinweg an das Entschlossenheitspathos und an die „Befindlichkeit“ der „Angst“ in Heideggers Sein und Zeit erinnert: an die Angst, die die „Verfallenheit“ des Daseins an die Konvention des „Man“ durchbricht. Wollte nicht auch Schönbergs künstlerisches Ethos aus dem Entsetzen der Angst heraus die Mauer der Gleichgültigkeit zum Einsturz bringen? Die Mauer jenes „Man“ also, dem „Jeder […] der Andere [ist] und Keiner er selbst“? Mittlerweile freilich steigern die angespannten Mittel gestischer Expressivität die Verbissenheit, um jeden Preis an der heroischen Phase der Neuen Musik festzuhalten. Und dies, obwohl heute per se weder Attacke noch Unerbittlichkeit, weder Dissonanz noch Komplexität den Bonus ästhetischer Qualität garantieren, das heißt die Fühlungnahme des Komponierten mit den Belangen der Zeit. Konsonanzen können zuweilen dissonanter klingen als die heftigsten Dissonanzen und Komplexität liegt nicht selten in einer Reduktion der Mittel. Aber hören wir weiter. Johannes Kalitzkes 1992/93 entstandene Komposition für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten mit dem Titel Hände im Spiegel setzt auf die selbstreflexive Erkundung der Gattung des Solo-Konzerts und damit auf die Erkundung einer musikalischen Gattung des 18. und 19. Jahrhunderts. Die daraus resultierende Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sucht Kalitzke hauptsächlich durch Vernetzungen, Kontrastierungen und Spiegelungen unterschiedlicher musikalischer Epochen bewusst zu machen. So sollen insbesondere diverse Stilfacetten der Alten, subjektlosen und der Neuen, subjektfernen Musik den Status des klassisch-romantischen Solokonzerts und die ihn tragende Idee des Virtuosen historisch brechen und als eine Station der Geschichte transparent werden lassen. Ohne allerdings im „Reichtum“ der Virtuosität, so Kalitzke, das „Gewicht gegen jene Austauschbarkeit des Individuellen“ zu verleugnen, die „uns heutzutage allerorten droht“. „'Die entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt', sagt Berlioz zum Abschied. Es ist ein blutiges Jahr.“ Auch wenn diese von Kalitzke zitierte Strophe aus Hans Magnus Enzensbergers Gedicht auf Chopin und die Revolution von 1848 eine aufwühlende Musik nahelegt: Zu hinterfragen bleibt, wie Kalitzke die historische Brechung der Gattung „Solokonzert“ umsetzt. Komponiert er diese Brechung doch überwiegend nach dem Muster tragischer Zerrissenheit: als eine Musik der Bedrohung und des Sich-Behauptens in einer Zeit, in der uns, so der Komponist, „die Ziele entgleiten“. Bspl. 5: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel Kann nun der Zustand der Bedrohung, von dem Kalitzke spricht, heute überhaupt noch mit der Kollisionsdramatik des Solokonzerts und mit der expressiven Attitüde des Kampfes verhandelt werden? Bleibt die Sinnfolie in Kalitzkes Komposition, die Sinnfolie des leidenden, gefährdeten, seiner Ausdruckspotenz nach jedoch merkwürdig stabilen Subjekts nicht hinter einer Welt zurück, in der sich das fragile Ich im Zug seiner globalen Vernetzung zunehmend punktualisiert? Wobei sich diese Punktualisierung äußerst unheroisch vollzieht; weit entfernt jedenfalls vom Ideal eines solistisch souveränen Subjekts, das sich im Kräftemessen mit dem Weltlauf noch als dessen Mitte begreifen konnte. Oder anders formuliert: Verfällt Kalitzkes Klavierkonzert nicht allzu reaktiv dem Bann der Katastrophe? Auf Kosten einer antitragischen Hellhörigkeit gerade auch in Richtung neuer ästhetischer Strategien? Sind das konzertante Pathos der Konflikte, das Streit- und Dialog-Prinzip von Solo und Orchester und mit ihm das heroisch-solistische Subjekt nicht längst mit jener Klarheit und Personalisierbarkeit der Widersprüche untergegangen, worin sich Beethovens Fünftes Klavierkonzert und Hegels Phänomenologie des Geistes so nahe waren? Kommen wir nach so vielen Fragen nun zu unserem nächsten Hörbeispiel. Dass gesamtgesellschaftliche Paradigmenwechsel auch die Musik nicht unberührt lassen, ist unbestritten: Paradigmenwechsel wie sie etwa aufgrund der Einsicht in flache Hierarchien oder in die Selbstorganisation von Systemen relevant werden. Man denke nur an die Erforschung des Phänomens der Schwärme als einer instinkthaften Intelligenz ohne Leitinstanz, an die Erkenntnis der dezentralen Organisation des Gehirns oder an die Entwicklung des azentrischen Internets. Dass solche Theorie- und Praxismodelle auch kompositorisch Wirkung zeigen, liegt auf der Hand. Beispielsweise in Carsten Hennigs Orchesterstück Massen aus dem Jahr 2005, das sich von den vielschichtigen Bewegungsmustern in Sandstürmen und Vogelschwärmen inspirieren ließ. Freilich stellt sich auch beim Hören von Hennigs Orchesterwerk die Frage, ob das über Jahrzehnte hinweg präsente Übermaß des gestischen Expressionismus mittlerweile nicht jede Komposition dem Makel des allzu Bekannten und Auswechselbaren aussetzt: Eben weil der schal gewordene Sprachfundus des Schocks und der Attacke jedes Sujet austauschbar werden lässt, mag es nun naturwissenschaftlich, historisch oder biographisch gefärbt sein. Dazu kommt noch, dass die Übertragung von Prozessen des deterministischen Chaos auf den traditionellen Orchesterapparat zusätzlich jahrhundertealte Aufführungs- und Rezeptionsgewohnheiten zum Schwingen bringt. Mögen die gängigen Instrumente vom Kontrabass bis zur Piccoloflöte auch noch so sehr mit innovativen Spielweisen bedacht werden: ihr Material und ihre Geschichte geben ein Repertoire an Ausdruck vor, das nur bedingt zu überschreiten ist. Und dass überdies ein Großteil neuerer Kompositionen immer noch für den philharmonischen Konzertsaal geschrieben wird, verlängert wohl am deutlichsten den klassischen Typus des musikalischen Frontalunterrichts aus der Zeit des 19. Jahrhunderts. Und so gehen denn auch die hohen Dichten und Fluktuationen der Massen und Schwärme in Hennigs Komposition im emotionalen Eindruck einer Erlebnis- und Erregungsmusik der Erschütterung, der Anstrengung und des Standhaltens unter. Bspl. 6: Carsten Hennig, Massen Wie wäre nun aber das Veralten der expressionistischen Geste in der Musik der Gegenwart zu verstehen? Glauben wir manchen Katastrophentheoretikern, dann befinden wir uns derzeit im Übergang vom Ideal des Homo humanus zum Idol des technisch optimierten und technisierten Menschen in einem Zeitalter der Antiquiertheit der Seele und der Austreibung aus dem „Garten der Natur“. Beharrt womöglich deshalb der Mainstream Neuer Musik in einer Art bewusst-unbewusstem Gegenprogramm auf dem expressiven Subjekt-Modell und seiner Rhetorik des Standhaltens? Fraglich ist nur, ob eben auch im Fall der Neuen Musik katastrophentheoretisch gedacht werden muss. Vielleicht liegt einer der Gründe für das Überlebte und Ermüdende einer gestisch-eruptiven, attackengeschärften Musik eher darin, dass sie die Anspannungen und Belastungen einer Welt des Funktionalismus und der Erschöpfung in ihren eigenen komponierten Anspannungen und Belastungen nicht mehr verwandeln, sondern nur noch verdoppeln kann. Es ist nicht allzu lange her, dass Neue Musik ihrer philosophischen Doktrin nach das Grauen der Welt zu tragen und ihm standzuhalten hatte. Einzig in dieser ethisch vorentschiedenen Bürde lag ihre Rechtfertigung. „Um des Menschlichen willen“ hatte sie - so Theodor W. Adorno - die „Unmenschlichkeit […] der Welt“ zu „überbieten“. Dass die Gleichsetzung von Dissonanz und Katastrophe freilich oft genug ein Übergriff des Begriffs war, musste im Sog der Traumatisierung nach 1945 zwangsläufig überhört werden. Überhört wurde damit aber auch eine massive Überlastung der Musik, und dies zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Wem käme wohl in den Sinn, die späten Sonaten Domenico Scarlattis abzuqualifizieren, weil in ihnen nichts vom Erdbeben von Lissabon zu vernehmen sei? Gewiss, von den singulären Katastrophen des 20. Jahrhunderts konnte auch die Musik bei Strafe ihrer Harmlosigkeit nicht unberührt bleiben. Zudem musste sie in einer immer abstrakter, technischer und schneller werdenden Welt ihre eigene Reaktionsgeschwindigkeit und Widerstandsfähigkeit erhöhen, wollte sie nicht zur puren Zerstreuungs- und Nebenbei-Musik verkommen. Dennoch hat das Dogma vom Katastrophenethos zu viele falsche Fährten gelegt und dem Komponieren wie dem Hören Neuer Musik bis heute einen Bärendienst erwiesen. Und ist nicht auch noch der in dieser Sendung kritisierte altneue Expressionismus ein Nachfahre jener Weltanschauungsmusik, die in jedem ihrer Takte seismographisch reagieren zu müssen glaubt und dazu verführt, den Dissonanzgrad ihrer schockhaft dramatischen Impulse mit der Last und der Misere der Welt kurzzuschließen? Dass Helmut Lachenmann immer wieder von der „Heiterkeit“ seiner Musik spricht, mag zu denken geben. Sicher, neue Sprachen lassen sich nicht per Dekret erfinden und etablieren. Vermutlich aber wäre fürs Erste schon einiges mit der Sensibilisierung für die Routine der hier und heute praktizierten Sprache gewonnen. Freilich ist an dieser Stelle der Einwand ernst zu nehmen, die Kritik am expressiven Idiom der Gegenwartsmusik und die daraus resultierenden Wertungen seien einzig dem subjektiven Urteil des Autors zuzuschreiben. Außerdem verkenne diese Kritik notwendigerweise zahlreiche Feinheiten und Unterschiede in der Vielfalt des Komponierten. Dennoch wäre zu bedenken, dass auch das Subjektive eine Spur an Objektivität und Wahrheitsgehalt in sich trägt. Und vielleicht wäre es diesem Wahrheitsgehalt nach nicht völlig absurd, einem Großteil der Neuen Musik mehr Entdramatisierung und Gelassenheit zu wünschen, mehr Schwebe, mehr Stille und damit weniger Ich-Rhetorik und Willensemphase. Vielleicht könnten dadurch einige der Vorurteile über Neue Musik durch die Musik selbst revidiert werden. Und vielleicht ließen sich erst dann - abseits der Sirenen des Schreckens und abseits vom expressiven Gestus - zahlreiche hellere Kontinente des Komponierens entdecken, ohne im seichten Gewässer des Trivialen und Belanglosen zu stranden: Durch eine Musik, die ahnt, dass eine Ästhetik des Schreckens immer auch ein Stück weit mit der realen Gewalt paktiert, und durch eine Musik, die von der Illusion geheilt ist, Kunst könne mit den Gräueln der Wirklichkeit Schritt halten. Das Neue an dieser Neuen Musik wäre ein Sich-ereignen-Lassen und damit ein Umkreisen des Unverfügbaren, das sich nicht mehr umstandslos auf den Subjektstatus des Menschen und seine Nutzungstechniken zurückrechnen lässt. Denkbar, dass diese Musik mit ihrem Abschied vom anthropozentrischen Spiegel und ihrem Weg ins Offene derjenigen am nächsten kommt, die - so der Komponist Morton Feldman - den Tönen ihren Lauf lässt, indem sie ihnen zu- und nachhört; nicht um zu „komponieren“, sondern um „Klänge - frei von jeder kompositorischen Rhetorik - in die Zeit zu projizieren“ und Stücke zu schreiben, die „Dingen“ gleichen, die „sich aus sich heraus entwickeln“. Bspl. 7: Morton Feldman, Piano and String Quartet Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra [Tr. 2, 0´00 - 2´47][2´47] Gidon Kremer, Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi (Deutsche Grammophon 437 091-2) Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00 - 2´13] [2´13] Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini (col legno 31862) Bspl. 3: Thomas Adès, Asyla [Tr. 2, 3´03 - 5´54][2´51] Simon Rattle, City of Birmingham Symphony Orchestra (EMI Classics 5 56818 2) Bspl. 4: Johannes Maria Staud, A map is not the territory [Tr. 1, 0´00 - 3´58][3´58] Klangforum Wien, Sylvain Cambreling (KAIROS 0012392KAI) Bspl. 5: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel [Tr. 2, 12´37(aufbl.) - 16´13][3´36] SWF-Sinfonieorchester; Leitung: Lothar Zagrosek (col legno 31875) Bspl. 6: Carsten Hennig, Massen [Tr. 5, 1´16 - 4´52][3´36] Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Martyn Brabbins (WERGO 6565 2) Bspl. 7: Morton Feldman, Piano and String Quartet [Tr. 1, 0´00 - 4´00][4´00] Aki Takahashi, Kronos Quartet (Nonesuch Records 7559793202) ​ ​

  • Johannes Bauer, Antoine Beugers calme étendue (spinoza)

    Spinoza im Echoraum der Stille Antoine Beugers calme étendue (spinoza) DeutschlandRadio Berlin (2003) ​Anmerkungen zum Sprechpart Den Text insgesamt wie eine Art inneren Monolog ohne rhetorische Expressivität, eher gleichmäßig ruhig lesen. Es werden 3 Stimmintensitäten unterschieden: - Normale Lautstärke (schwarz) - Gedämpfte Stimme (blau) - Flüstern (rot) ​ ​ Die [teleologische] Lehre hebt die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt. Zwei Sätze aus Spinozas Ethik . Genauer: aus dem Anhang zum 36. Lehrsatz des ersten Buchs. Zwei Sätze aus einer der großen Abrechnungen mit menschlichen Vorurteilen; mit der Annahme von Zweckursachen in der Natur etwa und ihrer Übertragung auf die göttliche Substanz. Zwei Sätze, die man aber auch anders lesen kann. Nämlich so: Bspl. 1: Antoine Beuger, calme étendue (spinoza) [18´56´´ – 20´37´´] [1´41´´] [EDITION WANDELWEISER RECORDS EWR 0107] (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er) Radieren also. In Spinozas Ethik radieren. Radieren in einem Hauptwerk abendländischer Philosophie. Radieren, aber mit Methode. Vergleichbar Spinozas Gedankengang »ordine geometrico«. Nur einsilbige Worte stehen lassen, um auf diese Weise Spinozas Ethik silbisch durchzubuchstabieren. Einsilbige Laute in der Bedeutung von Worten, gleichmäßig skandiert. Bspl. 2 = Whlg. Bspl 1 [18´56´´ – 20´37´´] [1´41´´] (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er) Spinozas Ethik aufmerksam und sorgfältig lesen und dabei das Gitter ihrer Definitionen, Lehrsätze, Beweise, Axiome aufbrechen. Alle einsilbigen Worte in der Reihenfolge ihres Auftretens herausfiltern – konsequent, obsessiv – etwa 40.000 an der Zahl. Zirka 180 Stunden Wort-Lektüre: alle 8 Sekunden ein Wort. Einen abstrakten Puls der Sprache erzeugen, entlang der Auswahl einsilbiger Worte: einer beliebig wirkenden Auswahl, die doch zugleich auf der Ordnung der Sätze in Spinozas Text von 1675 basiert: Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit. Spinozas Text und den Rasuren in ihm zuhören: Je mehr vermittelnder Ursachen aber eine Wirkung bedarf, um hervorgebracht zu werden, desto unvollkommener ist sie. Wenn nun die Dinge, die unmittelbar von Gott hervorgebracht sind, deshalb gemacht wären, damit Gott seinen Zweck erreichte, so wären notwendig die letzten, um derentwillen die ersten gemacht sind, die vorzüglichsten von allen. Außerdem hebt diese Lehre die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt. ​​ Text gleichmäßig ruhig lesen; flüstern »je mehr um zu ist sie wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die sind die von hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er« Radieren also. Gut 300 Jahre nach ihrem Erscheinen Spinozas Ethik einem Prinzip des methodischen Zufalls unterziehen. Die Folgelogik, den Zeitsog, die Triebkraft des Textes außer Kraft setzen. Seine argumentativen Tempo- und Hitzegrade in das Gleichmaß und die Wohltemperiertheit loser Wortreihen überführen. Asyntaktisch; Parataxe pur. Radieren, um das expressive Gewebe der Sprache zu glätten, ihren rhetorischen Faltenwurf. Die Wörter in ruhigem Tempo [...] mit ruhiger Stimme lesen ohne durch Betonung oder Intonation auf einen Wortsinn oder einen Sinnzusammenhang zwischen den Wörtern hindeuten zu wollen. [Antoine Beuger] Bspl. 3: calme étendue (spinoza) [8´45´´ – 10´00´´] [1´15´´] Selbst heißt muss er auch die was sich noch Mit dem Gleichmaß des ›ruhigen Tempos‹ und der ›ruhigen Stimme‹ an Spinozas Wertschätzung der Gelassenheit erinnern. Die Kompaktheit des Sinns in den Schwebezustand eines Zwischensinns überführen. Von den Klangpunkten der Sprache her die Tiefenstruktur ihres Sinns beruhigen. Tiefe und Oberfläche als Einheit begreifen. Den Kampf der Begriffe besänftigen, die Wogen ihres rhetorischen Tumults zur Spiegelfläche eines Meers der ruhigen Worte glätten. An Epikurs Bild der Meeresstille, der âàëç´íç , denken – Ideal der Seelenruhe. Und an die epikureische Seelenruhe des Weisen, mit der Spinozas Ethik schließt. Daran, wie sehr [...] der Weise [...] in der Seele kaum beunruhigt [wird], sondern, seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst, [...] immer im Besitz der wahren Befriedigung der Seele [ist]. Calme étendue: Ruhe, Stille, Gelassenheit. Aber auch Windstille, Meeresstille, âàëç´íç . Ausgedehnt, ausgebreitet, geweitet, weit reichend, tragend. Spinozas Ethik syntaktisch entkernen, das Besondere ihrer Sprache zunächst auf das Allgemeine eines Wortmaterials hin ausbleichen. Mit dem Herauslösen des syntaktischen Kitts die Zeit argumentativer Ordnung und Ortung aufheben: zeitlos, ortlos werden. Sich gleichzeitig überall und nirgends im Textlabyrinth der Ethik befinden, inmitten überall einsetzbarer, funktional alltäglicher Worte: und / dass / was / die / von / denn / in / zu / teils / ich / dass / wir / nicht. Bspl. 4: calme étendue (spinoza) [36´05´´ – 37´50´´][1´45´´] und dass was die von denn in zu teils ich dass wir nicht Lesen, Sprechen: frei von der Rangordnung der Beweise und Schlüsse. Ohne Mittelpunkt. Spinozas von Giordano Bruno übernommene Idee vom mittelpunktslosen Universum in die Sprache verlegen. Spinozas Sprache Spinozas Kritik an den Zweckursachen aussetzen. Spinozas Sprache der Zweck- und Zielfunktion des Urteils entziehen – mag die Reihung der Worte auch weiterhin in der Zeit verlaufen. Das Ökonomieprinzip der Sprache als Organisationsprinzip ihres Sinns vergessen. Gegen das Ersticken an Zeichen und Signalen, gegen die Tätowierungsfunktion der Sprachen und Schriften weiße Flächen setzen: Stille, Rauschen. ​ Ab 35´00´´ die Lautstärke erhöhen, bis die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar wird. Ab 35´20´´ Sprecher (Überlagerung von Rauschen und Sprecher; Rauschen im Hintergrund). Ab 35´50´´ CD ausblenden. Bspl. 5: calme étendue (spinoza) [33´36´´ – 36´02´´] [2´16´´] im Geist aus die in ihm sind so wir nichts Die Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt, das heißt: alles was klingt. Ihre Form ist der jeweilige Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herausschneidet [...] Es ist möglich, sich die Welt als ein unendliches monotones Rauschen vorzustellen: Eine Überfülle von Differenzen, in der nichts gleich ist, eine nie entwirrbare Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit, da alles immer da ist und sich nichts verändert. Die Monotonie des Unendlichen. Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist in diesem Rauschen enthalten. [Antoine Beuger] Die Zeitspur der Sprache immer wieder im Schweigen, im Rauschen verschwinden lassen; umgekehrt das Zeitmoment immer wieder im einzelnen Wort hörbar machen. Rauschen, weißes Rauschen: Spannung zwischen Chaos und Ordnung. Und – in der Mischung aller Klangfarben und Tonhöhen – Potenzial aller Möglichkeiten. Schnitte in die zeitlose Gleichzeitigkeit des Weltrauschens legen, die Musik aus ihm hervorholen und zur Existenz bringen. [Antoine Beuger] Lautstärke von Beginn an hoch, um die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar werden zu lassen. Ab 51´35´´ auf normale Lautstärke reduzieren. Lesebeginn Beuger bei 51´43´´. Bspl. 6: calme étendue (spinoza) [51´10´´ – 52´25´´] [1´15´´] sein sich nicht Stille aber auch als ihr eigenes Negativ hören, seitdem Büchners Lenz in dem, was man »gewöhnlich die Stille heißt« die »entsetzliche Stimme« vernahm, »die um den ganzen Horizont schreit«. Laute, Worte, Bedeutungen, die aus dem Grund der Stille aufsteigen und in ihm versinken. Die Gedanken steigen, langsam, wie Blasen an die Oberfläche. [Ludwig Wittgenstein] Silence. Sounds are only bubbles on its surface. [John Cage] Die Schnittstelle zwischen den Worten zur Stille weiten, die Diskontinuität im Innern der Sprache bewusst machen, die Kluft aus Worten, über die die Sprache syntaktische Sinnbrücken spannt. Gegen die Rhetorik der Argumentation das Ereignis setzen. Keinen Nullpunkt des Denkens, sondern ein Sensorium für die Zerbrechlichkeit des Sinns. Worte als Ereignis – gegen die Taubheit der Sprache und die Sprachlosigkeit ihres Lärms. Das Ereignis schlägt ein Loch in die vorhandene Ordnung und zieht eine grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich [...] Absichtslosigkeit üben; immer wieder Möglichkeiten finden, wie sich Musik als reines Erklingen ereignen kann. [Antoine Beuger] Bspl. 7: calme étendue (spinoza) [48´30´´– 49´05´´][0´35´´] wie ich und ​ Den Hunger nach Sinn, die Sinngier der Sprache dämpfen, ohne den Text semantisch verhungern zu lassen. Spinoza mit und gegen Spinoza lesen. Die Ethik auf chinesische Weise lesen, mit dem Ohr des Sinologen für »leere« und »volle Wörter«. Im Gesprochenen das Ungesprochene hörbar werden lassen; das, was sich der Sprache entzieht. Das Unaussprechbare [...] gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt. [Ludwig Wittgenstein] Gespür für den Sinneffekt der Sprache entwickeln; für die Tiefenwirkung ihrer Oberfläche, für die Haut der Sprache. Die Haut aber ist das Tiefste. [Paul Valéry] Die syntaktischen Nähte der Textur auftrennen, bis das Sprachgewebe lose wird. Bis die gelöste Textur Falten wirft, um metaphysische Großbegriffe zum Beispiel. Bspl. 8: calme étendue (spinoza) [17´11´´ – 17´52´´][0´51´´] von Gott sind Gott Zweck Text gleichmäßig ruhig lesen und flüstern. Nur die in Großbuchstaben gesetzten Worte laut sprechen. »denn wenn GOTT um ZWECKS so er das er wenn nun auch und ZWECK des und ZWECK der so sie doch ein dass GOTT um nicht der zu hat weil sie vor der nichts GOTT um GOTT sie dass GOTT die für « »Gott«, »Zweck« – ein Plissee an Gedanken und Assoziationen um zwei kritische Leitmotive von Spinozas Philosophie. »Gott« – lange Zeit der höchste Name. Auch in der Sprachmusik von calme étendue ein Brennpunkt der Assoziationen und leer zugleich. Ein Wort nur. Verbales Strandgut in den Strömungen der Geistesgeschichte. Ein Wort allerdings auch wie Sprachasche, unter der die Glut der Bedeutungen glimmt. Ein Wort, das spricht und schweigt zugleich. Wie hat man uns das Wort GOTT beigebracht? Luther hat einmal gesagt, die Theologie sei die Grammatik des Wortes „Gott“. Dies fasse ich so auf, dass eine Untersuchung dieses Wortes eben eine grammatische wäre. [Ludwig Wittgenstein] Das Wort GOTT von Beuger gesprochen; flankiert von 8 Sek. Stille Bspl. 9: calme étendue (spinoza) [66´23´´ – 66´38´´] [0´15´´] Ein Bild für Beugers Spinoza finden. Stille als semantische Wüste hören. Fülle durch Abwesenheit. Wüste: désert, desert, deserto – desertieren. Stille, eine semantische Wüste, in der die Worte zu desertieren beginnen, vom Sinn abfallen, ohne sich im Sinnlosen zu verlieren. Worte, gestreut wie Flugsand unter dem Mikroskop. Verwehungen der Sprache. Aber auch Wort-Karawanen bei der Durchquerung einer Zone des Rauschens, mit einer ungewohnten Tiefenschärfe der Erfahrung. Ein Unterwegs der Sprache. Ein Unterwegssein mit der Sprache. Das informierte Bewusstsein, dem ständig etwas einzufallen hat, an die Grenzen seiner Sicherheit führen. Gegen den Imperativ der Zirkulation – Niemals stillstehen! – die Zirkulation unterbrechen. Und mit ihr den Kreislauf der Sprache. Das Schaltwerk regulierten Denkens punktuell aussetzen. Den Umlauf der Worte in gängigen Denkbahnen hemmen. Die Firnisschichten der Konvention aufweichen. Hören freisetzen, Erfahrung freisetzen. Worte für sich stehen lassen. Worte zum Ereignis entbinden und Stille zum Resonanzraum der Worte. Ins Innere der Sprache hören. Dem Hunger nach Sinn mit einem Fasten der Semantik begegnen. Worte reihen – gegen die Ist-Funktion des Urteils. Mit ET denken statt mit EST. [Gilles Deleuze] Dem System der Verweisungen Sprache entziehen und Sprache dem System der Verweisungen. Worte als Klangfarbe ihrer Assoziationen im Gedächtnis der Sprache freisetzen. Bindungen lösen, an Becketts ›Losigkeit‹ denken. Calme étendue – Sprache atmen, Bedeutungen rätselhaft werden lassen: ich, wir, Gott, Geist, Zweck, Ding, Lust. Die Einsicht ins Spiel der Welt, die Bühne des Menschlich-Allzumenschlichen im Blick behalten, auf der Spinozas helle Fahrt in die Nacht des Geistes nicht zur Resignation, sondern zur Gelassenheit führt, frei von jeder Verleumdung des Lebens. Gelassenheit auch in Beugers Spinoza : im Zurücktreten des Ich, um Sprache gegen das Gesetz des Satzes und der Satzung gewaltlos, ereignishaft sprechen zu lassen. Spinozas Credo der Untrennbarkeit von Körper und Geist verstehen, beide gleich ursprünglich und notwendig aufeinander verwiesen. Verstehen, dass der Geist der Worte an den Körper der Sprache gebunden ist, dass Wortbedeutung und Lautmaterial nicht zu trennen sind, mag ihre Einheit auch auf Übereinkunft und Willkür basieren. So wie zum Beispiel einem Deutschen bei dem Gedanken des Wortes 'Apfel' gleich der Gedanke der Frucht einfällt, die doch mit jenem artikulierten Schall durchaus keine Ähnlichkeit besitzt noch sonst irgendetwas damit gemein hat, außer dass der Körper desselben Menschen von diesen beiden Dingen oft zusammen affiziert gewesen ist, das heißt, dass der Mensch oft das Wort Apfel gehört hat, während er zugleich die Frucht selbst sah. [Baruch de Spinoza] An Spinozas Ewigkeitsaspekt des »sub specie aeternitatis« die Verbindung von Kunst und Philosophie erkennen. Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. [Ludwig Wittgenstein] Das Ästhetische an Spinozas Dynamik der Weltfülle wahrnehmen und am Modell ihrer Bejahung, das alles einbegreift. calme étendue – eine Sprache innerhalb der Sprache; eine experimentelle Variation des Modus Sprache. Eine Sprache erfinden, heißt, eine Sprache konstruieren. Ihre Regeln aufstellen. [Ludwig Wittgenstein] Bspl. 11: calme étendue (spinoza) [16´36´´ – 19´55´´][3´19´´] wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die sind die von hebt die auf denn wenn Gott um Spinozas Reflexion des Zufalls jenseits der Spaltung von Wesen und Erscheinung: Ihr gilt Zufall als ein Mangel unserer Erkenntnis. Zufall: nichts weiter als das Abwehrmanöver eines beschränkten Verstandes, dem die Kausalketten der endlichen Dinge, ihre sich wechselseitig ins Unüberschaubare bedingenden und kreuzenden Wirkungsreihen als Gesamtheit unfassbar sind und eben damit als zufällig gelten. Nicht anders als die Kausalketten der Sprache und der einzelnen Worte, die als einzelne wiederum ins Endlose der Zusammenhänge verweisende Worte bedingen. Worte – mit eigener Ausdruckskraft und gleichzeitig durch alle anderen Worte bestimmt. Eingebunden in zahllose Urteilsrelationen, die sich erst der Erkenntnis des Ganzen als notwendig im Universum der Sprache offenbaren. Die Kausalität der Sprache und der Dinge mit Spinoza lesen. Verstehen, dass für Spinoza – unter dem Blickwinkel des Ewigen und der zeitlosen, die Welt aus sich herausproduzierenden Substanz – die Kausalität der »ewigen Notwendigkeit« von Dingen und Welt nicht zu zerstören ist; auch nicht durch den radikalen Zufall. Mit Spinoza die Angst vor dem Zufall und vor dem Spiel mit Identitäten verlieren – und sei es die Irritation, dass es Spinozas Ethik ist, die in Beugers calme étendue spricht, und dass sie es zugleich nicht ist. Die Distanz zwischen Spinoza und der Gegenwart produktiv machen und zwischen Tradition und Entwurf changieren lassen. Die Erkenntnis des Fiktiven in Spinozas Argumentation als Befreiung empfinden und zugleich Spinozas Kritik an metaphysischen Hinterwelten und vermenschlichenden Projektionen ernst nehmen. Wehmut über den Verlust eines Denkens empfinden, dem Sprache und Wahrheit als Einheit galten, und zugleich sensibel werden für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben. [Friedrich Nietzsche] Sensibel werden auch – wie Hofmannsthal – für den Allgemeinheitssog der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt haben«. Gott stirbt, die Wörter fallen auf sich selbst zurück. [Jean-Paul Sartre] : für die Neue Musik und Literatur alles andere als eine Tragödie. Ab 29´30´´ Text Sprecher. Beuger-Lesung leise im Hintergrund weiterlaufen lassen. ​Bspl. 12: calme étendue (spinoza) [28´13´´ – er die des nach zu teils ist auch im was zu war folgt dass der Geist um so ist zu je mehr sein mit hat Spinoza ästhetisch lesen. Vor dem Hintergrund der Rationalisierung der Schrift im Druck mit beweglichen Lettern und der Auflösung des göttlichen Worts in eine Kombinatorik von Buchstaben und Silben. Texte generell von den Setzkästen Gutenbergs her lesen: als ein unendlich kombinierbares Repertoire der Worte und Gedanken: Setzkästen des Geistes, in denen sich schließlich auch Spinozas Ethik puzzleartig streut. calme étendue (spinoza) . Und doch zugleich diese Streuung mit Spinoza als aufgehoben im »unendlichen Modus« der Sprache denken; mit den endlichen Modi der in Zeit und Geschichte sich ändernden, je verschiedenen Worte und grammatischen Gefügen der einzelnen Sprachen und Sprachvarianten. Allesamt im Sinne Spinozas eine Wirkung der einen welterzeugenden Substanz. Erkennbar in den Attributen Denken und Ausdehnung und deren Vermittlung mit dem Konkreten: Denken – vermittelt als unendlicher Verstand mit dem menschlichen Verstand und den Bedeutungen seiner Sprachen; Ausdehnung – vermittelt in der Gesamtproportion von Bewegung und Ruhe mit dem Wechsel der einzelnen Worte als Lautmaterial und dem Wechsel von Laut und Stille. ​ Bspl. 13: calme étendue (spinoza) – 31´37´´] [3´24´´] Stille – Zäsur der Sprache. Sprache – Zäsur der Stille. Gleichwertigkeit von Stille und Laut. Vergleichbar dem Wechsel von Ruhe und Bewegung – dem für Spinoza unendlichen Modus der Ausdehnung, allen Dingen gemeinsam. Im Nacheinander des Textes nicht das Gefühl für die Dauer seiner Gleichzeitigkeit verlieren, in der Bewegung nicht das Gefühl für die Ruhe. Für die Stille als Grund, auch wenn Stille nie still ist. Lesen, sprechen, buchstabieren. Ohne Furcht, dass sich hinter der Maske der Sprache nichts befinden könnte. Lesbares, Unlesbares: wo verläuft die Grenze? Den Grund der Sprache grundlos werden lassen. Mit der Auswahl einsilbiger Worte den Zufall in der Notwendigkeit der Sprache aufdecken. Spinozas Gedanken über Zufall und Notwendigkeit in seine eigene Sprache hineintreiben. Wo sitzt der Gott der Sprache? Spinozas Ethik im strengen Spiel mit der Sprache zu ihrem eigenen »Sprachspiel« machen. Eine zweite Sprache in der ersten erzeugen, mit einer geheimen Grammatik der Assoziationen im Unterschied zur bekannten Grammatik der Identifikationen. Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik machen. [Ludwig Wittgenstein] Spinozas Sprache 1675: ein Kraftwerk des Begriffs zur Produktion von Erkenntnis – vor dem Zerfall der metaphysischen Dreifaltigkeit von Gott, Wahrheit und Sprache. Spinozas Sprache 1997: eine poetische Transformation des Begriffs, befreit von der Zeitordnung philosophischer Logik, ein Sagen und Nichtsagen gleicherweise. Spinozas Ethik als ein System begreifen, das nicht geschlossen sein kann, weil es sich immer auch auf Sätze bezieht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Die Moral des Urteils ausbleichen und Philosophie in Kunst hinüberspielen lassen. Die Logik der Schlüsse in einen musikhaft rhapsodischen Strom der Gedanken verflüssigen: offen für die Logik des Zufalls mit Perspektive auf Spinoza, für den die Streuung des Endlichen und die einzelnen Dinge nichts als Erregungen oder Daseinsformen (modi) [sind], durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden. Bspl. 14: calme étendue (spinoza) [10´15´´–11´17´´] [1´02´´] Schwarz:=Sprechstim­me Beuger Rot=Geflüsterte Ergänzung durch den Sprecher (jeweils innerhalb des 8-Sekunden-Takts austarieren) DIE einzelnen Dinge SIND NICHTS ALS Erregungen oder Daseinsformen (modi) , DURCH welche DIE Attribute Gottes AUF gewisse UND bestimmte Weise ausgedrückt werden . ​ Bspl. 15 als Hintergrund einblenden und aufblenden. Im Lesen von Spinozas Ethik sich Spinoza nähern, ohne diese Annäherung in Philosopheme aufzulösen. Die Sprache entmythologisieren, so wie Spinoza die Bibel entmythologisiert hat. Spinozas Ethik in eine Textmusik verwandeln, mit dem klaren, deutlich unterschiedenen Wort als Klanggrenze. Sprache nicht pulverisieren, bis sie zu knirschen beginnt und die letzen Lautbedeutungen sich auflösen. Nicht ins Indifferente, gar Konformistische gleiten, in eine abstrakte Negation des Sinns durch den Nicht-Sinn. Bewusst sein, dass der Sprache nicht zu entrinnen ist, dass die Abschaffung des Sinns nie gänzlich gelingt. Den Sinn eher auf subtile Weise zum Schwingen bringen, um Spinozas Ethik im Echoraum der Stille als eine philosophische Musik zu vernehmen. Bspl. 15: calme étendue (spinoza) [66´29´´ – 70´12´´][3´43´´] Gott und um so mehr je mehr er sich und wer sich und klar und Lust nach des teils und zwar mit der nach dem nach ​ ​

 Johannes Bauer     Philosophie / Musikästhetik / Malerei                                                                                                                        © Johannes Bauer 2017 - Impressum /  Datenschutz  

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