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- Johannes Bauer, Antoine Beugers calme étendue (spinoza)
Spinoza im Echoraum der Stille Antoine Beugers calme étendue (spinoza) DeutschlandRadio Berlin (2003) Anmerkungen zum Sprechpart Den Text insgesamt wie eine Art inneren Monolog ohne rhetorische Expressivität, eher gleichmäßig ruhig lesen. Es werden 3 Stimmintensitäten unterschieden: - Normale Lautstärke (schwarz) - Gedämpfte Stimme (blau) - Flüstern (rot) Die [teleologische] Lehre hebt die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt. Zwei Sätze aus Spinozas Ethik . Genauer: aus dem Anhang zum 36. Lehrsatz des ersten Buchs. Zwei Sätze aus einer der großen Abrechnungen mit menschlichen Vorurteilen; mit der Annahme von Zweckursachen in der Natur etwa und ihrer Übertragung auf die göttliche Substanz. Zwei Sätze, die man aber auch anders lesen kann. Nämlich so: Bspl. 1: Antoine Beuger, calme étendue (spinoza) [18´56´´ – 20´37´´] [1´41´´] [EDITION WANDELWEISER RECORDS EWR 0107] (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er) Radieren also. In Spinozas Ethik radieren. Radieren in einem Hauptwerk abendländischer Philosophie. Radieren, aber mit Methode. Vergleichbar Spinozas Gedankengang »ordine geometrico«. Nur einsilbige Worte stehen lassen, um auf diese Weise Spinozas Ethik silbisch durchzubuchstabieren. Einsilbige Laute in der Bedeutung von Worten, gleichmäßig skandiert. Bspl. 2 = Whlg. Bspl 1 [18´56´´ – 20´37´´] [1´41´´] (hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er) Spinozas Ethik aufmerksam und sorgfältig lesen und dabei das Gitter ihrer Definitionen, Lehrsätze, Beweise, Axiome aufbrechen. Alle einsilbigen Worte in der Reihenfolge ihres Auftretens herausfiltern – konsequent, obsessiv – etwa 40.000 an der Zahl. Zirka 180 Stunden Wort-Lektüre: alle 8 Sekunden ein Wort. Einen abstrakten Puls der Sprache erzeugen, entlang der Auswahl einsilbiger Worte: einer beliebig wirkenden Auswahl, die doch zugleich auf der Ordnung der Sätze in Spinozas Text von 1675 basiert: Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit. Spinozas Text und den Rasuren in ihm zuhören: Je mehr vermittelnder Ursachen aber eine Wirkung bedarf, um hervorgebracht zu werden, desto unvollkommener ist sie. Wenn nun die Dinge, die unmittelbar von Gott hervorgebracht sind, deshalb gemacht wären, damit Gott seinen Zweck erreichte, so wären notwendig die letzten, um derentwillen die ersten gemacht sind, die vorzüglichsten von allen. Außerdem hebt diese Lehre die Vollkommenheit Gottes auf. Denn wenn Gott um eines Zwecks willen handelt, so begehrt er notwendig etwas, das er entbehrt. Text gleichmäßig ruhig lesen; flüstern »je mehr um zu ist sie wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die sind die von hebt die auf denn wenn Gott um Zwecks so er das er« Radieren also. Gut 300 Jahre nach ihrem Erscheinen Spinozas Ethik einem Prinzip des methodischen Zufalls unterziehen. Die Folgelogik, den Zeitsog, die Triebkraft des Textes außer Kraft setzen. Seine argumentativen Tempo- und Hitzegrade in das Gleichmaß und die Wohltemperiertheit loser Wortreihen überführen. Asyntaktisch; Parataxe pur. Radieren, um das expressive Gewebe der Sprache zu glätten, ihren rhetorischen Faltenwurf. Die Wörter in ruhigem Tempo [...] mit ruhiger Stimme lesen ohne durch Betonung oder Intonation auf einen Wortsinn oder einen Sinnzusammenhang zwischen den Wörtern hindeuten zu wollen. [Antoine Beuger] Bspl. 3: calme étendue (spinoza) [8´45´´ – 10´00´´] [1´15´´] Selbst heißt muss er auch die was sich noch Mit dem Gleichmaß des ›ruhigen Tempos‹ und der ›ruhigen Stimme‹ an Spinozas Wertschätzung der Gelassenheit erinnern. Die Kompaktheit des Sinns in den Schwebezustand eines Zwischensinns überführen. Von den Klangpunkten der Sprache her die Tiefenstruktur ihres Sinns beruhigen. Tiefe und Oberfläche als Einheit begreifen. Den Kampf der Begriffe besänftigen, die Wogen ihres rhetorischen Tumults zur Spiegelfläche eines Meers der ruhigen Worte glätten. An Epikurs Bild der Meeresstille, der âàëç´íç , denken – Ideal der Seelenruhe. Und an die epikureische Seelenruhe des Weisen, mit der Spinozas Ethik schließt. Daran, wie sehr [...] der Weise [...] in der Seele kaum beunruhigt [wird], sondern, seiner selbst, Gottes und der Dinge mit einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewusst, [...] immer im Besitz der wahren Befriedigung der Seele [ist]. Calme étendue: Ruhe, Stille, Gelassenheit. Aber auch Windstille, Meeresstille, âàëç´íç . Ausgedehnt, ausgebreitet, geweitet, weit reichend, tragend. Spinozas Ethik syntaktisch entkernen, das Besondere ihrer Sprache zunächst auf das Allgemeine eines Wortmaterials hin ausbleichen. Mit dem Herauslösen des syntaktischen Kitts die Zeit argumentativer Ordnung und Ortung aufheben: zeitlos, ortlos werden. Sich gleichzeitig überall und nirgends im Textlabyrinth der Ethik befinden, inmitten überall einsetzbarer, funktional alltäglicher Worte: und / dass / was / die / von / denn / in / zu / teils / ich / dass / wir / nicht. Bspl. 4: calme étendue (spinoza) [36´05´´ – 37´50´´][1´45´´] und dass was die von denn in zu teils ich dass wir nicht Lesen, Sprechen: frei von der Rangordnung der Beweise und Schlüsse. Ohne Mittelpunkt. Spinozas von Giordano Bruno übernommene Idee vom mittelpunktslosen Universum in die Sprache verlegen. Spinozas Sprache Spinozas Kritik an den Zweckursachen aussetzen. Spinozas Sprache der Zweck- und Zielfunktion des Urteils entziehen – mag die Reihung der Worte auch weiterhin in der Zeit verlaufen. Das Ökonomieprinzip der Sprache als Organisationsprinzip ihres Sinns vergessen. Gegen das Ersticken an Zeichen und Signalen, gegen die Tätowierungsfunktion der Sprachen und Schriften weiße Flächen setzen: Stille, Rauschen. Ab 35´00´´ die Lautstärke erhöhen, bis die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar wird. Ab 35´20´´ Sprecher (Überlagerung von Rauschen und Sprecher; Rauschen im Hintergrund). Ab 35´50´´ CD ausblenden. Bspl. 5: calme étendue (spinoza) [33´36´´ – 36´02´´] [2´16´´] im Geist aus die in ihm sind so wir nichts Die Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt, das heißt: alles was klingt. Ihre Form ist der jeweilige Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herausschneidet [...] Es ist möglich, sich die Welt als ein unendliches monotones Rauschen vorzustellen: Eine Überfülle von Differenzen, in der nichts gleich ist, eine nie entwirrbare Komplexität, eine Gleichzeitigkeit ohne Zeit, da alles immer da ist und sich nichts verändert. Die Monotonie des Unendlichen. Alle Musik, die es jemals gegeben hat oder geben wird, ist in diesem Rauschen enthalten. [Antoine Beuger] Die Zeitspur der Sprache immer wieder im Schweigen, im Rauschen verschwinden lassen; umgekehrt das Zeitmoment immer wieder im einzelnen Wort hörbar machen. Rauschen, weißes Rauschen: Spannung zwischen Chaos und Ordnung. Und – in der Mischung aller Klangfarben und Tonhöhen – Potenzial aller Möglichkeiten. Schnitte in die zeitlose Gleichzeitigkeit des Weltrauschens legen, die Musik aus ihm hervorholen und zur Existenz bringen. [Antoine Beuger] Lautstärke von Beginn an hoch, um die Stille-Partie der CD als Rauschen hörbar werden zu lassen. Ab 51´35´´ auf normale Lautstärke reduzieren. Lesebeginn Beuger bei 51´43´´. Bspl. 6: calme étendue (spinoza) [51´10´´ – 52´25´´] [1´15´´] sein sich nicht Stille aber auch als ihr eigenes Negativ hören, seitdem Büchners Lenz in dem, was man »gewöhnlich die Stille heißt« die »entsetzliche Stimme« vernahm, »die um den ganzen Horizont schreit«. Laute, Worte, Bedeutungen, die aus dem Grund der Stille aufsteigen und in ihm versinken. Die Gedanken steigen, langsam, wie Blasen an die Oberfläche. [Ludwig Wittgenstein] Silence. Sounds are only bubbles on its surface. [John Cage] Die Schnittstelle zwischen den Worten zur Stille weiten, die Diskontinuität im Innern der Sprache bewusst machen, die Kluft aus Worten, über die die Sprache syntaktische Sinnbrücken spannt. Gegen die Rhetorik der Argumentation das Ereignis setzen. Keinen Nullpunkt des Denkens, sondern ein Sensorium für die Zerbrechlichkeit des Sinns. Worte als Ereignis – gegen die Taubheit der Sprache und die Sprachlosigkeit ihres Lärms. Das Ereignis schlägt ein Loch in die vorhandene Ordnung und zieht eine grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich [...] Absichtslosigkeit üben; immer wieder Möglichkeiten finden, wie sich Musik als reines Erklingen ereignen kann. [Antoine Beuger] Bspl. 7: calme étendue (spinoza) [48´30´´– 49´05´´][0´35´´] wie ich und Den Hunger nach Sinn, die Sinngier der Sprache dämpfen, ohne den Text semantisch verhungern zu lassen. Spinoza mit und gegen Spinoza lesen. Die Ethik auf chinesische Weise lesen, mit dem Ohr des Sinologen für »leere« und »volle Wörter«. Im Gesprochenen das Ungesprochene hörbar werden lassen; das, was sich der Sprache entzieht. Das Unaussprechbare [...] gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt. [Ludwig Wittgenstein] Gespür für den Sinneffekt der Sprache entwickeln; für die Tiefenwirkung ihrer Oberfläche, für die Haut der Sprache. Die Haut aber ist das Tiefste. [Paul Valéry] Die syntaktischen Nähte der Textur auftrennen, bis das Sprachgewebe lose wird. Bis die gelöste Textur Falten wirft, um metaphysische Großbegriffe zum Beispiel. Bspl. 8: calme étendue (spinoza) [17´11´´ – 17´52´´][0´51´´] von Gott sind Gott Zweck Text gleichmäßig ruhig lesen und flüstern. Nur die in Großbuchstaben gesetzten Worte laut sprechen. »denn wenn GOTT um ZWECKS so er das er wenn nun auch und ZWECK des und ZWECK der so sie doch ein dass GOTT um nicht der zu hat weil sie vor der nichts GOTT um GOTT sie dass GOTT die für « »Gott«, »Zweck« – ein Plissee an Gedanken und Assoziationen um zwei kritische Leitmotive von Spinozas Philosophie. »Gott« – lange Zeit der höchste Name. Auch in der Sprachmusik von calme étendue ein Brennpunkt der Assoziationen und leer zugleich. Ein Wort nur. Verbales Strandgut in den Strömungen der Geistesgeschichte. Ein Wort allerdings auch wie Sprachasche, unter der die Glut der Bedeutungen glimmt. Ein Wort, das spricht und schweigt zugleich. Wie hat man uns das Wort GOTT beigebracht? Luther hat einmal gesagt, die Theologie sei die Grammatik des Wortes „Gott“. Dies fasse ich so auf, dass eine Untersuchung dieses Wortes eben eine grammatische wäre. [Ludwig Wittgenstein] Das Wort GOTT von Beuger gesprochen; flankiert von 8 Sek. Stille Bspl. 9: calme étendue (spinoza) [66´23´´ – 66´38´´] [0´15´´] Ein Bild für Beugers Spinoza finden. Stille als semantische Wüste hören. Fülle durch Abwesenheit. Wüste: désert, desert, deserto – desertieren. Stille, eine semantische Wüste, in der die Worte zu desertieren beginnen, vom Sinn abfallen, ohne sich im Sinnlosen zu verlieren. Worte, gestreut wie Flugsand unter dem Mikroskop. Verwehungen der Sprache. Aber auch Wort-Karawanen bei der Durchquerung einer Zone des Rauschens, mit einer ungewohnten Tiefenschärfe der Erfahrung. Ein Unterwegs der Sprache. Ein Unterwegssein mit der Sprache. Das informierte Bewusstsein, dem ständig etwas einzufallen hat, an die Grenzen seiner Sicherheit führen. Gegen den Imperativ der Zirkulation – Niemals stillstehen! – die Zirkulation unterbrechen. Und mit ihr den Kreislauf der Sprache. Das Schaltwerk regulierten Denkens punktuell aussetzen. Den Umlauf der Worte in gängigen Denkbahnen hemmen. Die Firnisschichten der Konvention aufweichen. Hören freisetzen, Erfahrung freisetzen. Worte für sich stehen lassen. Worte zum Ereignis entbinden und Stille zum Resonanzraum der Worte. Ins Innere der Sprache hören. Dem Hunger nach Sinn mit einem Fasten der Semantik begegnen. Worte reihen – gegen die Ist-Funktion des Urteils. Mit ET denken statt mit EST. [Gilles Deleuze] Dem System der Verweisungen Sprache entziehen und Sprache dem System der Verweisungen. Worte als Klangfarbe ihrer Assoziationen im Gedächtnis der Sprache freisetzen. Bindungen lösen, an Becketts ›Losigkeit‹ denken. Calme étendue – Sprache atmen, Bedeutungen rätselhaft werden lassen: ich, wir, Gott, Geist, Zweck, Ding, Lust. Die Einsicht ins Spiel der Welt, die Bühne des Menschlich-Allzumenschlichen im Blick behalten, auf der Spinozas helle Fahrt in die Nacht des Geistes nicht zur Resignation, sondern zur Gelassenheit führt, frei von jeder Verleumdung des Lebens. Gelassenheit auch in Beugers Spinoza : im Zurücktreten des Ich, um Sprache gegen das Gesetz des Satzes und der Satzung gewaltlos, ereignishaft sprechen zu lassen. Spinozas Credo der Untrennbarkeit von Körper und Geist verstehen, beide gleich ursprünglich und notwendig aufeinander verwiesen. Verstehen, dass der Geist der Worte an den Körper der Sprache gebunden ist, dass Wortbedeutung und Lautmaterial nicht zu trennen sind, mag ihre Einheit auch auf Übereinkunft und Willkür basieren. So wie zum Beispiel einem Deutschen bei dem Gedanken des Wortes 'Apfel' gleich der Gedanke der Frucht einfällt, die doch mit jenem artikulierten Schall durchaus keine Ähnlichkeit besitzt noch sonst irgendetwas damit gemein hat, außer dass der Körper desselben Menschen von diesen beiden Dingen oft zusammen affiziert gewesen ist, das heißt, dass der Mensch oft das Wort Apfel gehört hat, während er zugleich die Frucht selbst sah. [Baruch de Spinoza] An Spinozas Ewigkeitsaspekt des »sub specie aeternitatis« die Verbindung von Kunst und Philosophie erkennen. Das Kunstwerk ist der Gegenstand sub specie aeternitatis gesehen; und das gute Leben ist die Welt sub specie aeternitatis gesehen. Dies ist der Zusammenhang zwischen Kunst und Ethik. [Ludwig Wittgenstein] Das Ästhetische an Spinozas Dynamik der Weltfülle wahrnehmen und am Modell ihrer Bejahung, das alles einbegreift. calme étendue – eine Sprache innerhalb der Sprache; eine experimentelle Variation des Modus Sprache. Eine Sprache erfinden, heißt, eine Sprache konstruieren. Ihre Regeln aufstellen. [Ludwig Wittgenstein] Bspl. 11: calme étendue (spinoza) [16´36´´ – 19´55´´][3´19´´] wenn nun die die von Gott sind Gott Zweck so die um die sind die von hebt die auf denn wenn Gott um Spinozas Reflexion des Zufalls jenseits der Spaltung von Wesen und Erscheinung: Ihr gilt Zufall als ein Mangel unserer Erkenntnis. Zufall: nichts weiter als das Abwehrmanöver eines beschränkten Verstandes, dem die Kausalketten der endlichen Dinge, ihre sich wechselseitig ins Unüberschaubare bedingenden und kreuzenden Wirkungsreihen als Gesamtheit unfassbar sind und eben damit als zufällig gelten. Nicht anders als die Kausalketten der Sprache und der einzelnen Worte, die als einzelne wiederum ins Endlose der Zusammenhänge verweisende Worte bedingen. Worte – mit eigener Ausdruckskraft und gleichzeitig durch alle anderen Worte bestimmt. Eingebunden in zahllose Urteilsrelationen, die sich erst der Erkenntnis des Ganzen als notwendig im Universum der Sprache offenbaren. Die Kausalität der Sprache und der Dinge mit Spinoza lesen. Verstehen, dass für Spinoza – unter dem Blickwinkel des Ewigen und der zeitlosen, die Welt aus sich herausproduzierenden Substanz – die Kausalität der »ewigen Notwendigkeit« von Dingen und Welt nicht zu zerstören ist; auch nicht durch den radikalen Zufall. Mit Spinoza die Angst vor dem Zufall und vor dem Spiel mit Identitäten verlieren – und sei es die Irritation, dass es Spinozas Ethik ist, die in Beugers calme étendue spricht, und dass sie es zugleich nicht ist. Die Distanz zwischen Spinoza und der Gegenwart produktiv machen und zwischen Tradition und Entwurf changieren lassen. Die Erkenntnis des Fiktiven in Spinozas Argumentation als Befreiung empfinden und zugleich Spinozas Kritik an metaphysischen Hinterwelten und vermenschlichenden Projektionen ernst nehmen. Wehmut über den Verlust eines Denkens empfinden, dem Sprache und Wahrheit als Einheit galten, und zugleich sensibel werden für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben. [Friedrich Nietzsche] Sensibel werden auch – wie Hofmannsthal – für den Allgemeinheitssog der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt haben«. Gott stirbt, die Wörter fallen auf sich selbst zurück. [Jean-Paul Sartre] : für die Neue Musik und Literatur alles andere als eine Tragödie. Ab 29´30´´ Text Sprecher. Beuger-Lesung leise im Hintergrund weiterlaufen lassen. Bspl. 12: calme étendue (spinoza) [28´13´´ – er die des nach zu teils ist auch im was zu war folgt dass der Geist um so ist zu je mehr sein mit hat Spinoza ästhetisch lesen. Vor dem Hintergrund der Rationalisierung der Schrift im Druck mit beweglichen Lettern und der Auflösung des göttlichen Worts in eine Kombinatorik von Buchstaben und Silben. Texte generell von den Setzkästen Gutenbergs her lesen: als ein unendlich kombinierbares Repertoire der Worte und Gedanken: Setzkästen des Geistes, in denen sich schließlich auch Spinozas Ethik puzzleartig streut. calme étendue (spinoza) . Und doch zugleich diese Streuung mit Spinoza als aufgehoben im »unendlichen Modus« der Sprache denken; mit den endlichen Modi der in Zeit und Geschichte sich ändernden, je verschiedenen Worte und grammatischen Gefügen der einzelnen Sprachen und Sprachvarianten. Allesamt im Sinne Spinozas eine Wirkung der einen welterzeugenden Substanz. Erkennbar in den Attributen Denken und Ausdehnung und deren Vermittlung mit dem Konkreten: Denken – vermittelt als unendlicher Verstand mit dem menschlichen Verstand und den Bedeutungen seiner Sprachen; Ausdehnung – vermittelt in der Gesamtproportion von Bewegung und Ruhe mit dem Wechsel der einzelnen Worte als Lautmaterial und dem Wechsel von Laut und Stille. Bspl. 13: calme étendue (spinoza) – 31´37´´] [3´24´´] Stille – Zäsur der Sprache. Sprache – Zäsur der Stille. Gleichwertigkeit von Stille und Laut. Vergleichbar dem Wechsel von Ruhe und Bewegung – dem für Spinoza unendlichen Modus der Ausdehnung, allen Dingen gemeinsam. Im Nacheinander des Textes nicht das Gefühl für die Dauer seiner Gleichzeitigkeit verlieren, in der Bewegung nicht das Gefühl für die Ruhe. Für die Stille als Grund, auch wenn Stille nie still ist. Lesen, sprechen, buchstabieren. Ohne Furcht, dass sich hinter der Maske der Sprache nichts befinden könnte. Lesbares, Unlesbares: wo verläuft die Grenze? Den Grund der Sprache grundlos werden lassen. Mit der Auswahl einsilbiger Worte den Zufall in der Notwendigkeit der Sprache aufdecken. Spinozas Gedanken über Zufall und Notwendigkeit in seine eigene Sprache hineintreiben. Wo sitzt der Gott der Sprache? Spinozas Ethik im strengen Spiel mit der Sprache zu ihrem eigenen »Sprachspiel« machen. Eine zweite Sprache in der ersten erzeugen, mit einer geheimen Grammatik der Assoziationen im Unterschied zur bekannten Grammatik der Identifikationen. Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik machen. [Ludwig Wittgenstein] Spinozas Sprache 1675: ein Kraftwerk des Begriffs zur Produktion von Erkenntnis – vor dem Zerfall der metaphysischen Dreifaltigkeit von Gott, Wahrheit und Sprache. Spinozas Sprache 1997: eine poetische Transformation des Begriffs, befreit von der Zeitordnung philosophischer Logik, ein Sagen und Nichtsagen gleicherweise. Spinozas Ethik als ein System begreifen, das nicht geschlossen sein kann, weil es sich immer auch auf Sätze bezieht, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Die Moral des Urteils ausbleichen und Philosophie in Kunst hinüberspielen lassen. Die Logik der Schlüsse in einen musikhaft rhapsodischen Strom der Gedanken verflüssigen: offen für die Logik des Zufalls mit Perspektive auf Spinoza, für den die Streuung des Endlichen und die einzelnen Dinge nichts als Erregungen oder Daseinsformen (modi) [sind], durch welche die Attribute Gottes auf gewisse und bestimmte Weise ausgedrückt werden. Bspl. 14: calme étendue (spinoza) [10´15´´–11´17´´] [1´02´´] Schwarz:=Sprechstimme Beuger Rot=Geflüsterte Ergänzung durch den Sprecher (jeweils innerhalb des 8-Sekunden-Takts austarieren) DIE einzelnen Dinge SIND NICHTS ALS Erregungen oder Daseinsformen (modi) , DURCH welche DIE Attribute Gottes AUF gewisse UND bestimmte Weise ausgedrückt werden . Bspl. 15 als Hintergrund einblenden und aufblenden. Im Lesen von Spinozas Ethik sich Spinoza nähern, ohne diese Annäherung in Philosopheme aufzulösen. Die Sprache entmythologisieren, so wie Spinoza die Bibel entmythologisiert hat. Spinozas Ethik in eine Textmusik verwandeln, mit dem klaren, deutlich unterschiedenen Wort als Klanggrenze. Sprache nicht pulverisieren, bis sie zu knirschen beginnt und die letzen Lautbedeutungen sich auflösen. Nicht ins Indifferente, gar Konformistische gleiten, in eine abstrakte Negation des Sinns durch den Nicht-Sinn. Bewusst sein, dass der Sprache nicht zu entrinnen ist, dass die Abschaffung des Sinns nie gänzlich gelingt. Den Sinn eher auf subtile Weise zum Schwingen bringen, um Spinozas Ethik im Echoraum der Stille als eine philosophische Musik zu vernehmen. Bspl. 15: calme étendue (spinoza) [66´29´´ – 70´12´´][3´43´´] Gott und um so mehr je mehr er sich und wer sich und klar und Lust nach des teils und zwar mit der nach dem nach
- Johannes Bauer, Haydn in London (Teil 2)
Haydn in London oder Der lose liberale Gang der Musik Südwestrundfunk 2004 Südwestrundfunk 2004 2.Teil Haydn in der britischen Metropole: das bedeutet zunächst die ebenso wachen wie gewitzten Beobachtungen eines Musikers in der «unendlich großen Stadt London»; das bedeutet zudem den Kult um einen Komponisten, der den Triumph beim Publikum der «Kenner und Liebhaber» durchaus zu genießen weiß; vor allem aber bedeuten Haydns Englandreisen die symphonische Summe einer Musik, von der Goethe meinte, sie sei «vielleicht zu überbieten, aber nicht zu übertreffen». Was Haydns Londoner Symphonien an Hintergründigkeit im Umgang mit der musikalischen Zeit formulieren, welchen Esprit, welche Reflexion sie im Erzeugen und Austarieren komponierter Symmetriebrüche erkennen lassen - vom geistreichen Spiel bis zum Ernstfall: immer sind es Charakteristika, die die Idee des Republikanischen einlösen und Mündigkeit auch im Auditorium, im Akt des Hörens voraussetzen. Sechs Sendungen werden Haydn in England begleiten: vom sensationellen Erfolg der ersten Saison 1791 (I: Magier und Souverän ) bis zu jenem berühmten Konzert im Mai 1795 mit der Uraufführung der letzten Symphonie des Komponisten (VI: Dr. Haydn’s Night ). Sechs Sendungen einer Reihe, die selbst zu einer Reise auf der Spur von Haydns symphonischem Spätwerk wird: seiner körperhaften Gestik (II: Musik von unten ), seiner sinnlichen Spiritualität (III: Affekte - Effekte ), seiner labyrinthischen Verwicklung (IV: Dämon Zeit ), seiner prozesshaften Dramaturgie (V: Weltlauf mit Fanfare ). 4. Dämon Zeit Als Joseph Haydn am 4. Februar 1794 zum zweiten Mal in London eintraf, begleitet von seinem Diener und Kopisten Johann Elßler, dem Vater der berühmten Tänzerin Fanny Elßler, war sein Prestige, sein Ruhm unangefochten. Konkurrenzunternehmen wurden erst gar nicht in die Wege geleitet. Anders auch als beim schnellen Aufbruch zur ersten Englandreise hatte Haydn mit der Symphonie Nr. 99 , die er bereits Ende 1793, Anfang 1794 in Wien oder Eisenstadt komponiert hatte, für die ersten Londoner Konzerte der neuen Saison vorgesorgt: Zudem befanden sich im Reisgepäck noch der zweite bis vierte Satz der Symphonie Nr. 101 sowie der zweite und dritte der so genannten Militärsymphonie . «Der unvergleichliche Haydn hat eine [Symphonie] geschaffen, von der man nicht in gewöhnlichen Worten sprechen kann. Es ist eines der größten Kunstwerke, das wir je erlebt haben. Es enthält eine Fülle an Ideen, ebenso neu in der Musik wie großartig und eindrucksvoll; es weckt und bewegt alle Regungen der Seele.» Das Werk «wurde mit wachsender Begeisterung aufgenommen. [...] Das Genie Haydns, erstaunlich unerschöpflich und überragend, war allgemeines Thema». So war am 12. Februar 1794 nach der Uraufführung der Symphonie Nr. 99 in Es-Dur im Morning Chronicle zu lesen. Mehr als der neuartige Klarinettenklang des Werks verrät jedoch schon die weitausladende, hochexpressive Einleitung, die Haydn unter dem Eindruck des Todes der hochverehrten Marianne von Genzinger in Wien komponiert haben soll, etwas vom spezifischen Ton der zweiten Londoner Symphonieserie: Ein festlich-repräsentativer Beginn in Es-Dur, der sich, nuanciert durch Einspruchs- und Suspensionsmotive der Holzbläser, rasch eintrübt, um in einer tastenden, über entlegenes Modulationsgelände führenden Bewegung die Dominante als Ausgangspunkt des Sonatenhauptsatzes zuletzt doch nur über eine plötzliche Rückung zu erreichen. Ein Beginn, der die stabile Es-Dur-Symmetrie der ersten Takte in einem harmonischen Labyrinth desorientiert, in dem das Unvorhersehbare, das nicht Vorauszuhörende die Regel ist, der Weg sich also mit Ankunftserwartung und dadurch intensiv mit Zeit auflädt. Ein Beginn aber auch, der mit dem Einlassen des Unwegsamen und Dissonanten für die sechs späten Londoner Symphonien charakteristisch wird. Bspl. 1: Haydn, Symphonie Nr. 99, 1. Satz / Takt 1–18 [1´55] (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati) Außerdem demonstriert diese Einleitung, wie Haydns Londoner Symphonien mit den Anforderungen eines großen Publikums zu rechnen haben, mit den Erwartungen der Kenner ebenso wie mit dem Geschmack eines sozial vielschichtigen Auditoriums. Anforderungen, die vor allem das Verhältnis zwischen Orchesterapparat und motivisch-thematischer Arbeit betreffen. Wie sehr Haydn die Öffentlichkeit des Konzertsaals ernst nahm, belegen zwei Mitteilungen an Marianne von Genzinger vom 2. März 1792. «Mir war die Partitur [der Symphonie Nr. 91 ] um so viel angenehmer [als die Einzelstimmen], weil ich vieles davon für die Engländer abändern muss». Auch kann ich die «Euer gnaden gewidmete neue Symphonie [...] nicht übermachen, [...] weil ich willens bin, das letzte Stück von derselben abzuändern, und zu verschönern, da solches in rücksicht der Ersteren [Sätze] zu schwach ist, ich wurde dessen sowohl von mir selbst als auch von dem Publico überzeugt, da ich dieselbe vergangenen freytag zum erstenmahl producirte». Hörbar wird der öffentliche Anspruch und das Eindringen des Corps social in Haydns späte Orchestermusik etwa im dynamischen Auffächern des Klangspektrums, in ausgefeilten Tutti-Strategien oder im sympathetischen Umwerben und suggestiven Einbeziehen des Publikums durch zündende Surprisen. Die «elektrisierende Wirkung auf alle Anwesenden», von der Charles Burney anlässlich der Uraufführung der 96. Symphonie spricht, oder die Berichte über enthusiastische Beifallskundgebungen legen Zeugnis von der präzis berechneten Wirkung einer Musik ab, die das Auditorium erschüttern soll wie jener ästhetische «Blitz», der Schillers Abhandlung Über die tragische Kunst zufolge «alle Herzen entzündet». Gleichwohl hat Haydns motivisch-thematische Arbeit und ihre zunehmende Ausdehnung auf sämtliche Bereiche des symphonischen Formkosmos noch nichts mit Beethovens Kärrnerarbeit dualistischer Kampfszenarien zu tun. Haydn zielt vielmehr auf eine Kombinatorik der Motivumwertung, die einen Gestalt- und Verwandlungszauber in Szene setzt, der immer wieder gattungsrhetorisch gebündelt wird. So auch im ersten Satz der Es-Dur-Symphonie (Nr. 99), der eine wie ornamental beiläufig komponierte Doppelschlagfigur des Hauptthemas sowie den unspektakulären Seitensatz der Exposition im Bereich der Durchführung zu einem kollektiven Fest der Varianten und Umkehrungen steigert; von Hermann Scherchen 1951 mit dem Haydn angemessenen intellektuellen Enthusiasmus dirigiert: Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 99, 1. Satz / Takt 19–Schluss [4´25] (Wiener Staatsopernorchester / Hermann Scherchen) Das Adagio der Es-Dur-Symphonie entwirft eine Bühne mit zwei Zeitebenen: die einer elegisch nach innen gerichteten Zeit und die einer Wendung dieser inneren Zeit durch dramatische Akzente nach außen. Auch wenn der Satz Konturen der Sonatenform erkennen lässt, hält die lyrische Reihung im Dialog von Streichern und Holzbläsern die Themen von eindringlicher motivisch-thematischer Arbeit frei. Dadurch unterscheidet sich das Adagio von der prozesshaften Strategie des vorhergehenden Sonatenhauptsatzes mit seinem Labyrinth der Unwägbarkeiten und Umformungen. Anders als die Zeit des rapiden Wechsels im «Vivace assai» gewinnt der langsame Satz in Haydns Symphonie Nr. 99 die Intensität des Augenblicks durch eine Ausdifferenzierung von Melos und Kantabilität, die mit der Entfaltung der thematischen Gestalten in ihrem Für-sich-Sein «Zeit in der Zeit aufheben». Bis der elegische Abgesang schließlich von Trompetenstößen aufgeraut wird, deren rhythmische Starrheit in den Satz wie ein skelettiertes Tanzidiom mit martialischen Zügen einbricht. Zwar sind diese Fanfarenstöße kein Appell in Richtung Finale nach Maßgabe einer ethischen Leitbahn der Symphonie, wohl aber eine Verstörung, womöglich gar eine Intervention gegen den meditativen Ton des G-Dur-Adagios: Als könnte sich dessen Espressivo-Gestus in Innerlichkeit und Wirklichkeitsflucht verlieren und als würde Haydn hier die Nähe des kontemplativen Passionato zur Melancholie streifen. Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 99, 2. Satz / Takt 59–Schluss [3´00] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Diesem Adagio kontrastiert der dritte Satz mit einem scherzonahen Allegretto-Tempo, als wollte er im Rahmen der Zeitdramaturgie des Werks den meditativen Zug des langsamen Satzes nachdrücklich aufheben. Haydn selbst hat ja einmal seine Menuette als ein «Mittelding zwischen Tanz-Menuetten und Prestos» bezeichnet. Zu dieser anderen Zeitordnung gehört in der Es-Dur-Symphonie auch, dass die Charaktere ihres Menuetts eng an Sonatensatzelemente gebunden bleiben: an motivische Arbeit, an Themenkontrast, an Durchführungs- und Reprisensequenzen. Eine Verschränkung von symphonischer Sprache und stilisiertem Tanzidiom, die der Empfindsamkeit und inneren Seelenlandschaft des Adagios mit Entäußerung antwortet. Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 99, 3. Satz / ganz [4´35] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Mit außerordentlicher Geistesgegenwart und Informationsdichte komponiert – Beethoven hat sich einige kontrapunktische Finessen dieses Satzes kopiert – fordert schließlich das Finale der Es-Dur-Symphonie auch heutige Spitzenorchester heraus: ein Finale, das gegen jedes Formkorsett expositionelle und reprisenhafte Elemente der Rondostruktur mit Durchführungsregionen motivisch-thematischer Arbeit kombiniert. Kaum dass man den Satz, ohne das Vivace-Tempo zu drosseln, mit der nötigen spieltechnischen und gestalterischen Präzision vernimmt, die Haydn verlangt, und mit dem Esprit einer Agilität, die sich kurz vor Ende des Satzes in einem «Poco ritardando-Adagio»-Einschub selbst zur Reflexion darüber anhält, wie lange eine reibungslose Dynamik dieser Fasson wohl noch zu komponieren sei. Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 99, 4. Satz / Takt 173–189 [0´25] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) In solchen Takten wirkt die Musik, als würden sich dem subjektiven Bewusstsein der inneren Zeiterfahrung Zweifel am geschichtlichen Fortschrittsgedanken als Druck der Realität einschreiben und den kompositorischen Elan kunstvoll stören. Der Themenbeginn, verlangsamt und fragmentiert, staut den Diskurs auf eine Weise, die mit der ästhetischen Zeit auch die Hörerwartung verunsichert: aufgrund einer punktuell offenen Verschränkung von Kontinuität und Diskontinuität, von Gegenwart und Zukunft. Und doch ist Haydns Musik der Weltlauf keineswegs schon so aus den Fugen geraten, dass er nur noch unter dem Blickwinkel ethischer Opposition oder mit tragischem Heroismus reflektiert werden könnte. Haydn denkt die augenblickshafte Unterbrechung der Dynamik zugleich immer auch in die ästhetische Richtung einer spielwerkhaft gestörten Mechanik. Etwa wenn gegen Ende des Finales der Symphonie Nr. 99 die Motorik in einzelne Antriebsimpulse zerlegt und solistisch ausgestellt wird. Und doch demonstriert dieser Schlusssatz in erster Linie und auf souveräne Weise, was es heißt, die Konsistenz der Zeit zugleich als Prozess und als Augenblick zu fassen. Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 99, 4. Satz / ganz [4´20] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Gerade in Haydns Schlusssätzen artikuliert die Rhapsodie der Verwandlung eine ästhetische Zeit, die mit ihren Ausweichungen und Umwegen und mit ihren flüchtigen Aufkündigungen der homogenen Ordnung den musikalischen Verlauf so unberechenbar und aufregend macht. Der Blitz des Unerwarteten und die rapide Flucht der Gestalten sind herausragende Merkmale in Haydns hoher Kunst der Abweichung vom Gewohnten. Hat Haydns Triumph in England deshalb womöglich auch etwas damit zu tun, dass seine Experimente mit dem Diskurs und mit den Hörerwartungen besonders in einem Land geschätzt werden konnten, das mit Laurence Sterne selbst einen Virtuosen der ästhetischen Zeit aufzuweisen hat? Und klingen Sternes Darstellungen seiner eigenen literarischen Methode der Schnitte, Abweichungen und Exkurse, die zwischen entlegenen Punkten unvermittelt verblüffende Korrespondenzen stiften, nicht wie ein früher Kommentar zu Haydns Umgang mit der musikalischen Zeit? Ihren Beschleunigungen, Verzögerungen, Stockungen, Verirrungen, Rupturen, Pointen und Detonationen? «Die Maschinerie meines Werks [ist] eine Spezies für sich; es werden zwei entgegengesetzte Bewegungen darin eingeführt und wieder vereinigt, die man für unvereinbar hielt. In einem Wort, mein Werk ist digressiv und es ist auch progressiv, – und das zu gleicher Zeit». «Abschweifungen sind unbestreitbar [...] das Leben, die Seele des Lesens! Die ganze Geschicklichkeit [aber] liegt [...] im Dirigieren der Abschweifungen». «Aus welchem Grund ich [...] von Anfang an das Hauptwerk und die Nebenteile mit solchen Einschnitten konstruiert und die digressiven und die progressiven Bewegungen so kompliziert und verwickelt habe – ein Rädchen ins andere –, dass die ganze Maschine im Allgemeinen in Gang gehalten worden ist.» Das Finale der Symphonie Nr. 99 zeigt eine der Möglichkeiten Haydns, musikalische Zeit zu gestalten: Zeit in ihrer Konzentration zum Augenblick und damit zu einer Feier des ästhetischen Scheins. Eine andere, wenngleich ihr verwandte Gestaltung der Zeit präsentiert das G-Dur-Andante der Symphonie Nr. 101 , nach dessen tickender Achtelbewegung das Werk den Beinamen "The Clock", "Die Uhr", erhielt. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 101, 2. Satz / ganz [8´30] (Philharmonia Orchestra London / Otto Klemperer) Auch in diesem Andante wird die Musik ostentativ vom Dämon Zeit bestimmt, ohne dass das Dämonische auf das Unheimliche hin einzuengen wäre. Dämonisch kann im Verständnis der Goethezeit ebenso den furchtbaren wie den fruchtbaren Augenblick bedeuten. Oder jenes irisierende Ineinander beider Aspekte, des Bedrohlichen wie des Befreienden, das im langsamen Satz der Symphonie Nr. 101 die Bühne der ästhetischen Zeit als der großen Aktrice entwirft: die Bühne eines Satzes, der hintersinnig mit dem Kontrast zwischen mechanischem Pendelostinato und organischer Variationsstruktur spielt. Der Gang der Zeit und der Gang in der Zeit verschränken sich zum Ausschnitt einer Welt des Wandels entsprechend Haydns Verständnis der Variation als einer Zeit der Veränderungen und der Veränderungen in der Zeit, ohne die Fixiertheit auf ein Ziel hin. Während Haydns schnelle Ecksätze ihre motorische Energie immer wieder durch plötzliche und flüchtige Rupturen des Leerlaufs hinterfragen, vergrößert das Andante der Symphonie Nr. 101 umgekehrt die mechanische Komponente des metrischen Pulses zu einem zunächst unerbittlichen Triumph der Zeit. In ihm entfalten sich zu Beginn des Satzes der kammermusikalisch intime Monolog der Empfindung und die private Szene der inneren Zeit ebenso wie später die Zeitspur menschlicher Gattungsgeschichte im g-Moll-Alla marcia des ersten Tuttifeldes. Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 101, 2. Satz / Takt 1–97 [5´45] (Philharmonia Orchestra London / Otto Klemperer) In Takt 99 des «Uhren»-Andantes schließlich eine jener berühmten Generalpausen des späten Haydn. Auch wenn ihre Ruptur noch nichts mit leerer Zeit zu tun hat, bewirkt das abrupte Aufhören der Musik gleichwohl ein fast schockartiges Aussetzen des Zeitflusses. Mag die eintaktige Unterbrechung aufgrund ihres Spannungssogs auch in die Dramaturgie des Verlaufs eingebettet bleiben, der verstörende Eingriff wertet die Essenz von Musik um: War Musik gewohnt, Zeit in Regie zu nehmen, wird sie hier von der Zeit in Regie genommen. Und dies mit der flüchtigen Aura einer Allegorie, in der sich beharrliche Folge und plötzlicher Stillstand zum Wechselspiel von Leben und Tod verdichten – im Dasein des Einzelnen wie in dem der Gattung und ihren geschichtlichen Zäsuren. Und doch wird die Generalpause zugleich zum Wendepunkt des Satzes und zum Beginn einer anderen Zeitebene. Von ihr aus nämlich erreicht die Musik marschartige Tuttisequenzen, deren kollektiver Duktus im gelöst-triumphalen G-Dur das Pendelmetrum stellenweise sogar zum Verschwinden bringt und damit der «reißenden Zeit» des ersten g-Moll-Tutti entschieden kontrastiert. So als würde die Musik nach der Generalpause in Form eines musikalischen Exkurses einlösen, was bei Immanuel Kant «Kausalität aus Freiheit» heißt: die Fähigkeit also, eine Zeitreihe gegen das Ticktack der Naturnotwendigkeit und gegen die eherne Ursache-Folge-Wirkung mit Vernunft und mit der Autonomie der Freiheit beginnen zu können. Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 101, 2. Satz / Takt 93–Schluss [3´00] (Philharmonia Orchestra London / Otto Klemperer) Ist es verwunderlich, dass Haydn nach diesem «Andante» im Finale der Symphonie Nr. 101 vor allem eines demonstrieren will: wie Musik ästhetische Zeit stets noch überlegen in Regie nehmen kann? In einem Finale, das mit seinen Raffungsgesten, seinen Durchführungstunneln, seinen Moll- und Fugato-Kompressionen ohne jeden Bruch in der Dynamik arbeitet und seine Energie vor allem auf einen Punkt hin konzentriert: auf den des puren Augenblicks. Haydns Weltentwurf kennt noch kein Finalproblem und mit ihm auch kein ästhetisches Überwindungssoll im Schatten unerlöster Gegenwart. Weder ein postulatorisches Über-sich-Hinausweisen noch eine Ökonomie des Standhaltens können die Gegenwartseuphorie dieses Finales brechen. Gegen den Riss der Zeiten und die Hypothek von Vergangenheit und Zukunft steht die Verschränkung der Zeiten: in einer Zeit des Festes als dem vom ökonomischen wie vom geschichtlichen Aufschub entbundenen Hier und Jetzt. Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 101, 4. Satz / ganz [4´30] (La Petite Bande / Sigiswald Kuijken) 5. Weltlauf mit Fanfare Bspl. 1: Haydn, Symphonie Nr. 100, 2. Satz / ganz [5´50] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Die letzte Uraufführung einer Haydn-Symphonie in der Konzertsaison 1794 war die der Symphonie Nr. 100 «with the Militaire movement». Ihr «Allegretto» basiert auf dem Variationensatz des G-Dur-Concertos für zwei Orgelleiern , das Haydn 1787 für König Ferdinand IV. von Neapel komponiert hatte: Bspl. 2: Haydn, Lirakonzert Nr. 2 G-Dur, 2. Satz / T. 1–36 [1´05] [Hugo Ruf (Lira), Susanne Lautenbacher & Ruth Nielen (Violine), Franz Beyer & Heinz Berndt (Viola), Oswald Uhl (Cello), Johannes Koch (Viola da gamba), Wolfgang Hoff mann & Helmuth Irmscher (Horn)] Orchestral instrumentiert, dazu mit «Türkischer Musik», nimmt der zweite Satz des Lirakonzerts im Allegretto von Haydns Militärsymphonie jenen martialischen Tonfall an, der mit Triangel, Becken und großer Trommel in den C-Dur-Romanzenton des Symphoniesatzes eindringt und die Idylle mit bedrohlichem c-Moll überschattet: hörbar wird ein Stück Zeit- und Weltgeschichte und mit ihm der Widerhall der Koalitionskriege als Auswirkung der Französischen Revolution. Wenn Haydn schließlich mit dem Eintritt der Coda ein militärisches Fanfarensignal komponiert, gefolgt von crescendierendem Paukenwirbel und einer Fortissimo-Rückung des Tutti mit «türkischer Musik» nach As-Dur, formuliert die Musik den Ernstfall: ein Feld des Zusammenbruchs, das am Beginn einer Reihe von Einsturzmodellen von Beethoven bis Mahler steht. Spätestens jetzt wird hörbar, dass die «Türkische Musik» des zweiten Satzes und die des Finales in Haydns Militärsymphonie nichts mehr mit dem pittoresken Reiz des orientalischen Kolorits wie im Fall der so genannten Türkenopern und noch der mozartschen Entführung aus dem Serail zu tun hat. Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 100, 2. Satz / T. 153–Schluss [1´00] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Müßig zu fragen, was im destruktiven Energiefeld des Allegrettos der Militärsymphonie zusammenbricht. Haydns Musik ist jenseits der modernen Kategorien von Militarismus und Pazifismus. Weiter führt hier wieder die Idee des Republikanischen. Dass Haydns Militärsymphonie die Gewalt des Krieges mit Klage und Anklage reflektiert, steht außer Zweifel: schon die zahlreichen Mollpartien, die subtilen Gegenstimmen der Holzbläser oder der Verzicht auf dröhnende Marschrhetorik sprechen diesbezüglich eine klare Sprache. Bizarre und doppelbödige Stellen schließlich auch im Finale: Ein mehrmals von Generalpausen scharf zäsierter Verlauf gleich Schnitten in die Musik, kataraktartige Abstürze, unvermittelt explodierende Sforzatoschläge der Pauke, metrische Stöße und immer wieder Partien, die die Motorik des Satzes in sich rotieren lassen. Dazu noch die abgründige Sequenz eines Spannungsgrunds aus Streicherachteln mit fallenden Halbtonschritten der Celli und Bässe, darüber die kleine Terz der Soloflöte und der Oboe – eine Sequenz, in der sich Klage und Trostlosigkeit überlagern. Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 100, 4. Satz / Takt 202–215 [0´15] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Und doch ist gerade beim Finale der Militärsymphonie , zumal seiner Coda, an den Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart zu denken, der die Janitscharenmusik 1784 als «kriegerisch» kennzeichnet, weil sie «feigen Seelen den Busen hebt», und damit ihren «heroischen Zweck» zum Ausdruck bringt. Was bei Schubart mitschwingt, ist jenes republikanische Movens, das wenig später das stürmische «Allons!» der Musik der nationalen Feste der Französischen Revolution und ihres Emblems, der «Marseillaise», begeistern wird. Wie später im Finale von Beethovens Neunter Symphonie schwingt deshalb auch in Haydns «Banda turca» etwas von der Freiluftmusik der über die Weite des Pariser Marsfelds gruppierten Instrumentalkörper der französischen Revolutionszeit mit: eine Kreuzung des Republikanischen und des Militärischen im Formenkreis des Heroischen, wie sie die von Bernard Sarrette gruppierten Bläser- und Schlagwerkformationen auszeichnet, deren Klangstärke mit einer zu enthusiasmierenden Menge rechnet. Es wäre zwecklos, die «Musique militaire» im Kontext des Finales von Haydns Militärsymphonie säuberlich nach Kriegsgewalt und republikanischer Verve scheiden zu wollen. Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 100, 4. Satz / Takt 82–Schluss [3´10] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Die Uraufführung der G-Dur-Symphonie , zumal des 2. Satzes, löste wahre Beifallsstürme aus: «Da capo! Da capo! Da capo! tönte es von jedem Sitz», so der Morning Chronicle nach der zweiten Aufführung der Militärsymphonie am 7. April 1794. «Selbst die Ladies konnten diese [ungestümen Da-capo-Rufe] nicht unterlassen. – Es geht in diesem Satz um das Vorrücken zur Schlacht, um den Marsch der Mannschaften, den Lärm der Kommandos, den Donner des Angriffs, das Klirren der Waffen, das Stöhnen der Verwundeten und was sonst noch an höllischem Kriegsgetöse genannt werden mag, das sich zu einem Höhepunkt des Schrecklich-Erhabenen steigert!» Auch wenn das bildhafte Programm das Wesen von Haydns Allegretto-Satz verfehlt, assoziiert es doch die Furie des Kriegs und der bedrängten Zeitumstände. Als Haydn das Allegretto der Militärsymphonie Ende 1793 komponiert, als es schließlich im März 1794 zum ersten Mal erklingt, waren Ludwig XVI. und Marie-Antoinette, die habsburgische Prinzessin und Königin von Frankreich, bereits öffentlich enthauptet worden. Und während der Revolutionsterror unter der Herrschaft Robespierres seinen Höhepunkt erreicht, befinden sich Österreich und England längst im Krieg mit Frankreich. Wie Haydn selbst mit der internationalen politischen Lage, mit den Auswirkungen der Französischen Revolution und den Koalitionskriegen konfrontiert wurde, verraten seine Londoner Notizbücher, die unter dem 1. Juni 1794 notieren: «den 11ten Juny wurde die ganze stadt Illuminirt wegen der Abnahme deren 7 französischen kriegsschiffen. es wurden sehr viel fenster zerschlagen. den12ten und 13ten wurde abermahl die ganze stadt beleucht. der gemeine Pöbl betragt sich dabey sehr ungestimm. in jeder gasse wird sowohl aus kleinen, als auch aus grossen gewehr geschossen, und diss dauert die ganze Nacht.» Einen Monat später besichtigt Haydn in Portsmouth die von den Engländern in der Schlacht bei Quessant erbeuteten französischen Kriegsschiffe: «den 9tn July [1794] gieng ich früh um 5 uhr nach Portsmouth 72 meil von london, und kame an abends um 8 uhr. 14 meil vor Portsmouth wurde eine kleine verschanzung gemacht, nahe bey ein kleines Lager von 800 Mann, eine Meile weiters gegen der stadt lagen die Francosen beyläufig 3500 Mann in einer Paraque. Ich besah allda die festungswerk, welche in sehr guten stand sind, besonders die festungen gegenüber in godsport, welche seit kurzer zeit das gubernium hatte machen lassen. ich bestiege das französische linienschiff genant le just mit 80 Canonen, so die Engländer, das ist Lord Howe, erobert hat. die 18 Canonen in der festung Stadt sind 36-Pfünder, das schiff ist erbärmlich zerschossen, der grosse Mast so 10 fuß 5 zoll im umfang hat, war ganz von unten zur Erde gestreckt. eine einzige kugel so durch das hauptmann zimmer gienge dodtete 14 Matrosen. die Dockyard, oder der Platz von dem schiffbau, ist von einer ungemeinen grösse nebst sehr vielen Prächtigen gebäuden. ich darfte aber nicht dahin, weil ich ein fremder bin ... dicht dabey ist ein neues sehr Prächtiges linienschiff von 110 Canonen, genant Prince of Wallis.» Schließlich wurde Haydn selbst Zeuge der Kriegsgräuel, als er das Spital in Portsmouth besuchte, in dem 300 verwundete Matrosen aus der letzten Seeschlacht gegen die Franzosen lagen. Und doch musste Haydn nicht extra nach Portsmouth reisen, um mit den Wirkungen der Französischen Revolution Bekanntschaft zu machen: «in Monath Septembri 1794 wolte man an dem könig ein Meuchel Mord begehen. die Haupt Mörderer waren lehr junge, Einer ein uhrmacher der andere ein Chymist man machte eine Arth von Blas Rohr, aus welchen ein vergiftter kleiner Pfeil den König in Theater dödten solte. die Verabredung waar gerade unter des Königs loge einen Zanck anzufangen, unter welchen die Rohr jeder mit seinen Stock in die höhe haltend einer den andern zu Prügeln drohte, wehrend dem der Erzspizbube seinen Pfeil an den König abzuschiessen willens war. man hat noch zwey andere entdeckt einer davon ist ein buchhandler. der uhrmacher heißt la Maitre, vermuthlich ein Franzos, der Chymist Higgins. der Buchhändler nent sich John Smith. der 4e Upton. der uhrmacher inventirte das Mordgewehr.» Auffällig, wie nüchtern Haydns Londoner Notizen protokollieren und sich jeder Kritik an Frankreich, dem Kriegsgegner seines Gastlandes, enthalten. Die Musik seiner Londoner Symphonien jedenfalls lässt an ihrer republikanischen Essenz nicht den geringsten Zweifel. Man könnte sie darin Immanuel Kants Gedanken zur Französischen Revolution an die Seite stellen. Gedanken, die die französischen Ereignisse trotz der Schreckensherrschaft der «Terreur» als Geschichtszeichen für die «moralische Tendenz des Menschengeschlechts» nehmen. «Die Revolution eines geistreichen Volks», so Kants Antwort im Streit der Fakultäten von 1798 auf die Frage, «ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei», «die Revolution eines geistreichen Volks» also, «die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Gräueltaten [...] angefüllt sein, [...] diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer [...] eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm[us] grenzt, und [...] die [...] keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann. Diese moralische einfließende Ursache ist zwiefach: Erstens die des Rechts, dass ein Volk von anderen Mächten nicht gehindert werden müsse, sich eine bürgerliche Verfassung zu geben»; «zweitens die des Z w e c k s (der zugleich Pflicht ist), dass diejenige Verfassung eines Volks allein an sich r e c h t l i c h und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere, als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, [...] wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlechte [...] der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird». «Nun behaupte ich, dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen unserer Tage, die Erreichung dieses Zwecks und hiermit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren [...] vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [wie die Französische Revolution] vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte». «Jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, [...] als dass sie nicht den Völkern, bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte.» Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 100, 3. Satz / ganz, und 4. Satz / ganz [10´15] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Nachdem Haydns Impresario Johann Peter Salomon Anfang 1795 öffentlich bekannt gegeben hatte, seine Konzerte einzustellen, da aufgrund der angespannten politischen Verhältnisse keine namhaften Künstler mehr vom Kontinent zu verpflichten waren, arrangierte Giovanni Battista Viotti, der 1792 aus Paris nach London geflohene Violinvirtuose und Komponist, eine neue Abonnementsreihe. Haydns Symphonie Nr. 102, B-Dur , war die erste der drei späten Londoner Symphonien , die im Rahmen der «Opera Concerts» Viottis am 2. Februar 1795 im King's Theatre uraufgeführt wurde. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 102, 1. Satz / Takt 1–22 [2´00] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Der neue Klang der B-Dur-Symphonie (Nr. 102) wird bereits mit dem ersten Takt der Einleitung hörbar. Ein an- und abschwellender, fermatierter Tutti-Akkord auf einem einzigen in den Oktavraum geweiteten Ton, dem Grundton b, gefärbt von einem leisen Paukenwirbel, wird zum Beginn einer zögernden Gestaltwerdung mit tastenden melodischen Schatten, chromatischen Gängen und Sekundmotiven als den amorphen Vorstufen des nachfolgenden Hauptsatzes. Diese Einleitung bedeutet einen Höhepunkt im Formenkreis der langsamen Introduktionen Haydns, die eine Bühne ungedeckter motivisch-thematischer Gedanken eröffnen, einen Freiraum, den sich die Musik vor der stringenten Motivökonomie des nachfolgenden Sonatenhauptsatzes gönnt; einen Bezirk aber auch des Ungewissen und chromatisch Schmerzlichen, als könnte und dürfte Musik nur noch einen allmählichen Übergang zwischen der außerästhetischen und der ästhetischen Sphäre finden. Da freilich die Grammatik der tonalen Syntax mit ihren harmonischen Strukturen und rhythmisch-metrischen Gliederungen gegen die Intention des Unbestimmten bindend bleibt, lag die Schwierigkeit, die Haydn in seinen Einleitungen zu lösen hatte, vor allem darin, das Kraftfeld des tonalen Regelsystems gezielt zu überlisten; darin also, mit Elementen der tonalen Ordnung gegen die Schwerkraft dieser Ordnung anzukomponieren. Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 102, 1. Satz / Takt 1–22 [2´00] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Nach dieser ungewöhnlichen Eröffnung folgt ein nicht minder ungewöhnlicher Sonatenhauptsatz mit einer selbst für Haydns späte Symphonien weit gedehnten zweiteiligen Durchführung, zäsiert durch eine Scheinreprise der Soloflöte. Haydns Strategie, die motivisch-thematische Arbeit, die den ganzen Satz in Bewegung hält, von zunächst ebenso unscheinbaren wie marginalen Motiven her zu speisen und nach und nach zu einer imposanten Dramaturgie der Kräfte zu modellieren, feiert im ersten Satz der 102. Symphonie Triumphe. An ihm kann man studieren, was Stendhal 1814 über Haydns kompositorische Verfahrensweise geäußert hat: «Er beginnt mit der unbedeutendsten Idee, aber allmählich gewinnt sie eine Physiognomie, verstärkt sich, wächst, dehnt sich aus, und vor unseren staunenden Augen ist aus dem Zwerg ein Riese geworden.» Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 102, 1. Satz / ganz [8´40] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Was den Farbenkreis der Harmonien und Instrumentalvaleurs betrifft – bis hinein in die subtilen Holzbläser- und Streicher-Kombinationen oder das Timbre der gedämpften Trompeten und Pauken –, nimmt der langsame Satz der B-Dur-Symphonie eine Sonderstellung innerhalb der Londoner Werke ein. Seiner Substanz nach ist das F-Dur-Adagio der Symphonie weitgehend identisch mit dem Fis-Dur-Adagio des 1795 komponierten, im selben Jahr in London veröffentlichten und Rebecca Schroeter gewidmeten fis-Moll-Klaviertrios . Hier findet sich also erneut eine Spur der Freundin Haydns, die sich am Ende seines ersten England-Aufenthalts dem Blick der Biographen entzogen und damit zu mancherlei Rätseleien Anlass gegeben hatte. Briefliche Zeugnisse aus der zweiten Londoner Zeit dürften fehlen, weil Haydns Wohnung nunmehr in unmittelbarer Nähe derjenigen Rebecca Schroeters lag. Dass Rebecca Schroeter außerdem in der Subskriptionsliste von Haydns Schöpfung aufscheint und 1796 beim Abschluss eines wichtigen Verlagsgeschäfts für Haydn tätig wird, sind weitere Belege dieser Freundschaft über das Jahr 1792 hinaus. Gleichwohl: auch wenn Haydns F-Dur- und Fis-Dur-Adagio keine Marienbader Elegie auskomponieren, so doch – unter dem Aspekt der endgültigen Abreise des 63-jährigen Haydn aus England – eine Londoner Elegie: Epitaph einer späten Liebe im Bewusstsein eines Abschieds für immer. Bspl. 10: Haydn, Klaviertrio fis-Moll, 2. Sat z / Takt 1–16 [1´45] (Beaux Arts Trio) Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 102, 2. Satz / ganz [5´30] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) 6. "Dr. Haydn’s Night" Bspl. 1: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´10] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) Ein äußerst gewagter Symphoniebeginn mit dem Solo-Einsatz der Pauke. Eine Sensation in der kompositorischen Scheidekunst des Anfangs. Eine verstörende Kunst der Entmischung zwischen der empirischen und der ästhetischen Sphäre, eine Entmischung von unten her, dicht am Geräusch. Der Paukenwirbel selbst: ein geniales Kürzel für das Stoffliche der Musik, das es zu formen gilt, für das Material als Potenz. Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´10] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) Haydns Paukenwirbel: eine kaum hörbare Interpunktion zwischen Stille und Ton. Ein Tremolo als Abfuhr von Spannung, mit dem Charakter des Bedrohlichen. Ein gegen Null zulaufender Beginn ohne Beginn, aus dem Unhörbaren heraus crescendierend. Oder womöglich mit sofortiger Fortissimo-Detonation? Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´10] (London Philharmonic Orchestra / Eugen Jochum) Bleibt doch aufgrund der fehlenden Dynamik-Angabe unentschieden, ob der Paukenwirbel «fortissimo [...] oder fortissimo-diminuendo oder crescendo-diminuendo oder crescendo» zu spielen sei. Fast könnte man auf den Gedanken kommen, Haydn habe exakte Angaben verweigert, um im Voraus auf die Interpretationsgeschichte zu reagieren und sich alle Optionen offen zu halten. Dass die Rezeptionsgewohnheiten zu Haydns Zeit noch nichts mit den Weihezonen und mit dem Stillegebot der heutigen Konzertpraxis und ihres Publikums zu tun hatten, könnte anlässlich der Uraufführungssituation für einen Fortissimo-Einsatz des Paukenwirbels sprechen: für einen herrischen Gestus, der sich gegen das Stimmen- und Geräuschgewirr des Publikums Gehör verschafft. Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´10] (London Philharmonic Orchestra / Eugen Jochum) Der pianissimo-crescendo gespielte Wirbel dagegen kann sich erst aus der Stille heraus zum spannungsgeladenen, unheimlichen Ausdruck schärfen. Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´10] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) Und weil Haydn den Paukenwirbel mit einer Fermate und der Bezeichnung «Intrada» überschreibt, einer Bezeichnung, die auf alte Einleitungsmodelle festlicher Entrée- und Aufzugsmusiken mit Trompeten-Fanfaren und Paukenwirbeln anspielt – man denke an Monteverdis Orfeo – kann sich eine Auslegung des Beginns von Haydns Es-Dur-Symphonie schließlich auch so anhören: Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1 [0´15] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Natürlich hat diese Interpretation Nikolaus Harnoncourts nur noch wenig mit dem Geist des Beginns der Es-Dur-Symphonie zu tun. Indem Harnoncourt die ironische Brechung eines schon zu Haydns Zeit historischen musikalischen Genres verkennt, verkennt er die Transformation eines alten Topos in eine neue Chiffre des Unerhörten. Trotzdem zeigt auch diese Interpretation im Formenkreis der Aufführungen, wie mehrdeutig, wie hintergründig ein Symphoniebeginn sein kann. Haydns Paukenwirbel steht um 1795 quer zur Eingemeindung in den Kosmos des reinen Tons, quer auch zur Logik des tonalen Organismus: ein paradoxer Einstand von Ton und Geräusch und eine Erkundung am Rand der Musik. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 1–39 [2´45] (Concertgebouw Orchestra / Sir Colin Davis) Schon der Paukenwirbel des Beginns und das darauf folgende, in sich kreisende und auf das «Dies Irae» anspielende Anfangsmotiv, dessen dunkle Stimmung auch den Allegro-Hauptsatz immer wieder überschattet, thematisieren das Ungeglättete und Dissonante als einen Grundzug der Es-Dur-Symphonie . Dazu passt, dass das Ende ihrer Einleitung an die programmatisch abgesicherten anarchischen Züge der «Vorstellung des Chaos» zu Beginn des Schöpfungs -Oratoriums erinnert; an Takte also, in denen die Musik, um Zelter zu zitieren, das Kunststück vollbringt, «durch ordentliche, methodische, ausgemachte Kunstmittel ein Chaos hervor(zubringen), das die Empfindung einer bodenlosen Unordnung zu einer Empfindung des Vergnügens» macht. Bspl. 8: Haydn, Die Schöpfung, Die Vorstellung des Chaos / Takt 1–40 [3´35] (Wiener Symphoniker / Nikolaus Harnoncourt) Zudem realisiert Haydns Paukenwirbelsymphonie mit der dramaturgischen Verzahnung von Einleitung und Sonatenhauptsatz eine schlüssige Durchformung des Eingangssatzes. Dass die Einleitung das Allegro mehrmals durchquert, einmal sogar – ein ebenso verstörender wie neuartiger Augenblick – in Kombination mit dem Paukenwirbel, zeigt, wie die bedrohliche Aura dieser Stellen der Prosa des Weltlaufs in Haydns Musik den Weg bahnt. Die Pressekritik der Uraufführung sprach denn auch von «the deepest attention», die die Wiederkehr des Paukenwirbels auslöste. Solche Realitätsechos, zumal im Einsatz der Pauke, gewinnen im «Agnus Dei» von Haydns Missa in tempore belli und im «Benedictus» seiner Missa in angustiis als Widerhall der Zeitläufte beredte Signifikanz: als Echos von Terror und Triumph, von Sieg und Niederlage und all der Verheerungen im Gefolge der Koalitionskriegsmaschine. Bspl. 9: Haydn, Missa in angustiis, Benedictus / Takt 122–135 [0´35] (English Baroque Soloists, Monteverdi Choir / John Eliot Gardiner) Bspl. 10: Haydn, Missa in tempore belli, Agnus Dei / Takt 35–56 [0´40] (English Baroque Soloists, Monteverdi Choir / John Eliot Gardiner) Und doch ist Haydns Musik eine des kritischen Subjekts, dem der Weltlauf noch nicht übermächtig geworden war. Selbst die katastrophisch einstürzenden Fortissimo-Tuttisequenzen und Dekompositionsfelder, die in die Reprise des Seitensatzes der Es-Dur-Symphonie einbrechen, die Musik flächig auflösen und schlagartig die Traditionslinie Haydn-Beethoven-Mahler als die Linie der großen Prozess-Komponisten der Musikgeschichte bewusst machen – und Prozess heißt hier die Reflexion des Weltlaufs über die Reflexion der musikalischen Zeit –, selbst die einstürzenden Tuttifelder also, die zu den Schatten der Einleitung mit drohendem Paukenwirbel führen, lassen nicht vergessen, wie sehr Haydns Musik von der Gegenwartseuphorie der Aufklärung erfüllt ist: Wie schnell, ja wie blitzartig verwandelt sich doch der dunkle Lamento-Ton der Einleitung am Ende des Satzes in den Tonfall einer tänzerischen Schlussapotheose. Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 103, 1. Satz / Takt 40–Schluss [6´30] (Concertgebouw Orchestra /Sir Colin Davis) Mit dem ungarischen und kroatischen Volksmusikidiom in den Themen der Doppelvariationen des c-Moll/C-Dur-Andantes der Symphonie Nr. 103 – Zigeunertonleiter im ersten und lydische Quart im pentatonisch gefärbten zweiten Thema – öffnet sich Haydns Musik mit dem Gestus «Liberté, Égalité, Fraternité» dem Anderen, Fremden, wenn auch funktionsharmonisch Sublimierten. Marsch und Idylle, Militärsignale und stilisierte Vogelstimmen, Pathos und Sentiment vereinen sich im Dur-Moll eines philanthropischen Weltpanoramas, das sich gegen Ende elegisch verschattet. Eine Verschattung, deren Ausdrucks- und Gestaltrepertoire in mehreren der Londoner Symphonien begegnet und eine von Haydns Figuren der Spannung zwischen ästhetischem Schein und empirischer Realität repräsentiert. Bspl. 12: Haydn, Symphonie Nr. 103, 2. Satz / Takt 51–Schluss [6´55] (Concertgebouw Orchestra / Sir Colin Davis) Nach dem Tanzbodenidiom des Menuetts mit Jodlermotiven, stampfendem Metrum und Ländlertönen das Finale dann gegen alle Schablonen komponiert – weder Rondo noch Sonatensatz noch Sonatenrondo – und eine Einlösung jenes «con spirito», mit dem Haydn dieses Allegro kennzeichnet: eine experimentelle Durchdringung symphonischer Strukturkategorien, für die Form zur Einsicht in die Freiheit der Form jenseits korsettierter Normen wird. Diese Freiheit ist es auch, die die Ökonomie der motivisch-thematischen Arbeit als ein Stück musikalisches Unternehmertum immer wieder in der Fülle eines ästhetischen Spiels aufhebt, das jede Ökonomie übersteigt. Interessanterweise gibt es vom Schluss des Finales der Es-Dur-Symphonie (Nr. 103) zwei Versionen. Interessant aus dem Grund, weil die endgültige Version klar macht, wie allergisch der Satz auf schematische Relikte reagiert. In der ersten Fassung arbeitet Haydn gleichsam noch mit Ausrufezeichen, das heißt mit einem demonstrativ vorgeführten Spannungsrepertoire an Motivreduktionen und Pausenzäsuren: Bspl. 13: Haydn, Symphonie Nr. 103, 4. Satz / Takt 350–Schluss (Version 1) [0´45] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Die zweite Fassung dagegen streicht die Faktur dieses Staus als zu muster- und schablonenhaft: Bspl. 14: Haydn, Symphonie Nr. 103, 4. Satz / Takt 350–Schluss (Version 2) [0´35] (Concertgebouw Orchestra / Sir Colin Davis) So konzentriert und verflüssigt Haydn die endgültige Schlussversion adäquat zur expansiven motivisch-thematischen Arbeit des Satzes, die so dicht am Material bleibt, dass sie noch in die kontrapunktische Konsistenz ein körperhaftes, von unten her kommendes Rumoren der Musik einlassen kann samt dessen buffonesker Einfärbung. Haydns Musik ist eben noch nicht symbolisch in den Widerstreit von Ideal und Wirklichkeit verspannt. Bspl. 15: Haydn, Symphonie Nr. 103, 4. Satz / ganz [5´25] (Concertgebouw Orchestra / Sir Colin Davis) Höhepunkt der letzten Saison 1795, drei Monate vor Haydns Abreise aus England, war das Benefizkonzert vom 4. Mai, «Dr. Haydn's Night», mit der Uraufführung der Symphonie Nr. 104 . «Den 4ten May 1795 gab ich mein Benefiz-Konzert im Haymarket-Theater. Der Saal war voll von auserlesener Gesellschaft. [...] Die ganze Gesellschaft war äußerst vergnügt und auch ich. Ich machte diesen Abend vier tausend Gulden. So etwas kann man nur in England machen«, schreibt Haydn in sein Notizbuch. Und im Morning Chronicle konnte man nachlesen, welche Wirkung Haydns letzte Symphonie auslöste: «Von Haydns neuer Symphonie behaupten einige seiner besten Kenner, sie überträfe mit ihrer unerschöpflichen Fülle und Majestät in all ihren Teilen jede seiner anderen Kompositionen. Ein Gentleman, berühmt für seine musikalische Kenntnis, seinen Geschmack und seine profunde Kritik, erklärte [...], die Komponisten würden in den kommenden fünfzig Jahren kaum mehr als Nachahmer Haydns sein [...]. Wir hoffen, die Prophezeiung möge sich als falsch erweisen, aber vermutlich wird sich die Prognose bestätigen.» Erinnert dieses Urteil nicht an dasjenige Zelters und Goethes, Haydns Musik sei «vielleicht zu überbieten, aber nicht zu übertreffen»? Bereits der d-Moll-Beginn von Haydns letzter Symphonie präsentiert sich monumental in appellativer und thesenhafter Fasson: in Form einer dreimaligen Tuttifanfare, gefolgt jeweils von zunehmend differenzierter und expressiver werdenden Seufzermotiven: Bspl. 16: Haydn, Symphonie Nr. 104, 1. Satz / Takt 1–16 [2´05] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) Durchführung, Reprise und Coda des Satzes aber demonstrieren, was es heißt, die Dynamik eines monothematisch konzentrierten Satzes in Gang zu halten: Wie Haydn ein vom Hauptthema abgespaltenes Motivpartikel im Verlauf des Satzes vom Movens der motivisch-thematischen Arbeit zum kämpferisch-triumphalen Motto steigert, offenbart einmal mehr den Zauber der Verwandlung in Haydns kompositorischer Ökonomie, die überdies nie strategisch ausgestellt wirkt, weil ihr die affektiv-gestischen Einzelmomente der Klangrede in Freiheit korrespondieren. Musik entwirft sich als Organismus, in dem sich die Einzelmomente wechselseitig beleben, Bündnisse und Trennungen stiften, ohne von oben herab dirigiert zu werden. Für Haydns Souveränität der leichten Hand ist Einheit nur als eine sich prismatisch in Mannigfaltigkeit brechende vorstellbar. Bspl. 17: Haydn, Symphonie Nr. 104, 1. Satz / Takt 124–Schluss [3´05] (Royal Philharmonic Orchestra / Sir Thomas Beecham) Zieht Haydns letzte Symphonie die Summe eines symphonischen Gesamtwerks, dann zieht ihr Finale die Summe dieser Summe. Wie in einem Brennspiegel vereint es nochmals alle großen Strukturmodelle des späten Haydn: die komplexe Sonatenform und den dynamischen Furor ebenso wie das punktuelle Hinterfragen dieses Furors und die Durchdringung der vielschichtigen Satzstruktur mit folkloristischem Idiom, hier mit dem kroatischen Element im pentatonischen Hauptthema über Bordun-Bass. All dies getragen von jenem «Vive la liberté!», das schon dem Scherzocharakter des Menuetts im Allegro-Tempo und dem Ländlerton seines Trios jeden feudalen Ton nimmt. Bspl. 18: Haydn, Symphonie Nr. 104, 3. Satz / Takt 53–Schluss [2´30] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Auch wenn die musikwissenschaftliche Literatur die Ausgewogenheit und den «klassischen Modellfall» von Haydns D-Dur-Symphonie (Nr. 104) betont, die Balance, die Synthese von «Geist und Empfindsamkeit», von «Struktur und Emotion», trifft dies nur einen Aspekt des Werks. Weit mehr liegt sein Charakteristikum und das seines «Spiritoso»-Finales im Wesen einer Spiritualität, die das Verschiedene zulässt und gerade darin ihren Esprit findet. Die Motiv- und Ausdrucksvielfalt wird keiner ziel- und zweckgerichteten Zeit unterworfen, sondern behält Eigensinn und Widerständigkeit. Eine Buntheit des Heterogenen, die der «lose, liberale Gang der Musik» aushält und austrägt, weil darin Humanität gründet. Zielt das ‹Großmogulhafte›, das Haydn an Beethoven kritisiert, auf den Triumph der Idee über das Besondere, dann äußert sich der republikanische Zug bei Haydn noch nicht als Wunschproduktion einer bereits desillusionierten Epoche. Haydns Musik kennt keine sehnsüchtige Erinnerung an Vergangenes und keine Vertröstung auf Zukünftiges auf Kosten der Gegenwart. Und wie die Fanfarensignale zu Beginn der Symphonie noch nichts mit Postulaten zu tun haben, mit Überredung und Zwang, so zielt auch das Finale nicht auf sittliche Läuterung. Musik wird hier zum Fest. Zu einem Fest zwar, das Schatten einlässt, etwa im jähen d-Moll-Ausbruch gegen Ende des Satzes oder in einigen Staus, die die Musik über spiegelsymmetrische Figuren erzeugt. Doch akzentuieren solche statischen Komponenten im Grunde nur umso mehr die Dynamik eines Satzes, der als ausgelassener Rundgesang mit dem Feuer einer symphonischen Carmagnole endet: Mit einer D-Dur-Fortissimo-Apotheose, die emphatisch verkündet, dass 1795 eben noch nicht das Jahr ist, in dem die Winterwüste restaurativer Erstarrung zum Schmelzen gebracht werden müsste und mit ihr die Seelen-Arktis in den Herzen des Publikums. Bspl. 19: Haydn, Symphonie Nr. 104, 4. Satz / ganz [6´45] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Haydn in London oder Der lose liberale Gang der Musik (Teil 1 und 2)
- Johannes Bauer, John Cage und die Tradition
C a g e und die Tradition 8. 12. 52 28. 3. 97 Die Rationalisierung der Zeit nach dem Takt der Räderuhren, die der Entwertung des Chorals zum Material der Mensuralnotation und der Profanierung der musica coelestis parallel läuft; die Rationalisierung des Blicks in den Taxierungsmustern eines Bürgertums, das auf den Märkten des Handelskapitals das Tauschprinzip zu respektieren hat, indes die Malerei den sakralen Bedeutungsmaßstab im Realismus der Zentralperspektive aufhebt; schließlich die Rationalisierung des Worts im Druck mit beweglichen Lettern, dem der göttliche Logos zur Silben- und Buchstabenkombinatorik zerfällt, bis Shakespeare die Sprache selbst in die Fallen ihrer Hohlräume und Leerstellen laufen läßt: all dies sind frühe Stadien einer Verweltlichung, in deren spätem Kontext Cages "heidnische"(1) Musik steht. Seitdem sich der theologische Ordo im Namen des Diesseits aufzuweichen begann, mußte das Schwinden der Vorsehung ausgeglichen werden: unter Verwandlung der causa sui des summum bonum zur Einheit von Person und Gattung samt deren Zeit- und Gedächtnisstrategien. Wie die musikalische Festigung linearer Zeit, von Perotin bis Josquin, und die Eroberung des Klangraums auf dem Weg zum homogenen Satz mit der Genese der neuzeitlichen Affektsprache korrespondieren, so richtet sich der Wechsel von Gleichheit und Verschiedenheit bereits in der frühen Imitationstechnik zunehmend am pro- und retentionalen Erfahrungstypus der Subjektidentität aus. Bis diese im Vertrauen darauf, daß Gott kein Betrüger sei, sich im Fortschrittspathos der Aufklärung ihr Vernunftprivileg und durch Beethovens Fünfte Symphonie und Hegels Philosophie der Geschichte die ästhetisch-politische Weihe der Gattung verleiht. Theologisch-philosophische Rechtfertigung findet die bürgerliche Effizienzökonomie im Glauben an finale Zeittypologien. Zudem werden Telos und Ethos vom Subjektmonopol her nahezu synonym. Nur Selbstgewißheit und eine bis in die einzelne Biographie hinein wirksame Kraft der Entwicklung ist dem sittlichen Appell zugänglich. Und nur aufgrund der Kontinuität des "Ich denke ", das "alle meine Gedanken (muß) begleiten können "(2), kann sich Kants kategorischer Imperativ behaupten. So liefert die "durchgängige Identität des Selbstbewußtseins"(3) die Garantie für den Rechtsanspruch des Sittengesetzes. Bis die Fortschrittsfigur, die seit Turgot das genus humanum unter Vertrag nahm, und die transhistorische Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln konnten, nach dem Einlösungsdefizit der Revolution von 1789 sich desillusionieren. Haben Perfektibilität und Teleologie bisher eine unberechenbare Geschichte auf das Prokrustesbett heilsgeschichtlicher Zeit gespannt, so zerreißt dieses Kontinuum im Aufbrechen des Triebgrunds von Geschichte und Intelligibilität: als Sprengung der Trias von Freiheit, Vernunft und Sittlichkeit durch ein übermächtiges Fatum und als Trübung des hellen Ich durch ein übermächtiges Es. Mit dem Ende der "absoluten, wahren und mathematischen Zeit", die für Newton noch "gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand" strömt(4), entbindet sich Dauer zur unvorhersehbaren Epiphanie unter Verflüssigung des Subjektfixums. Nun entlarvt sich das Fiktive der als naturhaft unterschobenen Subjektzeit auch ästhetisch. Was bei Sterne gegen die narrative Kausalität verstößt, was in den Ohnmachtsattacken der Kleistschen dramatis personae in deren Binnenzeit einschlägt, was im Grand mal zahlreicher Dostojewski-Helden den Druck der Realität bezeugt und punktuell aussetzt, unterliegt dem Kairos von Digression und Plötzlichkeit. Musikalisch zeigt sich die Unterminierung der finalen Gewichtung in der Periode zwischen 1780 und 1830 zunächst am deutlichsten in der kompositionslogischen Subversion durch Pausen und Zäsuren. Angefangen von flüchtigen Rupturen (Mozart, Finale des Es-Dur-Hornkonzerts KV 417 und des G-Dur-Klavierkonzerts KV 453 ) über Partien des Stillstands (Haydn, Eröffnungssätze der Symphonien Nr. 80 und 87 ) bis hin zur Implosion in eine leere Zeit (Beethoven, 2. Satz der Neunten Symphonie ). Schließlich wird mit Wagners Entmächtigung der teleologischen Doktrin eine Umwertung der Zeit in Gang gesetzt, die über die "Stream-of-consciousness"-Szenerien und Synchronschichtungen Ives', über Saties Aushöhlung der linearen Bahnung, über die Fliehkräfte der Atonalität und den Verräumlichungsindex der Zwölfton- und der seriellen Technik die psychologische consecutio temporum an ihr Ende bringt und zu Cages Enthierarchisierung des ästhetischen Gedächtnisses führt. Einer Enthierarchisierung, die in engem Zusammenhang mit Cages Zeit- und Zufallstheorie und deren Bindung an die Tradition der Moderne steht und ausführlicher erörtert werden soll. Gegen die Vorstellung von Zeit als Zeitigung und Meisterung, gegen den Kreislauf der Herrschaft und der Beherrschung von Zeit will Cage diese so belassen wie sie ist. Bleiben für ihn Struktur und Methode an die Unterwerfung von Zeit gebunden, dann muß mit der Befreiung von jeglicher Chronometrie die Ordnung der Form zum Verschwinden gebracht werden. Demonstriert doch Beethoven, was Struktur, Zeit und Moral miteinander zu tun haben. Seine Sonatenhauptsätze halten das Gedächtnis dazu an, ihrem Antagonismus, der sich von Moment zu Moment weitervererbt und deren jeder den vorangegangenen abzugelten sucht, unablässig Tribut zu zollen, um die Mnemonik über zahlreiche Restitutionsgarantien zugleich in Richtung Autonomie zu stabilisieren. Noch daß sich Zeit in der tonalen Musik nicht zur Stille als entmetrisierter Dauer emanzipieren konnte, lastet Cage vorrangig Beethoven an. Dessen Bestimmung der "Teile einer Komposition durch die Harmonik" sei ein >tödlicher Irrtum< gewesen. Wenn, so Cages vielzitierte Äußerung, "ein Ton durch seine Höhe, seine Lautstärke, seine Farbe und seine Dauer charakterisiert wird", und wenn "Stille, welche das Gegenteil und deshalb der notwendige Partner des Tons ist, nur durch ihre Dauer charakterisiert wird, dann kommt man zu dem Schluß, daß die Dauer, das heißt die Zeitlänge, die fundamentalste der vier Charakteristiken des musikalischen Materials ist. Stille kann nicht als Tonhöhe oder Harmonik gehört werden; sie wird als Zeitlänge gehört".(5) Daß Stille sensu stricto in der abendländischen Musik nicht präsent war, ist kaum übertrieben und resultiert aus der Tradition einer musikalischen Zeit, die die der Arbeit reflektiert und den Raum unterwirft. Dieser Tilgung des Raums im geschlossenen Musikwerk und seiner metrischen Notation, die sich zu einem System der Selbstreferenz objektiviert, entspricht das Verinnerlichungsgebot des rezipierenden Subjekts. Raum existiert in dieser Konstellation außer als Realisationsgrund des Erklingenden einzig als imaginärer Binnenraum des Hörerlebnisses. Konsequent ist deshalb die Emanzipation der räumlichen Dimension bei Cage, der gegen den Filter theologisch-metaphysischer Zeitlinearität nicht oft genug betonen konnte, "daß heute alles gleichzeitig geschieht"(6). Unter dem Signum von "unimpededness and interpenetration", im Bewußtsein der Simultaneität von "Ereignissen", von denen "jedes seine eigene Zeit hat", und die sich ungehindert als gleichberechtigte Zentren durchdringen(7), entbindet Cage Zeit und Raum zu einer Raumzeit, in der Zeit nicht mehr additiv den Raum durchqueren und zum Verschwinden bringen will. Wie die musikalischen so kritisiert Cage die theoretischen Zeitvorstellungen als "Konstrukt" einer >ideellen Hypnotisierung<. Gerade weil solche Raster wie die von "kontinuierlich, diskontinuierlich, beständig, unbeständig" oder die von der Summierung von Augenblicken es "angeblich ermöglichen", "Zeit zu denken".(8) Cage könnte sich hier auf Wittgensteins Aufdeckung jener sprachbedingten "Verwirrungen" berufen, "die sich aus dem Ausdruck >die Zeit fließt< ergeben". Darauf auch, daß Wittgenstein, um Irrwege dieser Art "aus dem Weg zu räumen", "Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik" macht(9): gegen die Verblendung, Abstrakta wie Substantive zu gebrauchen, die einem Ding entsprechen. Und wenn Wittgenstein Luthers Deutung der Theologie als eine Deutung der Grammatik des Wortes "Gott" daraufhin zuspitzt, daß eine "Untersuchung dieses Wortes" eben eine "grammatische" wäre(10), dann mißtraut Cage den intellektuellen Zeitdispositiven aufgrund der Einsicht in die Verkettung von Sprache und Logik mit dem "jugement de Dieu".(11) Suchte musikalische Zeit bisher als eine des geschlossenen und ausschließenden Kontinuums den Angstgrund zu übertönen, riegelte sie sich deshalb gegen Stille ab, dann intendiert Cage als der Komponist von 4'33'' eine Umwertung des Verhältnisses von Angst und Zeit. Gegen ein Bewußtsein, das panisch reagieren muß, wenn die Objektivationspur zerreißt, eben weil es auf ein ständiges Sich-Gegenwärtigsein, auf ein ununterbrochenes Sich-Objektivieren vereidigt ist. Zumal seit der aristotelischen Bestimmung des chronos als Zahl der Bewegung im Hinblick auf Früheres und Späteres Zeit und Zählen in engem Bedeutungsverweis stehen.(12) Mit dem Messen der Zeit aber ist deren Ökonomisierung vorgegeben, bis hin zur Verinnerlichung der protestantischen Ethik und ihrer Zeit-ist-Geld-Maxime in einer von Aufschub und Frist dominierten Rastlosigkeit. Cages Ideal des Intentionslosen indessen will den Kampf gegen die geschnürte, gewürgte Zeit, gegen die Zeit der Melancholie und der Enge in einer Musik aufheben, die ein Zu früh oder Zu spät nicht mehr kennt. In den Experimenten von chance und change begreift sich Cage als ein mäeutisches Medium, das Zeit vom aleatorischen Punkt aus sich entfalten lassen will. Fern aller Gewalt, sie aus den Angeln zu heben. War es bislang Aufgabe der Musik, Zeit von sich selbst zu erlösen, dann läßt Cage in sie ein, was vormals durch Ausgrenzung geächtet war: das sogenannte Irrationale im Zeichen des Zufalls. Obgleich die philosophische Begriffspalette mannigfaltige Farben zur Variation aufweist: Zufall ist in der abendländischen, zumal deutschen Tradition von Notwendigkeit und seiner gesetzmäßigen Zähmung nicht zu trennen. Seine Regellosigkeit, die das Kontinuum sprengt, wurde von der Logos-Philosophie fintenreich gebannt. Als jenes Akzidentelle, das sich im Wesensgrund der Vernunft zum Unwesentlichen verflüchtigt; als das "an sich selbst Grundlose und sich Aufhebende".(13) So hält das principium rationis sufficientis in Schach, was die Finalkausalität durchschlägt und ihr zu entgleiten droht. Eines der Mittel, Kontingenz einzugemeinden, lag in ihrer verdeckten oder offenen Verspannung in eine Zieldynamik. Meister darin war Hegel. Seine Logik bindet den Zufall nach der gleichen Methode dem Regime der Notwendigkeit ein, mit der die Phänomenologie des Geistes die "terreur" der Französischen Revolution dem Läuterungsprozeß des Weltgeistes zuschlägt. Wie die mittelalterliche Fortuna der Vorsehung, so arbeitet der Zufall nun der Freiheitspotenz des Weltgeschichte zu. Allerdings revidiert schon Spinozas Reflexion des Zufalls als einer Vorstellung "allein im Hinblick auf einen Mangel unserer Erkenntnis"(14) die Verwerfung des Akzidentellen. Mag es sub specie aeternitatis auch an die göttliche Notwendigkeit gebunden bleiben. Die Aufdeckung der anthropozentrischen Täuschung führt zum Bewußtsein einer "gewissen ewigen Notwendigkeit"(15), die in der Konstruktion und Abwertung des Zufalls das Abwehrmanöver eines beschränkten Verstandes erkennt. Eines in seinen Projektionen befangenen Mediums, dem die Kausalketten und die sich kreuzenden Wirkungsreihen in ihrer gegenläufigen oder sich verstärkenden Dynamik unmöglich vollständig faßbar sind. Im Wechsel der Phänomene lediglich partiell verstehbar, ihrer Effizienz nach aber unerklärlich, geschweige denn berechenbar. Wie bei Kants Bestimmung der Notwendigkeit als einer Kategorie der Modalität zeigt sich bei Spinoza eine Rehabilitation des Zufalls, deren Kritik des "defectus nostrae cognitionis" die Logisierung des angeblich Grundlosen ins Wanken bringt. Im Angriff auf die Ordnung des Subjekts liegt die Hoffnung, daß sich mit dem Fall dieser Ordnung die Spaltung zwischen Notwendigkeit und Zufall aufhebt. In einem Status jenseits von Zufall und Notwendigkeit, der die Welt ohne falsche Sinnstiftung rechtfertigen kann, wie Spinoza und Nietzsche, oder akzeptieren will, wie Cage, ohne einer fatalistischen Akzeptanz beizupflichten. Aufgrund der Kränkung, die die Aufwertung des Unberechenbaren dem Kult um Selbstbestimmung und freiem Willen zumutet, werden Zufall und Chaos erst mit dem Zerfall der idealistischen Weltinterpretationen auf breiterer Basis ernstgenommen. Bei Schelling, Schopenhauer und Nietzsche. Jetzt läßt sich der Harmonisierungskitt des Subjekts nicht länger verleugnen, seine Bewältigungsattitüde in einer durch praktische Instinkte zurechtgemachten Welt der Scheinbarkeit. Der Monotheismus der Form, die Entmächtigung des Vielen durch das Eine, täuscht nicht länger darüber hinweg, daß das Geformte den Schrecken des Amorphen nicht verleugnen kann. Gegen den Systemtriumph des Geistes und dessen Integrationsverlangen dringt die "unergreifliche Basis der Realität" ins Bewußtsein, ihr mental "nie aufgehender Rest".(16) Denn immer noch liegt "im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden".(17) Nietzsches rückhaltlose Bejahung endlich bringt die Wende in der Auseinandersetzung mit dem Hasardeur Zufall. Nietzsche, darin Ahne und Heros der Moderne zugleich, bestimmt die "Geschichte der Cultur" als eine Abnahme der "Furcht vor dem Zufall , vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen". Und zwar unter dem Gebot, "berechnen (zu) lernen, causal denken (zu) lernen, präveniren (zu) lernen, an Nothwendigkeit glauben (zu) lernen". Bis in einem späten "Zustand von Sicherheitsgefühl" erneut die "Lust am Zufall, am Ungewissen und am Plötzlichen als Kitzel hervorspringt" und im "Pessimismus der Stärke ", dem Symptom "höchster Cultur", unter Abkehr vom Rechtfertigungswahn eine "Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufalls" zum Durchbruch kommt. Mit einem "absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Gründe willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat".(18) Einem "Jasagen", das bei Nietzsche allerdings willensmetaphysisch gebunden bleibt. Gegen den "grausen Zufall" des ">Es war<", der "das Dasein" in unauflösbare "Schuld" verstrickt(19), verlangt der souveräne Mensch als "Erlöser des Zufalls" alles ">Es war< umzuschaffen in ein >So wollte ich es!<".(20) Ein schaffens- und bewältigungspathetischer Aspekt, der in der Kunst der Moderne Wirkung zeigte. Und nicht nur er. Wenn sich Zeit und Zufall von der Hypothek eines unerlösten Schuldzusammenhangs entbinden sollen, indem Nietzsches Zarathustra die moralische Zeitordnung wandernd in Raum verwandelt, eine Ordnung somit, deren Zerstreuungsprisma die Welt mit dem Zufall der Zerstückelung schlägt, dann liegt die Verwandtschaft zu Cages Raumkonzeption zutage. Samt jener Verwandtschaft, die sich als Rechtfertigungspathos des "Amor fati" an gewisse akzeptanzphilosophische Facetten Cages vererbt und seinerzeit die Diskrepanz zu Boulez begründete. Cage entdeckt den Zufall als Befreiung, ohne das willensmetaphysische Athletentum und die Verlust-, Melancholie- und Beschwörungsfiguren Nietzsches. Als ein "Element, das weder etwas mit Wiederholung noch mit Variation zu tun hat", als ein Phänomen von "Ereignissen", die "sich sofort oder nacheinander ohne eine Verbindung entfalten."(21) Keinesfalls sind Zufallsoperationen "mysteriöse Quellen für >richtige Antworten<". "They are a means of locating a single one among a multiplicity of answers, and, at the same time, of freeing the ego from its taste and memory, its concern for profit and power, of silencing the ego so that the rest of the world has a chance to enter into the ego's own experience".(22) Die "chance operation" wird zu einem Medium der Disziplin gegen die Verschlossenheit des Ego. Gegen seine "Neigungen und Abneigungen", abgeschottet in seiner "Urteilsbildung", seinen "Erinnerungen" und den "daraus resultierenden Gewohnheiten", soll das Ich durchlässig, "offen, fließend mit seiner Erfahrung" gehalten werden.(23) Der Zufall, den Cage gegen die sequentielle Logik setzt, ist einer der Serie und Multiplikation. Nach dem "Frankensteinschen Monster" der Music of Changes und ihrer Diskrepanz zwischen einer äußersten Inpflichtnahme des Interpreten und aleatorischer Kompromißlosigkeit erweitert Cage deren Lizenzen und Freiräume. Waren anfänglich noch ein vor den Zufallsoperationen skizziertes Tableau kompositorischer Möglichkeiten sowie verschiedene zahlenschematische Gliederungsraster im Einsatz, werden diese später unter dem Verdacht der Herrschaftsintention zurückgedrängt. Wie die vorab proportionierte Struktur zugunsten einer Bestimmung lediglich der Gesamtdauer verschwindet, so verschwindet die Aufzeichnung des Rhythmus zugunsten der "space notation" einer vom Zeichenabstand auf dem Papier angedeuteten Teildauer. Die Anstrengung, absichtsvoll jede Absicht zu vermeiden, zeigt sich in Cages Arbeitsethos der frühen und aufwendigen Zufallskonstruktionen. Beispielsweise während der Komposition von Williams Mix , bei der die "Benutzung des I Ging anfangs sehr viel Zeit in Anspruch (nahm)" und "äußerster Präzision" bedurfte. Erst später, als Cage "über das Problem der Schreibgeschwindigkeit nachdachte", kam die Entdeckung, daß in Form der Unebenheiten des Papiers "alle Musik schon da war" und mittels Transparentpapier nur noch "kombiniert" und "multipliziert" werden mußte.(24) Besonders Boulez machte im Namen der neuen Musik Front gegen solch skandalöse Entlastungsprozeduren "kompletter Faulheit"(25) und gegen eine Aleatorik des ungefilterten Zufalls. Der "reine" Zufall, bei dessen Begründung die >Logik völlig leerläuft<, gilt ihm seiner >Uninteressantheit< und "lediglich statistischen" Bedeutung nach als "Zerstörung des ästhetischen Plans".(26) Schon der Alea -Aufsatz von 1957 argumentiert bisweilen geradezu buchhalterisch: "Bestünde nicht die größte List des Komponisten darin, daß er den Zufall absorbierte ? Warum diese Kraft nicht zähmen, Ertrag und Rechenschaft ihr abverlangen? ... Aus Schwäche, oder um es sich leicht zu machen, mit dem Zufall zu paktieren, sich ihm ausliefern, bedeutet eine Form der Preisgabe, die man nicht hinnehmen kann, ohne gleichzeitig alle Vorrechte und Rangordnungen aufzugeben, die das geschaffene Werk in sich birgt".(27) Abgesehen davon, daß Boulez etwas leichtfertig mit der Schablone des "Reinen" argumentiert, ist seine Aversion gegen "Zufallsoperationen", die "jeden Begriff von Vokabular zerstören", ein gedanklicher Kurzschluß. Die von ihm befürchtete Negation der Semantik ist nur möglich, wenn deren Radius eng genug gefaßt wird. Zu Recht haben Adorno und Barthes auf die Unrealisierbarkeit eines Nullpunkts strikter Form- und Sinnlosigkeit verwiesen. Und selbst Cage spricht von der "Bedeutungslosigkeit als letzter Bedeutung".(28) Mag für Boulez noch die Einheit der Geschichte, der Musikgeschichte Pate stehen, inspiriert vom Wissen um die Forderung, was an der Zeit sei: Cage seinerseits bekümmert sich nicht mehr um jenen Kompromiß von Komposition und Zufall, der in den musikalischen Verlauf als einer "Funktion der physikalischen Ablaufszeit" intermittierend ">Chancen< eintreten lassen" will.(29) Gegen solche ästhetisch zum Einstand gebrachte Spannungs- und Versöhnungschiffren von Freiheit und Notwendigkeit und gegen Boulez' Unterscheidung zwischen dem gelenkten Zufall und dem aus Versehen, die sich an der philosophischen zwischen dem relativen und absoluten Zufall orientiert, hält Cage wie Nietzsche die Erkenntnis, daß der absolute Zufall undenkbar und die Paria- und Bedrohungskomponente des sogenannten relativen Zufalls von der Vernunfthierarchie und ihrer Entdämonisierungsordnung nicht zu trennen ist. Cage argwöhnt daher an der intentionalen Musik noch bis in den gezähmten Zufall hinein den Kompromiß. Ein Argwohn, der bei Kompositionen wie dem ersten Satz aus Lutoslawskis Zweiter Symphonie und dessen spielwiesenhaft-aleatorischen Oasen nachvollziehbar ist. Nicht aber in Boulez' großen Werken des "gelenkten Zufalls", in denen die Dialektik von Konstruktion und Expression als Spannung und Vermittlung von Struktur und Emotion eine neue Qualität gewinnt. Als eine Variante des Gegensatzes "zwischen sehr klaren Strukturen und solchen, bei denen die Überfülle zwangsläufig die Aufnahmefähigkeit des Hörers übersteigt", zwischen einer "verdünnten Wahrnehmungszeit" und einer "sehr dichten".(30) Wie in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften die Proportionalität von Ursache und Wirkung durch die Verschränkung von Zufall und Notwendigkeit in Formationen des determinierten Chaos relativiert und erweitert wurde; wie im Gegensatz zu den künstlichen Formen der euklidischen nun die Naturformen der fraktalen Geometrie in den Blick rückten, so interessiert Cage die Eigenzeit der Klänge. Als ein Bewußtwerden von Naturzeit inmitten ihrer Zersplitterung durch die gesellschaftliche Zeitapparatur. Und wie im Feld des chaotischen Attraktors eine Unzahl von Zuständen immer wieder passiert wird, allerdings aperiodisch, mit dem Schein des Periodischen, und niemals identisch, sondern lediglich annäherungsweise; wie sich im Einzugsbereich des "strange attractors" trotz der Unvorhersagbarkeit von Zustandsänderungen und Verlaufsstrukturen selbstähnliche Muster und Figuren ergeben und stabile Wahrscheinlichkeitsstreuungen von der Bestimmtheit des Chaos zeugen: so erweisen sich auch die Verläufe von Cages Musik als determiniert. Von der verabredeten Gesamtdauer und den time-brackets der Einzeldauern organisiert und, wiewohl unvorhersagbar, über die Dichte- und Assonanzgrade der Klangaggregate schemenhaft strukturiert. Bei Cage bleibt der Unsicherheitsfaktor und das, was als Zufall und chaotische Wahrnehmung umschrieben wird, à la longue der Statistik unterworfen. Die Wahrscheinlichkeitsverhältnisse, auf die sich Stockhausens "statistische Form" in Nähe zur modernen Naturwissenschaft beruft, bleiben auch für Cage relevant. Bei ihm allerdings - im Unterschied zu Xenakis, Stockhausen, Boulez oder Ligeti - ohne dramaturgische Bindung. Was Stockhausen "statistische Formvorstellung" nennt, kennzeichnet einen Paradigmenwechsel. Nunmehr geht es in der durch sie charakterisierten neuen Musik um "Grade der Dichte von Tongruppen", um "annähernde Bestimmungen" also.(31) Für das Zusammenhangsbewußtsein des Hörens heißt dies Orientierung am Wechsel der Stärke-, Größen- und Maßverhältnisse der Parameter von Tonhöhe, Dauer, Klangfarbe, Dynamik oder Geschwindigkeit. Formbestimmende Gradrelationen nach Skalierungen wie "durchschnittlich, vorwiegend, ziemlich, insgesamt, annähernd" gehören zum Wesen der "statistischen Form".(32) Was Cages Komponieren vor diesem Hintergrund bedeutet, betrifft aufgrund seiner Philosophie des Unwiederholbaren und Antidramaturgischen vorrangig das Verhältnis von "Struktur und Erlebniszeit". Ihre Definition als abhängig von der "Veränderungsdichte" konstruiert bei Stockhausen noch Entsprechungen zwischen "überraschenden", sprich unerwarteten "Ereignissen" und ">Kurzweiligkeit<", resp. zwischen "Wiederholungen" und ">Langweiligkeit<". Allerdings mit der Einschränkung, daß eine "permanente Folge von Kontrasten" nicht anders als eine Reihe "ständiger Wiederholungen" aufgrund des fehlenden >Überraschungseffekts< zu einer "einzigen Information nivelliert" werde.(33) Deshalb hält die mögliche Disproportionalität zwischen Veränderungs- und Erlebnisdichte den Komponisten dazu an, sich auf der "schmalen Klippe zwischen einem Zuviel an Entsprechungen und >Wiederholungen< oder aber einem Zuviel an >Kontrasten< - das heißt einem Zuwenig an nacherlebbarer Folgerichtigkeit" zu bewegen, "wenn er die Erlebniszeit von der Struktur aus in den Griff bekommen will, wenn er die Struktur von der Erlebniszeit her formen will".(34) Die von dieser Balance her gegen Cage gefällten Urteile sind ebenso bekannt wie kritisch. Was dagegen nicht in den Sinn kam, ist der Gedanke, ob das, was die Dichte in den komplexen Stücken der Etudes Australes , so dem siebten des ersten Bands, oder den Freeman-Etudes ausmacht, nicht auch generell und abweichend von der üblichen Kontingenzbestimmung des Aleatorischen gerade als ein Phänomen der Überdeterminierung zu gelten hat. Insofern vom Maß der Logizität her die Beziehung zwischen den Tonkonstellationen dermaßen vieldeutig wird, daß sie nur noch als zufällig empfunden werden kann. Bedingt, wie die Rehabilitationsphilosophien des Zufalls dies formulieren würden, durch ein beschränktes Sensorium. Schon Xenakis' Umgang mit Klangmassen im Aktionsfeld von Zufall und Notwendigkeit, mit dem Problem also, nach welchen Regeln Ordnung in Chaos umschlägt, wie chaotische Formationen gebaut, wie sie manipulierbar sind, beruht ja auf der Einsicht, daß einzig Simulationen des Zufalls möglich sind. Zum Beispiel mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Simulationen deshalb, weil das statistische Denken noch bis ins Unbewußte hineinreicht. Von dieser Überzeugung eines ohnehin unrealisierbaren absoluten Chaos aus organisiert Xenakis das Drama von Zufall und Notwendigkeit zu einem Agon, dessen Eruptionen in der Regel an Szenarien der Gewalt und des Schreckens erinnern, an ihre Auflösung und Regeneration. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung wird zu einer Art trojanischem Pferd, das aus der mathematischen Konstruktion die Musik eines gleichermaßen exzessiven wie kontrollierten Spät-Fauvismus entläßt. Eine Musik, die über Analogien zwischen Natur, Technik und Gesellschaft den Triebgrund der Zivilisation ebenso freigelegt, um deren Archaik rational zu brechen, wie sie über die Zerfalls- und Verdichtungsprozesse von Tonpunkten, Klangstreuungen und deren Massierung zu Schwärmen und Nebulae die Vermassung des Individuums reflektiert: vor dem Horizont moderner Kriegs- und Angsterfahrung. Wenngleich des öfteren um den Preis eines Glissando-Manierismus, der die minderen Werke Xenakis' der Einfallslosigkeit des Technizismus annähert. In den starken kammermusikalischen Stücken wie Tetras , Herma , Nomos Alpha oder den großen Orchesterwerken dagegen erreicht die stochastische Organisation Szenen der Kontinuität und Detonation, der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung von Ordnung und Unordnung, die jeden privaten Expressionismus hinter sich läßt. Gesteuert von einem imaginativen Konstruktivismus, den Deleuze/Guattari im Unterschied zu Cages Rhizomatik noch jener Baumstruktur subjektkalkulierter Erkenntnis zuordnen, die bei Xenakis in den Verästelungen der "arborescences" buchstäblich zu einem entscheidenden Formanten wird. Daß Xenakis den Zufall zwar als ein ästhetisches Gesetz akzeptiert, dessen Gesetzmäßigkeit in Form eines undurchschauten Zusammenhangs existiert, den Zufall aber gleichwohl dramaturgisch bindet, macht die Differenz zu Cage aus. Während Xenakis die technische Aisthesis der Gegenwart auf die Episteme der Massengesellschaft hin durchschlägt und zugleich gegen sie wendet, dadurch aber das Sensorium in Richtung einer illusionslosen, politisch wachen Souveränität schärft - zugestanden mit einer Neigung zur kosmischen Relativierung von Geschichte nach dem Maß der antiken Tragödie -, verweigert Cages Musik jegliche noch so fragmentierte Prozessualität und sei es die der Entropie. Damit entäußert sie sich zugleich der Kategorien von Eingriff und konkreter Negation. In deren Ablehnung als zu emotions- und subjektzentriert liegt Cages Grenze, so wie umgekehrt die Intelligenz dramaturgischer Varianten die Brisanz einer durchkomponierten Musik ausmacht. Die Reflexionskraft des Orchesterstücks Morendo von Mathias Spahlinger und dessen an Tinguelys Schrottmontagen erinnernde Assoziation einer leer in sich kreisenden Maschinerie beweist zur Genüge, was schlüssiges Dekomponieren an ästhetischer Erkenntnis realisieren kann; was die Artikulation des Wiederholungszwangs, des Oszillierens zwischen Mechanismus und Organismus und die letzten Endes fragile Freisetzung brüchiger Einzelelemente vom Diktat des Rotierens an politisch geweiteter Metaphorik zu vermitteln vermag: ohne daß der Status quo und sein verschüttetes Freiheitspotential moralisierend bebildert werden müßten oder die Musik in dieser Metaphorik aufginge. Cage will unter dem Einfluß des Zen das Ich als den Monopolisten kleinlicher Gefühle entmachten und ihm sämtliche Projektions- und Spiegelflächen entziehen. Die Absicht, mit dem Ego zu brechen, richtet sich gegen eine Selbstsucht, die ihre Emotionen und Wertschätzungen zur Aura der Individualität stilisiert, ohne zu sehen, wie sich die psychischen Muster zusammen mit einem Gedächtnis der Vorurteile und der Kontrollmnemonik, der Herrschafts- und Unterwerfungsmoral der allgemeinen Anpassungsleistung überantworten. Gerade weil die ichvereinzelten Selbstbehauptungssysteme aufgrund scheinbarer Einzigartigkeit sich zueinander als rivalisierende Monaden verhalten, gehen sie um so leichter in der Psychopathologie der Gesellschaft auf. Auch deshalb muß die Mauer des Ego zerstört werden, in dessen Gefühlskult Cage einen Empfindungsterror argwöhnt, der die gesellschaftlichen Probleme eher verschärft, als zu ihrer Lösung beizutragen. Nach Maßgabe einer emotionalen Abrüstung kümmert sich Cage daher nicht mehr - wie die Musik der Energieausbrüche - um Epiphanie und Parusie oder um das jetztzentrierte Movens von Erinnerung und Erwartung, mit dem sich das Selbstbewußtsein im Kunstwerk für die zerrüttete reale Zeit schadlos hielt; und schon gar nicht um die affektive Meteorologie der Seele, sondern darum, "to make a musical composition the continuity of which is free of individual taste and memory (psychology) and also of the literature and >traditions< of the art".(35) Für Cage hängt deshalb die >Öffnung der Persönlichkeit< eng mit der >Öffnung des Werks< zusammen: vornehmlich um der Chance radikal "verschiedener Interpretationsmöglichkeiten" wegen.(36) Zumal laut Cage das geschlossene Werk die Durchhalte- und Rückvermittlungsinstanz des Ego und die Selbstgefälligkeit des Künstlers wie die seines Publikums bestätigt. Hier allerdings krankt die Argumentation an einer Pauschalisierung qua Enthistorisierung des geschlossenen Werks: sofern sich Cage unausgesprochen an der Ära der Tonalität orientiert und dies unterderhand generalisiert. Deren dramatisch-psychologische Musik erlaubt spätestens seit ihrer kulturindustriell beeinflußten Rezeption, von einer Objektivation der Eigenzeit des Subjekts und deren possessiven Erlebnis- und Verarbeitungsnormen durch die tonale Sinnorganisation und Zeitrhetorik zu sprechen. Oder davon, daß die Synthesis dieser Musik als Teil des Machtfaktors homo dialecticus dessen beutemachende Mnemotechnik stabilisiere. Daß seit den Werken der Wiener Schule dem Narzißmus der verinnerlichten Projektion und der mnemonischen Sicherheit systematisch der Boden entzogen wurde, übersieht Cage - mit nicht geringen Folgen für seine Theorie des Subjekts und der Wiederholung. Cages Unbekümmertheit um das Überkommene, bis hin zu dessen dadaistischer Maskierung im Vorschlag einer Simultanaufführung aller Beethovensymphonien als der einzig erträglichen, unterschätzt zweifellos die Wirkung der Lysis in der abendländischen Kunst: das Bündnis von Eros und Mnemosyne. Cage, der nur die Verfallsform des Subjekts sieht, verkennt die zumindest punktuelle Abrüstung egomaner Selbstbehauptung in einer Musik mit Ereignischarakter, vormals dem des erfüllten Augenblicks. So sehr Cages Esprit von der Sorglosigkeit um die Überlieferung herrührt, so sehr negiert er die humane Seite der Wiederholung. Daß Cage Wiederholung nur unter dem Aspekt der Egozentrik und des Todestriebs begreifen konnte, - wiewohl er das Vokabular der Psychoanalyse aufgrund ihrer Gedächtnisinsistenz von Erinnerung und Durcharbeiten abgelehnt hätte -, blendet die lösende und befreiende Wirkung der Anagnorisis im durchkonstruierten Werk aus. Die Bindung an das assonanz- und wiederholungsgeleitete Wechselpiel von Retention und Protention, von Erinnerung und Antizipation, und die Versenkung in das notierte, wiederholbare Werk. Zu Recht mißtraut Cage zwar einer Rede vom pluralen Subjekt, die dessen neurotischen Kern vergißt, jenen Kern, dem seine Musik die emotionale Zulieferung verweigern will. Indem Cage aber keinerlei emanzipatorische Kraft des subjektiven Faktors gelten läßt und Subjektivität zu sehr mit Innerlichkeit verwechselt, konserviert auch er ein Stück weit deren Panzer. Die Verweigerung von Identität arbeitet der Identitätslosigkeit zu. Darin bleiben Cages Aleatorik und sein universal veranschlagtes Prinzip des Zufalls partiell. Ist Cages Oeuvre auch polytopisch verfaßt - keiner der neueren Komponisten bis auf Ligeti hat eine vergleichbare Vielfalt und Divergenz aufzuweisen, selbst wenn deren Ausdifferenzierung rudimentär ist -: es wird als dieses Oeuvre im Formenkreis der neuen Musik selbst zum Moment. So repräsentiert das "Subtraktionsverfahren" in Cages Quartets I-VIII oder den Hymns and Variations zum Thema Geist und Buchstabe im Zeichen der Auseinandersetzung der neuen Musik mit Überlieferung und Tradition nur eine Facette. Ruzickas Einstrahlungen für großes Orchester , die die 40stimmige Motette Spem in alium des englischen Renaissancemeisters Thomas Tallis dem Zwielicht von Nähe und Ferne aussetzen, um Geschichte modellhaft aufzuladen, stehen Cages Quartets und deren Reflexion von Gegenwart im Zeichen des Vergangenen in keiner Weise nach. Im Gegenteil. Während bei einer Aufführung der Quartets I-VIII Monotonie aufkommt, sofern die Idee der Ausradierung sich verselbständigt und die Musik zum langatmigen Exempel und Ausexerzieren einer Methode ausdünnt, entfaltet Ruzicka eine Szene der Verschattungen und Brüche, die "Aura" entbindet. Das also, was Benjamin die "einmalige Erscheinung einer Ferne" nennt, "so nah sie sein mag".(37) Eine Stelle wie die, an der zehn Solostreicher das rhythmisch variierte Zitat des Motettenbeginns aufgreifen, wird zum Menetekel inmitten eines Umfelds, in dem sich die Idiomatik Tallis' und die Tonsprache der Moderne wechselseitig zu absorbieren suchen, um sich doch nur mit der Attraktion des Fremden aneinander zu reiben. Während Cage in den Quartets Vergangenheit als Vergangenes bilanziert, legt Ruzicka über den Palimpsestcharakter beider Kompositionen hinaus semantische Höfe frei. Gedächtnis wird zum Eingedenken, in das sich die Diagnostik von Gegenwart im Versuch einer Spiegelung, einer Reflexion historischer Ferne einschreibt. Indem Cage die Auseinandersetzung mit der Tradition selten planvoll und musikalisch immanent austrägt, verweigert er sich jenem strukturellen Komponieren, dessen Orientierung an Kriterien wie Gedächtnis, Mnemosyne, Dekonstruktion, Kritik oder Entwurf eine Stärke neuer Musik ausmacht. Im Vergleich mit Cage sind daher etwa weniger Lachenmanns Destruktion ästhetischer Normen oder seine ungewohnten Spieltechniken relevant als vielmehr deren dramaturgische Vermittlung. Lachenmanns kompositorische Gedankenarbeit will zu denken geben, den Hörer nicht hörig, sondern hellhörig machen, indem sie die Musik eine vom philharmonischen Diskurs her verfemte Sprache reden läßt, Purifizierung als Verarmung aufdeckt und den Ton als eine spezielle Form des Geräuschs denotiert. Doch erst der überlegt, bewußt ins Zentrum des Cellostücks Pression gesetzte reine Ton kann inmitten eines Ambientes, das den Ordinario-Klang konsequent meidet, die Semantik der Ausnahme entfalten: die seiner vergänglichen geschichtlichen Dominanz, seiner Umwertung durch Material und Geräusch sowie seiner melancholischen Aura als der seiner Verunmöglichung. Auch wenn bei Lachenmann immer wieder vorschnell der Beckettsche Punkt einer Musik der Absenz und Verweigerung ausgemacht wird, der sie zwar an den Rand ihrer Aufhebung gleiten läßt, aber mit dem Zwang, ständig weiterkomponiert zu werden: erst die Autopsie des Tons in Lachenmanns musique concrète instrumentale hat den Zusammenhang zwischen der Reflexion bzw. Nicht-Reflexion der Materialbasis des Klangs und dem damit korrespondierenden musikalischen Diskurs einsichtig gemacht. Darin vergleichbar Derridas Metaphysikkritik und ihrem Nachweis der Untrennbarkeit des Sinns von dessen medialer Matrix. Der Platonismus einer Musik des reinen Tons und der reinen Idee, ablösbar von Material, Genese und Produktion, ist endgültig passé. Seitdem die Gewalt des Machens und des Machbaren mit ihrem Konkretionswahn, ihrem Beschleunigungsterror und ihrer Phobie vor der Verweigerung des Lassens noch in die intimsten Winkel kriecht, gewinnen die ästhetischen Auslöschungsverfahren der Fragmentierung, des Abbruchs, des Verstummens, der Abwesenheit und des Schweigens an Relevanz. Varianten dieser strukturellen Refus finden sich bei Cage in der Stille von 4'33'' , in den graphisch präsenten, obgleich unhörbaren, weil aus dem Lot fallenden Klängen seiner Konzeptnotationen wie den Variations I , in den Ausradierungen der Quartets oder der wechselseitigen Annullierung der Ereignisse in HPSCHD und A House full of Music . Extreme äußerster Dichte und Leere sind im Zeichen des Zeros und der Stille-Konzeption Cages nur scheinbare Kontraste zwischen einer Musik der Massierung, die in den Musicircus -Projekten der Unhörbarkeit zuläuft, und einer des Schweigens wie in 4'33'' . Zwar sind für Cage die "Probleme der Musik" nur lösbar, wenn "Stille als Grundlage" genommen wird(38), zugleich aber verdeutlicht ihm der Vergleich eines "leeren Blatts Papier - Mallarmés weiße Seite - mit der Stille", daß "der kleinste Fleck, das kleinste Zeichen, das unscheinbarste Loch, der kleinste Fehler oder der kleinste Klecks die Gewißheit (geben), daß es keine Stille gibt", "Mallarmés Schwindelgefühl" also "überflüssig" ist(39). Abgesehen vom fragwürdigen Vergleich zwischen akustischer Idealität und visueller Realität zeigt sich hier über den Differenzgedanken der Moderne nun seinerseits - wie vorhin bei Lachenmann - Cages Nähe zu einem zentralen Gedanken Derridas; gerade was die gegenseitige Durchdringung und Nichtbehinderung der einzelnen Klänge betrifft, die sich in ihrer Vielfalt nur auf der Basis von Stille ereignen können, ohne daß diese ihrerseits als reine Essenz, als absolute Stille verfügbar wäre. Schließlich basiert auch Derridas Dekonstruktion des philosophischen arché-Prinzips im Anschluß an Saussure darauf, daß sich Zeichen und Wort, um Zeichen und Wort zu sein, nur durch Trennung und Zäsur von und zu allen anderen Zeichen und Worten konstituieren können: im Text als einem zur Unendlichkeit der differentiellen Verweisungen entgrenzten azentrischen Zeichengewebe der Trennungen und Bündnisse, während die "différance" als referentielle Lücke dem Text stets vorausliegt, ungreifbar als ontologisches Substrat und erzeugt erst vom offenen Spiel der Zeichen. Trotzdem unterscheidet sich Cages Starkmachen des Zeros als eine Depotenzierung der falschen Potenz vom Ombra-Ton der neuen Musik: von der Geste des "Entlöschenden", des "Morendo"- und Torsohaften, kurz: vom Prinzip der Dramaturgie. Was Lachenmann in deren Sinn noch mit expressiver Emphase demonstriert und demontiert, sucht Cage empathielos zu erreichen. Darin entspricht seine Ablehnung der Intentionalität dem Außerkraftsetzen der ästhetischen Überlieferung und ihrer Postulate. Eine andere Facette solcher Ausstiegsversuche aus der Tradition findet sich als Tilgung von Form und Struktur in der anarchischen Harmonie der späten Zahlenstücke, etwa in Sixty-eight oder 101 . Cage greift hier mit der Vorstellung des "audible cloth" einen zentralen Topos der neuen Musik auf, der den Text des Komponierten als Textur, als Gewebe denkt. Meist in einer von den Komponisten selbst ins Spiel gebrachten Metaphorik. Ob in den Webmustern von Feldmans Coptic Light , in Ligetis feingewobenen Netzgebilden schon der frühen Orchesterwerke oder im Klanggewebe von Xenakis' Aroura . Auch Cages Klangfäden der Zahlenstücke von 1992 wie Twenty-six , Twenty-eight , Twenty-nine , Fifty-eight flechten Musik als "hörbaren Stoff". Organisiert über flexible oder fixe "time brackets", modelliert von den Zeitplateaus der einzelnen Spieler aus, mit dem "brushing in and out" der Töne in die und aus der Zeit, distanzieren sich solche Gespinste entschieden vom Koordinationsgitter rhythmischer Zeitskandierung. Ähnlich Christo zieht Cage akustische Stoffbahnen durch die Wüstenei der konventionellen Klanglandschaften. Aber anders als Ligeti läßt Cages Aufhebung jeglicher Synthesis von Entwicklung und Produktion den Versuch, dem Klangstoff dramaturgische Muster einzuschreiben, ins Leere laufen. Ligetis Klanggewebe Atmosphères und Lontano inszenieren demgegenüber nach Art der Turbulenzen und Strömungen komplexer Systeme noch eine Selbstorganisation des Unberechenbaren. Dessen Bedrohlichkeit resultiert in Atmosphères aus den polydynamischen Verschiebungen und crescendierenden Sogwirkungen solcher Mikroperipetien, deren Wirkung unabsehbar ist. Entscheidend bleibt, daß Ligetis akribisch durchorganisierte Partituren, die ausnahmslos der Intention des Komponisten obliegen, den Eindruck des Eingriffslosen und einer Autopoiesis vermitteln, die Ligeti selbst einmal anläßlich seiner Orgelkomposition Volumina als "leere Form" charakterisiert hat. Während sich jedoch bei Ligeti die Interferenzen eines Klangkörpers durch kaum hörbare Abweichungen in Rückkopplung zu ungeheuren Wirkungen potenzieren; während der Energiefluß eines amöbenhaften Organismus die Dramaturgie zwar hörbar werden läßt, die Konstruktion aber verschleiert und dadurch die Phantasmagorie der Klangmetamorphosen als eine des Unheimlichen, gleichwohl Faszinierenden enthüllt, mehr noch: mit der Dekonturierung zum Ungewissen und Unbekannten das atopische Bewußtsein der Moderne formuliert, zeichnet das absichtslose Fließen in Cages "number pieces" und ihren Fluktuationen zwischen Dichte und Transparenz eine Musik ohne Antlitz. Eine Musik des Schleiers, die nichts verhüllt. Da Gesellschaft aber nach wie vor psychosoziale Dramen und über die Köpfe hinweg verlaufende ökonomische Prozesse produziert, da zudem die Zeit der Individuen immer noch kausal verfaßt ist, behält die Rhetorik der Folge wie des Zerfalls, der pschographischen Fragmentierung wie des geschichtlichen Entwurfs ihr Gewicht. Zumindest in einer Musik, die zeitgenössisch, weil an der Zeit ist, deren dramaturgisches Komponieren jedenfalls konkrete Negation ermöglicht. Am vordergründigsten in zahlreichen Kompositionen Kagels, in denen die Musik ihren eigenen Kommentar als kritischen Subtext produziert, wie im Streichquartett von 1965/67 zum Ritual- und Hierarchieverständnis der Quartettkultur und ihrer gesellschaftlichen Basis. Noch die Strukturierung menschlicher Atemgeräusche in der neuen Musik belegt, was Konnotationen aus der Logik des Werks heraus zu leisten vermögen. Ob expressis verbis in Schnebels Atemzügen , ob in der vierten Region von Stockhausens Hymnen , ob im Ikarus-Sujet aus Lejeunes Parages oder in Spahlingers Streichquartett Apo do . Die Semantik, die sich in solchen Kompositionen zwischen Suspirium und Suspension entfaltet, changiert zwischen Anspannung, Angst und Befreiung und wird in der Vieldeutigkeit ungedeckter Projektion zur Chiffre gegenwärtiger condition humaine. Spätestens hier stellt sich die Frage, was bei Cage aus der Angst geworden ist; was bei ihm womöglich untergeht, von anderen Komponisten aber auskomponiert wird, und was sich hinterrücks als Gehalt seiner Musik durchsetzt. Neben seiner strukturellen Funktion wird das Glissando als Negation des diskreten Intervalls, als Unterhöhlung der Tonstufen-Ordnung zu einem in der Musik der Moderne bevorzugten Ausdrucksmittel von Erwartung, Gefahr und Angst. Oftmals eingebunden in eine Crescendo-Wirkung. Varèses Einsatz von Sirenen in Ionisation ; das von Henry realisierte Finale von Orphée 53 , Le Voile d'Orphée ; Xenakis' Diamorphoses oder der Beginn seiner Orchesterkomposition Metastaseis sind einige frühe Beispiele dafür. Wegweisend für den Crescendo-Effekt der Bedrohung war Weberns viertes der Orchesterstücke opus 6 . Ein Stenogramm der Gefahr ohne funktionsharmonische Vernetzung; mit der Umkehrung der Folge von tragischem Höhepunkt, Zusammenbruchsfeld und Epilog zum Vorspiel einer Katastrophe; markiert durch das bruitistisch anschwellende Schlagwerk, das mit dem Ende in einen Sog des Entsetzens mündet. Cage, der sich dem expressiven Crescendo- und Decrescendo-Duktus gegenüber reserviert verhielt, weicht bei der Behandlung auch dieses Moments vom gängigen Idiom ab. Seine Glissando-Komposition erreicht in Ryoanji eine meditative Ruhe fernab jeder esoterischen Mode. So wie Cage ja generell der von konstruktiver Ratio dominierten neuen Musik unter Enthüllung der "reißenden Zeit"(40) und ihrer Chronophagie den Ausdruck von Stille und Gelassenheit zugebracht hat. Explizit im String Quartet in Four Parts . Und nicht selten wird wie in manch statischen Sequenzen der Anatomie des Tons bei Scelsi oder Lachenmann die Präsenz der Stille bei Cage gleichsam selbst zum geöffneten Ohr der Musik; so in der solistischen Version von Atlas Eclipticalis . Schon das Glissando-Detail gibt zu erkennen, daß Cage auf Angst nicht mehr gestisch oder mit Empathie reagiert. Ihre Objektivation in prozeßhaften Formanten wie Klimax und Zusammenbruch, die in Ruzickas Metastrofe eine so gewichtige Rolle spielen, sucht man bei ihm vergebens. Liest und hört man jedoch Cage gegen Cage - gegen seinen von McLuhan und Buckminster Fuller gestützten Optimismus beispielsweise, an dem er in späteren Jahren selbst immer mehr zu zweifeln begann -, dann kehrt sich der Ausdruck der Musik oft genug gegen die Konzeption und das Notierte. Cages Komponieren hätte nicht den Rang, den es innerhalb der zeitgenössischen Musik einnimmt, wäre es nicht auch musica negativa. Als solcher gibt es in ihr ungeachtet der Nicht-Intention ihres Autors Stellen des Bedrohlichen, ja Katastrophischen. Obschon Cage seine Musik nicht mit pathographischen Modellen in Verbindung gebracht sehen wollte, lädt sie sich damit auf. So in manchen Realisationen der späten Zahlenstücke für große Besetzungen wie Sixty-eight . In Partien, deren Prototypen in Bergs und Weberns Orchesterstücken opus 6 oder Varèses Hyperprism , Ionisation und Déserts zu finden sind. Indem freilich solche Valeurs bei Cage in eine dramaturgische Leere fallen, nehmen sie den Unterton des Inflationären wie Unabänderlichen an. Ohne die Intentionalität des Widerstands in der Faktur sind sie, bis hin zum Ausdruck des Affirmativen, eher dem Verhängnis ausgeliefert, als daß sie dieses zu fassen oder überhaupt als Angst zu artikulieren wüßten. Manche Versionen des Solo for Piano, der Klavierstimme des Concert for Piano and Orchestra , lassen an den Gedanken vom "zerbombten Bewußtsein" denken, eine Formulierung Adornos, der seine Reaktion anläßlich eben dieses Klavierkonzerts als eine des "Entsetzens" beschrieben hat. Darin ist Cages Musik gewiß mehr eine der Versagung und Destruktion als eine der Befreiung. Eine Musik, der gegenüber Berios Sinfonia etwas von elegantem Styling annimmt. Will Cages Komponieren ausdrücklich der Repräsentanzlosigkeit verpflichtet sein: sein diagnostischer Aspekt, sein Traditionskontext und der davon bestimmte Rezeptionsfokus sind ihm konstitutiv. Mithin bleiben seine Absicht, "die Töne dahin gehen zu lassen, wohin sie wollen, und sie das sein zu lassen, was sie sind"(41), sowie seine Mahnung, ein befreites Hören hätte nur die Klänge an sich zu hören, geradezu naiv. Hierin liegt eine Parallele zu jener Attitüde, mit der Cage, verführt von der Designifikanz der Musik und unbekümmert um erkenntnistheoretische Probleme, allzu leicht dem Zen-Gefühl des Ausstiegs aus dem historisch normierten Bewußtsein nachgibt. Anders als Wittgenstein, der stets die Grenzen des Sprachgefägnisses vor Augen hatte, zergehen Cage unter östlichem Einfluß die abendländischen Dualismen und das sie begleitende Differenz- und Schuldbewußtsein zu schnell und spurenlos; etwa die platonischen Dichotomien von Zeit und Ewigkeit, von Augenblick und Dauer und ihre christliche Diesseits- und Jenseits-Trübung, die Cage schlicht der Vulgärdialektik zurechnet. Das heißt einem Denken, das aufgrund der "Lügen" von "Ja und Nein"(42) unfähig ist, "Gegensätze" als "Nicht-Gegensätze" zu sehen; zu schwach und deshalb zu imperialistisch, um "Chaos und Ordnung" nicht dem Satz vom Widerspruch zu unterwerfen.(43) *** Konnte Adam von Fulda gegen Ende des 15. Jahrhunderts Musik ihrer Flüchtigkeit wegen noch als "meditatio mortis" verstehen, wird sie vom Bewußtsein des homo faber zunehmend als Entlastung und Erhebung vereinnahmt. In ihr hat sich >Zeit in der Zeit aufzuheben<(44), in ihr vermittelt sich das Gefühl von Unsterblichkeit.(45) Die musikalische Zeit insbesondere erhebt als Kompensation der real zerrissenen und vergänglichen nunmehr gerade Einspruch gegen den Tod; in einer Art Erlösungsmission, die Nietzsches Diktum auf den Punkt bringt: "wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen".(46) In einer sich beschleunigenden Verwertungsökonomie und ihrem Horror vor Ausfallzeiten werden Leben und Zeit selbst zum horror vacui. Der Neuzeit gilt jegliches tempus interruptum als Bedrohung, sofern es das innerweltliche Getriebe auf sein melancholisches Fundament hin öffnet. Während die vita activa wie in Tschechows späten Stücken dem Sog der Schwermut widerstehen soll, soll sich die Welt dem bürgerlichen Expansionsdrang in der Kunst zum narzißtischen Spiegel fügen. Wenngleich nach dem Rückfall des Bürgertums hinter seine Citoyen-Ideale das "omnia ubique" der Werke auf seinen ethischen Grund hin transparent wird: in Werken, in denen es "keine Stelle" gibt, "die dich nicht sieht"(47), die zum "tausendäugigen Argus" werden, "damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde".(48) Mit dem realen Übermaß an katastrophischer Erfahrung verdichtet sich die Gegenwelt des ästhetischen Kontinuums zunächst noch stärker. Je weniger Geschichte als heilsgeschichtliche Folge zu registrieren war, desto gewichtiger wurde der Organismus-Gedanke, bis auch er nicht mehr zu halten war. Daß alles wechselseitig Zweck und Mittel sei, kulminiert in der Musik um 1800 zum Spannungskalkül von Harmonik und Kontrapunkt und zur Dramaturgie einer motivisch-thematischen Arbeit, die sich final ausrichtet und in Beethovens Symphonik das Bündnis von Zeit und Ideal in Szene setzt. Der ästhetische Schein wird zur Vorschule einer geschichtsmächtigen Theodizee und zur Bestätigung der Autarkie des Geistes. Konsequent attestiert Hegel, dem die prosaische Empirie als "bloßer Schein" galt, den "Erscheinungen der Kunst der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber die höhere Realität und das wahrhaftigere Dasein"(49). Solche Läuterungsunternehmen weist Cage zurück. Er begreift die "Geschichte der Kunst" als den Versuch, "das Häßliche loszuwerden, indem sie es zu einem Teil von sich macht und es integriert".(50) In seiner Ablehnung des Bruchs von Kunst und Leben ironisiert Cage die Verinnerlichungsästhetiken Schopenhauerscher Provenienz. "Wenn das Verlangen gestillt ist, und der Wille zu Ruhe kommt, wird die Welt als Idee offenbar. In dieser Sicht ist die Welt schön und entrückt dem Kampf um die Existenz. Dies ist die Welt der Kunst. Allerdings, Betrachtung allein wird den Willen nicht völlig zur Ruhe bringen. Er wird wieder erwachen."(51) Nicht weniger ist der Geniekult mit seinem Repertoire von Intuition, großem Einfall und Originalität und seinem Vom-Leben-Abgeschnittensein für Cage ein Relikt des 19. Jahrhunderts, eine Flaubertsche Attitüde des "Odi profanum vulgus". Doch "ein Elfenbeinturm existiert nicht". "Vor dem Leben", vor "Krankheit und Tod", vor "Kichern und Reden" als den Irritationen des ästhetischen Rituals "gibt es kein Entkommen."(52) Bedeutet "Leben ohne Tod kein Leben mehr", sondern bloße "Selbst-erhaltung", dann liegt im "Akzeptieren des Todes ... die Quelle allen Lebens".(53) Indem die Prosa der Welt in einer Musik präsent ist, die ihre "Umgebung einschließt" und "nicht von Schatten (durch die Umgebung) unterbrochen" wird(54), läßt Cage ein Moment des Todes in die Musik ein: in größtmöglicher Offenheit für die Anfälligkeiten, Störungen und Zumutungen des factum brutum Empirie, gegen die Stilisierungen der Kunst und die Kunst der Stilisierung. "Alles kann allem folgen (vorausgesetzt, Nichts wird als Grundlage genommen)"(55), "kein einziger Klang fürchtet die Stille, die ihn auslöscht", da es "keine Stille (gibt), die nicht mit Klang geladen ist".(56) Es ist dies eine Spur des Todesgedankens, die nichts mit dem von Hegel am Christentum kritisierten "letzten Stündlein" zu tun hat; mehr schon mit der Leichtigkeit des Todesbewußtseins bei Nietzsche, mit der von Adorno so genannten "Ergebung" Schuberts oder mit Feldmans späten Stücken, die dem Ausdruck nach etwas von Kafkas unerlösbarem Jäger Gracchus an sich haben: bewegte Stasis am Rande der Stille. Ähnlich Feldmans Trio , For Philip Guston , String Quartet 2 oder Coptic light umschreibt Cage die Aporie, daß jedes Komponieren Zeit in Beschlag nimmt. Noch seine Arbeit mit dem Zufall ist Formung und Verfügung, sofern sie gegen die Intention des Intentionslosen Töne zur akustischen Präsenz oder Nichtpräsenz zwingt. Dieser mortifizierende Aspekt sensibilisiert Cages Todesfigur ebenso wie der Umstand, daß seine gegen den Schein gerichteten Realisationen in ihrem Stilisierungsrest nicht der Lebens- und Zeitrealität entgehen können. Das heißt einer Grenzgewalt, die im Begriff des "tempus", des "temnein", des "Ein- und Abschneidens" fortdauert. Daß Cage den Begriff des Ästhetischen in Frage stellt, verwandelt seine Musik zum fading zwischen Kunst und Realität. Darin denkt sie als "Todfeind der realistischen Ideologie" und im Zug der Avantgarde die "neue Sachlichkeit zu Ende: nichts soll in Kunst ein anderes vortäuschen, als was es ist".(57) Cage folgt deshalb nicht mehr den Bewältigungsphantasien des selbstverliebten Ich. Seine Abkehr vom Theater des Subjekts verlagert die "Verantwortung des Komponisten vom Machen aufs Akzeptieren". Entscheidend ist, zu "akzeptieren, was auch kommen mag, ungeachtet der Konsequenzen" und ohne eine "vorgefaßte Idee von dem, was geschehen wird". Das heißt "furchtlos sein".(58) Ungeachtet ihres zenphilosophischen Hintergrunds erinnert Cages Akzeptanzforderung an den Heroismusbegriff Nietzsches. Schon dessen Zeittheorie ohne Jenseitstranszendenz und "ohne ein Finale ins Nichts"(59) hatte einer ateleologischen, von der Ökonomie des Mangels befreiten Apotheose des Lebens durch die Umwertung des "Schon einmal" zum "Noch einmal" das Wort geredet: im Pathos der "höchsten Formel der Bejahung". Gleich Nietzsches "Amor fati" gilt der "Bejahung des Lebens"(60) bei Cage für "heroisch", >die Situation, in der man sich befindet, zu akzeptieren<(61). "Wir alle sind Helden, wenn wir akzeptieren, was kommt".(62) Akzeptanz meint hier in erster Linie, wie Cage ausführt, das Freisein von einer subjektverklärten Egomanie und vom Kolonisierungseifer ihrer Täuschungen und Zurichtungen. In diesem Bewußtsein will er ähnlich der Revolte Dadas den versteinerten Gesellschaftsmythos gegen die institutionellen Dämpfungen der Politik aufbrechen und die Maschen des instrumentellen Denkkorsetts lockern. Die transsubjektive Kraft des Zufalls um des Neuen willen soll die Kunst zu einer "Art Labor" profilieren, "in dem man das Leben ausprobiert".(63) Während das geschlossene Werk aufgrund seiner spezialisierten Kompositions-, Interpretations-, Analyse- und Höranforderungen zum Studium einer ästhetischen Sonderwelt anhält, sucht sich Cage den Zumutungen wie den Möglichkeiten der technisch industriellen Welt auf eine geradezu prosaische Weise zu öffnen. Inmitten einer globalen Technisierung und elektronischen Vernetzung, die am wenigsten vor der Besonderheit des Ichs haltmachen, und gemäß dem Kantischen Widerstandsmaß eines Erhabenen der Moderne. Sei es, daß Cage "einige Bilder amerikanischer Maler, zumal Bob Rauschenbergs, dazu verholfen haben", "ohne Abscheu über den Times Square gehen" zu können. Sei es, daß ihm das "Komponieren von Radio-Musik" ermöglicht hat, die allgegenwärtigen "Fernseh-, Radio- und Muzak-Klänge" auszuhalten.(64) Cage visiert hier das Problem der Ausschließung und deren Aufhebung an. Ein Problem, das er am tonalen Kosmos als einer Ordnung des Erlaubten und Unerlaubten demonstriert. Erlaubt ist der purifizierte Ton, verboten das Geräusch. Ist dieser Akkord, dieses Motiv, diese Syntax, diese Form von der Episteme des Stils und seinen Grenzen her legitimierbar? Spiele ich - abgesehen von der Furcht, den Faden zu verlieren - diese Sektion, diese Variante in der richtigen Dynamik und Phrasierung? Höre ich diese Sequenz als eine Umkehrung der vorangegangenen richtig? Alles Fragen für den Komponisten, den Interpreten, den Rezipienten aus dem Katechismus einer inquisitorischen Musik, wie Cage sie versteht. Indem nach Cage das geschlossene Werk den Akt der Komposition, der Interpretation und Rezeption in ein quasi inquisitorisches Hören verspannt, in den Zirkel von Gehorsam, Hörigkeit und Verhör, übernimmt das Ohr gleich dem Blick eine Überwachungsfunktion.(65) Was Comte und seine Nachfolger als ein Prinzip des positiven Geistes bezeichnen, das "voir pour prévoir", das "prévoir pour prévenir", wird zur Direktive auch des Gehörs.(66) Cage hingegen "vermeidet die Vorstellung etwas zu vermeiden. Alles ist möglich". Indem seine Musik "keine Einschränkungen geltend" macht(67), scheint sie einlösen zu wollen, was Foucault als die Mechanismen der Kontrolle, der Selektion, der Organisation und der Kanalisierung des gesellschaftlichen Diskurses analysiert und als die "Prozeduren der Ausschließung" im Namen des "Verbots", der "Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn" und des "Gegensatzes zwischen dem Wahren und dem Falschen" bestimmt hat(68). Als die Formierung des Zwangs der Wahrheit, des Willen zur Wahrheit und der Macht des Diskurses, deren man sich zu bemächtigen sucht, zur Kastrationsgewalt der Gesellschaft und ihrer reglementierenden Wirkung hauptsächlich in den Bereichen Sexualität und Politik. Wie Foucault behält Cage die Repräsentanz der "ganzen Gesellschaft" im Blick, "unter Einschluß z. B. der Verrückten (sie reden die Wahrheit)".(69) "Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts - dies sind die drei Typen von Verboten, die sich überschneiden, verstärken oder ausgleichen und einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert."(70) In Cages Präsenzzeit des "Alles zugleich" und ihrer Einlösung in den Projekten des Musicircus soll Pluralität deshalb nicht zur Heterogenität zersplittern, sofern von Heterogenität nur von einem Ort der Wertung und der Logisierung aus gesprochen werden kann. Cages "omnia simul", um einen Terminus des Nicolaus Cusanus aufzugreifen, will die Gegenwart der Welt jenseits der Gewalt selbst noch der moralischen Selektionsraster begreifen: "es paßt alles zusammen und verlangt nicht, daß wir es zu verbessern versuchen oder unsere Unterlegenheit oder Überlegenheit dazu fühlen. Es gibt immer Aktivität, doch sie ist frei von Zwang; sie kommt aus der Gleichgültigkeit".(71) Diese Gewähr des "disinterest" hat nichts mit stoischer Apathie und Rechtfertigung zu tun. Gewiß aber mit einer Aporie des modernen Bewußtseins und einer jener kritischen Praxis des Lassens, die stets das Schwergewicht der Katastrophengeschichte gegen sich hat und sich gegen den Sog eines ethisch-politischen Indifferentismus behaupten muß. Abgesehen davon, daß Cages Praxisbegriff demjenigen Adornos näher steht, als man gemeinhin vermutet, können eine Prävalenz des Indifferentismus bei Cage nur Moralnaive behaupten, die zum einen noch nichts vom Repressionspotential der Moral empfunden haben, und zum anderen nicht verstehen können, daß der entzauberte Blick auf die Welt noch lange nicht bedeutet, zum untätigen Mitläufer zu werden oder mit der zynischen Attitüde des Büchnerschen Saint-Just womöglich gar noch Auschwitz zu rechtfertigen.(72) Cages zenbuddhistisch gefärbte Sicht einer gleichen Gültigkeit aller Dinge steht quer zur abendländischen Tradition, der eine solche Unterhöhlung des Rang- und Wertungsgefälles seit je verdächtig und nur als Gleichgültigkeit vorstellbar war. Mehr noch: als Ketzerei oder als Ausdruck von Wahnsinn und Krankheit. Gleichwohl läuft dem Trennungs- und Stufendenken untergründig eines der universalen Korrespondenz und Gleichrangigkeit parallel. Essentiell im Spektrum der Mystik. Ein Gegenstrom zur offiziellen Hierarchiedoktrin und einer der Säkularisierung; ob bei Eckhart, Cusanus, Bruno oder Schlegel. Was kümmert die Scheidung in gut und böse, hoch und niedrig, wenn sich der mystischen Schau Erde und Himmel vermählen? Wenn im Universum "der Punkt nicht vom Körper, der Mittelpunkt nicht vom Umfang, das Endliche nicht vom Unendlichen, das Größte nicht vom Kleinsten verschieden" ist? In einem "Universum", das "ganz Centrum" oder dessen "Centrum ... überall" ist?(73) "Daß jedes Ding ... sein Zentrum hat und daß dieses Zentrum immer das wahre Zentrum des Universums ist", war immerhin eines der Hauptthemen von Cages Zenstudium.(74) Obzwar die Idee des Musicircus wie Ives' geplante Universal Symphony auf eine Art Kafkasches "Naturtheater von Oklahoma" zielt: was Cage nicht wahrhaben will, ist die oft gegen seinen theoretischen Entwurf affirmativ ins Chaotische und Pathologische abgleitende Tendenz seiner musikalischen Szenarien, selbst wenn ihm utopische Fluchtpunkte wie in Roaratorio gelingen. Wobei die befreite Offenheit dieses Irish Circus on Finnegans Wake vielleicht gerade aus dessen kaum wahrnehmbarer Dramaturgie der subtilen Wiederholung resultiert. Weit eher verfällt Cages Musicircus der unaufhörlichen Dissoziation als einem Stereotyp der Gleichzeitigkeit. Daß in A House full of Music die Simultaneität beliebig ausgewählter Musiken ebenso als Sinnbild einer chaotischen Weltimmanenz aufgefaßt werden kann, ist ein Aspekt davon. In einem Stück wie dem Multimediaspektakel HPSCHD schließlich verdichtet sich die Überlagerung der Ereignisse zu einer Art eingeschwärztem Klanggrund. Unter der von Thoreau entlehnten Umwertungsmaxime Cages: "Musik ist andauernd, nur das Hören ist zeitweise"(75), läuft die universale Entgrenzung von Musik der Entdifferenzierung zu. Und zwar gerade durch die Aufhebung ihres ästhetischen Ausschlußcharakters. Mit der Gleichrangigkeit des Vielen, dessen Quantität die Qualität zum Verschwinden bringen soll, gerinnt der Musicircus zur akustischen Black box, einem Stimmenbabel, das sich dem Widerhall eines warenhaften Pluralismus jenseits von Gut und Böse annähert. Cages Gedanke, wie es anzustellen sei, daß nichts über nichts Gewalt habe, wird selbst zur akustischen Gewalt: zu der des Ununterscheidbaren. Zudem treibt die Massierung der einzelnen Musiken, die sich gegenseitig auslöschen, den Erkenntnischarakter gegen null. Wo man alles hört, hört man nichts. Gelegener kommt Cages zenbuddhistischer Präferenz allerdings die Umkehrung: wo man nichts hört, hört man alles. Beeinflußt von Artauds Theorie des Theaters und ohne Rücksicht auf ästhetische Fragen gerät hier Cage am stärksten ins Fahrwasser des Konservativen. Die Offenheit für die Stimmen der Welt, selbst für das, was landläufig als Gegenmusik gilt, die Idee, das "ganze Leben (werde) zur Musik", sofern wir nur außer acht lassen, "was sich >Musik< nennt"(76), zeigt Züge jugendstilhafter Naivität mit einer Verklärung des Faktischen. Daß Cage anstatt von Chaos lieber von Desorganisation oder von der Vielzahl gegenseitig sich durchdringender Zentren spricht, hat seine politisch blinde Kehrseite: das Eindringen irrationaler Naturwüchsigkeit in die Musik des Zufalls. *** Seit der Renaissance lag das künstlerische Soll darin, Einmaligkeit gegen deren Brechung im Code des Allgemeinen zu retten und das in seiner Unverwechselbarkeit kodifizierte musikalische Werk ständig neu erscheinen zu lassen. Kraft einer Wiederholung des Unwiederholbaren. Cage hingegen gibt die Objektstatik des einmaligen und seine Einmaligkeit paradox als Nicht-Identität der Identität reproduzierenden Werks wegen dessen Verdinglichungsbereitschaft auf. Unterliege doch die semeiographische Durchformulierung jenem Kontext von Schrift, Ökonomie und Herrschaft, der die Notation zum Zeichen-Grab der Musik und zur Totenmaske der Komposition gerinnen läßt. Wenn Cage den Propheten im Hörer - vom wiederholbaren geschlossenen Werk her gesprochen -, zugunsten des Akteurs enterben will, nimmt er die Tendenz der ästhetischen Produktion zu Verausgabung und Einmaligkeit ernst. Gegen die Metaphysik der Wahrheit als einer der Wiederholung entäußert seine Nicht-Wiederholbarkeit des Unbestimmten das Phänomen der Wiederholung zu dem der seriellen Differenz. Gegen die Statik von Original und Originalität setzen Cages Serien des Singularen das Nomadentum des Ungewissen. "Man kann nichts genau wiederholen, nicht einmal sich selbst. Das führt zu einer Erfahrung mit derartig vielen Variationen, daß die Dimension der Ähnlichkeit verschwindet".(77) Daß Cages aleatorische Streuung in ihrer Objektivation und Realisation häufig Werken des seriellen Determinismus gliche, wurde oft behauptet. Danach erreichen das "gänzlich Zufällige, das seine Sinnferne hervorkehrt und etwas wie statistische Gesetzlichkeit verheißt, und das ebenso Sinnferne einer Integration, die nichts mehr ist als ihre eigene Buchstäblichkeit, ... den Punkt ihrer Identität".(78) Übersehen wird dabei die Differenz, daß ein "nicht-determiniertes Stück" - "mag es auch wie ein total determiniertes klingen - im wesentlichen ohne Intention gemacht (ist), so daß - anders als bei der Resultatmusik - zwei Aufführungen immer verschieden sind".(79) Deshalb ist die Aufführung unbestimmter Werken unwiederholbar.(80) Zudem entsteht in ihnen die Logik der Beziehungen primär durch den Willen des Rezipienten und nicht aufgrund einer in der Partitur kodifizierten Konstruktion des Komponisten. Obwohl Cage in späteren Jahren Aufnahmen seiner Musik gegenüber allzu nachsichtig wurde; obwohl die Konzession an das Archiv der Musik, an die Aufzeichnung seiner auf Unwiederholbarkeit angelegten Kompositionen, Cages enttäuschender Kompromiß mit dem Kunstbetrieb im Zeitalter universaler Reproduzierbarkeit ist, gleichsam die kommerzielle Rehabilitierung des Werkcharakters: die elektroakustische Fixierung seiner indeterminierten Stücke bedeutet von Cages Zufallstheorie her eine Reduktion auf den Objektstatus; ein Stück Verdinglichung als Zugeständnis an den üblichen Lern-, Logisierungs- und Projektionseifer, über Repetitionen strukturier- und domestizierbar. Eine Eingemeindung der unwiederholbaren Differenz in die Gedächtnisakkumulation von Bekannten und als wiederholbare Identität eine Entschärfung von Offenheit und Experiment zum memorablen Besitz eines Werks, das "sich jedesmal gleich an(hört)"(81), weil es das Wagnis des Zufalls seiner Sicherheit unterwirft. Cages Vorstellung von Verausgabung und Unwiederholbarkeit bleibt eng an seine Kritik der Repräsentation gebunden, wesentlich an die einer Musik der ausnotierten Strukturen. Eine Kritik am Aufschub zwischen dem idealen graphischen Signifikanten und seiner Realisierung im Akt der Interpretation und Rezeption. Diese Differenz will Cage zum Verschwinden bringen. Durch immer weniger Anweisungen mit immer größerer Wirkung. Hin zu einer Musik, bei der alles zu jeder Zeit eintreten kann. Als Aufschub und Delegation macht Repräsentation eines der Charakteristika abendländischer Episteme aus. Insbesondere seit der Verschränkung von Gattungssubjekt und Fortschrittsemphase mit dem Ziel einer verwirklichten Gesellschaftsutopie. Gegen diesen Eudämonismus der Vertröstung und seinen Verrat am Hier und Jetzt fordert schon Heine, daß die Gegenwart "nicht bloß als Mittel gelte" für den >Zweck der Zukunft<.(82) Auch Cage begreift Linearität als selektive Verweigerung im Unterschied zu den Ressourcen simultaner Fülle. Sukzession bleibt für ihn an den Imperativ der Folge gebunden, den bereits die von Mallarmé projektierte Unbestimmtheit der Leserichtung aushöhlt und die um "abolition" und "silence" kreisende "poésie pure" zwischen Nichts und Absolutheit changieren läßt; gestreut um den Topos der "Leere", der "Lücke" und des "Weißen". So sehr Cages Aversion gegen Werturteile in der Aversion gegen eine Zeit des Zu-Gericht-Sitzens gründet(83), so sehr gründet seine Abneigung gegen die symbolische Repräsentation in der Abneigung gegen Verschleierungen und Verzögerungen. "Kein Ding braucht im Leben ein Symbol, da es deutlich das ist, was es ist."(84) Symbol aber bedeutet Aufschub. Für Cage liegt darin der eigentliche Anlaß, den einzelnen Ton nicht mehr zum Mittel der Repräsentation eines ihm vorausliegenden Sinns zu funktionalisieren. Entsprechend seinem Ideal der pulverisierten Sprache, die jegliche Differenz getilgt hat und nur noch sich selbst bedeutet, ist Cage jenes ästhetische Glück der Sinnlichkeit und der Erkenntnis fremd, das sich dem Netz der flottierenden Bedeutungen und ihrem Luxus der Verzögerung verdankt, den Ver- und Enthüllungen, den Erwartungen und Erfüllungen, dem Eros des Symbolischen also. Cages Aversion gegen den Vereinnahmungs- und Besitzhabitus von Gedächtnis, Repräsentation und Wiederholung hat ihren gesellschaftlichen Hintergrund. Für Cage ist es nötig, mit der Erfahrung und Denken verblendenden Disziplinierung und Fokussierung einer Reliquien- und Gedenkkultur tabula rasa zu machen. Erst dann scheint ein Anfang der Veränderung möglich. Devotionalien machen devot. Nie hat Cage seine politische Intention im Kampf gegen die Verkrustungen des Kulturbetriebs verleugnet. Er mißtraute der ">Ausstreuung< von Kultur" durch die "Maschine" als einem Rückzug ins Vergangene und einer Kulturlosigkeit von Museumsverwaltern samt den entsprechenden apolitischen und deshalb sehr wohl politischen Konsequenzen(85). Vergleichbar Emersons und Nietzsches Mißtrauen gegen antiquarische Geschichtshörigkeit. Daß auf dem sogenannten E-Musik-Sektor via Rundfunk und Tonträger alles jederzeit verfügbar sein soll, hat neben dem Effekt des unumschränkten Zugriffs und scheinbarer Fülle zugleich eine drastische Nivellierung zur Folge. Die Beethoven-Symphonie, die um acht Uhr morgens aus dem Lautsprecher tönt, wird zur Nebenbei-Musik, zum musikalischen fast food. Und was derzeit als "Klassik-Radio" die Ohren verseucht, ist Kommerz pur: Musikdesign einer zunehmend gleichgeschalteten Weichspülerkultur. Daß es hierbei noch um Musik gehe, ist reiner Aberglaube. Während die Psychographie der museal gegenwärtigen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts den tonalitätsverwöhnten Kunden in bürgerlicher Affektökonomie unterweist, dient der Ausverkauf des Eingängigen nur noch der Normierung. Dem elektronischen Mumifizierungs- und Verwaltungskult noch auf dem musikalischen Sektor entspricht ein zurückgebliebenes Gedächtnis. Eines, das als konservatives Integrationsreservoir Unbekanntes abzuwehren oder rückzubinden sucht; zur Bestätigung des Status quo abgerichtet, indem es den steinzeitlichen Überhang des Überlebenskampfes in konkurrierende Behauptungsstrategien überführt, und konform einer Gesellschaft, deren Verdinglichungsmacht und Besitzvereisung zwar ständig nach neuester Technik verlangt, die ihrem ästhetischen, politischen und ökonomischen Bewußtseinsstand nach aber unerträglich vergreist bleibt. Im Mißtrauen gegen dieses Gedächtnis, dessen Sucht nach Verständlichkeit die Entlastung vom Experiment festschreibt, gründet Cages Ablehnung des mnemonischen Fixums und sein antipsychologisches Beharren auf einer "Kontinuität, die nicht mehr versucht, einen Höhepunkt zu erreichen".(86) Als Liturgie der Gewohnheit und der Gewöhnung erfüllt gerade der philharmonische Diskurs seine Komplizenschaft mit dem kapitalismusgegängelten formaldemokratischen System. Er verkommt weithin zum Pseudo-Ereignis, seine Mnemotechnik zum Anpassungstraining: Hören als Einübung in die Ritualisierung des Bestehenden. Laut Cage übrigens einer der Gründe, warum es nahezu unmöglich ist, "in Gegenwart eines wohlbekannten Meisterwerks lebendig zu bleiben". "Die Erinnerung ist in Aktion und macht uns aufmerksam auf das, was als nächstes geschenen wird".(87) Selbstverständlich handelt es sich nicht darum, berserkerhaft mit der großen europäischen Musik der Vergangenheit abzurechnen. Wohl aber darum, einer Musik des Heute gegen das Mausoleum der klassischen Tradition gerecht zu werden. Dem Publikum der Symphoniekonzerte, süchtig danach, in immer derselben Musik immer dieselben Dramen zu erleben, verkehrt sich jede goutierte Komposition zur Todesmusik wider Willen. Der Wiederholungszwang wird tödlich, die Lethe im Vergessen des Gegenwärtigen letal. Die Vermarktung des vermeintlich Bekannten steht im Bann einer Kastration, die nach dem Maß der versteinerten Ökonomie die Erfahrung des Neuen abschneidet. Vergangene Musik, die nicht mehr dem Bewußtsein der gegenwärtigen ausgesetzt wird, verkümmert zur philharmonischen Nekrophilie, die einer allseits neurotisch gezähmten Konzilianz dient. Die unheilige Allianz zwischen der aggressionsgeladenen Furcht vor dem Fremden und der panischen Angst vor dem Offenen gerät zum Kotau vor einer in Verwesung übergegangenen Tradition. So hat vornehmlich das Opernrepertoire die Aufgabe übernommen, die Feier der Affekte mit dem stranguliert gelebten Gefühlsleben zum kleinbürgerlich beschränkten, weil seit hundert Jahren eingefrorenen Zirkel der Emotionen kurzzuschließen. Vom Anästhesieunternehmen der Kulturindustrie her ergänzen sich letztlich noch Philharmonie und Talkshow. Auch wenn deren Beicht- und Gesprächssehnsüchte, ihre Mischung aus Exhibitionismus und Voyerismus, von der Sucht nach Nähe in Gang gehalten werden; auch wenn in der trivialisierten Bekenntnismentalität der Schmerz der Betroffenheit liegt: stets handelt es sich um das gleiche Recycling ökonomieverfilzten Autoritätsmülls. Mit dem Talkmaster als Leader und Absahner, den Interviewten als seinem Profilierungsinstrument und einer zu Applaus-Statisten funktionalisierten Masse im Kult des Geredes. Alles in allem ein Konsens- und Stillhalteabkommen in immer derselben unverbindlichen Form, frei von der Konsequenz der Veränderung und dem psychosozialen Mechanismus zwischen Dirigent, Orchester, Musik und Publikum täuschend ähnlich. "The masterpieces of Western music exemplify monarchies and dictatorships. Composer and conductor: king and prime minister."(88) Cages Ernstnehmen der Empirie will den Bruch zwischen Kunst und Leben im Namen einer Praxis der Veränderung zum Verschwinden bringen. So wirkt sich der amerikanische Pragmatismus Cages - sein Beharren auf dem >Gebrauch< gegen >totes Eigentum< und gegen ein vom Handeln entlastendes Haben sowie seine Insistenz auf einem "Netzwerk sozialer Nützlichkeiten"(89) anstelle politischer Machtgefüge - in einer Konzeption des Aktivmachens aus. Bis hinein in den Bereich der Sprache. "If a lecture is informative, then people can easily think that something is being done to them, and that they don't need to do anything about it except recieve. Whereas, if I give a lecture in such a way that it is not clear what is being given, then people have to do something about it."(90) Für Cage, der beim Schreiben "literarischer Texte" die "gleichen Kompositionsmittel" anwendet wie in der Musik(91), konvergieren Musik und Sprache in einer Desillusionierung des Vertrauten mit praktischer Folgewirkung. Während die auf ihr Überschreitungspotential hin durchschaute und dennoch unbewegliche "Mangelwirtschaft"(92) Abfuhrleistungen erzwingt, um Apathie und Aggression zu kanalisieren, leitet sich nach Cage die "Fähigkeit, die Gesellschaft zu ändern", von der "Möglichkeit" ab, den Geist zu ändern".(93) Bewußtseinsveränderung ist seine Hoffnung, um die Amnesie der Gesellschaft nicht vorschnell als Symptom ihres hippokratischen Gesichts zu diagnostizieren oder anthropologisch zu verabsolutieren. Natürlich wußte Cage um das Privileg und um die Beschränktheit der musikalischen Sphäre, ohne die Hoffnung aufzugeben, ihr Modellcharakter könne "Situationen schaffen, die den erwünschten sozialen Zuständen analog sind", und "didaktische" Impulse in Richtung einer praktikablen Anarchie liefern(94). Noch die mörderische Virtuosität, die Cage einer Interpretation der Freeman-Etudes abverlangt und in Richtung des Unspielbaren laufen läßt, steht für das Beispiel einer "practicality of the impossible". Und der Kommentar zu den Stimmen des Orchesterstücks 101 betont: "A performance of music can be a metaphor for society." Stets ging Cage davon aus, Musik habe etwas damit zu tun, "daß man sich ändert".(95) Floriert in der Welt der Kulturindustrie, was sich der Wiedererkennung und dem Entertainement fügt, so hält Cage eine Musik, die sich dem "Publikumsgeschmack beugt", für das "Gegenteil einer ... revolutionären Haltung, weil der Status quo einfach übernommen und bestätigt wird".(96) Während die Unterhaltungsindustrie Ablenkung an das Gebot des Funktionierens bindet und die Einbildungskraft der Linearität ihrer Sprach-, Bild- und Musiksequenzen unterwirft, zielt das Zugrundegehen und Verwandeln der musikalischen Parameter bei Cage auf eine Sprengung der Linie. Auf eine Konfusion, die "zur Unordnung anstiftet"(97), um die Kausalmaschine gesellschaftlicher Dressur und deren Bestätigungsrenditen zu sabotieren. Wie Adorno wendet sich Cage gegen die Besetzung des Bewußtseins durch die Ausschluß-, Stabilisierungs- und Verwertungsimperative einer gerade auch ästhetischen Besitz- und Profitökonomie im mainstream der verkabelten Kommunikationsgesellschaft. Darin kommuniziert Cage's Forderung, etwas zu erzeugen, "das ... uns an nichts erinnert", mit derjenigen Adornos: "Dinge (zu) machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind".(98) Schlegels Ironisierung der Form, Schopenhauers Reflexion zur Aufhebung des Satzes vom Grund, Kierkegaards Relation zwischen dem "Plötzlichen" und "Gesetzlosen", Baudelaires Strukturgesetz der Ruptur, Nietzsches sardonisches Lachen: in ihrer Subversionsarbeit verdichten sich diese Motive zum Abgesang auf das Ende der teleologischen Idee. Mit ihm verschärft sich die Historisierung transhistorischer Kategorien. Namentlich bei Nietzsche und seiner Entlarvung des Hysteron-Proteron, die letzten, abstraktesten Begriffe als die ersten zu unterschieben; einer Entlarvung des Credos also, das Wahre könne nicht geworden sein. Im Haß gegen das Werden, in der Lüge der Einheit und der Dauer werden die Vorurteile der Metaphysiker als ontologische Verdinglichungen aufgespürt, um sie in die Dynamik von Genese und Genealogie zu überführen.(99) Derselbe Atem der Moderne macht noch bei Cage den Gedanken des "Fließens" stark: im "Prozeß" der Welt und einer ihm adäquaten "Musik der Wandlungen".(100) Von hier aus ergeben sich Spuren zum zivilisationskritischen Natursujet aus Thoreaus Walden oder, was Cages Apotheose des Wechsels und seine Forderung anbelangt, "nicht länger an den Dingen (zu) hängen"(101), zu Nietzsche. Denn wer "nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer". Weshalb der viator mundi "sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen" darf. Es "muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe".(102) Ebensowenig kann Cages Intention wider den verdinglichten Objektstatus, "alles in Fluß (zu) bringen"(103), das romantische Erbe im Impuls der Bewegung und Versöhnung des Erstarrten und Getrennten verleugnen. Ob man an Schlegels Emphase denkt, die "Freiheit des Denkens" wisse "von keinem Stillstande"(104), oder an den seit der Frühromantik virulenten Liquor der universalen Korrespondenzen. Wie bei Jean Paul der Witz gegen die kausale Zwangsjacke "ähnliche Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen" findet(105); wie er bei Schlegel als Attacke gegen das Realitätsprinzip die Liquidation der Verhärtungen mobilisiert, um das Entlegenste zu verbinden und als "kombinatorischer Geist" ohne "alle Absicht und bewußtlos" etwas zu entdecken, "was mit dem Vorhergehenden gar keinen Zusammenhang hat"(106); wie sich bei Baudelaire dank der Imagination "les rapports intimes et secrets des choses, les correspondances et les analogies" entschlüsseln(107): so will auch Cages Simultaneität die "Koexistenz von Ungleichen"(108) zu einer "Vielzahl von Zentren und einer Vielfalt von Zentren"(109) entbinden. Nun allerdings ohne die Regie genialischer Subjektivität und ohne die Klammer sequentieller Logik. Und wenn seit Rousseau die Entfremdungsdiagnosen von Gegentheorien begleitet werden, die von Schiller bis Apollinaire den Künstler die verborgene Verwandtschaft der Dinge in einer poetischen Gegensprache ans Licht bringen lassen, dann liegt der Endpunkt solcher Kommunion in Cages Musicircus, dem es gestattet ist, "alle Arten von Musik zu vereinigen, die gewöhnlich getrennt sind"(110). *** Seitdem sich mit der metaphysischen Tradition die metaphysische Aura der Musik zu zersetzen begann - die ethische Apparatur der Tonalität und ihr Sprachcharakter, der Kanon von finaler Zeit und Subjektmächtigkeit, die Geschlossenheit des ästhetischen Organismus - wurde Komponieren zum offenen, "ziellosen Schreiben" ad infinitum.(111) "Ziel ist, kein Ziel zu haben".(112) Für Cage bedeutet die Zersplitterung der homogenen Zeit deren Befreiung aus einer rhetorischen Repräsentanzfunktion. "Nichts ist gesagt, nichts wird mitgeteilt".(113) Poesie heißt, "nichts zu sagen zu haben und eben dies zu sagen".(114) Mit einer insgeheim formallogisch kanonisierten Philosophie, abonniert auf die Wahrheit der Sprache und die Sätze vom Widerspruch und vom zureichenden Grund, ist zugleich die Ära vorbei, in der ein um Beschreibung, Urteil und Botschaft kreisendes Schreiben als Literatur gelten konnte. Seit Baudelaire geht es nicht mehr um dichterische Kommunikation, sondern um das "arriver à l'inconnu", wie Rimbaud den Gedanken der "nouveauté" aus den Fleurs du Mal praphrasiert. Unter Aufgabe alter Sicherheiten wagt die Moderne den Aufbruch ins Unbekannte. Begleitet von einer Nautik des Abenteuers bei Hume und Kant und einer der Seelenfahrt bei Goethe, Baudelaire, Nietzsche und Rimbaud. Von hier, vom heroischen Akt des Entdeckens und der Lust wie der Furcht seiner Odyssee aus führt ein Weg zu Cages "experimenteller Musik", "bei der geforscht wird, ohne jedoch schon das Resultat zu wissen".(115) Cage, dem Abenteuer und die Erfahrung von Neuem als Notwendigkeit schöpferischen Handelns galten(116), bindet den Begriff des Experimentellen an eine "Situation, in der nichts von vornherein ausgewählt wurde, in der es keine Verpflichtungen und Verbote gibt, in der nichts voraussagbar ist".(117) Wenn in den Sixteen Dance s zum ersten Mal "Charts, Diagramme" benutzt werden, die das "Inventarisieren der möglichen Variationen einer Struktur erleichtern sollen und deren systematischer Gebrauch zugleich von der Qual der Wahl befreit"(118), wird der Komponist zum "Kartographen" einer entlegenen terra incognita. Während die Schriftmetaphorik von Shakespeare bis Eichendorff die Akteure des genus humanum zu Lettern im Buch der Geschichte figuriert und dabei noch vom handschriftlichen Modell und einer Idee des Originals ausgeht, zudem - ob Gott, Weltgeist oder Fatum - von einer federführenden Instanz, drängt sich auf einem hochtechnisierten Planeten mit seinen Produktions- und Destruktionspotentialen das Bild einer gleich mobilen wie flüchtigen Anthropographie auf, deren Spur auf dem globalen Monitor schlagartig verschwinden kann. Bei der sich zumindest die Frage nach einem Zentrum der Regie verbietet. In diesem Bewußtsein ist Cages Musik komponiert: eine "Kunst ins Unbekannte hinein", "weder heiter noch ernst", von der Adorno vermutete, sie sei ebenso "Chiffre von Versöhnung wie von Entsetzen ... kraft der vollendeten Entzauberung der Welt".(119) Eine Musik jedenfalls, die "zu Denken geben" will, ohne daß das Geringste voraussehbar ist".(120) Cages Verneinung, daß seine Musik "irgendwohin führt", ist seine Antwort auf das neuzeitliche Ratio-Ideal der Subsumtion des einzelnen unter das Ganze. Indetermination will das Ordnungsbedürfnis des nach Zusammenhang sich sehnende Hörbewußtsein aussetzen, so wie nach Nietzsche die Literatur der Moderne das theokratische Urteil der Wahrheit aufkündigt. Nachdem die Psychologie von Erinnerung und Erwartung ihre musiksprachliche Grundlage verloren hatte und weder einprägsame Motive und Themen noch harmonische Kadenzverläufe oder rhythmische Schemata die narrative Einfühlung befriedigen konnten, bringt Cages présence permanente zu Gehör, wogegen das Subjektmonopol taub wurde. Deshalb insistiert Cage auf der "Funktion der gegenwärtigen Kunst", uns vor "logischen Bagatellisierungen zu bewahren"(121). Deshalb begreift er mit der erkenntniskritischen Moderne die Rubrizierungen der Logik als unzulässige Abbreviaturen und "Vereinfachungen im Hinblick auf das Ereignis".(122) Und wie Nietzsche unter Aufwertung des Ästhetischen die Dignität von Logik und Verstand als eine des Subsumtions-, Schematisierungs- und Berechnungswahns im Dienst der Nützlichkeit aufdeckt; wie Wittgenstein den "Grund der Sprache" freilegt, um die "Luftgebäude" zu "zerstören", die die "grammatischen Täuschungen" und die "Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache" produzieren(123), so verstört Cage den Glauben, Musik sei das, was bisher als Musik gegolten habe, indem er ex negativo deren rationalen Bann vor Ohren führt. Wie für Wittgenstein eine "ganze Wolke von Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre (kondensiert)"(124), so für Cage eine ganze Wolke von Musik zu einem Tröpfchen Kompositionslehre. Diese Kompositionslehre war es, so Cage, die die Mittel bereitstellte, Zeit strategisch aufzuladen, um darin seit Beethoven ihre Bestimmung zu finden. Daß Beethovens mit Hegels Begriffsmacht vergleichbare taktische Rhetorik schon früh registriert wurde, belegen zahlreiche zeitgenössische Quellen. "Ähnlich den verschiedenen Regimentern, welche durch regelmäßiges Manövrieren die Gewinne der Schlacht verbürgen, folgen die Orchesterteile der Sinfonien von Beethoven den zum Nutzen des Ganzen gegebenen Befehlen; sie sind den bewundernswert ausgedachten Plänen untergeordnet".(125) Mit diesem "Bewältigungspathos der Eingriffe in gefährdete und die Ordnung gefährdende kompositorische Verläufe bringt Beethoven dem plan de bataille seiner Partituren und der "Grande armée" des Orchesters Herrschaftsgesten, Überraschungsmanöver und Blitzsiege zu, die denen der politischen Bühne und dem Habitus Napoleons gleichen."(126) Eben dieser Allianz von Zeit und Strategie wegen, mit der Beethoven den Pakt von Telos und Ethos durchzusetzen wußte, repräsentiert der Heros der bürgerlichen Musik für Cage eine Fehlentwicklung ihrer Geschichte. Und diese Kriegsrhetorik von Musik und Sprache ist es, die Cage - ungeachtet ihrer suspensiven und transsubjektiven Ekstasen bei Beethoven - zu denken gibt: die Einkesselungspraktiken des Urteils, das Phänomen Beethoven als eines Napoleons der Musik. Was liegt näher als die Konsequenz, daß in Cages Concert for Piano and Orchestra die Einzelstimmen nicht mehr zur synchronen Diachronie der Generalstabskarte Partitur vernetzt werden? Musik und Sprache kommunizieren in der Epoche der Tonalität über ihr affektiv gestisches Idiom. Als symbolisch aufgeladene kann Musik aufgrund ihrer "uralten Verbindung mit der Poesie" zur Sprache des "Inneren" werden. "Dramatische Musik" und die >Eroberung< eines "ungeheuren Bereichs symbolischer Mittel" durch die "Tonkunst" in "Lied, Oper und hundertfältigen Versuchen der Tonmalerei" gehören zusammen. Bis die ">absolute Musik<" zu einer "ohne Poesie schon zum Verständnis redenden Symbolik der Formen" und "des inneren Lebens" wird und die "musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist".(127) Noch Wittgenstein vergleicht "musikalische Themen" und "Sätze" in der Hoffnung, die "Kenntnis des Wesens der Logik" könnte zur "Kenntnis des Wesens der Musik" führen(128). In Anlehnung und im Unterschied dazu hat Cages "Bewunderung für alle Dichter, die versuchen, die Sprache von der Syntax zu befreien"(129), jene andere Sprache im Sinn, deren Einsicht in das Fiktive und damit Freie ihres Rapports schon bei Hölderlin den Ausdruck jenseits der Synthesis des Urteils erreichen will. Damit knüpft Cage an die Kardinalthemen der künstlerischen Moderne an: an das der Problematisierung von Urteil und Sprache und an das des Zerfalls der homogenen Zeit. Was die vom Urteil sich absetzende Passion des poetischen Ichs in der Sprachkrisis und Sprachkritik Hofmannsthals einklagt, aktualisiert sich bei Cage zur Forderung einer "Entmilitarisierung der Sprache".(130) Im Gefolge Nietzsches, "dass unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heissen , als was sie sind"(131), und Hofmannsthals, dem sich die Worte vor die Dinge stellen(132), pulverisiert Cage die "enkratische Sprache", der im Akt des Benennens das Benannte zum "Objekt" gerinnt - und sei es eine "Sternengruppe" unter dem Namen ">Großer Wagen<".(133) Es war Nietzsches Vermächtnis an die Moderne, den Wahrheitsanspruch der Sprache zum "beweglichen Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz einer Summe von menschlichen Relationen"(134) desillusioniert zu haben. Daß die Urteile der Logik auf "Zeichen-Convention"(135) beruhen, Wahrheit ihnen somit nicht zugesprochen werden kann und doch als eine "Art Glaube"(136) notwendig sei, ist seitdem ein Hauptparadox. Ein anderes ist, wie nach dem Sturz der Trinität von Gott, Wahrheit und Sprache weiterzusprechen sei. Nietzsche sucht diesen circulus vitiosus zu durchbrechen, um das Erkenntnislabyrinth und seine Polarisierungsfallen von Gott und Gottlosigkeit, Wahrheit und Unwahrheit, Moral und Amoral zu sprengen. Bis sich ihm der Kontext von Sprache, Wahrheit und Moral in der Paralyse des Urteils und seiner kategorialen Ordnung zur Welt des Perspektivismus entzaubert hatte. "Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie"(137), und doch eben deshalb der Gott der Grammatik. Da sich in den "Zeichen" der entgöttlichten Sprache als den "Heerden-Merkzeichen"(138) der Konvention aber Ökonomie und Moral verschränken, wird der Tod Gottes zur ontologisch syntaktischen Leerstelle. Der transzendent gebundene Signifikant der Bedeutung, des Benennens und Identifizierens verliert seine moralische Kohäsionskraft. "Gott stirbt, die Wörter fallen auf sich selbst zurück".(139) Dieses Bedeutungsvakuum setzt indes eine Sprache frei, die nur sich selbst spricht. Wenn wir Gott nicht loswerden, weil wir noch an die Grammatik glauben(140), dann muß die Zerschlagung der Syntax und ihrer Sinnmoral die theologischen Metastasen im Wertungskonflikt von Gut und Böse zum Verschwinden bringen. Dann muß die Zeitordnung von Schuld und Versagung mit dem Testamentcharakter der Schrift tilgbar sein. Wie für Cage der Purismus der Tonalität dem Leben den Ton entzieht(141), so entzieht der Vampirismus der Sprache den Dingen das Leben. Ein Verhängnis der "Wörter, die uns fortwährend etwas in einer Weise sagen lassen, wie die Wörter es brauchen"(142). Aus diesem Grund fordert Cage unter Berufung auf Artaud, "ein für allemal" aufzuhören "mit den Urteilen Gottes".(143) Seine Empty words machen ernst mit den Strudeln und Abgründen, die Hofmannsthals Chandos überfielen, um sie - anders als die Melancholie des Verlusts - auf eine Freiheit der Möglichkeiten hin zu interpretieren. Cage steht damit in der Tradition jener Entmächtigung der logozentrischen Vermittlungs- und Geistpräsenz, die noch ein so marginales Symptom wie die Einschätzung der chinesischen Sprache belegt. Von deren Abwertung im Klarheitsprimat Hegels und Humboldts hin zur Bewunderung ihrer Mehr- und Vieldeutigkeiten bei Freud und der Faszination solcher Leerstellen, von der sich die Deflation des Sinns in Cages Empty Words inspirieren ließ. In ihnen wie in Cages Mesostics musikalisiert sich die bedeutungslose Sprache gegen den Kommerz des Kommunikativen. Auch Cage zielt, am offenkundigsten in Aria und den Song Books , auf eine Metasprache jenseits der babylonischen Zersplitterung: frei von der Hypothek des Bezeichnens und der Notwendigkeit der Übersetzung und verpflichtet einer Entsemantisierung der verbalen Sprache wie in zahlreichen neueren Kompositionen, mit einer Spannweite vom reflektiert Pathologischen bis zum Utopischen; ob bei Ligeti (Aventures ), Evangelisti (Spazio a 5 ), Berio (Sequenza III ), Kagel (Anagrama ), Schnebel (Maulwerke ) oder Ferneyhough (4. Quartett ). Nach der Erosion von Syntax und Signifikanz bedeutet die pulverisierte Sprache nur noch sich selbst. Diese Art Einlösung der Idee der "nouveauté" steht am Ende der Geschichte des Subjekts und der Tragödie jenes Vatermords, zu dem göttliche Nähe provoziert hatte. Nietzsche zufolge mußte Gott seiner Zeugenschaft wegen sterben, während das Ende des allwissenden Autors die Variante vom theologischen Vatermord ästhetisch ratifiziert. Gleichwohl wurden der Aufstand gegen die Macht über Gut und Böse, die Aufhebung des inneren Gerichtshofs Gewissen und die Rebellion gegen die Über-Ich-Kontrolle eines spionierenden Gottes im 19. Jahrhundert zu Zerrüttungsfiguren, weil sie an eine neue Willensmetaphysik gebunden blieben. Nietzsches protestantische Melancholie belegt diese Ambivalenz eindringlich. "Wir Philosophen und >freien Geister< fühlen uns bei der Nachricht, dass der >alte Gott todt< ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt"; "endlich erscheint uns der Horizont wieder frei", "endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so >offnes Meer<.-"(144) Und dennoch "kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass ... es nichts Furchtbareres giebt als Unendlichkeit". "Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, - und es giebt kein >Land< mehr!"(145) Und wenn Dostojewskis Stavrogin seine Abneigung gegen "Spione und Psychologen" zum Ausdruck bringt, die "in die Seele dringen", und demgegenüber auf Selbstbestimmung besteht, darauf, "daß es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt", zugleich aber erkennt, durch eben diese Freiheit "verloren" zu sein(146), dann findet das sein Pendant in Nietzsches Aporien einer gottlosen Sprache und den Aporien ihrer Überschreitung. Faszination und Schrecken verschmelzen, wenn im Schwindel der Freiheit der Verlust zum Tragen kommt: im Horizont von Abenteuer, Entdeckung und Offenheit als den Konstanten der Moderne bis hin zu Cage. Der Aufstand gegen die göttliche Supervision, gegen deren Präsenz in einer moralischen wie ökonomischen Lebenswidrigkeit, sowie die Last, das Erbe des toten Vaters übernehmen zu müssen, führen zu erneuter Vergiftung des Lebens. "Du hast den Vater töten wollen, um selbst der Vater zu sein: nun bist du der Vater, aber der tote Vater ... jetzt tötet dich der Vater."(147) Erlösung liegt darin, wie die Geständnis- und Bestrafungszwänge der Helden Dostojewskis zeigen, die Schuld der Vatertötung in der Existenz der Vaterlosigkeit abzubüßen, sowie in der Gnade des toten Vaters, Strafe zu gewähren. Während Dostojewski die selbstzerstörerische Hybris des Ausnahmemenschen im >Wahnsinn jenseits von Gut und Böse< vor Augen führt, hofft Nietzsche auf das schöpferische Überwindungspathos "gottloser" Souveränität. Nietzsche will die patriarchale Macht des Wahrheits- und Formkults im Lachen einer gnadenlosen Autoritätskritik bloßstellen; und endet doch wie eine Romanfigur Dostojewskis in Schwermut und Wahnsinn: Umnachtung eines Vatermörders, der als Gottesmörder die "Ordnung der Dinge" herausgefordert hat. Soweit die Situation des 19. Jahrhunderts. Reicht aber in der ödipalen Kultur zwischen Triebbegehren und Triebverzicht der "nom du père" als "non du père" Lacan zufolge bis in die Autorität der Form hinein, dann wird Cage zum späten Repräsentanten jenes einst pathetisch vom Aufstand der Söhne initiierten Gottesmördertums. Er will außer Kraft setzen, was Nietzsches Antichrist >Gott als den Widerspruch des Lebens< nennt und was sich ästhetisch zum Monotheismus des Formgesetzes geschärft hatte. Wenngleich Form als ritualisierte Praxis der Naturbeherrschung die Rettung des Besonderen bedeutet, wenngleich sie als "gewaltlose Synthesis des Zerstreuten"(148) aufgrund ihres mimetischen Vermögens ihr eigenes Herrschaftspotential und die gesellschaftlichen Moral- und Gewaltsedimente suspendiert und verwandelt: durch die "Synthesis des Geformten" ist sie "Setzung von Sinn, noch wo Sinn inhaltlich verworfen wird. Insofern bleibt Kunst, gleichgültig was sie will und sagt, Theologie".(149) Diese sakrale Repräsentanz zersetzt Cages Musik. Sie will nicht mehr eine "schuldig machende Mnemotechnik mit elitärer oder theozentrischer Berufung" sein, "sondern eine gigantische Flut, eine maschinenhafte Flut, heidnisch, plebeiisch, mittelpunktslos": "Musica mundana."(150) Cage zerstreut die Bedenken, ob "Kunst nach dem Sturz der Theologie und ohne eine jede überhaupt möglich sei".(151) Und er zeigt, daß die Demobilisierung des musikalischen Gedächtnisses und Sprachcharakters nicht ausschließlich zu Beliebigkeit und Monotonie führen muß. Vorausgesetzt, die logozentrische Subjektmnemonik wird als historisch begriffen. Vergleichbar ihrer Relativierung im gegenwärtig vieldiskutierten Übergang vom Ästhetischen zum Aisthetischen als einer Facette der Dezentralisierung des Logos; ein Übergang, der den Wahrheitsgehalt kunsttheoretischer Urteile zunehmend auf seinen formallogischen Grund hin ausdünnt; hauptsächlich in Form einer Diskrepanz zwischen der hermeneutischen Reflexion, oft mit Abwehrcharakter, und dem ästhetischen Sensorium. Konkret heißt das: wenn Ligeti eine Entsprechung zwischen der gesteigerten Offenheit der Form und der Unterschiedslosigkeit ihrer Realisationen herstellt, wodurch Indetermination negiert werde, weil Veränderung im Bereich des Beliebigen fiktiv sei, dann ist ein solcher Einwand immer wieder an der Hörerfahrung und deren Geschichte zu messen, soll er mehr sein als eine philosophische Spitzfindigkeit des alten Empfindungs- und Erkenntnissubjekts. Natürlich ist die Herausforderung, "nichts ist wahr, alles ist erlaubt", um die Dostojewskis und Nietzsches Moraldiskurse kreisen, nicht mehr die von Cage. Auch nicht der Moralismus des "Alles ist erlaubt" eines Raskolnikow oder Ivan Karamasow, der seiner gesuchten Amoral wegen wie de Sades Demontage des Gewissens und Apotheose des Verbrechens an den "ridicule fantôme" des verachteten Gottes gebunden bleibt. Cage hat weder etwas mit einem Übermenschentum à la Kyrillow zu tun: "wenn Gott nicht existiert, ist alles mein Wille"-, noch mit dem Überwindungspathos Nietzsches. Und noch weniger mit Stirner, wie Schnebel dies suggeriert.(152) Will nicht der Autor des Einzigen den toten Gott mit einer Theodizee des solipsistischen Ich beerben: als "Einziger", "der Ich so gut wie Gott das Nichts von allem Andern, der Ich mein Alles, der Ich der Einzige bin"?(153) Steckt in Cage auch ein gutes Stück 19. Jahrhundert: sein Gegensatz zur willensmetaphysischen Attitüde könnte nicht größer sein. War es nicht Cage, der gegen die technisch potenzierte Willensmetaphysik und ihre Leistungs-, Steigerungs- und Arbeitsmanie seine Abrüstungskonzepte der Stille, des Lassens und des Form- und Durchformungsdispenses durchgesetzt hat? Das also, was ihm Adorno als die Nähe zum Impuls einer "informellen Musik" attestiert; als den "Protest gegen die sture Komplizität von Musik mit Naturbeherrschung" und deren Arbeitsmaxime.(154) Nicht erst seit Büchners ironischem Ausfall in Leonce und Lena gegen das herrschende Arbeitsethos und dem Dekret, "daß Jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird", gilt das Lob der Faulheit in seinem Affront gegen den protestantischen Leistungskodex als obszön. Das trifft nicht minder für Lafargues Pamphlet Le droit à la paresse von 1883 zu und seine Forderung, gegen das ">Recht auf Arbeit<", "das nur das Recht auf Elend ist", die "Rechte der Faulheit" einzuklagen und ein "Gesetz" zu proklamieren, "das Jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten". Anstatt gegen die "Arbeitssucht" anzugehen, "haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen" und "das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren" gebracht: die "Liebe zur Arbeit".(155) Ihr Verhängnis entdeckt Nietzsche in der Symptomatik, daß "die Arbeit immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite (bekommt)" und "man einem Hange zur vita contemplativa ... nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen" nachgibt, eine Umkehrung von ehedem, als "die Arbeit das schlechte Gewissen auf sich (hatte)".(156) Am Ende kann Cage im Geiste Thoreaus und dessen Widerwillen gegen einen Zweck und Mittel verkehrenden Arbeitswahn nur noch den Kopf schütteln über den Anankasmus des immer Mehr und immer Weiter: "Wir besitzen die nötigen Maschinen, um mehr zu produzieren, als wir verbrauchen können. Wir haben diese Maschinen erfunden, damit sie unsere Arbeit reduzieren. Jetzt, wo wir sie haben, meinen wir, wir müßten einfach so weiterarbeiten wie vorher. Wir sind einfach nur dumm. Früher verbanden wir Tugend und Geld mit Arbeit. Heute brauchen wir eine vollständig neue Moral, eine, die auf Arbeitslosigkeit beruht, und auf der Wichtigkeit und der Verantwortung, diese Freiheit zu nutzen."(157) Wenn nun Boulez in Richtung Zufallskomposition den Vorwurf "kompletter Faulheit"(158) äußert, was die "Ausarbeitung", die "Reflexion" und den "Einsatz der eigenen Kräfte" in der Durchorganisation des Werks betrifft, bringt er mit dieser Arbeitsmoral in musicis ein untergründiges, mit Sicherheit aber entscheidendes Ressentiment gegen Cage zur Sprache. Der rechtfertigende Einwand, man könne der Arbeitsgesellschaft nur mit gleichen Mitteln begegnen, ist dabei eher das Relikt einer Zwangslogik, unter Verkennung der Möglichkeiten des Ästhetischen. Einer Gesellschaft freilich, die den Fluch der Arbeit bibeltreuer internalisiert hat als je zuvor, muß das Paktieren mit dem Zufall, selbst auf künstlerischem Gebiet, als Umsturz sämtlicher Leistungskategorien gelten. Gegen Cages aleatorische Wucherungen steht Boulez' Verteidigung des artifex laborans und seines guten Gewissens im Namen von Konstruktion und Perfektion. Daß höchstes ästhetisches Niveau quasi spielerisch erreicht werden kann, grenzt für den redlichen Artisten an Scharlatanerie: "L'Artisanat furieux". Als müßte sich Qualität nach alter Zunftregel immer noch an der geleisteten Arbeit messen lassen. Eine Ansicht, über die sich schon Nietzsche mokiert hatte, noch dazu in puncto Wissenschaft. "Die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, daß die >Wahrheiten< eigentlich nichts weiter seien als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker müde zu turnen hätten,- eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes."(159) Schon der Gedanke, daß die Variations I dem Marteau sans maître ebenbürtig sein könnten, gleicht einem Skandal. Aufgrund der Reiz- und Verfemungsgeschichte von Faulheit und Müßiggang wird Boulez zu einem Vertreter jener weltweiten Askese, die Arbeit als moralische Rechtfertigung suggeriert. Konsequent demnach nur, daß Cages "Konzeption des Sichgehenlassens" für Boulez nicht nur in die Gefahr des "Widersinns" läuft, sondern mehr noch in die der "Gesellschaftsfeindlichkeit". Cage fungiert als "Hofnarr" einer "geschlossenen Gesellschaft mit faschistischen Tendenzen".(160) Womit sich der Kreis zu Nonos Vorwurf des Verantwortungslosen und Unpolitischen dem Provokateur Cage gegenüber schließt, zum Vorwurf des Narzißtischen statt des Marxistischen. Damit stehen Cage und Boulez in der Tradition jener epikureisch-asketischen Spannung, die Büchner an Danton und Robespierre seziert hatte und die in Heines und Börnes Gegnerschaft eine prominente Fortsetzung fand. Von ihren Polen Cage und Boulez her protokolliert die neue Musik, was philosophisch als die unerledigte Spannung zwischen Kant und Hegel fortlebt. In den Extremen von zufallsgeneriertem Werk und "new complexity" erneuert sich der Widerstreit von Aisthesis und Ethos, insgeheim der von Parataxe und Hypotaxe, deren Strukturprinzipien Hegel so eindringlich wie parteiisch den Koordinaten von Natur und Geist eingeschrieben hatte. Allein, die Utopie der neuen Musik liegt nicht in einer Versöhnung der Extreme, sondern in der Pluralität ihrer Sprachen: kein einzelnes Werk, womöglich kein einzelnes kompositorisches Idiom vermag mehr die Komplexität der Welt zu repräsentieren. Einer Pluralität fraglos ohne jene schlechte Mitte, die jüngst von der Mediokrität einer sogenannten neuen Sinnlichkeit besetzt wurde. Adorno hat darauf verwiesen, daß das unangreifbar Gelungene des opus perfectum seinen mythisch-theologischen Schatten nicht abwerfen kann. Einen Schatten, der bis in den Wechselbezug von Integralität und Integrität hineinreicht. Die Hermetik des abgedichteten Werks hat etwas Anfälliges, sofern es, und sei es aus Widerstand, auf Ganzheit, auf die Konsistenz eines Person- und Weltbegriffs geht, der von den Zumutungen der Moderne her mehr als rissig geworden ist. Was als das Nicht-enden-Können großer zeitgenössischer Kompositionen empfunden wird, ist eine Folge dieser Dezentrierung: eine Ausschnitt- und Fragmenthaftigkeit, eine Unabschließbarkeit, die in Feldmans Klavierstück Palais de Mari sich nahezu metaphysisch auflädt. Der absolute Würfelwurf ist nicht einzulösen, die Realisation aller Kombinationen unerreichbar, die Artikulation absoluter Stille unmöglich. Während die Autonomie des noch bis in den gelenkten Zufall hinein durchkonstruierten Werks in Autismus umzuschlagen und als selbstgenügsames Glasperlenspiel von innen her zu zerfallen droht, erinnert sei an das dekorativ Verspielte in Boulez' ...explosante-fixe... , franst Cage die Grenze zwischen Kunst und Realität bis zur fragwürdigen Auflösung des Ästhetischen aus. Beides Folgen einer Situation, in der nach den revolutionären Schüben der Kunst die der Gesellschaft ausblieben. Beides Entwürfe einer Musik der Wüste. Dennoch gewinnt eine Komplexität, die nicht auf den Selbstzweck kompositionstechnischer Hochrüstung ausgeht oder Struktur mit antilibidinösem Purismus verwechselt, gewichtige Argumente. Als eine virtuose Artistik, die in ihrer Verteidigung des Erkenntnischarakters und der Polysemantik des selbstreferentiellen Werks in Reflexion und Ausdruck umschlägt, vergleichbar einer von Schlegel so genannten philosophischen Instrumentalmusik.(161) Und dies, obwohl am ausziselierten Meisterwerk, seiner Schürzung aller Mittel und seinem Präsenzideal, der Zug eines refugialen Sich-Bewahrens unüberhörbar ist; und obwohl Cage in seinen gelungensten Kompositionen den Beweis geliefert hat, daß zur Kompetenz eines Werks nicht mehr ausschließlich die bewußt und mit schöpferischem Ingenium gearbeitete Dichte beiträgt; die äußerste Anspannung musikalischer Gedankenarbeit, die Schönberg von der Musik einklagt, den Freeman Etudes also nichts voraushat. So großartig Ferneyhoughs La Chute d'Icare auch komponiert ist, er ist einer im Studiolo des artifex doctus. Vielleicht liegt der Rang der "new complexity" deshalb vorweg in einer diagnostischen Aufklärung der Musik der Gegenwart über sich selbst. So wie dies die von der Idee der "parallelen Universen" geleitete dekonstruktivistische Kommunikation von Ferneyhoughs Viertem Streichquartett mit dem Zweiten Streichquartett Arnold Schönbergs ins Werk setzt. Cages Ernstnehmen des transästhetisch Heterogenen bringt zum Sprechen, was die immanenzfixierte Komposition abblendet. Insofern hat Cage die Effizienzfalle der Deutungs- und Moralgewalt einer ethisch aufgeladenen Musik und ihres intellektuellen Surplus' in der Nachfolge Beethovens und Hegels bewußt gemacht. Ob es statt dessen sinnvoll ist, im Geiste Kants und der ihm verpflichteten postmodernen Reflexion die Sphären zu trennen, um der Kunst nicht aufzulasten, was Sache der Ethik ist, hat seinen historischen Befund erst noch abzuwarten. Ein Symptom wertfreier Ästhetik zeigt sich jedenfalls darin, daß der auf den Hund gekommene Geschmack, der nach dem Fall aller Maßstäbe keine Qualitätsunterschiede mehr wahrnehmen will, sich nahezu durchweg zynisch gibt. Vielleicht liegt deshalb das Maß, ethische Kriterien noch an das Happening zu legen, im Widerstand gegen den Verrat an den großen Werken. Wovon sollte die Qualität im Unterschied zum Dokument sonst abhängen, wenn nicht gleichfalls von einer diagnostischen Eigenschaft des Kunstwerks, die zugleich jegliches Faktum und jegliche Metaphorik transzendiert? Auch der Minimal Music ist ja ein gewisser Erkenntnischarakter nicht abzusprechen. Der einer soft music der Großstadtwüste, zugeschnitten auf die Physiognomie des zeitgemäßen Narzißmus: autistisch um sich selbst kreisend, selbstgenügsam in ihrer materialen und variativen Beschränktheit, in ihrer wohlig tonalen Parameterreduktion auf eingängige patterns neue Sicherheit versprechend, frei von Antagonismen und jeglicher mimetischen Qualität. Und doch ist dieser Erkenntnischarakter aufgrund der Simplizität von Faktur und Gehalt dem Bereich des Dokuments zuzurechnen. Von außen an eine Musik herangebracht, die sich, cool gestylt und technikverliebt, zu einer Musik ohne Eigenschaften drapiert, deren Konnotation in Phil Glass' Facades mitschwingt. Sicher ist, daß mit der Auflösung der repräsentativen Episteme der Stachel der Differenz zu verschwinden droht. Die Aufzehrung des metaphysischen Erbes enthüllt ihren positivistischen Impetus, der sich bei Cage im Überhang des Konzepts manifestiert. Dieser Überhang bedingt, daß Cages Einfälle und Vorgaben zwar eine reiche Palette der Möglichkeiten suggerieren, ihren Realisationen nach sich aber oft verwechselbar gleichen. Schon gar bei kongruenter Besetzungsstärke und Instrumentenwahl. Stücke wie Winter Music und One for Piano Solo oder Atlas Eclipticalis und Sixty-eight belegen dies. Das Nicht-Wiederholbare entgeht auch bei Cage nicht der Wiederholung. Die nouveauté des Einzelwerks verflüchtigt sich, wenngleich nach Ansicht Cages zu Recht. Gerät Cages Absage an Schlüssigkeit und Logizität mitunter zu einer spannungslosen musique d'ameublement, dann liegt das am Paradox, daß seine Musik nichts sagen will, dies aber unentwegt sagt. Trotz seines Widerwillens, eine Sprache vorzutäuschen, wo es keine Sprache mehr gibt, ist seine Musik noch Sprache. Darin ist Cage Exorzist und Zeremonienmeister zugleich. Der entscheidende Grund für die Zerstreuung, mit der Cage dem Beliebigen und Gleichförmigen zuarbeitet, liegt jedoch darin, daß die Intention des happenings noch in den Mikrobereich der Musik eindringt: als eine punktuelle Reihung von events. Daß Cages Arbeit mit dem Zufall indes höchstes ästhetisches Niveau erreichen konnte, basiert zum einen auf der Entsprachlichung der neuen Musik. Gleichwohl dieser Befund nur einen Teilaspekt trifft, sofern er sich am Urbild der tonalen Typologie mißt und übersieht, daß die Undenkbarkeit absoluter Entsemantisierung metasemantisch auf eine neue Semantik hin transparent wird. Zum anderen basiert sie auf dem Bündnis zwischen Phantasie und Metier, für das Cages Spielregeln eine wichtige Rolle spielen. Denn Cages Organisation des Zufalls über das I Ching, über Sternenkarten, Unebenheiten des Papiers oder die Überlagerung verschiedener Werkkonzepte bis hin zu Graphismen, die interpretatorische Assoziationen auslösen sollen, sowie die damit verbundenen Einwände gegen Cage: die von der Belanglosigkeit formaler Spielereien, von der Orakelmethode als Delegation, von Strukturlosigkeit und Beliebigkeit, beginnen erst unter dem Aspekt von Cages artistischer Disziplin ins rechte Licht zu rücken. Beispielsweise vor dem Hintergrund der Zeitregelungen und Auswahlverfahren im Concert for Piano and Orchestra , die sich gegen die Vorstellung von Anarchie als Zügellosigkeit ebenso richten wie sie wiederum gesellschaftliche Zwänge in sich aufnehmen. Wie alle Spielregeln wirken diejenigen Cages zunächst nicht weniger willkürlich. Desgleichen seine Forderung, sie strikt einzuhalten. Regeln wie die, daß in jeder der Etudes Australes ein Ton ungespielt bleiben soll, daß der Instrumentenwechsel in Atlas Eclipticalis nicht vor Beendigung eines Klangaggregats zu erfolgen habe oder in einer Aufführung des Klavierkonzerts nur die jeweils geraden oder ungeraden Noten aus bestimmten geometrischen Figuren auszuwählen seien. Und doch korrespondieren solche Vorschriften, bis in die der Zeitklammern, als eine Mikrostruktur der "disziplinierten Anarchie" mit Cages Ingeniosität. Sie ist es, die die kompositorischen Fragen stellt, auf die das I-Ging erst antwortet. So leiten nicht nur die durch Übertragung von Sternkonstellationen gewonnenen Tonhöhen und Dichten der Freeman Etudes die Akribie der Details von der Imaginationskraft des Komponisten her. Die Auseinandersetzung mit neuen Spieltechniken, die Differenzierungen von Strichart, Lautstärke, Art der Tonwiederholung, Dauer und mikrotonaler Schwankung bis hin zur Chronometrie der Uhr, die als Zeitlinie im Dreisekundentakt die einzelnen Systeme der Etüden grundiert, sind keineswegs nur zufällig gestreute Effekte eines Orakel-Automatimus. Außerdem werden Fragen des Metiers bei Cage zu solchen der Kompromißlosigkeit. Etwa was das Zugeständnis an die Spielbarkeit der Freeman Etudes oder was die zugunsten ihres Spannungsverhältnis untersagte Trennung der Europeras 3 & 4 anbelangt. Und überdies markieren Cages règles du jeu den Unterschied zu Stockhausens >intuitiver Musik<. Während deren Esoterik schon in den Seancen Aus den sieben Tagen Züge einer gruppendynamischen Musik "aus dem Bauch" annimmt, verhindert bereits Cages Stoppuhr zur Kontrolle der Gesamt- wie der Einzeldauer die Mystik des interstellaren Höhenflugs. Cages Konstellationen, unbestritten in den "Zahlenstücken", vermitteln im Gegenteil ein radikal antimeditatives Element. Manchmal auf eine Weise, als hätte sich der Komponist den Schlußpassus aus Foucaults Les mots et les choses zum Motto gewählt: für eine Musik nach dem Ende der Metaphysik und der Erfindung des Menschen. Dieser Abschied von der Metaphysik findet als Zersetzung der metaphysischen Repräsentanz von Musik seinen sichtbaren Ausdruck in Cages Weitung der Notation zu einer Schrift zweiter Ordnung, mit einem Höhepunkt in der Solostimme des Klavierkonzerts und ihren Drehfiguren horizontaler und vertikaler Beliebigkeit. Cage setzt bildhaft um, was Nietzsche noch als den Fall der Moderne ins Bodenlose unter Aufhebung aller Richtungskonstanten dramatisiert: "Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten?"(162) Wie das Notierte in Form konzeptueller Anweisungen seit den Variations I nichts mehr über die klangliche Realisation aussagt, so kann umgekehrt, vom Erklingenden aus, nicht mehr auf das Notierte rückgeschlossen werden. Gegen das Lese- und Erkenntnisversprechen der musikalischen Schrift fungieren im Klavierkonzert die Notationsgraphismen und -figuren des Soloparts als Logbuch eines Experiments, das um das Sinndiktat herkömmlicher Semeiographie weiß: um den ontologisierenden Index des Linearen und Räumlichen, des hohen und tiefen Tons und um die Instanzen des Früher und Später, des Ersten und Folgenden, die Nietzsche als Regulative der zeitfixierten Moral ausmacht. Wenn auch Cage in Anbetracht des unumkehrbaren Verfließens der empirischen und des unhintergehbaren Kontinuums der ästhetischen Zeit die Scheinfreiheit dieser Prozeduren fürs erste überschätzt hat. Liegt die Verwandtschaft zwischen Cage und Nietzsche im Abriß metaphysischer Hinterwelten, dann liegt sie ebenso darin, daß beide nicht hinter die Verwicklungen des Faktischen zurückfallen wollen. Cages Entgrenzungs- und Eingemeindungskonzepten eine Aufkündigung der gesellschaftlichen Widersprüche vorzuwerfen, trägt nur zum Teil. Man muß an die kulturindustrielle Bilderflut denken, an deren Beliebigkeit und Austauschbarkeit, an das permanente Deja-vu des Channel-hopping, an das Unterhaltungsdelirium des dauernden Angetöntwerdens, um Cages Gegensatz zu jener Form von "Bordellisierung" zu begreifen, mit der Sloterdijk einmal die Korruption des Bewußtseins charakterisiert hat. Selbst Adornos Kritik an Cage gibt zu bedenken, angesichts der "jüngsten Musik" sei "schwer darüber zu urteilen", "ob ihr Negatives das gesellschaftliche ausdrückt und dadurch transzendiert, oder es bloß, bewußtlos in seinem Bann, imitiert; am Ende ist beides gar nicht mit der Sonde zu scheiden".(163) Daß Cages Kompositionen unter der gesellschaftlichen Gewalt und aufgrund der Zersetzung des ästhetischen Scheins mitunter zu vorkünstlerischen Praktiken regredieren, rechtfertigt noch nicht, wie Habermas beim späten Nietzsche, von einem Positivismus auch in Cages Musik zu sprechen. Von einer Musik, die sich an das hält, was der Fall ist. Bedeutet die Abdankung des Subjekts zwangsläufig die Affirmation des Faktischen? Sicherlich nicht, wenn Positivismus Verdinglichung und Konkretismus meint, und die ästhetische Verhaltensweise imstande ist, "mehr an den Dingen wahrzunehmen, als sie sind".(164) Immerhin bringen Cages Variations IV zu Bewußtsein, daß jeder refugialen Parzellierung in der digitalen Dichte des Weltzusammenhangs etwas Provinzielles anhaftet, ohne daß das polysemantische Ineinander der Komposition in der Durchquerung und im Aufprall ihrer verschiedenartigen Momente und Ebenen die Faktizität mit dem Nimbus des Bestehenden verklärt. Im Wissen um die elektronische Raumzeit und deren vernetztes "Omnia ubique" entbindet sich bei Cage der ästhetische Akt zu einem Ensemble unvorhersehbarer Ereignisse, das eine mitschnitthafte Abbildung der Empirie hinter sich läßt. Niemals hat Cage eine anekdotische Musik à la Ferraris Prèsque rien komponiert. Nach dem Abschied vom prometheischen Künstler- und Schöpfungsmythos kann Cage weder in die Richtung eines Desperadotums noch in die eines Intermezzos der Musikgeschichte interpretiert werden. Zu schwer wiegt seine Aufdeckung des Gedächtniskults der rationalistischen Episteme, der bis in die Logistik des geschlossenen Werks hineinreicht: in die Hierarchien der Zeit und der Klänge, ihre Prioritätsverhältnisse und Formimperative, in das Sinndiktat und die Kontrollprozeduren der Diachronie, in die Kastrationswucht der Linearität und ihren verkappten Monotheismus. Von hier aus zeigt sich, was seit Cage an neuerer Kunst und Ästhetik zurückgeblieben, veraltet ist. Jene gestische Rhetorik zum Beispiel, die so viele zeitgenössische Kompositionen mit neoexpressionistischem Mehltau überzieht und durch künstliche Subjektemphase einander angleicht. Als hätten nicht schon Husserls "eidetische Variation" die subjektverschränkte Einheitszeit auf eine multiple Gleichzeitigkeit hin entgrenzt oder die Schnittwechsel in Debussys Jeux und die Gestaltsimultaneität des Kubismus die Instabilität des Ich aufgedeckt. Als hätte nicht Proust die >Fiktionalität seelischer Ganzheit< in der Relation der "états successifs" und der "moi successifs" anschaulich gemacht und die eigene poetische >Deformation der Zeit< mit Einsteins Relativitätstheorie in Verbindung gebracht.(165) Und Nietzsche war es bereits, der den Zusammenhang zwischen der >Preisgabe des Subjekts< und der fehlenden "Voraussetzung für eine >Substanz< überhaupt" demonstriert hatte. Einen Zusammenhang, in dem man nur "Grade des Seienden " bekommt, in dem man "das Seiende verliert" und mit ihm die sei's auch ästhetisch modifizierte >Fiktion Subjekt< als die Instanz des verkürzenden "Gleichsetzens und Zurechtmachens ".(166) Nicht ohne Grund wirkt der Epilogcharakter mancher Stücke Rihms, etwa von sphere oder Ins Offene , wie die Erlösungssehnsucht eines verspäteten Brucknertums, in dem die Musik in ihrer Pathetik redselig wird. Eine sich wiederkäuende Musik, die nicht zu Ende kommt und darin jegliche ironische Distanz zu sich selbst vermissen läßt. Zugleich gilt es zu verstehen, wie sich Cages Musik des Vergessens zu einer des Widerstands schärfen kann, ohne dabei ihre Aporien zu übersehen. Vorrangig die, daß Cages Konzepte dem Werkcharakter qua Aufführung nicht entrinnen können. Oder die, daß sich Cages entmemorisiertes Einlassen auf das Heterogene zeitweilig wie der Dekor des Status quo ausnimmt. Gegen eine Verklärung zur Heilsbotschaft und gegen eine Abwertung zum Clownesken ist Cage in erster Linie seinem historischen Kontext nach zu begreifen. Die einseitige Kritik am Affirmationscharakter Cages greift angesichts der revolutionären Aspekte seiner Musik und Ästhetik ebenso zu kurz wie deren guruhafte Glorifizierung. Abgesehen davon, daß Cages Arbeit mit dem Zufall vermutlich einmalig und unwiederholbar ist, steht seine Abwehr der Tradition nicht außerhalb der Tradition. Cage hat seinen Zeitindex. Schon diese Bindung bedeutet ein gutes Stück Relativierung, selbst wenn kein Komponist mit dem Wiederholungsbegriff so entschieden gebrochen hat wie er. Bereits das Durchlöchern einer populären klassischen Komposition im Credo in US von 1942 ist Duchamps bärtig verfremdeter Mona Lisa verwandt: als eine Entlarvung des Fetischcharakters klischeehaft erstarrter Meisterwerke. Und wie hier die Lust der Demontage und der Irritation so verschwistern sich später, etwa in Cages Writings through... , die der Dekomposition und der Transformation zur Umschrift des Tradierten im Zeichen der Tradition. Sie bringt Cages Entzauberung der Repräsentation in Wahlverwandtschaft zu Nietzsche und Mallarmé: was das Bewußtsein von Zeit und Tod, die Delinearisierung des Gedächtnisses oder den Status innerhalb der Geschichte von Kausalität und Zufall anbelangt. Von dieser Spur der Moderne her wird noch Cages zenbuddhistischer Ansatz als deren Spiegelschrift lesbar. Bleibt vorerst also wohl nur beides: das meditative Sich-Versenken in die Struktur und das nüchterne Sich-Einlassen auf Cages entmemorisiertes Fließen; die Bindung an das geschlossene Werk, um in der Wiederholung den transsubjektiven Impuls wachzuhalten, und die Offenheit dafür, die imperialen Tendenzen des Ego zu demobilisieren. Weichen Cages Abwertung des subjektiven Faktors und seine Unbestimmtheitsintention immer wieder zur Redundanz und zur Wiederholung des Immergleichen auf: stets ist auch das Ohr der Identitätsmnemonik in Frage zu stellen, an dem sich solche Redundanz mißt. Seiner Sinnagentur verunmöglicht Cage, was Adorno als den "hörenden Mitvollzug" verteidigt hatte. Zumal wenn die "Zeitdimension, deren Gestaltung die überkommene musikalische Aufgabe war und in der richtiges Hören sich bewegte, aus der Zeitkunst virtuell eliminiert (wird)".(167) Doch wie bei Kant der "transzendentale Schein" aus dem erfahrungstranszendenten Gebrauch der Kategorien resultiert und nach seiner Aufdeckung durch die Kritik der "transzendentalen Dialektik" bestehen bleibt, als die "unvermeidliche Illusion" in der Verwechslung subjektiver Grundsätze mit den objektiven der "Dinge an sich", so unterschiebt sich in der Auseinandersetzung mit Cage häufig die subjektexpressive Musik als objektiver Maßstab schlechthin. Cage bedeutet sicher nicht das Ende der Musikgeschichte. Eher wurde er zu einer Art Katalysator, während die "meisten Musiker" an den "komplizierten, zerrissenen, konkurrierenden Resten der Tradition" festhielten.(168) Nicht zuletzt hat sein west-östlicher Brückenschlag die Beschränktheit falschen Fragens bewußt gemacht. Am eindringlichsten wohl in der Episode vom >Mann auf der Anhöhe< der Lecture on Nothing , in der die interrogative Einkreisungstechnik mit der Zeit schal wird. Denn die "Gewohnheit, immer >warum< zu fragen, ist genau wie das Fragen nach dem Meisten oder Besten."(169) Zieht Goethe am Schluß eines ironisch-philosophischen Gedichts das Resümee: "Mein erst Gesetz ist, in der Welt die Frager zu vermeiden"(170), dann lassen die alten Zen-Meister und Cage mit ihnen die Sinn- und Antwortsucht selbst ins Leere fallen. "Wenn aber der Leib zerbricht und vergeht, da bleibt doch noch eines - die Seele. Was wird aus ihr?" - Meister Dschau-dschou antwortete: "Heute morgen erhebt sich wieder der Wind."(171) Wie hieß es doch bei Cage gegen das Establishment von Sinn und Dogma, gegen jede Art von "cage"? "In welchem Käfig man sich auch befindet, man sollte ihn verlassen."(172) Anmerkungen 1 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los, Berlin 1979, S. 43. 2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956, S. 140. 3 A. a. O., S. 145. 4 Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, übers. v. J. Wolfers, Berlin 1872, S. 25. 5 John Cage, Plädoyer für Satie (Richard Kostelanetz, John Cage), Köln 1973, S. 111 f. 6 Cage, McLuhans Einfluß (Anm. 5), S. 231. 7 Cage, Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 45. 8 A. a. O., S. 96. 9 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, Frankfurt a. M. 1984, S. 185 f. 10 A. a. O., S. 187. 11 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 30. 12 Aristoteles, Physik, 4. Buch, 11. Kapitel. 13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Logik II (Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 6), Frankfurt a. M. 1972, S. 127. 14 Baruch de Spinoza, Ethik, Hamburg 1976, S. 35. 15 A. a. O., S. 296. 16 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Frankfurt a. M. 1975, S. 54. 17 A. a. O. 18 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 12), München/Berlin/New York 1980, S. 466 ff. 19 Nietzsche, Also sprach Zarathustra (= KSA, Bd. 4), S. 181. 20 A. a. O., S. 179. 21 Für die Vögel (Anm. 7), S. 42. 22 Cage, Empty Words. Writings '73-`78, Middletown 1979, S. 5. 23 Cage, In diesen Tagen (Anm. 5), S. 239. 24 Für die Vögel (Anm. 7), S. 40 ff. 25 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 96. 26 A. a. O., S. 95 ff. 27 Boulez, Werkstatt-Texte, Frankfurt a. M. - Berlin 1972, S. 104. 28 Cage, Anarchic harmony, hg. v. Stefan Schädler und Walter Zimmermann, Mainz 1992, S. 109. 29 Boulez, Werkstatt-Texte (Anm. 27), S. 104 f. 30 Boulez, Wille und Zufall (Anm. 25), S. 57 f. 31 Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Bd. 1, Köln 1963, S. 77. 32 A. a. O. 33 A. a. O., S. 86 f. 34 A. a. O., S. 98. 35 Cage, Silence, Lectures and Writings, Middletown, Conn. 1961, S. 59. 36 Für die Vögel (Anm. 7), S. 62. 37 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Gesammelte Schriften, Bd. 1,2), Frankfurt a. M. 1974, S. 479. 38 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 147. 39 Für die Vögel (Anm. 7), S. 40 ff. 40 Friedrich Hölderlin, Der Archipelagus (Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beißner), Frankfurt a. M. 1965, S. 312. 41 Für die Vögel (Anm. 7), S. 95. 42 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 139. 43 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 31. 44 Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5), München 1980, S. 612 f. 45 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1976, S. 31. 46 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887-1889 (KSA, Bd. 13), S. 500. 47 Rainer Maria Rilke, Archaischer Torso Apollos (Sämtliche Werke, Bd. 2), Frankfurt a. M. 1975, S. 557. 48 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I (WW, Bd. 13), S. 203. 49 A. a. O., S. 22. 50 John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit, hg. v. Richard Kostelanetz, Köln 1989, S. 165. 51 Silence, übers. v. Ernst Jandl, Frankfurt a. M. 1987, S. 41. 52 A. a. O., S. 48 f. 53 A. a. O., S. 47 f. 54 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 21 u. 103. 55 A. a. O., S. 41. 56 Silence (Anm. 51), S. 48. 57 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (Gesammelte Schriften, Bd. 14), Frankfurt a. M. 1973, S. 379. 58 Silence (Anm. 51), S. 39 u. 48. 59 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-87 (KSA, Bd. 12), S. 213. 60 Anarchic harmony, (Anm. 28), S. 15. 61 Für die Vögel (Anm. 7), S. 58. 62 Silence (Anm. 51), S. 47. 63 A. a. O., S. 54. 64 Cage, Brief an Paul Henry Lang (Anm. 5), S. 167. 65 Vgl. Jean-François Lyotard, Das Inhumane, Wien 1989, S. 279ff. 66 Auguste Comte, Rede über den Geist des Positivismus, Hamburg 1979, S. 34. 67 Für die Vögel (Anm. 7), S. 96. 68 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 7 f. 69 Anarchic harmony (Anm. 28) S. 115 u. 131. 70 Foucault, Die Ordnung des Diskurses (Anm. 69), S. 7 f. 71 Silence, (Anm. 51), S. 55. 72 Wenn Karl-Otto Apel einmal sein Unverständnis darüber geäußert hat, weshalb sich Foucault denn trotz seiner unbarmherzig illusionslosen Weltsicht noch politisch engagiere, offenbart dies ein akademisches Ethikverständnis im Zeichen des performativen Widerspruchs von fast schon kurioser Qualität. 73 Giordano Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einem, Hamburg 1982, S. 100. 74 Für die Vögel (Anm. 7), S. 101. 75 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 131. 76 Für die Vögel (Anm. 7), S. 65. 77 A. a. O., S. 47. 78 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (Anm. 57), S. 379. 79 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 32. 80 Vgl. Silence. Lectures and Writings (Anm. 35), S. 39. 81 Für die Vögel (Anm. 7), S. 88. 82 Heinrich Heine, Verschiedenartige Geschichtsauffassung (Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 5), Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1981, S. 22. 83 Für die Vögel (Anm. 7), S. 143. 84 Silence (Anm. 51), S. 50. 85 Brief an Paul Henry Lang (Anm. 5), S. 166. 86 Für die Vögel (Anm. 7), S. 95. 87 Silence (Anm. 51), S. 50. 88 Empty Words (Anm. 22), S. 183. 89 Für die Vögel (Anm. 7), S. 63. 90 John Cage, hg. v. Robert Dunn, New York 1962, S. 50. 91 Für die Vögel (Anm. 7), S. 56. 92 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 33. 93 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 79. 94 John Cage im Gespräch (Anm. 50), S. 200. 95 A. a. O., S. 87. 96 A. a. O., S. 175. 97 Für die Vögel (Anm. 7), S. 100. 98 Silence (Anm. 51), S. 38; Adorno, Musikalische Schriften I-III (= Gesammelte Schriften, Bd. 16), S. 540 u. 634. 99 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (KSA, Bd. 6), S. 75 f.; Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (KSA, Bd. 5), S. 16. 100 Für die Vögel (Anm. 7), S. 89. 101 Silence (Anm. 51), S. 58. 102 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Bd. 2), S. 362 f. 103 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 139. 104 Friedrich Schlegel, Lessings Geist aus seinen Schriften (Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch), München 1970, S. 430. 105 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik (Werke in zwölf Bänden, Bd. 9, hg. v. Norbert Miller), München/Wien 1975, S 172. 106 Schlegel, Philosophische Vorlesungen I (1800-1807) (=Kritische Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, Bd. 12), Paderborn u. a. 1964, S. 403 u. 393. 107 Charles Baudelaire, L'art romantique, Paris 1968, S. 185. 108 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 21. 109 Für die Vögel (Anm. 7), S. 102. 110 A. a. O., S. 51. 111 A. a. O., S. 62. 112 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 147. 113 Silence (Anm. 51), S. 48. 114 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 95. 115 Für die Vögel (Anm. 7), S. 49. 116 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 31. 117 Für die Vögel (Anm. 7), S. 84. 118 Charles, John Cage (Anm. 1), S. 86 f. 119 Adorno, Noten zur Literatur (= Gesammelte Schriften, Bd. 11), S. 605 f. 120 Daniel Charles, Musketaquid. John Cage, Charles Ives und der Transzendentalismus, Berlin 1994, S. 127. 121 Für die Vögel (Anm. 7), S. 90. 122 A. a. O. 123 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Schriften, Bd. 1), Frankfurt a. M. 1980, S. 342 ff. 124 A. a. O., S. 534. 125 Honoré de Balzac, Gambara (Das ungekannte Meisterwerk. Erzählungen), Zürich 1977, S. 29. 126 Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie, Pfaffenweiler 1992, S. 168. 127 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (Anm. 102), S. 175. 128 Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916 (Schriften, Bd. 1), S. 130. 129 Für die Vögel (Anm. 7), S. 134. 130 Anarchic harmony (Anm. 28), S. 139. 131 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA, Bd. 3), S. 422. 132 Hugo von Hofmannsthal, Eine Monographie, (Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, hg. v. Bernd Schoeller), Frankfurt a. M. 1979, S. 479. 133 Für die Vögel (Anm. 7), S. 87. 134 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (KSA, Bd. 1), S. 880. 135 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Anm. 99), S. 76. 136 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884-1885 (KSA, Bd. 11), S. 635. 137 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Anm. 99), S. 98. 138 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Anm. 131), S. 593. 139 Jean-Paul Sartre, Mallarmés Engagement, Reinbek 1983, S. 14 f. 140 Nietzsche, Götzen-Dämmerung (Anm. 99), S. 78. 141 Für die Vögel (Anm. 7), S. 79. 142 Silence (Anm. 51), S. 38. 143 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 30. 144 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Anm. 131), S. 574. 145 A. a. O., S. 480. 146 Fjodor M. Dostojewski, Die Dämonen, München 1977, S. 492 u. 506. 147 Sigmund Freud, Dostojewski und die Vatertötung (Studienausgabe, Bd. 10, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey), Frankfurt a. M. 1969, S. 279. 148 Adorno, Ästhetische Theorie (= Gesammelte Schriften, Bd. 7), S. 216. 149 A. a. O., S. 403 f. 150 Charles, John Cage (Anm. 1), S. 44. 151 Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 148), S. 403 f. 152 Vgl. Dieter Schnebel, Wie ich das schaffe?, München 1978, S. 53 (= John Cage. Musik-Konzepte, Sonderband 1). 153 Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, S. 5. 154 Adorno, Musikalische Schriften I-III (Anm. 98), S. 534. 155 Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, Frankfurt a. M./Wien 1966, S. 35 ff. 156 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Anm. 131), S. 557. 157 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 39 f. 158 Boulez, Wille und Zufall (Anm. 25), S. 96. 159 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Anm. 131), S. 540. 160 Boulez, Wille und Zufall (Anm. 25), S. 97. 161 Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Kritik der neuen Musik. Entwurf einer Musik des 21. Jahrhunderts, Kassel u. a. 1998, passim. 162 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (Anm. 132), S. 481. 163 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (Anm. 57), S. 379. 164 Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 148), S. 488. 165 Marcel Proust, A la recherche du temps perdu, Bd. 1, Paris 1949, S. 247, sowie Proust, Briefe zum Leben, Frankfurt a. M. 1983, S. 653 f. 166 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (Anm. 18), S. 465. 167 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie (Anm. 58), S. 378. 168 Silence (Anm. 51), S. 59. 169 Kostelanetz, Gespräch mit John Cage (Anm. 5), S. 35. 170 Johann Wolfgang von Goethe, Die Weisen und die Leute (Sämtliche Gedichte), Stuttgart o. J., S. 549. 171 Zen. Sprüche und Leitsätze der Zen-Meister, Frankfurt a. M. 1995, S. 37. 172 John Cage im Gespräch (Anm. 50), S. 217.
- Johannes Bauer, Zur Konjunktur des Solokonzerts in der Neuen Musik
DeutschlandRadio Berlin (2000) Willkommen in der Vergangenheit? Zur Konjunktur des Solokonzerts in der zeitgenössischen Musik Auch wenn sich viele zeitgenössische Komponisten dem Solokonzert gegenüber reserviert verhalten: Solokonzerte haben in der Neuen Musik Konjunktur. Bleibt die Frage, ob sich das musikalische Denken der Gegenwart noch in einer Gattung finden kann, deren Reflexions- und Gefühlsgehalt in erster Linie etwas mit dem 18. und 19. Jahrhundert zu tun hat. Sind zeitgenössische Solokonzerte restaurativ? Fast könnte man dem zustimmen, hört man, was in den letzten fünfzehn Jahre auf diesem Gebiet so alles komponiert worden ist. Kompositionen wie Oliver Knussens Hornkonzert von 1994, das glauben lässt, es handle sich bei ihm um die wieder entdeckten und ergänzten Skizzen eines Frühwerks von Richard Strauss: Bspl. 1: Knussen, Horn Concerto op. 28 [Tr. 8: 0´00´´-0´32´´(ausbl.)][32´´] Oder Komponiertes vom Format naiver Botschaften wie in Alfred Schnittkes Cellokonzert , einer Art Filmmusik des gebrochenen Herzens, sakral verklärt: Bspl. 2: Schnittke, Cellokonzert , 4. Satz [Tr. 4: 5´38´´-6´10´´(ausbl.)][32´´] Dass Penderecki den Konzertbetrieb und den solistischen Ausstellungscharakter mit schmerzlichem Violin-Espressivo und pathetischem Ringen bedient, gehört mittlerweile zur Entlastungshaltung der Alibi-Moderne. Bspl. 3: Penderecki, Metamorphosen. Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 [Tr. 1: 6´15´´-7´29´´(ausbl.)][1´14´´] Zu schweigen von Michael Nymans vollgriffiger Exkursion in die Tasten und Kassen von Film und Folklore, der der Komponist 1993 unbedingt zum Adel eines Klavierkonzerts verhelfen wollte: Bspl. 4: Nyman, The Piano Concerto , The Beach [Tr. 2: 6´42´´-7´33´´(ausbl.)][51´´] Um eine Exkursion, freilich eine von existenziellem Ausmaß, ist es schließlich auch Peter Michael Hamel zu tun, einem Komponisten unterwegs zur »integralen Musik« samt ihrer »Vereinigung des magischen, mythischen und mentalen Bewusstseins« und gestärkt - wie in Hamels Violinkonzert - von harmonikalem Urvertrauen: Bspl. 5: Hamel, Violinkonzert [Tr. 1: 5´00´´(aufbl.)-6´07´´(ausbl.)][1´07´´] Potemkinsche Dörfer also auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik. Inmitten solcher tonal restaurierten Fassadenhaftigkeit wirkt Philip Glass' Violinkonzert fast schon wieder raffiniert. Wie eine Musik des Als-ob, die formelhaft Gefühlsrelikte bricht und damit so etwas wie Melancholie erzeugt. Wohlig zubereitet allerdings, konfliktfrei und in eingängigen patterns selbstgenügsam in sich kreisend. Gestylte Musik für den zeitgemäßen Narzissmus, fast ohne Eigenschaften. Raffiniert eben. Bspl. 6: Glass, Concerto for Violin and Orchestra [Tr. 2: 0´36´´(aufbl.)-2´04´´(ausbl.)][1´28´´] Gilt also im Fall zeitgenössischer Solokonzerte doch die Devise »Willkommen in der Vergangenheit«? Um nicht missverstanden zu werden: es geht hier nicht um dogmatische Richtlinien für ein allein selig machendes Komponieren und Hören. Wohl aber um einige Überlegungen, die sich nicht damit zufrieden geben, Musikästhetik auf dem Niveau des Gefallens einzufrieren. Es geht um Kritik in Form von Fragen, von Unterscheidungen. Um Fragen etwa wie die, woran sich denn die Kriterien orientieren, denen zufolge zeitgenössische Solokonzerte hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben? Liegt dieses Zurückbleiben eventuell in einem mangelnden Gespür für gesellschaftliche Realitäten? Wie viel historisches, gerade auch aktuell historisches Bewusstsein braucht also die Neue Musik? Speziell bei der Auseinandersetzung mit traditionellen Formen? Im Unterschied zum bisher Gehörten vermeidet Cristóbal Halffters Klavierkonzert von 1987 pathetische Tiefgänge. Die Musik lässt zwar durchaus Relikte des virtuos romantischen Klaviersatzes ein, bis hin zum lyrischen Tonfall, aber eben nur splitterhaft und verfremdet. Halffters Musik schneidet tief, um die Stränge genau jener Gewalt freizulegen, die den Stimmungskult der Emotion schal werden lässt. Wenn sich gegen Schluss des Konzerts ein Ostinato-Impuls vom Klavier aus aufgipfelt und destruktiv entlädt; wenn diese Eruption das Soloinstrument gleichsam unter sich begräbt und nur noch für Augenblicke freigibt; wenn schließlich nach dem Ausbruch der Ostinato-Impuls gebrochen und doch wie entronnen nachbebt: dann überlagert dieses Ende den Druck eines mörderischen Mechanismus mit der Hoffnung auf Einspruch. Bspl. 7: Halffter, Concierto para piano y orquestra [Tr. 4: 21´30´´-24´50´´(=Ende)] [3´20´´] Halffters Klavierkonzert führt über die musikalische Repräsentanz von Solo und Orchester einen machttheoretischen Exkurs vor. Eine Dramaturgie von Repression und Widerstand, in der die Erfahrung eines Gewaltpotenzials mitschwingt, das im 20. Jahrhundert nicht zuletzt jene staatsterroristischen Diktaturen ermöglicht hat, deren spanischer Variante Halffter während des Franco-Regimes selbst zur Genüge ausgesetzt war. Sosehr nun Halffters Klavierkonzert im Widerstand gegen eine negative Totalität dem Dialog, dem antagonistischen Dialog verpflichtet bleibt, sosehr sind die Grundfiguren dieses ästhetischen Denkens von der Philosophie des deutschen Idealismus ererbt. Es sind Figuren, die um das Politikum der »Entzweiung« kreisen, um das Drama von Freiheit und Notwendigkeit und um den Widerspruch zwischen »einem individuell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt«. Was sich jedoch im Unterschied zu Hegel geändert hat - und Halffters Konzert macht das unmissverständlich klar -, ist neben der Klarheit der Fronten auch die Souveränität eines Subjekts, das sich um 1800 noch eine ungemein selbstbewusste Auseinandersetzung mit der »Prosa der Welt« zuschreiben konnte: selbstbewusst aus Gründen seiner Autonomie. Denn, so Hegels Ästhetik , »die Intensität und Tiefe der Subjektivität tut sich umso mehr hervor, (...) je zerreißender die Widersprüche sind, unter denen sie dennoch fest in sich selber zu bleiben hat«. Auch wenn Halffters Klavierkonzert einen starken Eindruck hinterlässt: die Zeiten einer dualistischen Konfliktrhetorik als Leitidee künftiger Solokonzerte dürften vorbei sein. Nun bleiben aber Solokonzerte ihrer Idee nach auf den Dialog zwischen Solo und Orchester verwiesen. Erst innerhalb dieser Bedingung stellt sich das Problem, wie dieser Dialog ausformuliert wird: mit all seinen Facetten von Verständigung oder Konfrontation. Und hier zeigen sich die unverkennbar bürgerlichen Züge des Solokonzerts. Züge, die etwas mit dem Vernunftideal der Aufklärung zu tun haben, mit dem Mündigwerden des Subjekts im Diskurs von Streit, Kritik und Diskussion. So konnten Beethovens Solokonzerte noch von einem Einheitsbegriff der Person ausgehen, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Einem Einheitsbegriff, der es Beethoven ermöglichte, die reale Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloinstrument und Orchester auszutarieren. Am eindrucksvollsten im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts mit seinem extremen Einsatz an solistischer Energie und einer Patt-Situation der Kontrahenten. Eine musikalische Geschichtslektion sondergleichen: Bspl. 8: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 , 1. Satz [Tr. 1: 10´40´´aufbl.-11´06´´ausbl.][0´26´´] Mittlerweile sind Konfliktgipfel dieses Formats ihren geschichtlichen Voraussetzungen nach unwiederholbar geworden. Das heroisch-solistische Subjekt inmitten klarer Konflikte und Postulate ist endgültig passee. Komponisten, die sich der historischen Anforderungen bewusst sind, wissen deshalb nur zu gut um das Dilemma von Tradition und Innovation beim Komponieren zeitgenössischer Solokonzerte. So wie Johannes Kalitzke, der in seinem Konzert für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten mit dem Titel »Hände im Spiegel« auf eine selbstreflexive Erkundung dieser musikalischen Gattung setzt. Kalitzke sucht den Zwiespalt zwischen alt und neu durch Vernetzungen, Kontrastierungen und Spiegelungen verschiedener musikalischer Zeiträume bewusst zu machen. So sollen die Idiome der Alten, subjektlosen und der Neuen, subjektfernen Musik den Status des klassisch-romantischen Solokonzerts und die ihn tragende Idee des virtuos-triumphalen Subjekts historisieren. Das solistische Subjekt in seiner aufklärerischen Zuversicht wie in seiner dressurhaften Stilisierung wird zu einer Station der Geschichte. Allerdings ohne den »Reichtum« der Virtuosität zu vergessen, wenn man darin, so Kalitzke, das »Gewicht gegen die Austauschbarkeit des Individuellen erkennt, wie sie uns heutzutage allerorten droht«. Außerdem thematisiert Kalitzkes Konzert über eine Collage gesungener Texte, so der Komponist, den »Abgrund zwischen den Visionen des Künstlers und der Brutalität seines Lebensumfeldes«. Bspl. 9: Kalitzke, Hände im Spiegel. Konzert für Klavier , Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten [Tr. 2: 13´56´´aufbl.-15´58´´ausbl.][2´02´´] »'Die entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt', sagt Berlioz zum Abschied. Es ist ein blutiges Jahr.« Eine aufwühlende Musik, die Kalitzke hier zu einer Strophe aus Enzensbergers Chopin-Gedicht auftürmt. Einem Gedicht, das den Komponisten vor dem Hintergrund der Französischen Februar-Revolution skizziert. Dass Kalitzke dabei den Klavierpart immer wieder dem virtuosen Gestus Chopins angleicht, liegt auf der Hand. Das Problem ist nur, wie sich Kalitzkes theoretisches Konzept insgesamt in Musik umsetzt. Kalitzke beabsichtigt eine Dekonstruktion des Solokonzerts. Und doch komponiert er diese Dekonstruktion nahezu durchgehend mit der Zerrissenheitsrhetorik des tragischen Subjekts: als eine Musik der Bedrohung und des Sich-Behauptens in einer Zeit, in der uns »die Ziele entgleiten«, wie der Komponist anmerkt. Und er komponiert sie mit der herkömmlichen Kollisionsdramatik des Solokonzerts. Kann aber der Zustand des bedrohten Subjekts, von dem Kalitzke spricht, überhaupt noch mit expressiver Gestik und existenzieller Dramatik verhandelt werden? Bleibt die Sinnfolie des leidenden, gefährdeten, seiner Ausdruckspotenz nach jedoch merkwürdig stabilen Subjekts nicht hinter dem Funktionalismus einer Welt zurück, dem das Personale meist nur noch das Vordergründige und der Ausdruck meist nur noch die Maske bedeutet? Oder anders formuliert: verfällt Kalitzkes Klavierkonzert nicht allzu reaktiv dem Bann einer drohenden Katastrophe? Auf Kosten einer antitragischen Hellhörigkeit auch hinsichtlich neuer ästhetischer Strategien? Ist das Pathos der Konflikte nicht mit jener Klarheit, ja Personalisierbarkeit der Widersprüche untergegangen, in der sich Beethovens Fünftes Klavierkonzert und Hegels Phänomenologie so nahe sind? Wo wären im gegenwärtigen transversalen »Abstrakt des Ganzen«, wie Schiller das schon 1795 nannte, das Subjekt und wo sein Widerpart, die Gesellschaft? Wo die Relation, auf die das Dialog-Prinzip von Solo und Orchester noch adäquat reagieren könnte? Und noch etwas: vielleicht wurde das tragisch-heroische Subjekt nicht nur musikalisch aus dem Grund substanzlos, weil der Subjekt-Gedanke schon von seinem Ursprung her zu groß ausstaffiert worden war. Der Gedanke eines Subjekts, das seit nahezu 400 Jahren vornehmlich die ökonomisch-technischen Teilaspekte seiner Selbstbehauptungs- und Ausgrenzungsmuster zum Subjekt schlechthin stilisiert hat; flankiert lediglich von den Kompensationsressorts Gefühl und Affekt. Womit wir bei den Subjektdebatten der neueren Soziologie und Philosophie wären. Bei den Debatten um den Schein-Individualismus einer Massengesellschaft etwa, die die Einzelwesen bis ins Innerste normiere, so dass sich die Rede von Einzigartigkeit und Autonomie schon von selbst verböte. Natürlich kann das Individuum - Nietzsche sprach bereits vom »Dividuum« - nicht mehr in seiner ursprünglich mitgedachten Souveränität gerettet werden. Auch wenn es ebenso überspitzt wäre, seine automatenhafte Entmündigung zu behaupten. Immer noch verlaufen die einzelnen Biografien und Erfahrungsprozesse zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen. Allerdings: wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sich überlagern und widersprechen, sondern schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Gefordert sind zunehmend multiple Psychen, die in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft gelernt haben, widersprüchlichste Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen. Und die deshalb vermutlich im so genannt Privaten umso mehr den harten Kern des Ego als letzte Identitätsbastion zu konservieren suchen. Nun gibt es für das Komponieren zeitgenössischer Solokonzerte mehrere Arten, um auf diesen Zustand zu reagieren. Mit einer Rettung des Subjekts und seiner Rhetorik etwa oder mit einer Einsicht in die subjektzersplitternden Tendenzen. Letzteres aber nicht, um die Schnitte, die das Subjekt der Moderne zerlegen, als Befreiung oder als Katastrophe zu verbuchen, sondern mit dem Bewusstsein, wie sehr der Zerfall des Subjekts etwas mit dessen Geschichte zu tun hat. Ästhetisch könnte das bedeuten, das Identitätskonzept, auch das solistische, aufs Äußerste zu unterminieren, ohne es durchzustreichen. Ergeben sich von hier aus nicht Mittel und Wege, die weit mehr im Bündnis mit dem Subjekt stehen als dessen unmittelbare Bestätigung? Im Bündnis mit einem pluralen Subjekt nämlich? Viele zeitgenössische Solokonzerte erzählen allerdings weiterhin die Geschichte vom Glanz und Elend eines solistisch präsenten Subjekts, das über die Grammatik der Affekte enorm selbstbezogen und autark bleibt. Die Sprache dieser Konzerte, vorwiegend die ihres Soloparts, ist überwiegend gestisch-expressiv, oft tragisch gefärbt, immer aber so intakt, dass an der Konsistenz des Subjekts kein Zweifel besteht. Bspl. 10: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester [Tr. 3: 3´57´´aufbl.-5´21´´ausbl.][1´24´´] Im Kommentar zu seiner Musik für Violine und Orchester, »Gesungene Zeit« , spricht Wolfgang Rihm von einer Musik, die »immer Gesang« ist. Damit gibt er ein Programm vor. Wie schon der Beititel »Musik für Violine und Orchester« vom konzertanten Prinzip abrückt, so schlägt bekanntlich auch das Melos die tragfähigste Brücke ins Refugium der Innerlichkeit. Heinrich Heine hat das bereits scharfsinnig an Rossini aufgedeckt. Für Heine gehören das »isolierte Gefühl eines Einzelnen« und das »Vorwalten der Melodie« als »Ausdruck eines isolierten Empfindens« zusammen. Weshalb Rossini für die »Zeit der Restauration« angemessen war, in der laut Heine »nach großen Kämpfen und Enttäuschungen, bei den blasierten Menschen der Sinn für ihre großen Gesamtinteressen in den Hintergrund zurückweichen musste, und die Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten«. Sollte Rihms Musik mit dem »singenden« Soloinstrument womöglich auch eine Musik der Restauration sein? Hört man Rihms »Gesungene Zeit«, fällt zunächst der kontemplative Duktus auf: der Raum der Versenkung und des hörenden Entwurfs. So »spricht die Violine ihre Nervenlinie in den Klangraum«, heißt es bei Rihm. Und weiter: »Die Linie selbst, ist sie ein Ganzes? Alles ist nur Teil, Segment, Bruchstelle«. »Wir entwerfen hörend auf ein Ganzes hin, das es nicht gibt. Aber dort muss es sein...«. Fragment und Totalität, die zentralen Pole frühromantischer Philosophie und Ästhetik: organisieren sie bei Rihm einen gefühlsästhetischen Ersatz für den verwaisten Ort der Transzendenz? Weil sich die Musik den selbstreflexiven Zügen der romantischen Tradition verweigert, der sie doch sonst so viel verdankt, färbt sich ihr endloser Abgesang mit dem Ton des Sakralen. Und doch wird eine Musik solchen Tiefgangs zu einer der Oberfläche, sofern sie das Affekt-Repertoire zumal der solistischen Monade nicht aufbricht und in seiner Konventionalität bloßlegt. Indem er von der Objekthaftigkeit des Subjekts und seiner Zersplitterung nichts wissen will, konserviert der Dialog zwischen Solo und Orchester in Rihms »Gesungener Zeit« das Subjekt als Substanz. Hauptsächlich über die Solopartie der Violine, die in ihrer Diktion auch durch bedrohlich geschärfte Orchesterattacken nicht zu irritieren ist. Der Ausdruck stemmt sich gegen den Druck nach innen, der die Innerlichkeit sprengen würde. Hat sich denn aber am Subjektmonopol seit Schönberg wirklich so gut wie nichts verändert? Bspl. 11: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester [Tr. 4: 5´19´´-7´40´´][2´21´´] Natürlich können sich unwiderruflich scheinende Stationen des Bewusstseins nachträglich als pure Übereilung erweisen. Ob aber mit Blick auf die jüngste Subjektemphase zentrale Epochenzeugnisse zur Fragilität des Ich so einfach von der Hand zu weisen sind? Prousts Veranschaulichung der ›Fiktionalität seelischer Ganzheit‹ etwa oder die Schnittwechsel in Debussys Jeux , um zwei frühe Beispiele zu nennen? Dass Debussys Jeux von Elliott Carter als kompositorische Verpflichtung der Moderne hoch geschätzt wird, ist bekannt; auch wenn Carters eigenes Klarinettenkonzert von 1996 zunächst wie eines der üblichen zeitgenössischen Solokonzerte mit redseligem Solopart klingen mag. Hört man indes genauer hin, begreift man die Besonderheit eines Konzerts, das die Solostimme mit einem Orchestersatz unentwegter Schnittwechsel kombiniert. Und zwar so, dass die traditionelle Basis des Solokonzerts, der Dialog, fast durchweg in einen Paralog überführt wird. Maßgeblich in den schnellen Sätzen. Das heißt in ein Nebeneinander von Solo und Orchester, getrennten Bühnen ähnlich. Eher selten finden sich im paralogischen Netz der Komposition dialogische Knoten, ohne dass die Musik dadurch den Charakter tragischer Zerrissenheit annähme. Bspl. 12: Carter, Clarinet Concerto [Tr. 7: 0´23´´aufbl.–2´00´´(=Ende)] [1´37´´] Tragische Zerrüttung spielt in Carters Klarinettenkonzert keine Rolle, nicht einmal die Opposition zwischen Solo und Orchester. Weit mehr als um Drama und Tragik geht es Carter um Texturen, die sich ständig auflösen und neu weben. Darin ist das Klarinettenkonzert eine Musik der hohen Ereignisdichte; eine Musik der Plötzlichkeit, gerade im kaleidoskopischen Orchesterpart mit seinen schnellen Aktionen und Reaktionen. Kann man bei Rihms Musik für Violine und Orchester von einer Mono-Akustik sprechen: narrativ, mit gestischer Rhetorik, subjektzentriert, dann bei Carters Klarinettenkonzert von einer Poly-Akustik: mit blitzschnellen Wechseln, oft wie absichtslos und doch mit äußerster Präzision komponiert, die Spur eines seltsam anwesend-abwesenden Subjekts aufnehmend. Carters Klarinettenkonzert unterbindet das Sich-Einhausen in emotionale Register und verweigert sich doch jeder Verweigerungsaskese. Dem »Leitfaden des Leibes« verbunden überführt die Musik die Virtuosität des traditionellen Solokonzerts in eine Choreografie des Körpers, der durchaus gesellschaftlich zu verstehen ist: als corps social. Er wird in den Stößen des Orchestersatzes zum Beben gebracht. Dass Carters komplexe Konstruktion dabei eine Vielfalt an Farben und Beweglichkeit produziert, oft rupturhaft unkalkulierbar, wirkt wie eine Anspielung. Darauf nämlich, mit der Fluktuation der musikalischen Struktur auch die der Gesellschaft im Blick zu behalten: in Richtung ihrer Veränderbarkeit. Dafür spricht in anderer Weise auch, dass Carters Klarinettenkonzert ohne Steigerungen, ohne Aufschwünge und Abstürze komponiert ist. Zumal an der Solopartie fällt im Gegensatz zum äußerst durchgebildeten Orchesterpart etwas unentwegt Sprechendes und doch Sprachloses auf; etwas arabeskenhaft Ausdrucksloses. Selbst im Parcours der Stimmungswechsel behält die Artikulation der Klarinette etwas gleich bleibend Beliebiges bei, etwas wie die Willkür rhetorischer Leerläufe. Obwohl nichts wiederholt wird, wirkt die Musik wie in einem Zirkel der Wiederholung gefangen. So als würden sich musikalisch im Paralog von Solo und Ensemble die sprachfertigen Sprachlosigkeiten der Kommunikationsgesellschaft reflektieren. Protokollarisch nüchtern komponiert, transzendenzlos geradezu. Den Status quo als ein aufhebbares Missverhältnis zwischen der Wirklichkeit und deren Möglichkeiten zu begreifen - ohne Defätismus und Utopismus: darauf spielen auch Carters Schriften immer wieder an. So formt Carters Klarinettenkonzert im Paralog, im Nebeneinander zwischen einem äußerst beweglichen Orchestersatz und einem ebenso wendigen, aber wie in rhetorischen Irrläufen isolierten Solopart eine Spannung des Getrennten aus. Eine Spannung, die näher an der Situation des modernen Individuums sein dürfte als dessen solistisch-dialogisches Zelebrieren. Eine Spannung, die stark und schwach zugleich ist. Schwach insofern, als der Paralog von Solo und Orchester den Eindruck erweckt, als bräuchte es nur eine geringe Veränderung, um das Getrennte modellhaft demokratisch zu einem Tableau differenziertester Einzelstimmen zusammenschießen zu lassen. Bspl. 13: Carter, Clarinet Concerto [Tr. 6: 1´26´´aufbl.–3´05´´ausbl.] [1´39´´] Sosehr in Carters Klarinettenkonzert Schockhaftes rumort, Wahrnehmungsveränderungen aufgrund der Beschleunigungstechniken des zwanzigsten Jahrhunderts, sosehr verwandeln sich in ihm die Schocks ins Spielerische. Eine Intention der Leichtigkeit, die auch für Helmut Lachenmanns Komposition Ausklang eine Rolle spielt. Zielt doch Lachenmann darauf ab, die »in Schwingung versetzte Materie (...) am Verklingen zu hindern«, und damit, wie er sagt, auf den »Wunschtraum, die Schwerkraft zu überwinden«. Ausklang ist Lachenmanns Auseinandersetzung mit der Gattung des Klavierkonzerts: in Form einer Auseinandersetzung mit dem Einschwingen und Ausklingen von Klavierklängen und ihrem Nachhall im Orchester. Eine Auseinandersetzung vor allem damit, dem Ausklingen durch vielfältige Filterungs- und Umwandlungsaktionen zuvorzukommen, bis hinein in die geräuschhaften Grenzbereiche des Halls. Im Unterschied zum narrativen Mit- oder Gegeneinander von Solo und Tutti interessieren Lachenmanns Ausklang strukturelle »Abbau- und Umbau-Prozesse« zwischen Soloinstrument und Orchester. Prozesse, die sich ergeben, wenn die Klangmaterie in ihren rohen, trockenen, halligen oder komplex gemischten Formen zum Vibrieren gebracht wird. Bspl. 14: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1: 0´00´´-2´20´´][2´20´´] Lachenmanns Ausklang ist eine Musik punktueller Aktions- und Reaktionsimpulse zwischen Soloklavier und Orchester; eine Musik von Ereignissen, die wie in Stockhausens »Momentform« »sofort intensiv sind«. In denen also »nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird«, sondern selbständig »für sich bestehn kann«. Eine befreiende Musik ist Lachenmanns Ausklang deshalb, weil sie den Zwang ständiger Sinnstiftungen unterbricht. Mit der linearen Sinnökonomie der Töne hebt die Musik die moralische Wertung von Richtigem und Falschem auf; mit ihrer Augenblickspräsenz die Aufschubs- und Wertungsraster von Wichtigem und Unwichtigem. Lachenmanns Auseinandersetzung mit dem Solokonzert kreist weder um einen melancholischen Abschied vom Subjekt noch um eine Musik des tragischen Zeitalters. Schon indem das Ranggefälle zwischen Soloinstrument und Orchester aufgehoben wird, verändert sich mit dieser Spielregel auch grundlegend die Idee des Solokonzerts. Unsinnig wäre es allerdings, die Aufhebung des dominanten Soloparts kurzschlusshaft mit zynischer Subjektverneinung gleichzusetzen. Als würde das Ernstnehmen des Fiktionalen am Subjekt einen Verrat am Menschen bedeuten. Übersehen wird dabei mitsamt den Möglichkeiten des ästhetischen Experiments, dass Ästhetik nicht umstandslos in Ethik aufzulösen ist. Indem Lachenmanns Ausklang die Initiative der Klänge ernst nimmt, wird die Musik nicht zum Generator einer Sinnspur des kompositorischen oder solistischen Subjekts. Im Gegenteil. Mit dem Aussetzen der subjektdramatischen Zeit wird erst eine neue Präsenz der Klänge möglich. Wenn sich im Klang-Transfer zwischen Klavier und Orchester unter Einsatz nuancierter Anschlags- und Artikulationstechniken die Mittel differenzieren und emanzipieren, bedeutet das eine Emanzipation auch des Hörens. Die Demontage der affektiven Subjekt-Klischees eröffnet dem Ohr eine neue Tiefenschärfe. Was sich in Lachenmanns Ausklang auf den Tasten des Klaviers abspielt, ist nicht selten eine tastende Musik, eine des Ertastens und Testens. Eine Musik, die Fühlung aufnimmt mit der geschichtlichen Ladung des Klangs. Mit dem Widerhallen und Verhallen einer versprengten Tradition, die ihrem eigenen Echo nachhört, und sei es in den Versatzstücken virtuoser Konzertpianistik. Eine Musik aber auch, die Fühlung aufnimmt mit der materiellen und strukturellen Basis des Klangs, seinem Sinnpotenzial. So wird der Abstieg zum Sprachgrund der Musik zu einem Abstieg in den Artikulationsgrund von Sinn und Subjekt: gegen die Vorstellung von Sprache als einem Gefäß des Ausdrucks. Rihms »Gesungene Zeit« setzt die musikalische Sprache als gegeben voraus. Ihre Sinnstruktur wird nicht aufgebrochen, sondern über Verschiebungen, Anspielungen, Überlagerungen, Verdichtungen oder Risse lediglich variiert. Erforscht Lachenmanns Spiel mit Klangintensitäten Verläufe der Sinn- und Subjektgebung, geht Rihm immer schon vom subjektverbürgten Sinn des Ausdrucks aus. Versteht Lachenmann das Subjekt prozesshaft, zentriert sich Rihms Musik um dessen Statik. Zielt Rihm aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Als Rimbaud vom »Unbekannten« sprach, vom Wagnis des Dichters, »durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen«, band er dieses Wagnis an die Aufkündigung der etablierten Subjektidentität. »JE est un autre« - »ICH ist ein Anderes«. Ob dieser Zusammenhang nicht auch einiges, womöglich alles für die Komposition zeitgenössischer Solokonzerte bedeutet? Bspl. 15: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1: 38´23´´aufbl.–40´41´´] [2´18´´] Musikbeispiele Bspl. 1: Oliver Knussen, Horn Concerto op. 28 (Deutsche Grammophon 449 572-2) Bspl. 2: Alfred Schnittke, Cellokonzert (Naxos 8.554465) Bspl. 3: Krzysztof Penderecki, Metamorphosen. Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 (Deutsche Grammophon 453 507-2) Bspl. 4: Michael Nyman, The Piano Concerto (Naxos 8.554168) Bspl. 5: Peter Michael Hamel, Violinkonzert in zwei Sätzen (Wergo 286 520-2) Bspl. 6: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra (Deutsche Grammophon 437 091-2) Bspl. 7: Cristóbal Halffter, Concierto para piano y orquestra (Auvidis Montaigne 782108) Bspl. 8: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 (DECCA 417 703-2) Bspl. 9: Johannes Kalitzke, Hände im Spiegel. Konzert für Klavier, Orchester, Live-Elektronik und zwei flankierende Solisten (col legno 31875) Bspl. 10: Wolfgang Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester (Deutsche Grammophon 437 093-2) Bspl. 11: Rihm, »Gesungene Zeit«. Musik für Violine und Orchester Bspl. 12: Elliott Carter, Clarinet Concerto (Deutsche Grammophon 459 660-2) Bspl. 13: Carter, Clarinet Concerto Bspl. 14: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (col legno 31862) Bspl. 15: Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester
- Johannes Bauer, Text und Textur. Konvention und Neue Musik
SCHRIFT TEXT TEXTUR Nicht erst seit Nietzsche und Hofmannsthal werden Sprache und Schrift auf den Grund der Konvention, ja den Abgrund der Leere unter dem Sinnfundament ihrer Laute und Zeichen hin transparent. Die Rationalisierung der Schrift im Druck mit beweglichen Lettern und damit die Auflösung sogar des göttlichen Worts in ein Puzzle von Buchstaben und Silben lässt von nun an jeden Text auf die Setzkästen Gutenbergs hin transparent werden: Setzkästen, die erlauben, die Welt in eine unendlich verschiebbare Kombination von Worten und Gedanken zu übersetzen und aufzulösen. Dass diese Kombinatorik das Element des Schöpferischen, aber auch des Künstlichen jeder Sprache aufdeckt, unterhöhlt die Sinnbrücken von Schrift und Syntax, die die Kluft zwischen den Worten überspannen, und zeigt das Zufällige am Regelwerk der Sprache und ihrer schriftlichen Fixierung. Sagbares, Unsagbares; Lesbares, Unlesbares: wo verläuft die Grenze? Lesbar-unlesbare Zeichensequenzen erzeugen über ihre Wechselwirkungen, ihre Überlagerungen, ihre Störungen und Leerstellen eher ein Feld der Anspielungen und Andeutungen, der Brüche und Risse als eine sinnprägende Zuweisung nach Art logisch verketteter Wort- und Satzgefüge. Angesichts der Geschlossenheit von Seite und Satzspiegel in der ebenso geordneten wie kompakten Textur alphabetischer Schriften sprengt die Auflösung ihres Textgewebes das theologische Erbe der Schrift, Welt und Dingen im sinnhaften Fluss des Schreibens und Lesens ihren Ort zuzuweisen und sei es durch Nichtzuweisung. Indem Schrift grafisch-malerisch von einer Logik entbunden wird, deren Verständigungs- und Verständlichkeitsnorm gegen andere Ordnungen von Schrift und Sprache abschirmt, werden Schrift und Sprache auf die Rückseite ihrer gewohnten Textur im Weben und Knüpfen von Sinnspuren und logischen Knoten hin durchlässig. Im Aufbrechen einer Textlogik, die Folge und Folgerung, Sequenz und Konsequenz zur Deckung bringt, sollen Gewohnheit und Gewöhnung im Akt des Schreibens und Lesens auf das verdeckte Andere von Schrift und Sprache hin aufmerksam werden: auf das, was der Allianz von Schrift, Grammatik und Logik entgeht. Schließlich reguliert diese Allianz, was wahrgenommen und nicht wahrgenommen, was gedacht und nicht gedacht werden kann. Zur malerischen Umsetzung solcher Randgänge im Bereich von Schrift und Sinngebung, von Bedeutung und Nicht-Bedeutung vgl. Johannes Bauer, Schrift-Malerei Text und Textur Wieviel Konvention verträgt die Neue Musik? Thoreau said that hearing a sentence he heard feet marching. John Cage, Empty Words «Wir Philosophen und ‹freien Geister› fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‹alte Gott todt› ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt»; «endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, [...] endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‹offnes Meer›». Und doch «kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass [...] es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit». «Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es giebt kein ‹Land› mehr!»(1) Nietzsche verdichtet das Bewusstsein der Moderne, seine Aufbruchseuphorie und seine Angstschübe, zum Panorama eines unabsehbaren, säkularen Weltabenteuers. Faszination und Schrecken legieren sich, wenn im Sog des Bindungslosen die Sehnsucht nach vermeintlicher Geborgenheit aufkommt. Bezieht man diese Ambivalenz auf das Schwinden einer verbindlichen musikalischen Sprache, einer Sprache mit den Sicherheitsgarantien und Normen eines Gattungsstils etwa, dann ist die Skepsis, die dieses Schwinden lange Zeit begleitet hat, mittlerweile einer Einsicht in die Autarkie des Verschiedenartigen gewichen. Zweifellos gibt es in der zeitgenössischen Musik mehr als nur eine Art zu komponieren, ohne dass deshalb der Formenkreis der Möglichkeiten sofort qualitätshierarchisch abgestuft werden müsste. Entspricht indes die komponierte Vielfalt auch einer Vielfalt der Kommentare zur Neuen Musik? KURZSCHLUSS Beginnen wir mit einem Kommentar zu Giacinto Scelsis Trio à Cordes . Dass Scelsis Streichtrio Kriterien wie «Thema, Kontrapunkt, Harmonie, Einführung und Entwicklung» ins Leere laufen lässt, erinnert unter dem Aspekt untauglich gewordener Analyse-Instrumentarien an eine Situation der Naturwissenschaften «zu Anfang dieses Jahrhunderts». «Beim Versuch, das extrem Kleine zu analysieren – das Atom zum Beispiel, oder die Bewegung der Elektronen – erwies sich die traditionelle Physik als unzulänglich». «Nötig» war der «Weg» der «Quantenmechanik». Ein Weg, der auch für Scelsis Musik «ergiebig» zu sein verspricht: aufgrund ihrer strukturellen Analogie zu quantenphysikalischen Begriffen wie dem des «Orbitus (Lage innerhalb einer Tonleiter oder Stimmlage)», dem des «Quantensprungs», dem der «Probabilität als einer statistischen Annäherung an das Geschehen» oder dem der «Interferenz als der Hinzufügung eines Turbulenzelements mit nicht voraussagbaren Resultaten». Im dritten Satz von Scelsis Streichtrio können demnach die «vorübergehend auftauchenden Dis in Takt 11-13 als Interferenzbeispiele angesehen werden, wobei ab Takt 19 die Note sich klar als ein anderer Orbitus bestätigt. In Takt 13 und 48 führt die Geige schnelle Quantensprünge von einer Bahn in die andere aus [...]. Der Wechsel von B- und Dis-Bahnen stellt eine gewisse Anziehungskraft her, [...] gegen welche das Dis ab Takt 56 wie eine andere Art Interferenz erscheint», um schließlich «in den letzten Takten wie ein schwebendes Elektron» zu enden, «welches anwesend ist, aber keinen wirklichen Einfluss ausüben kann».(2) Mit dem Vermischen zweier Begrifflichkeitsbereiche, des musik- und des quantentheoretischen, ohne Rücksicht auf deren spezifischen Erfahrungs- und Erkenntnishorizont, leistet sich dieser Kommentar mehr als eine Klitterung. Statt einer Annäherung an die Logik des Komponierten nichts als eine abstrakte Bebilderung: Ein argumentativer Kurzschluss im Verschmoren naturwissenschaftlicher und ästhetischer Stränge und ein misslungenes Beispiel für die Absicht, mit dem Vokabular der modernen Naturwissenschaft den Geist der Neuen Musik zu destillieren. Wie aber wären die Extreme zwischen spekulativ willkürlichen Deutungen und technizistisch verengten Analysen zu vermeiden? Bleiben wir zunächst noch beim Verhältnis zwischen Neuer Musik und Naturwissenschaft. Selbst wenn Cages Atlas Eclipticalis auf das Gebiet der Astronomie anspielt, seine Musik liefert keine Umsetzung astrophysikalischer Theorien, keine klingende Himmelskunde von roten Riesen und schwarzen Löchern. Physikalisch-kompositorische 1:1-Übertragungen wären wie im Fall Scelsis konkretistisch und absurd. Dient Cage die Auswahl von Sterngruppen doch lediglich als Operationsbasis, stellare Positionen auf Notenpapier zu transferieren. Dass sich über das Motiv der Konstellation Bezüge einer mittelpunktslosen Parataxe zwischen Musik und Kosmos ergeben, ist ein anderes Thema. Natürlich resultieren aus dem Kontext simultaner Erkenntnisressourcen zahlreiche Vergleichbarkeiten zwischen Neuer Musik und moderner Naturwissenschaft. Nur wären diese Gemeinsamkeiten subtil und vom Grad ihrer Verschiedenheit her miteinander zu vermitteln. Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit zugunsten verschiedener «Eigenzeiten» außer Kraft setzt; dass die Quantenmechanik mit Wahrscheinlichkeitswerten arbeiten muss, die eine strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Umdenken vormals umstandslos dem blinden Zufall zugeschlagener Prozesse verlangt: solche Gegebenheiten und Umwertungen lassen sich ästhetisch ebenfalls nachweisen. Auch im Universum von Atlas Eclipticalis heißt Gleichzeitigkeit die Zeitgleichheit unterschiedlicher Eigenzeiten, die der jeweiligen Interpreten und Klänge nämlich. Auch in Atlas Eclipticalis entmächtigt die Nichtvoraussagbarkeit der Musik jedes prophetische Hören, allein schon weil keine Aufführung der anderen gleicht. Und was den Zufall anbelangt, er ist in der Auseinandersetzung mit Cage das Reizthema schlechthin. Vergleichbarkeit also, keine Gleichheit. Dass Musik zunächst ein eigenständiges Erkenntnismedium ist, müsste jedem Kommentar zu denken geben. Zudem wird die Vermittlungsarbeit zwischen Kunst und Empirie dadurch erschwert, dass das gebräuchliche musikwissenschaftliche Vokabular, wie Drake zu Recht anmerkt, für den Bereich der Neuen Musik nicht mehr greift. Vor allem, weil die an der Funktionsharmonik entwickelte Hermeneutik dem Sprachcharakter der Tonalität verpflichtet ist. Die syntaktische respektive syntaxähnliche Qualität von Sprache und Musik aber ist es, die über die Unterschiede zwischen Begriff und Expression hinweg Analogien erzeugt. Emanzipiert sich Musik doch erst aufgrund ihrer «uralten Verbindung mit der Poesie» zu einer Sprache des «Inneren»; bis schließlich die «‹absolute Musik›» nach der ‹Eroberung› eines «ungeheuren Bereichs symbolischer Mittel» in «Lied, Oper und hundertfältigen Versuchen der Tonmalerei» zu einer nunmehr «ohne Poesie [...] zum Verständnis redenden Symbolik der Formen» und «des inneren Lebens» wird: Konsequenz einer «musikalischen Form», die «ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist».(3) Noch Wittgenstein vergleicht «musikalische Themen» und «Sätze» mit der Sprache des Begriffs – in der Hoffnung, die «Kenntnis des Wesens der Logik» könne zur «Kenntnis des Wesens der Musik» führen.(4) Seitdem jedoch die kompositorische Praxis das Sinnmodell der herkömmlichen Notation und ihre kausalorientierte Zeitfolge sprengt, steht zur Diskussion, ob es nicht auch geboten wäre, die «Gutenberg-Galaxis» der Kommentare zur Neuen Musik zu transformieren. Müssten nicht auch sie eine Schriftökonomie in Frage stellen, die das Denken linear zügelt? Mit dem Zeilenprogress als Zeremonienmeister des Gedankens und einer grammatischen Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien, die die kognitive Spur des Blicks im Zeilengitter funktional flexibel und zugleich gefangenhalten? Cages Concerto for Piano durchweg mit derselben Textstruktur zu kommentieren wie eines der mozartschen Klavierkonzerte ignoriert den Bruch des Kontrakts zwischen Musik und Sprache in der Moderne; folglich die Aufkündigung der Korrespondenzen zwischen dem verbalen und musikalischen Sprachcharakter. KOLUMNE – KOLONNE Mag die Musik der tonalen Epoche den Begriff zwar gleichfalls auf eine unendliche Irrfahrt schicken, sie bleibt – anders als zeitgenössisches Komponieren – der Sprache der Worte über ihre periodische Struktur verbunden. Für die Spannung zwischen Neuer Musik und ihrer verbalen Exegese heißt das: Stiften diskursstringente Kommentare eine Sinntendenz, die über die Mikrofinalität eines jeden ihrer Sätze kausale Verläufe und logische Vermittlungen produziert, dann sprechen solche Kommentare das Inkalkulable der Neuen Musik obsessiv von einer Ordnung der Schrift und des Denkens her, die die Neue Musik ihrerseits ebenso obsessiv unterläuft. Was aber heißt es, unentwegt syntaktisch über eine asyntaktische Sprache zu reden? Betreibt die sinngesättigte Syntax im Sprechen über eine sinnerweiternde, sinnzersetzende Musik nicht untergründig deren Entschärfung, indem sie sich parasitär an den Kompositionen festsaugt und das ästhetisch Irreduzible der Sinnrisse und Leerstellen hermeneutisch eingemeindet? Was zahlreiche Werke der Neuen Musik an Sinnverschiebungen und Sinnenteignungen leisten, indem sie den vormals subjektgespiegelten, narrativen Sprachcharakter zwischen Sinn und Nicht-Sinn oszillieren lassen, bedingt zugleich ihre Abstinenz gegenüber einem der Musik vorausliegenden und sie transzendierenden Gehalt. Feldmans Spätwerk drückt in seiner Repräsentanzlosigkeit und Selbstreferenz nicht mehr etwas aus. Ihm geht es darum, das Gedächtnis selbst zu thematisieren, seine Vernetzungsarbeit, seine Zeitfenster, seine Leerstellen. Der ‹große Maßstab› des Komponierten verflüchtigt das Sensorium von Gegenwart, Erinnern und Vergessen zum Nullsummenspiel «verfälschter Assoziationen»(5). Zeit und Identität beginnen zu oszillieren. Musik versiegelt sich gegen die subjektive Innerlichkeitsform eines Gedächtnisses, das sich seiner erst in einer «disorientation of memory»(6) bewusst wird. Dekonstruiert wird die Arbeit des Bewusstseins, bevor sie zum Sinn gerinnt. Mit dem Verwischen syntaktischer Spuren im Modulieren von Mikrovarianten aber bricht Musik mit der Integrationsleistung des Gedächtnisses und der Kontrolle des Ohrs auch den rezeptiven Ortungssinn. Hören fordert ein ungedecktes Geschehenlassen, das auftauchen lässt, statt das Komponierte auf das Einheitsverlangen der produktiven Einbildungskraft zu recodieren. Und auf solche Umwertungen sollten die Kommentare stets nur mit der gleichen Uniformität einer Textur reagieren, die das Denken von Anfang bis Ende an die Kandare des argumentativ logischen Vollzugs nimmt? Gleich einem Fließband der Gedanken und gegen jede Spur einer «Momentform» auch in der Schrift?(7) Es verwundert viel zu wenig, wie unbeweglich die Praxis des Schreibens in einer ebenso vernetzten wie zersplitterten Welt bleibt. Selbst wenn die alphabetisierte, bündig ausgerichtete Linearität geschlossener Textkörper der Rendite einer schnelligkeitstrainierten Verständnis- und Erklärungspraxis und mit ihr der allgemeinen Verwertungseffizienz optimal entspricht: Nur jenes Aufbrechen der hochbetagten Text- und Zeichenstrukturen, das neben dem Behauptungs- und Begründungsdiskurs und seiner Formalisierung im Schema des Blocksatzes auch dessen graphische Überschreitung einließe, könnte den Kanon der Linearität auf eine neue Wahrnehmungssemiotik hin überschreiten. Und mit ihm das Gesetz einer Sprache, die die Urteilseinheit ihrer Sätze unnachgiebig auf den Kausalitätsindex von Wahrheit verpflichtet. Der unitäre Satzspiegel, der Symmetrie und Folgerichtigkeit zur Kolumne verdichtet, dürfte Cage deshalb nicht zufällig an eine Kolonne erinnert haben: an ein syntaktisches Bataillon der Worte, ähnlich den blocksatzartigen Gruppen- und Massenformationen in Kirche, Heer und Konzertsaal. «Syntax: arrangement of the army».(8) Statt also, inspiriert vom Dérèglement zeitgenössischen Komponierens, die Möglichkeiten einer nichtlinearen Logik auszuloten, nimmt die Mehrzahl der Kommentare zur Neuen Musik über das Bedeutungsprimat und die Grammatik der Worte allzu befangen das Mandat des Realitätsprinzips wahr. Doch erst wenn die Praxis der Auslegung auf sich zurückwirken ließe, was dem Begriffsnetz der Folgerung entgleitet, würde sie endlich auch zu evozieren beginnen, statt immer nur zu informieren. Schreiben über Neue Musik kann nicht zuletzt an der Neuen Musik lernen, was nicht-signifikante Zustände für einen freieren Diskurs auch des Begriffs leisten können. Inwieweit resultiert also der Reduktionismus der verbalen Sprache und ihrer erkennungsdienstlichen Bürde aus der Abwesenheit jener weißen Stellen, deren asemantische Frakturen den Begriff auf das hin sprengen, was an den Phänomenen nicht in Wort und Kennung aufgeht? Vergleichbar der «Leere» in Lachenmanns Gran Torso als dem «Zentrum einer unberührten Wüste» und einer «auf Null» gebrachten Musik; Resultat eines kompositorischen «Exorzismus, um endlich befreite Musik schreiben zu können»? Öffnet sich doch schliesslich «erst dort, wo die Musik sich aufhebt», «ein Freiraum von Nicht-Musik» im «Gefühl» einer «nie gekannten Freiheit».(9) Erinnern Lachenmanns Ausführungen nicht an jene Verlockungen, wie sie seit Nietzsche und Hofmannsthal einer vom Vollzug des Urteils befreiten Sprache zugeschrieben werden? Sprache als Nicht-Sprache; Musik als Nicht-Musik: Erschöpfungen des Sinns, um sich einer Region jenseits der Herrschaft der Codes anzunähern. Gerade neuere Kompositionen zersetzen mit dem Sinnregime der Linearität jenes Stück Realitätsprinzip, das sich im Zwangscharakter der Sprache verschanzt. Solches Dekomponieren kann, wie in Cages Empty Words und Mesostics , die unterdrückten physiologischen, phonetischen, gestischen und klanglichen Aspekte der Sprache außerhalb ihres logischen Korsetts freisetzen. Indem Sprache auf ihre materiale Basis, auf ihren körperhaften Grund und Abgrund hin durchlässig wird, opponiert sie ihrer ausschließlichen Funktionalisierung zu einem Instrument der Kommunikation. Um Weitungen und Erweiterungen der Sprache kreist auch Brian Ferneyhoughs Fourth String Quartet , das die «Konstellationen Text/Stimme und Stimme/Quartett aus verschiedenen Richtungen» und mit dem «Bewusstsein der komplexen Natur der Sprache» angeht. «Wörter werden auseinandergerissen und auf aphoristisch isolierte Silben reduziert, die Aufmerksamkeit verschiebt sich vom ‹Wie› zum ‹Was› des von einem dichterischen deus ex machina wiederbelebten Sprachmaterials».(10) Von solchen Pulverisierungen zeigt sich die Kommentarpraxis zur Neuen Musik weitgehend unbeeindruckt. Der Deutungsmacht des Begriffs zufolge käme dessen Anverwandlung an die Musik einer unzulässigen Vermischung zweier Diskurssphären gleich. Anzunehmen ist freilich, dass das Monopol einer begriffsdominierten Sinngebung auf Dauer der Rezeption des Komponierten und damit dem Komponierten selbst nicht äußerlich bleibt. Wenn etwa, um auf bejahrtere Analyse-Beispiele zu rekurrieren, Stockhausen davon spricht, dass stete Wiederholung und dauernder Kontrastwechsel auf Nivellierung hinausliefen; oder Ligeti davon, dass mit der Freiheit eines Konzepts und dem Anwachsen seiner möglichen Realisationen gerade deren Unterschiedslosigkeit zunehme, weil Veränderung im Bereich des X-Beliebigen fiktiv sei, dann schreiben solche Begründungen gängige Logisierungen der ästhetischen Phänomen fort; befangen in den formallogischen Sprachfallen des alten Erkenntnis- und Wahrnehmungssubjekts und einer als statisch gedachten Geschichte des Hörens. Seitdem hat sich die Asymmetrie zwischen einer immer noch primär über zweiwertige Logiktheoreme vernetzten Sprache, und einer Musik, die sich zum Zeichen ihrer selbst verschlüsselt, laufend vergrößert. Eine Asymmetrie, auf die Morton Feldmans alles andere als ironische Bitte reagiert, man solle es bei statistischen Analysen seiner Kompositionen belassen.(11) AMNESIE – AMNESTIE Es wäre unsinnig, den Gehalt von Werkstattberichten oder den von diskursiv erläuternden Kommentaren zur Neuen Musik zu verkennen. Wer möchte schon Boulez´ Ausführungen zum Kontext von «Wucherung, Komplexität und Chaos» bei der Entstehung des Livre pour quatuor à cordes missen? Oder die zu «Polyvalenz und Tropus» in der Troisième Sonate pour piano ? Gleichwohl käme es darauf an, statt das Verständnis von Musik immer nur dem Parcours sukzessiver Urteile einzupassen, Sprache ebenso von der Musik her in einer Polyphonie der Diskurse flüssig zu halten. In dieser Vielfalt ergänzten sich Werkstattkommentare mit soziologisch oder historisch gewichteten Analysen, aber eben auch mit Schrift- und Reflexionsformen, die sich dem Komponierten strukturell angleichen. Der Einwand, experimentelle Annotationen zur Neuen Musik würden selbst zu Kunst, trifft nur zum Teil. Natürlich spielt die Erosion der Sprache in den Bereich des Ästhetischen hinüber, sofern sie die Maschen der Bedeutung auf Vieldeutigkeit hin weitet. Keineswegs jedoch verwandelt sich eine Sprache, die das Selbstläufertum ihrer Gewohnheiten und -gewöhnungen unterminiert, zwangsläufig in Poesie. Die Zermürbungsarbeit des Sinns kennt viele Facetten. Wenn etwa Jacques Derridas Glas von 1974 den Satzspiegel spaltet, schleust es in die Sprache als Medium der Vermittlung und in die Ausgleichsarbeit des Begriffs mehr als nur einen Metadiskurs ein. Als Buch im Buch entgrenzt der zweispaltige Text in seiner ebenso präzisen wie hintergründigen Engführung von Hegel und Genet das Terrain der Beweislogik unter ästhetischen Vorzeichen, ohne doch in Dichtung überzugehen. Vielmehr arbeitet die Textur mit der Vielschichtigkeit eines Spurengewebes der Texte und Subtexte, das den parzellierten Schriftkörper in ein Rhizom zahlloser Teildiskurse ausdifferenziert. Wird der Monolith des glatten Satzspiegels zum Selbstbespiegelungsgrund eines Subjekts und einer Theorie, deren gottererbte Wortregie sich als Grund und «Folie der ganzen Welt unter[legt]»(12), dann lösen mehrdimensionale Schrifttableaus die Diskurslogik in die Spiegelungen einer Polytextur auf, die weniger um das Monopol von Autor und Rezipient kreist als um einen Text, der sich selbst schreibt. Ein Verstoß gegen Denkroutinen, ähnlich dem, was Cages Lectures reklamieren: «Wenn ein Vortrag informativ ist, verleitet er die Hörer dazu zu glauben, dass [...] sie nichts weiter zu tun hätten als ihn in sich aufzunehmen. Wenn ich hingegen einen Vortrag halte, bei dem nicht klar ist, was da eigentlich genau vermittelt werden soll, sind die Hörer aufgefordert, selbst aktiv zu werden.»(13) Der Identitätssog der Sprache ist kaum zu unterschätzen. Angesichts der Übereinstimmung und Geschlossenheit von Seite und Satzspiegel, die Widersprüche nur unter dem Primat einer ebenso austarierten wie kompakten Textur zulassen, sprengt die Dezentrierung von Textspaltungen den resttheologischen Anspruch, allen Dingen ihren Ort zuzuweisen und sei es durch Nichtzuweisung. Polysemantische Texturen entfalten über ihre Fluktuationen und Beschneidungen, ihre starken und schwachen Wechselwirkungen, ihre Trennungen und Bündnisse in offenen und gedämpften Echoräumen des Denkens eher eine Semantik der Anspielungen und Andeutungen als eine der Gleichsetzungen und Zuweisungen. Sie entbinden Schrift von der Immunität einer Logik, deren Verständigungs- und Verständlichkeitsdogma gegen jede andere Ordnung von Sprache abschirmt, und dekuvrieren – gleichsam als Rückseite der Texturen – das Weben und Knüpfen von Sinnspuren und logischen Knoten. Weder komprimieren sie die Zeit zu einem Verlauf, der Folge, Folgerung und Logik zur Deckung bringt, noch betreiben sie die schlüssige Verfugung der Urteile zu einer Verfügung über die Phänomene. Im Entschwinden der linearen Semantik und im Dämpfen des logischen Imperativs zeigen sich die Amnesie wie die Amnestie einer Textarbeit, die nichts mit einer unkontrollierten Rhapsodie der Assoziationen zu tun hat. Eine Sprache, die die Wissenschaftsdoktrin sprengt, verlangt von Autoren wie Rezipienten eher mehr an Präzisions- und Dechiffrierungsarbeit als gängige Begründungsarmaturen. So etwa auch die textuelle Spaltung in Peter Ablingers Hören um zu Sehen .(14) Auch hier steigert sich der Monotext zu einem Polytext feinster Verästelungen: Keine Vielheit in der Einheit mehr wie im uniformen Satzspiegel, sondern eine Vielheit in der Vielheit. Mag Sprache nach der Erosion von Syntax und Signifikanz nur noch sich selbst bedeuten, sie widersteht für Cage dem Verhängnis der «Wörter, die uns fortwährend etwas in einer Weise sagen lassen, wie die Wörter es brauchen».(15) Deshalb will Cage in der Nachfolge Nietzsches, «dass unsäglich mehr daran liegt, wie die Dinge heissen , als was sie sind»(16), und in der Nachfolge Hofmannsthals, dem sich die Worte vor die Dinge stellen, eine Sprache ‹entmilitarisieren›, der im Benennen das Benannte zum «Objekt» gerinnt. Geradezu lustvoll lassen sich Cages Empty words auf jene Strudel und Abgründe ein, die noch Hofmannsthals Chandos mit Blick auf das Grundlose und Fiktionale der Sprache paralysierten. Cage entlastet den durch Zufallsoperationen aus Thoreaus Journal extrahierten Text der Empty words von der Hypothek des Bezeichnens, indem sich Wörter und Sätze auf Buchstaben und Pausen hin zubewegen, bis die Sprache als Sprache schweigt. Wie in den Lectures aus Silence lässt Cage auch hier einen «neuen alchimistischen Zustand der Sprachmaterie in Erscheinung treten» und damit «Sprache , und nicht eine Sprache».(17) Solche Entsemantisierungen verweisen außer auf Cages Mallarmé- und Joyce-Rezeption auf seine Faszination durch die weitmaschige, äußerst bewegliche und vieldeutige Syntax fernöstlicher Sprachen. Hebt nicht auch Roland Barthes am japanischen Haiku das «Enden von Sprache» hervor, ihr Stillstellen?(18) AUFHEBUNG DER BLOCKADE Als Jacques Lacan psychoanalytisch zwischen einem «leeren» und einem «vollen Sprechen» unterschied, hatte er mit der «parole vide» die selbstgefällige «Spiegelfechterei eines Monologs» im Blick, dessen Narzissmus die «harte Arbeit eines Diskurses ohne Ausflüchte» abwehrt.(19) Ein «leeres Sprechen» über Neue Musik wäre demnach eines, das mit der Sprache der Bildung und Wissenschaft vor allem sich selbst zuhört, ohne sich den Kraftlinien und Triebenergien der Musik auszusetzen. Bereits zahlreiche Analysen der tonalen Musik verlieren mit der Verkennung des Unterschieds zwischen der imaginativen Logik der Tonsprache und der kausalen des Begriffs jene Energien aus dem Blick, die der Ökonomie der Funktionsharmonik und ihren Formkriterien zuwiderlaufen. Heute hat sich das Verhältnis zwischen Musik und Hermeneutik erneut grundlegend verändert. Nachdem Sprache und Sinn der theologischen und metaphysischen Deutungshoheit zufolge nahezu identisch waren, steht mittlerweile zur Kritik, was die Geschichte des Subjekts gut 400 Jahre lang an Sinninstanzen mit dem Anspruch auf universale Gültigkeit entwickelt hatte. Viel wäre deshalb schon gewonnen, wenn die Konstanz der herkömmlichen Schrift- und Argumentationskultur von einer transsubjektiven Ästhetik her reflektiert würde. Hat nicht Nietzsche gezeigt, wie sehr die Kontrollaskese des Gewissens die Gewissenhaftigkeit des wissenschaftlichen Gestus durchdringt und vom Herrschaftsanspruch des theoretischen Urteils nicht zu trennen ist? Und hat nicht auch Adorno den herrischen Zug des Geistes in der Hoffnung kritisiert, Denken könne – befreit vom Identitätszwang – seiner zwanghaften Kausalität ledig werden? Der Einwand, in einer Welt der Widersprüche ratifiziere die Ästhetisierung der Diskurse das Überlaufen zum Feind, verfängt wenig. Vielmehr reproduziert die ihrem Reinheitsgebot nach illusorische Trennung der Gattungen jenen arbeitsteilig bedingten Taylorismus, mit dem der ökonomische Furor Fantasie und Kreativität seinen Direktiven unterordnet. «Die Ideale des Reinlichen und Säuberlichen, die dem Betrieb einer veritabeln, auf Ewigkeitswerte geeichten Philosophie, einer hieb- und stichfesten, lückenlos durchorganisierten Wissenschaft und einer begriffslos anschaulichen Kunst gemein sind, tragen die Spur repressiver Ordnung».(20) Zudem haben Marshall McLuhan und André Leroi-Gourhan herausgearbeitet, wie gut sich Alphabetisierung und lineare Schrift mit den Mitteln der Kapitalisierung vertragen, als da wären: die visuelle Reduktion der Sinne, die Dominanz von Folgerichtigkeit und Klassifikation nach kausal-logischen Kriterien, die Anpassung von Erfahrung an serielle Fragmentierungen oder die Ausformung uniformer Kontinuitätsverläufe. Dass die Linie wiederholbarer Muster schließlich im industriellen Wahrzeichen des Fließbands kulminiert, gilt McLuhan als eine konsequente industrielle Materialisierung der Gutenberg-Galaxis. Die Rastrierung des modernen Zeitsensoriums mit seiner Kombinatorik durch Zerstückelung setzt ein Arsenal von Herrschafts- und Beherrschungstechniken voraus, gefestigt durch die konzertierte Aktion von äußerem Druck und verinnerlichter Disziplinierung, die im Dienst der Akkumulation keine Brüche und Leerstellen mehr zulassen will. Dass dabei die funktionalen Codes bis in die Infrastruktur des Blocksatzbewusstseins hineinreichen, kann nur bezweifeln, wer verkennt, wie sehr die Entwicklung einer anderen Wahrnehmungs- und Erfahrungspraxis mit dem Umbruch einer diachronen Kausalität zusammenhängt, die ihrer ökonomischen Effizienz wegen weiterhin auf lineare Vermittlungshierarchien setzt. Weil jedoch die Autorität des Linearen noch vor der argumentativen Vernetzung, das heißt allein aufgrund der visuellen Gestalt, einem Verständnis vor dem Verständnis zuarbeitet, irritiert ein Schreiben über Neue Musik, das sich Strukturen zeitgenössischen Komponierens angleicht. Gegen die hohen Wiedererkennungswerte des Sinns, ja gegen den Sinn als Vermarktungsstrategie verunsichern neue Schriftmodelle das Verlangen des Verstandes nach dauernder Sinnsättigung und mit ihm den Imperativ des Bewusstseins zu ständiger, geistpräsenter Vergegenwärtigung. Bereits ihrer Fasson nach signalisiert die Zeilensymmetrie des Satzspiegels den Rapport von Sätzen auf der Basis des «Satzes vom Grund». Weil seine Aufhebung den Konsens der Verständigung erheblich verunsichern würde, wird der Blocksatz zu seiner eigenen Blockade und zum Tabu, Schnitte durch den Textkörper zu legen. Sein Horror vacui vor visuellen und diskursiven Lecks im Kraftwerk der Argumentation zwingt jeden Satz zum Pakt mit der Sprache als einem Medium von Gründungs- und Begründungsakten – gemäß dem metaphysischen Leitprinzip, nichts sei ohne Grund. Daher ist der «Satz vom Grund» von einem paranoiden Zug der Theorie nicht zu trennen und daher auch reibt sich der tradierte Schrift- und Logik-Kanon am Grundlosen der Neuen Musik und ihrer Freisetzung von einer ununterbrochenen Diskursarbeit. Insbesondere Texte, deren Verlauf sich beharrlich selbst begründet und zur Folge hat, suggerieren über ihre schlüssige Struktur, es gäbe außerhalb ihrer Sinnregie keine Subtexte. Alles sei auszusprechen und könne ausgesprochen werden. Dass eine solche Präsenzideologie die Gefahr einer erstarrten Sprache mit sich bringt, liegt auf der Hand. Selbstverständlich geht es nicht darum, die Kluft zwischen Musik und Begriff naiv einzuebnen. Wohl aber darum, einer zunehmend beziehungsloser werdenden Sonderung zwischen der intensiven Synchronie der Musik und der extensiven Diachronie des Begriffs mit neuen Texttopographien zu begegnen: der Sonderung also zwischen der zum Augenblick kondensierbaren Ausdruckslogik der Musik – und sei es einer gegen Ausdruck und Logik – und einer Sprache der Kommentare, die Sinn nur über die Verzögerungs- und Aufschubsarbeit der Argumentation produzieren kann. Dass die Metamorphose der Texte dabei weniger in poetischen Sprachspielen als in einer Dehierarchisierung des Begriffs liegt, berührt deshalb nicht nur die Mobilisierung typographischer oder drucktechnischer Varianten, sondern vorrangig die Abrüstung der Besatzungskraft von Satz und Urteil. Wiederholt die Konvention des wissenschaftlichen Aufsatzes unbeirrt die Konvention wissenschaftlichen Verstehens – nicht anders als der vorliegende Text –, dann wäre nicht nur von Cage zu lernen, welche Epiphanien die Entgrenzungen und Demontagen der Signifikanz im Sensorium automatisierter Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse auslösen können: gegen das Theoriegebot, das Vieldeutige mit logischen Universalgesetzen in Schach zu halten und das Nicht-Lineare auf Linie zu bringen, und gegen eine Sprache, die sich zur Musik wie ein abhängiger und zugleich dominanter Metadiskurs verhält. Weil aber die eingefahrenen Erklärungs- und Verständnisgarantien Sicherheit und Freiheit verwechseln, erzeugen die angstgespeisten logozentrischen Definitions- und Separierungsprozeduren zunehmend eine gewisse Tristesse der Kommentare: die Trauer darüber, dass sich die Präsenz und Einmaligkeit des ästhetischen Ereignisses, insbesondere seine Kollision mit subjektzentrierten Sinndepots, gegen die Tendenz der Sprache zum Allgemeinen und Wiederholbaren und gegen die Codes der Kommerzialisierung immer schwerer sprechen lassen. Weit mehr als bisher wären der Exegese Neuer Musik Texte im Grenzbereich zwischen Kommentar und Artefakt zu wünschen. Texte weniger in der Gestalt eines Produkts als in der eines Prozesses. Ähnlich Cages 45 Minutes for a Speaker oder seinen Empty Words , die der Komponist in einem bis zum Morgen andauernden nächtlichen Konzert aufzuführen empfahl. Wobei mit anbrechender Tagesdämmerung und beim Verlöschen der Sprache in der Nacht ihres semantischen Schlafs Türen und Fenster geöffnet werden sollen, um das Außen von Welt und Klängen einzulassen. Führt von dieser Öffnung auf einen unzensierten Klangkosmos hin nicht auch eine Spur zu jenem ‹freien Horizont› und zu jenem ‹offnen Meer›, die Nietzsches Fröhliche Wissenschaft gefeiert hatte? Die Verlockung des Unentdeckten jedenfalls könnte zum Wendekreis für ein anderes, neues Schreiben im Namen der Neuen Musik werden: im Durchqueren einer Sprache, die von der Unruhe der Phänomene unterhalb der logischen Oberfläche wenig weiß, und im Durchqueren einer Schrift, deren Wiederholungen sich gegen das Unbekannte abschotten. Entfesseln wir also den Block! Anmerkungen 1 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 3, S. 480 und 574. 2 Jeremy Drake, Quantenscelsi, in: Booklet zu Giacinto Scelsi, Les cinq Quatuors à Cordes; Trio à Cordes; Khoom, Arditti String Quartet, Editions Salabert, Paris 1990, S. 38f. 3 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA Bd. 2, S. 175. 4 Ludwig Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916 , in: Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, S. 130. 5 Morton Feldman, Essays, hg. v. Walter Zimmermann, Kerpen 1985, S. 167. 6 Feldman, Crippled Symmetry, in: Give My Regards to Eighth Street. Collected Writings of Morton Feldman, Ed. by B. H. Friedman, Cambridge 2000, S. 137. 7 Zum Begriff der «Momentform» vgl. Karlheinz Stockhausen, Momentform. Neue Zusammenhänge zwischen Aufführungsdauer, Werkdauer und Moment, in: Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Köln 1963, Bd. I, S. 189ff. 8 John Cage, Empty Words. Writings ´73-´78, London und Boston 1980, S. 11. 9 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 199. 10 Brian Ferneyhough, Fourth String Quartet, in: Booklet Wittener Tage für neue Kammermusik 1992, WDR (WD 03), S. 15f. 11 Feldman, Middelburg Lecture, in: Musik-Konzepte 48/49 (Morton Feldman), hg. v. Heinz-Klaus Metzger u. Rainer Riehn, München 1986, S. 54. 12 Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Hamburger Ausgabe Bd. 6, München 1977, S. 270. 13 Interview with Roger Reynolds, in: John Cage, hg. v. Robert Dunn, New York 1962, S. 50. 14 Peter Ablinger, Hören um zu Sehen, in: Bilder – Verbot und Verlangen in Kunst und Musik, hg. v. Sabine Sanio und Christian Scheib, Saarbrücken 2000, S. 173ff. 15 Cage, Silence, übers. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 38. 16 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA Bd. 3, S. 422. 17 Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1982, S. 47f. 18 Barthes, Das Reich der Zeichen, Frankfurt am Main 1981, S. 101. 19 Jacques Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Frankfurt am Main 1975, S. 86. 20 Theodor W. Adorno, Noten zur Literatur, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 11, S. 14f. Text und Textur Wieviel Konvention verträgt die Neue Musik?
- Johannes Bauer, Philosoph, Publikationen
Veröffentlichungen Buchpublikation – Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie (=Musikwissenschaftliche Studien, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Bd. 8, 1992) Aufsätze (Auswahl) – Souverän und Untertan. Kants Ethik und einige Folgen, in: Spuren Nr. 34/35 (X/XI/XII 1990) – Im Angesicht der Sphinx. Subjekt und System in Adornos Musikästhetik, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995 – Seismogramme einer nichtsubjektiven Sprache. Écriture und Ethos in Adornos Theorie der musikalischen Avantgarde, in: Gerhard Schweppenhäuser, Mirko Wischke (Hgg.), Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, Hamburg 1995 – Telesupervision. Marginalien zur medialen Welt, in: Zeitschrift für kritische Theorie (III 1996) – Cage und die Tradition, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Mythos Cage, Hofheim 1999 – METAspracheATEM. Zum pneumatischen Formenkreis der Neuen Musik, in: Dissonanz Nr. 69 (VI 2001) – "Ständig gleich gegenwärtig". Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 50 (II 2002) – Die Stille und das Weiße. John Cages 4´33 , in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 52 (VIII 2002) – Denotationen - Detonationen. Sensorium Neue Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 53 (XI 2002) – "Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten". Goethes musikalisches Denken, in: Andreas Ballstaedt, Ulrike Kienzle, Adolf Nowak (Hgg.), Musik in Goethes Werk. Goethes Werk in der Musik, Schliengen 2003 – Das Öffentliche und das Private. Umwertungsprozesse in der Moderne, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 57 (XI 2003) – Traduttore traditore? Übertragen, umwandeln, entwerfen, in: Sabine Sanio, Christian Scheib (Hgg.), Übertragung - Transfer - Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld 2004 – Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 64 (IX 2005) – Text und Textur. Wie viel Konvention verträgt die Neue Musik?, in: Dissonanz Nr. 91 (IX 2005) – Und Troja brennt noch immer. Arbeit am Mythos in Liza Lims The Oresteia , in: Dissonanz Nr. 97 (III 2007) – Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik, in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hgg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33) – Erschöpfung. Zeitverfall als Lebensgefühl in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 75 (VI 2008) – Fäden, Netze, Stoffe. Lineares in der Neuen Musik, in: Programmbuch der Wittener Tage für neue Kammermusik 2008 – Risiko Freiheit. Vom Hören und Überhören Neuer Musik, in: Programmbuch der "musica viva", München 2009 – Im Zentrum einer unberührten Wüste. Helmut Lachenmann und die Conditio humana, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 80 (VIII 2009) – Mehr als ein Schattendiskurs? Neue Musik und das Phantom der Postmoderne. [Salzburger Mozarteum-Symposion und Ringvorlesung 2006/07 zum Thema "Musikalische Postmoderne"] – Ränder. Zur Philosophie des Peripheren und Marginalen, in: Gisela Nauck (Hg.) … an den Rändern des Maßes … Der Komponist Gerald Eckert [Wolke-Verlag, Hofheim 2013] Rundfunkessays (Auswahl) Rezensionen – Akademische Modelle? Zum ersten Heft der Zeitschrift Musik & Ästhetik. (Südwestrundfunk 1997) – Ciffre Natur. Ein neues Buch zu Beethovens Pastorale (Südwestrundfunk 1998) – Dokument der Missverständnisse? Pierre Boulez - John Cage, Der Briefwechsel (Südwestrundfunk 1999) – Was heißt Fortschritt? Zum 100. Band der Musik-Konzepte (Südwestrundfunk 1999) – "Triumph der neuen Tonkunst". Zu Peter Gülkes Analyse der späten Mozart-Sinfonien (Südwestrundfunk 2000) – "... immer das Ganze vor Augen". Peter Gülkes Studien zu Beethoven (Südwestrundfunk 2001) Essays – Alla Marcia. Zur Rhetorik eines musikalischen Topos (Sender Freies Berlin 1983) – "Polyphem kann auch polyphon sein." Charles-Valentin Alkan (Westdeutscher Rundfunk 1988) – "Diese Verflechtung des streng-trockenen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen". Goethe und Beethoven - Wechselseitige Spiegelungen im Inkommensurablen (Südwestrundfunk 1999) – "Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet". Goethe und Mozart - Aspekte einer Wahlverwandtschaft (Südwestrundfunk 1999) – Paramusik. John Cages Atlas Eclipticalis (Deutschlandradio Berlin 2000) – "Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren." Zum Formenkreis des komponierten Atems. Ein Radio-Dialog für zwei Sprecherinnen (Deutschlandradio Berlin 2000) – METAspracheATEM. Figuren einer pneumatischen Musik (Deutschlandradio Berlin 2000) – Fremde Sprache? Zu Beethovens Neunter Symphonie (Südwestrundfunk 2000) – Willkommen in der Vergangenheit? Zur Konjunktur des Solokonzerts in der zeitgenössischen Musik (Deutschlandradio Berlin 2000) – Odyssee Neue Musik. Positionsbestimmungen zur Jahrhundertwende (Deutschlandradio Berlin 2000) – "Ständig gleich gegenwärtig". Zur Zeitstruktur der Neuen Musik (Deutschlandradio Berlin 2001) – Denotationen - Detonationen. Der Komponist Nicolaus A. Huber (Deutschlandradio Berlin 2001) – Vom Text der Zivilisation. Arbeit am Mythos in Claudio Monteverdis Orfeo und Liza Lims Oresteia (Südwestrundfunk 2001) – Vom Wilden und Krummen und von der großen Schwermut. Lasso - Mozart: Sprachen und Masken (Südwestrundfunk 2002) – Die Stille und das Weiße. John Cages 4´33 . Eine philosophische Betrachtung (Deutschlandradio Berlin 2002) – Rhizom. Ein Beschreibungsmodell der Neuen Musik? (Deutschlandradio Berlin 2002) – Text und Textur. Vom Sprechen über Neue Musik (Deutschlandradio Berlin 2002) – Zur Phänomenologie der musikalischen Zeit [1. Ökonomie der Affekte; 2. Präsenz und Prozess] (Südwestrundfunk 2002) – Spinoza im Echoraum der Stille. Antoine Beugers calme étendue (spinoza) (Deutschlandradio Berlin 2003) – Von der Kunst des Beginnens und Schließens. Stationen eines kompositorischen Problems (Südwestrundfunk 2003) – Spuren, Schnitte, Schleifen. Das Tonband als Instrument (Deutschlandradio Berlin 2003) – Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik (Deutschlandradio Berlin 2003) – Virtuose wider Willen. Charles-Valentin Alkan (Südwestrundfunk 2003) – Unhörbares, Unsichtbares. Neue Musik und Naturwissenschaft (Deutschlandradio Berlin 2004) – Haydn in London oder "Der lose liberale Gang der Musik" [6-teilige Reihe: 1. Magier und Souverän; 2. Musik von unten; 3. Affekte - Effekte; 4. Dämon Zeit; 5. Weltlauf mit Fanfare; 6. "Dr. Haydn’s Night"] (Südwestrundfunk 2004) – Fragment, Torso, Bruchstück. Modelle des Offenen in der Neuen Musik (Deutschlandradio Berlin 2004) – Jenseits der Normen? Zum Begriff des Musikalisch-Schönen heute (Deutschlandradio Berlin 2005) – Duett auf zweieinhalb Trompeten. Karl Valentin und die Musik (Südwestrundfunk 2005) – Berlin 2006. Warum aber (immer noch) Musik? Johannes Bauer im Gespräch mit Paul Fiebig (Südwestrundfunk 2006) – Mit der Grande Armée des Orchesters. Beethoven als Stratege (Bayerischer Rundfunk 2007) – Warum nicht auch Voodoo? Die Komponistin Liza Lim (Deutschlandfunk 2007) – "Gesungene Zeit". Melodisches in der Neuen Musik? (Westdeutscher Rundfunk 2008) – Wer hat Angst vor Neuer Musik oder Wie verlernt man die Tradition? (Bayerischer Rundfunk 2008) – Sind Wolken Kugeln oder Wie wäre heute noch Natur zu komponieren? (Westdeutscher Rundfunk 2008) – Vom Sirius aus. Karlheinz Stockhausen - ein Monolog (Deutschlandfunk 2008) – "Alle unsere Fundamente bersten". Abgründiges in Johann Sebastian Bachs Instrumentalmusik (Südwestrundfunk 2008) – Wo bleibt das Gefühl? Fragen an die Musik der Gegenwart (Bayerischer Rundfunk 2008) – Echos, Schatten und ein Abend in Granada. Der Komponist George Crumb (Westdeutscher Rundfunk 2009) – Ichabstinenz und Schwebe. Begegnungen mit dem Fernen Osten (Atelier neuer Musik, Deutschlandfunk 2009) – Experiment, Engagement, Ereignis. Ästhetische Facetten Neuer Musik (Bayerischer Rundfunk 2010) – Traumeswirren. Eine kleine Musikgeschichte der Nacht und des Nächtlichen (Bayerischer Rundfunk 2010) – Das Ungeheure und die Gelassenheit. Martin Heideggers Nähe zur Neuen Musik (Südwestrundfunk 2010) – Konsonanztabu und Gefühlsabstinenz. Wie viel Routine verträgt die Neue Musik? (Deutschlandfunk 2011) – Oasen des Unwägbaren. Zeit und Gedächtnis in der Musik der Gegenwart (Deutschlandfunk 2011) – Diagnose der Gegenwart. Resonanzen zwischen Neuer und Alter Musik (Deutschlandfunk 2012) Sonstiges – Atmen (Eine experimentelle Sprechpartitur für das Ensemble "Die Maulwerker" zu Beethovens Cavatina und Heinz Holligers Erstem Streichquartett ), Uraufführung: Berlin 2008; veröffentlicht im Programmbuch der Berliner Gesellschaft für Neue Musik 2008. Literatur von und über Johannes Bauer in WorldCat
- Johannes Bauer, Erschöpfung. Zeitverfall als Lebensgefühl
Erschöpfung Zeitverfall als Lebensgefühl © Johannes Bauer, Entropie (2014), 20,2 x 16,5 cm, Acryl auf Folie „...denn das ist alles noch wie ohne Schluss...“ Rainer Maria Rilke Als Jean-Victor Poncelet 1839 in einem Hörsaal der Metzer Ecole militaire Menschen und Metalle zu Verwandten erklärte - unter dem Blickwinkel ihrer "fatigue", ihrer Erschöpfung -, war die Tragweite dieses Vergleichs kaum absehbar. Und doch konnte Leben von nun an als kontinuierlicher Verschleiß unter massiven Druck- und Spannungsverhältnissen verstanden werden. Was im Zeitalter der Eisenbahnen und Stahlbauten an Streckgrenzen und Ermüdungsbrüchen, an Schwingfestigkeit und Risswachstum getestet und erforscht wurde, ist seitdem immer auch als ein Belastungsprotokoll jenes Rohstoffs Mensch zu lesen, der in den Materialschlachten und Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs seine Feuerprobe zu bestehen hatte und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts einer massenhaften Vernichtung zugeführt wurde. Abnutzungsprozesse unter Kontrolle zu halten verlangt nach Experimenten und nach Statistik, der Poncelets Zeitgenosse Adolphe Quételet zum Rang einer künftigen Leitwissenschaft verhalf. Durchforstungen sämtlicher Gesellschaftsbereiche auf der Suche nach idealtypischen Normalverteilungen und nach dem Mittelmaß des "Homme moyen" waren die Folge, flankiert von einer Flut anthropometrischer Arbeiten. Bis schließlich Frederick Winslow Taylors zeitmechanistische Zerlegungs- und Normierungsmanie das Instrumentarium von Experiment und Statistik zu einem Extrem an Funktionalismus ausgereizt hatte. Mensch und Material geeint unter dem Qualitätssiegel Elastizität und Flexibilität, die Welt selbst eine riesige Taylor-Maschine. Statistische Nivellierung und steter Verschleiß zersetzen auch das Zeitempfinden der Moderne. Als Dauerbefindlichkeiten von Ermüdung und Stress schreiben sie die Aktualität Poncelets diagnostisch fort und stimmen als ursprüngliche Operationsbegriffe der Science des matériaux darauf ein, wie sehr sich die Oberflächen- und Tiefenzerrüttungen von Material und Leben gleichen. Was wäre denn vom Triumph der Ingenieurwissenschaften her der Einzelne anderes als ein Werkstück im Ermattungsprozess seiner Biographie - material under stress? Messungen zur Arbeitseffizienz © Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn , Zweitausendeins 1981 Transzendenz(los) Wenn Peter Sloterdijk Subjektivität als die "Anstrengung-die-ich-bin" von einer Fron der Haltungs- und Durchhaltepositionen her denkt(1), wäre ebenso schlüssig vom Subjekt als Spannungsdispositiv zu sprechen, von seiner Gespanntheit und Verspanntheit, seiner Über und Abgespanntheit und seinem Eingespanntsein, schließlich von seinen Methoden des Entspannens und Ausspannens. Übermäßige Anspannung als eine Art Dauerstrangulation, auf die die Stress-Symptomatik ihrer lateinischen Etymologie nach verweist, bedarf krampflösender Mittel. Das Strikte und Stringente, das Straff-Angezogene und Zusammenschnürende, das Zügeln und Zähmen in der Schule der Selbstdisziplin braucht Lockerungen, um nicht abgehalftert zu werden. Vom Ausspannen ist auch am Ende der Bach-Kantate O Ewigkeit, du Donnerwort die Rede. Was hier allerdings den Jenseits-Trost im Angesicht des Todes zur Sehnsucht nach Befreiung durch eine göttlich-gütige Instanz steigert - "Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus" - bricht sich verstörend an der Selbstaktivierungsverpflichtung heutiger Prozeduren des Ausspannens im Rahmen sogenannter Frei- und Auszeiten. Bei Bach konnte das Transzendenz-Versprechen noch Tod und Seligkeit vereinen und im hochdissonanten, tritonusdurchsetzten Schlusschoral der Kantate als Überschreiten einer ebenso vertrauten wie ungeheuren Grenze anklingen lassen. Gut 200 Jahre später dann derselbe Choral, textlos allerdings, in Alban Bergs Violinkonzert : ein erschütternd transzendenzloser Verweis auf die Transzendenz. Ohne den finalen Übergang in vergänglichkeitsresistente Ewigkeitsbereiche der Verklärung verlieren sich Sterben und Tod im bloßen "Aufhören" eines bruchstückhaften Einzellebens. Arnold Schönbergs kompositionstechnische Unterscheidung zwischen "Schließen" und "Aufhören" hat demnach mehr als nur ein musikalisches Problem zur Sprache gebracht.(2) Abgedichtet gegen jeden Transzendenzbonus entbehren Leben und Tod den Sicherungsgrund eines doppelten Bodens. "Aufhören" wird zur letzten Etappe der Erschöpfung in modernen Industriegesellschaften, nicht selten zum verwalteten Warten auf Ableben und Ende. Was Altern in einem ökonomisch mobilisierten und anonymisierten Sozialgefüge heißt, ist zumindest dem Hörensagen nach bekannt. Altern handelt von verbrauchten Verbrauchern, die nur noch verbrauchen, nur noch brauchen, unheimisch in Heimen, erschöpftes Material, um mit Poncelet zu sprechen. Der säkularen Rechtfertigungstheologie von Produktion und Arbeit zufolge Abtrünnige, Nutzlose, deren Lebens-erfahrung zur Konkursmasse belanglos beliebiger Biographien enteignet wird: chancenlos gegenüber der Übermacht einer Informationsindustrie des Immer-schon-und-genauer-Bescheidwissens mit ihrem Experten- und Studienwahn nach Maßgabe der Statistik Quételets. Der Tod - ein Entsorgungsproblem; "Staub und Asche", von denen in Bachs Kantate die Rede ist, eher eine Angelegenheit des ökologischen als des theologischen Ressorts. Und doch, wie weit, wie offen könnte der Horizont einer neuen Freiheit irdischer Belange nach dem Tod Gottes und seit dem Fehlen eines letzten Beobachters sein - um das Schwinden der Transzendenz mit Nietzsche und Luhmann zu formulieren: Der Horizont einer Freiheit, die in ihren Möglichkeiten verstellt bleiben muss, solange sich das subjektivierte Ich weiterhin und vorrangig als eine hochgespannte Willensmonade zu verstehen hat. Ihr Metier sind Zeitkontingente des Nutzens, die selbst noch dem letzten Rest an Muße sein Muss als Stressvermeidungsstress abverlangen. Zum Privileg wird eine Zeit, die trotz ihrer Verwertungsabstinenz nicht als Verlust empfunden würde. In einer mit zu viel Produktions und Konsumsinn beschwerten Welt leidet Leben unter dem Mangel, das Unwägbare und Grundlose ohne Angst und eben auch außerhalb der Kunst zulassen zu können. Mit dieser Zeitspur einer immanenzgesättigten Endlichkeit aber wäre eine erste Befreiung vom Joch der gottererbten und die Einzelregie eines jeden Lebens übermächtig beschwerenden Handlungs- und Zielsetzungseffizienz möglich: zumal derjenigen, jederzeit Herr seiner Lebenslagen sein zu müssen, ohne doch das Dilemma meistern zu können, Unberechenbares in Berechenbares aufzulösen. Schwergewichte Ihrer göttlichen Schöpfungspotenz nach ist Zeit noch in ihrer rein innerweltlichen Variante dazu prädestiniert, die sinnstiftende Kontinuität von Produktion und Arbeit zu verbürgen. Als Vita activa organisiert sie unentwegt Gründungen und Begründungen auf der Basis ökonomischer und logischer Gründe bis hin zu jenem Akt der Selbstinstitutionalisierung, ständig zum Erregungs- und Erlebnisgrund seiner selbst werden zu müssen. Logik- und technikgestützt wird Zeit im Namen eines letzten Universalgrunds der Verwertung zu einer Instanz, der jede Grundlosigkeit zu einem Faktor des Nutzlosen verkommt. Dennoch zeigen sich immer wieder Erschütterungen, die diesen Zeit-Asphalt über dem Fundament einer dichten Kausalität rissig werden lassen. Kurzbelichtet und ereignishaft bricht etwas Grundloses auf, das vermuten lässt, die einzig als sinnvoll legitimierten Gründungspraktiken der Selbstbehauptung könnten womöglich selbst die Ursache der allseits beklagten Sinnentleerung sein. Chronische Erschöpfung ließe sich demnach auch als die Überanstrengung verstehen, Grundloses zu verdrängen, zumal in seiner skandalösen Form des Nutzlosen. Von keiner Konvention gestört gibt Erschöpfung dem Erschöpften Nachricht vom eigenen verletzlichen Naturgrund und von der Verfallszeit befristeten Lebens. Ein psychosomatischer Ruin, dessen mittlerweile eingebürgerter Befund vom "Burnout" seiner technizistischen Färbung wegen erneut Poncelets Brisanz beweist. Was aber könnte die Apathie des Ausgebranntseins anderes meinen, als dass im Zug beschleunigter Autokinese der Antrieb eines Lebens, um im Bild zu bleiben, seinen Vitalbrennstoff vorzeitig verbrannt hat? Die Ration an Sinn reicht als Wegzehrung nicht mehr aus, um die Zumutungen des Realitätsprinzips in einer transzendenzlosen Welt des Nur-einmal-Lebens widerstandslos zu ertragen. Werden die inneren und äußeren Kampfkünste der Funktionalität täglich darauf trainiert, Versagung nicht als Versagung zu erfahren, sondern als den nötigen Einsatz im Spiel um Erfolgschancen, dann verzeichnet der dysfunktionale Zustand des Ausgebranntseins solche asketischen Umwertungen des Lebens als lebenzerstörend. Dem Ausgebrannten erscheint die Welt als eine verkehrt absurde: Überall Anhäufungen, aber keine Fülle; überall Events, aber kein Ereignis; überall Kommunikation, aber kein Gespräch; überall zerlebte Zeit, aber keine gelebte, überall Gleichförmigkeit, aber keine Dauer, überall Erosionen, aber kein Eros. Burnout: der lautlos gedehnte Zusammenbruch in einer Arena hektischer Produzenten und Konsumenten, in dem gelebtes Leben, in Zahlen aufgerechnet, das Hinfällige und Vergängliche seiner Aktivitäten spürt. Die Bürde, existentialistisch gesprochen, sich selbst wählen zu müssen, jedenfalls mit sich selbst auszukommen, veranlasste schon Nietzsche zur Metapher von der "schwersten Last": "Selbstkenner! Selbsthenker! [...] du wirfst dich nicht ab von dir...".(3) Überall zu viel Regiearbeit, zu viel Meisterung, zu viel Akkumulation. Nicht wenige Irritationen, die die soziale Ordnung von ihren Rändern her verunsichern - neuerdings in den komatösen Trinkexzessen jugendlicher Wochenend-Desperados - sind experimentelle Aktionen, sich vom eigenen Schwergewicht zu befreien; Levitationsverfahren, in denen sich Lebenshunger und Todessucht mischen. Im Wunsch, sich selbst loszuwerden, nicht mehr Mensch sein zu müssen, sucht ein ebenso panisches wie manisches Verlangen den "Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten"(4). Verzweifelt gewollt und rauschhaft zerstörerisch soll der Ballast der Selbsterhaltung um jeden Preis abgeworfen werden, auch wenn solche Auflösungs- und Auslöschungs-verfahren selbst wieder vom Willensregime des Ego initiiert sind. Sucht und Sog werden zum inneren Amoklauf des Ich in allzu engen Verhältnissen. Enge und Angst strangulieren zu sehr, als dass sich düstere Vernichtungsrouten zu heiteren Wegen ins Offene wenden könnten. Deshalb intendieren Heideggers Rede von der Gelassenheit und diejenige Adornos von der "opferlosen Nichtidentität des Subjekts"(5) vor allem eines: die Minderung des Zwangs, durch den jedes Ich über die Akkumu-lationsmaschine Identität und die Buchungsmaschine Zeit zum Besatzer seiner selbst wird. Würde(los) Konnte die protestantische Ethik ihren Erwerbsfuror anfangs noch mit Transzendenzprämien überhöhen, ist Arbeit mittlerweile zum rein immanenten Sinnregulativ geworden. Einer ihrer Gnadenerweise liegt im Erlangen von Kaufkraft und deren verführerisch leichter Verwechslung mit Leben. Mit der Suggestion, Kaufkraftbesitzern stünden alle Lizenzen zu, schürt der Markt die Panik des Konsums, etwas zu versäumen, ohne zu wissen was. Die Panik selbst ist das Stigma einer auf den Tag und seine Betriebsamkeit abonnierten 24-Stunden-Gesellschaft, der mit der schleichenden Vertreibung der Nacht etwas von der Scham des Menschen über die Schwäche seiner Natur aufgeht. Insistiert doch die Nacht, die schon bei Hölderlin zur "Fremdlingin" wird(6), ebenso hartnäckig wie hinderlich auf der antiaktionistischen Weltentrücktheit des Schlafs, auch wenn die technische Modellierbarkeit des Menschen daran arbeitet, biorhythmische Naturrelikte künftig flexibler zu handhaben. In ihrer Stressbedingtheit sind Schlafstörungen und Schlaflosigkeit deshalb immer auch latente Appelle zu unablässiger Wachheit. Vielleicht lässt darum der Blick zum Sternenhimmel in klaren Nächten ahnen, was an Zeitenthobenheit, was an Weite und Höhe verloren ging. In solchen Momenten werfen Horizont und Firmament dem punktualisierten Ich spiegelartig die eigene Selbstverleugnung und Würdelosigkeit zurück. "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde."(7) Die Würde des sittlichen Charakters nämlich, die die Zeit des schrankenlosen Tauschs aussetzen soll. Gegen dessen Nivellierungsmacht die Einzigartigkeit des Sittengesetzes aufzubieten, mag aus heutiger Sicht wie ein gut gemeinter Rat aus fernen Epochen wirken, als Konkurrenz noch liberalistisch ausbalanciert gedacht werden konnte. Wer wollte indes bestreiten, dass Kants Forderung, gegen das Rivalitätsgefüge schicksalhafter Marktkräfte die Autonomie des Vernunftsubjekts zu setzen, ein Stachel der Provokation im Corps social des Wirtschaftsgetriebes bleibt? Allerdings war das Postulat der Subjektautonomie schon von Beginn an zwiespältig. Als Forderung bedeutete es stets auch Überforderung. Die säkulare Aufgabe, keinen geringeren als einen toten Gott zu beerben, verlangte vom subjektivierten Ich eine Zeitregie lückenloser Sinngebung. Zugleich musste das Unternehmen scheitern, die göttlichen Attribute Einheit, Allmacht und Unvergänglichkeit zur sittlichen Souveränität des Subjekts auszufalten. Wurde doch mit der Auflösung der religiösen und metaphysischen Sinnbühnen das Bewusstsein vom zufälligen, fragmentarischen Einzelleben zum Schatten jeder Existenz. Die von Kant bis Schopenhauer an die Gattung überstellten Trostkonzepte von Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit konnten daran ebenso wenig ändern wie die heutigen Esoterikmodelle von Rückführung und Wiedergeburt. Wenn Unendlichkeit zur Frist wird und Gnade zum Selbstmanagement, wächst nicht nur der Widerstand gegen Proviantweisheiten wie diejenige, der Weg sei das Ziel. Wenn es nur noch Richtungen gibt, stellt sich die Frage nach der Ankunft nicht mehr, ohne dass doch das Gefühl auszuhalten wäre, niemals anzukommen. Unter solchen Bedingungen gerät die Aussicht, ein Leben lang leben zu müssen, nicht selten zur Drohung. Zumal das einzelne Leben kein Bildungsroman mehr ist, erzählt von einer teleologischen Zeit, die dem Garantiefonds der Aufklärung gemäß die Vernunft der Gattung mit der des Einzelnen zur Konvergenz bringt. Eher schon ist es ein Patchwork unaufhörlicher Nachbesserungen unter dem Druck des unumkehrbaren biographischen Zeitpfeils und grundiert von der Frage, wozu das alles. Einer Frage, die um der Disziplin willen zum Schweigen gebracht werden muss und nie ganz zum Schweigen gebracht werden kann. "Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher".(8) Kein Wunder, dass sich so mancher lebensmüden Sehnsucht nach dem finalen Cut das bittere Gefühl beimischt, heillos betrogen worden zu sein. Aber von wem? Selbst wenn die Spur inzwischen lesbar ist, die die "Suprematie des planvollen Wollens" über die "Macht der irrationalen Triebe" hinterlässt(9): Stets noch zwingt der energetische Imperativ des Homo oeconomicus zur Verkümmerung zu vieler kreativer Potentiale. Als oberste Aufgabe im Erziehungsprozess der "Persönlichkeit" zu "aktiver Selbstbeherrschung" harmoniert Willensfreiheit als "Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur"(10) nur zu gut mit der innerweltlichen Askese Protestantischer Ethik und ihrem weltweit exportierten Erfolgsmodell abendländischer Rationalität, das das Rationale so ressourcenmächtig ins Rationelle verwandelt. Die Investitionen und Renditen einer auf Selbstverwertung verpflichteten Selbstbehauptung abzudämpfen erforderte eine Kunst des savoir mourir, die das Leben liebt, ohne es zum Fetisch zu machen. Wer wäre dazu dauerhaft imstande? Dass das zum Subjekt verklärte Ich niemals ganz bei sich selbst ist, hat nicht erst Heideggers Analyse vom "Sein des Daseins" als "Sorge" bewusst gemacht.(11) Anstatt jedoch diese Offenheit in der Zeit als ein Versprechen zu begreifen, wurde das Uneinholbare zu einem Skandal des Bruchs. Agieren Ich und Selbst als eine Art Perpetuum mobile verinnerlichter Disziplinierungstechniken über deren notwendiges und akzeptables Maß hinaus, unterworfen der "Mikro-Justiz der Zeit"(12), dann gerät die Freiheit des Lassens zur Farce und Heideggers "ES gibt Zeit" als Gegensatz zur rechnend verplanten Zeit des willensoptimierten Ich zum Idyll weltfremder Gelassenheit.(13) Aufatmen Senecas De tranquillitate animi beschreibt die Unentschiedenheit zwischen Vita contemplativa und Vita activa mit dem Zustand einer Seekrankheit, einer "nausea", die in Sartres Welt der Kontingenz längst zur nausée, zum veritablen Ekel geworden ist. No ch der Schwindel, der den Hauptmann in Büchners Woyzeck anlässlich zehn unverplanter Minuten überfällt, nicht anders als jenen Nikolaj Kusmitsch in Rilkes Malte , den das "Umwechseln" der Zeit in das Kleingeld von Sekunden "wie auf Deck" taumeln lässt, zitiert eine Gleichgewichtsstörung über schwankendem Grund.(14) Heutigen Zeitgenossen ist dieser Rausch des Abgründigen fremd geworden: Zeit, verräumlicht zum Bestand von Optionen, wird mehr in ihren Container-Qualitäten erfahren denn als destabilisierendes Gewoge. In diesem Zeitcontainer dominiert das Gebot der Kompression. Begrenzte Speicherkapazitäten sollen durch Komprimierung, vor allem durch Zeitmodulationen des Gleichzeitigen, immer größere Informations- und Handlungsmengen bewältigen. Eine Anforderung, die Mensch und Maschine in der Datengesellschaft wohl am stärksten einander angleicht. Und wie der maschinellen Leistungsfähigkeit Daten-Überläufe und verlustbehaftete Kodierungen Grenzen setzen, so erschöpfen die menschliche Kondition Überlastungen des Kurzzeitgedächtnisses, Wahrnehmungsverzerrungen und Lethargien, in denen Kompression in Depression umschlägt. Zudem verspannt die Kompression einer simultan und instantan vernetzten Welt die Eigenzeit des Ichs in eine globale Hyperchronologie, die im Weltäther universaler Kommunikation die Fähigkeit abverlangt, sich einzulassen, ohne sich aufzugeben, durchlässig zu bleiben, ohne auf Filter zu verzichten. Sieb und Filter gehören zum Fading, zu einem ständigen Ein- und Ausfädeln zwischen Ich und Welt, das hohe Summen an Lebensenergie abzieht. Der fortwährende Wechsel zwischen Besetzungs- und Abwehrenergien inmitten der Informationsbedrängnisse und Kommunikationszudringlichkeiten sowie die Abstimmung zwischen der synchronen Weltzeit und den asynchronen Eigenzeiten des Ichs verpflichten darauf, mit vorgegebenen Geschwindigkeiten kompatibel zu sein, mag auch das Tempo, zu dem sich die Einzelgeschwindigkeiten aufsummieren, eine parasitäre Zeit erzeugen, die Leben aussaugt. Dem Versuch, in diesem Zeitsog den befreiten Augenblick und seine Oasen des Aufatmens planbar zu machen, korrespondiert aktuell eine Flut von Glücksratgebern. Sobald jedoch die knappe Ressource Sinn mit der knappen Ressource Glück nach der Vorgabe von Zeitplanern verrechnet wird, sind alle Getriebene. Zeitverdichtung wird zur Zeitvernichtung und trennt Zeit von Erfahrung. "Alle Welt bewundert die Hafeneinfahrt von New York. Aber [...] die Wolkenkratzer, diese gewaltige Architektur, sind dazu gemacht, bei hundertzwanzig Stundenkilometern gesehen zu werden, und wenn Sie am Fuß dieser Bauwerke stehenbleiben und sie ein wenig näher studieren wollen, dann wird eine Stunde viel zuviel Zeit sein, um Betrachtungen darüber anzustellen."(15) Was Paul Valéry an einer Welt der glatten Oberflächen diagnostiziert, benennt das Seelenlose im hastigen Vorbeigleiten von Menschen und Dingen und das Verhängnis einer unter Zeitdruck und Zeitnot zerriebenen Empathie, die zu ohnmächtig ist, um die Aufrüstung der Beschleunigung durch eine Entrüstung der Sinne zu entschleunigen. Prousts Mémoire involontaire, die Epiphanie bei Joyce, das Ereignis bei Heidegger sind daher Versuche, das Jetzt solchen Schnelligkeitsekstasen und ihrem tagesaktuellen Begleitschwarm aus sprachlichen und bildlichen Massenklischees und Klischeemassen zu entziehen: in einem Moment der Entrückung. Und es sind Versuche, Transzendenz immanent zu denken: als eine Überschreitung des profanierten Hier und Jetzt und als eine säkulare Variante der Offenbarung, um dem Normalen auf Unverfügbares hin zu entkommen. Weitgehend immun gegen die Strategien der Verfügbarkeit werden insbesondere die Randqualitäten von Nischen- und Zwischenbereichen zu Distanzrefugien des Innehaltens, so, wie Unerreichbarkeit im Betrieb der Erreichbarkeit zunehmend den Begriff einer souveränen Zeit vermittelt. Deshalb auch das Interesse neuerer philosophischer Publikationen am Neutrum, an der Lücke, am Zaudern. Fehlende Zwischenbereiche, einschließlich solcher des gleitenden Übergangs, verstärken den Härtefaktor einer Welt, die immer noch mit zu vielen polaren Wertigkeiten im Schatten des Erkenntnisbaums von Gut und Böse arbeitet, allen voran mit der ökonomieverrückten Spaltung von Leben und Tod. Nicht nur das Zwielicht so mancher blauen Stunde wird mit elektrischer Grelle überblendet. Dimmer indes ersetzen keine Dämmerung. Den Zauber des Augenblicks zu spüren und ihn, um alltagstauglich zu bleiben, zugleich abblenden zu müssen, lähmt auf Dauer und trägt zu jener allgemeinen Erschöpfung bei, in der die Welt zum Surrogat verdampft. Und dabei ginge es doch einfach nur darum, atmen, aufatmen zu können. Überall so viele Möglichkeiten und so viel Wirklichkeit. Freilich: was wäre dem Argument zu entgegnen, gelebte Eigenzeiten außerhalb der reglementierten Zeitbudgets würden eine Gesellschaft extremer Arbeitsteiligkeit umgehend in einen letalen Zeitinfarkt stürzen? Spricht hier das Realitätsprinzip zugleich mit der Stimme der Hoffnung, erst nach einer global absehbaren Durchkapitalisierung könnten sich neue Wege ins Freie, ins Offene zeigen? Wenn ja, dann bliebe bis dahin wenigstens die Zuversicht, dass wir als mobile Platzhalter im Maelstrom der Informationen, der Deformationen und Transformationen zumindest noch wehmütig werden können oder zynisch oder beides - und dies beim Lesen einiger alter Verse des chinesischen Tao-Meisters Ch’eng Hao mit ihrer Zeit-Utopie der Immanenz, so nah und doch so fern: "Nichts ist zu tun, nichts drängt; / Rot scheint die Sonne durchs Ostfenster. / Ich schlafe."(16) Johannes Bauer, Aurora im Osten (2011), 100 x 70 cm, Acryl auf Leinwand Anmerkungen 1 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik , Frankfurt/Main 1989, S. 196. 2 Arnold Schönberg, Harmonielehre , hg. v. Josef Rufer, Wien 1966, S. 148. 3 Friedrich Nietzsche, Dionysos-Dithyramben , Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 390f. 4 Gottfried Benn, Kokain , Gesammelte Werke I, hg. v. Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1960, S. 52. 5 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik , in: GS 6, Frankfurt/Main 1973, S. 277. 6 Friedrich Hölderlin, Brot und Wein , in: Hölderlin, Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1984, S. 114. 7 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten , Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. VII, S. 68. 8 Bertolt Brecht, Hauspostille, Gegen Verführung , in: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt/Main 1982, Bd. 8, S. 260. 9 Max Weber, Die protestantische Ethik , Bd. I, Hamburg 1975, S. 135. 10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft , a. a. O., Bd. VII, S. 210. 11 Martin Heidegger, Sein und Zeit , Tübingen 1979, S. 180ff. 12 Michel Foucault, Überwachen und Strafen , Frankfurt/Main 1977, S. 230. 13 Martin Heidegger, Zur Sache des Denken s, Tübingen 1976, S. 5, passim. 14 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge , Frankfurt/Main 1982, S. 136ff. 15 Paul Valéry, Zur Theorie der Dichtkunst , Frankfurt/Main 1975, S. 60. 16 Ch’eng Hao, Vollendung , in: John Blofeld, Der Taoismus oder Die Suche nach Unsterblichkeit , München 1994, S. 114.
- Johannes Bauer, Fremde Sprache? Zu Beethovens Neunter Symphonie
Fremde Sprache? Zu Beethovens Neunter Symphonie (SWR 2000) Johannes Bauer 27. Mai 2019 Beethoven Johannes Bauer 26. Nov. 2018 Mozart Liegt es an ihrem universalen, an ihrem abstrakten Menschheitspathos, dass sich die Neunte Symphonie so hervorragend zu Zwecken der Repräsentation, der Legitimation und der Kommerzialisierung eignet? Als eine zurechtgehörte Erbauungsmusik der Gedenk- und Weihestunden? Macht die Alibi-Funktion des Werks nicht zur Genüge klar, dass seine Sprache fremd, wenn nicht gar unverständlich geworden ist? Vielleicht wäre einer einschränkenden, zuversichtlicheren Antwort zuliebe die Frage anders zu stellen. Etwa so: wie kann der Traditionsschutt der Vereinnahmungen abgetragen werden, der die Neunte Symphonie überlagert und gleichsam unhörbar macht? Wäre es im Sinn einer Transparenz des Werks nicht folgerichtig, zu seinem historischen Ambiente, zu seinen Voraussetzungen zurückzugehen? Zum Reflexionsspektrum des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts etwa und zum Nachweis, wie sehr das musikalische Denken der Symphonie mit Ideen und Methoden der Philosophie Kants oder Schillers korrespondiert? Zumindest könnten dadurch die Zeitdiagnose und das Humanitätsprinzip der Komposition präzisiert werden: ihre Konfliktsignatur oder ihre programmatische Leitbahn. Begeben wir uns also zurück, um nach vorne zu kommen. Bspl. 1: Rossini, Il Barbiere di Siviglia, Ouvertüre, T. 25 bis einschl. T. 47 (London Symphony Orchestra, Claudio Abbado) Beethoven, Neunte Symphonie, Beginn des Finales (bis T. 29) (SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen) Beethoven und Rossini. Nichts als ein spannendes, ein gespanntes Nebeneinander von ernster und heiterer Musik? Just zu einem Zeitpunkt, als die gesellschaftliche Realität und ihre humanitären Ideale auseinanderzuklaffen begannen? Damals während der 1820er Jahre, als Rossini Wien in einen Belcanto-Taumel versetzte und Beethovens Neunte Symphonie schon weitgehend auf taube Ohren stieß? Sicher ging es um mehr als um die Reibung zwischen dem Ernsten und Heiteren. Es ging zumindest um die Würde der symphonischen Form selbst, um ihren ethischen Imperativ. Beethoven, verstimmt über die Rossini-Begeisterung der Wiener, war sich über die Brisanz dieser Sucht nach dem Divertissement sehr wohl im Klaren. Seiner Ansicht nach war sie hochpolitisch, eine Ratifizierung der Abkehr von den Forderungen der Französischen Revolution. In etwa so, wie Heinrich Heine das auf den Punkt gebracht hat: »Auf den Wogen Rossinischer Musik schaukeln sich am behaglichsten die individuellen Freuden und Leiden des Menschen; (...) alles ist hier das isolierte Gefühl eines Einzelnen. (...) Rossinis Musik war angemessener für die Zeit der Restauration, wo, nach großen Kämpfen und Enttäuschungen, bei den blasierten Menschen der Sinn für ihre großen Gesamtinteressen in den Hintergrund zurückweichen musste, und die Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten konnten.« War Beethovens Neunte Symphonie ihrer Zeit also bereits zur fremden Sprache geworden? Hatte sich Beethoven 1824 mit einem Publikum auseinander zu setzen, das allmählich einer seelischen Taubheit anheim fiel - im Unterschied zur gleichsam bloß physischen des Komponisten? Der Ära Metternich mit der Neunten Symphonie die Stirn zu bieten, war Beethovens Absicht. Einer Epoche restaurativer Vereisung die Koordinaten von Vernunft und Freiheit einzuziehen: dazu sollte das symphonische Unternehmen bewegen. Und was hatte Beethoven dafür kompositorisch nicht alles aufgeboten. Schon die traumatische Wucht des Eröffnungssatzes suchte ihresgleichen. Beethoven komponiert hier einen Koloss aus Ansätzen, Verwerfungen, Umschichtungen, Verdichtungen und Auflösungen. Eine Bühne antagonistischer Strukturen, die dem Allegro maestoso einschreiben, was im Denken des deutschen Idealismus um das Politikum der »Entzweiung« kreist: um das Drama von Freiheit und Notwendigkeit, um den Widerspruch zwischen »dem individuell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt«. Außergewöhnlich ist die Heftigkeit, mit der Beethoven das Publikum auf das Vernunft- und Moralpostulat des Finales hin ausrichten will. An dieser Heftigkeit lässt sich der Grad der Verhärtung ablesen, mit dem es die Neunte Symphonie zu tun hatte. Kein Wunder, dass einem solchen Konzept der Erschütterung die Höhepunkte des ersten Satzes gleichfalls zur Verhärtung gerinnen. Zur Starrheit antithetischer Skalen unter Ausschluss eines thematischen Symbols der Versöhnung. Bspl. 2: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 236 (aufbl.) bis T. 252 (ausbl.) Den Gedanken Goethes, dass »alles Tragische« auf einem »unausgleichbaren Gegensatz« beruht, setzt der Konfliktgipfel der Durchführung bis in kleinste Motivzusammenhänge um. Die Zweiwertigkeit der spiegelsymmetrisch verzahnten Auf- und Abstiegsfiguren wird als Sinnbild von Entzweiung und Zwiespalt zum Ausdruck objektivierter Verzweiflung. Der Antagonismus des gesamten Satzes verdichtet zur Summe tragischer Unversöhntheit. Und dann die Reprise. Keine Emphase der Ankunft. Keine Spur von der souveränen Geste beethovenscher Repriseneinsätze. Eher wandelt sich hier der fruchtbare Augenblick von Erinnerung und Wiederkehr zur furchtbaren Diktatur der Gegenwart. Auch hier bestimmt von der Ökonomie der Entzweiung. Gespalten nicht nur die Streicher und Holzbläser, gespalten in Konfrontationen und Gegenläufigkeiten auch die motivischen Verläufe. Die Hypothek der Durchführung, das Scheitern ihrer Versöhnungsarbeit: im Resultatcharakter der Reprise schärft sie sich zum tragischen Fazit. Bspl. 3: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 297 (aufbl.) bis T. 338 (ab T. 337 ausbl.) Mit dem Symptom des Getrennten und Unversöhnten, greift Beethoven einen philosophischen Grundgedanken seiner Zeit auf. Ihr wurde die Not der »Zerrissenheit« zum gesellschaftskritischen Impuls. Und der Formenkreis dieser »Zerrissenheit« ist vielfältig. Die Spaltung von Fantasie und Ökonomie, Herz und Verstand, Sinnlichkeit und Sittlichkeit gehört ebenso zu ihm wie der Bruch zwischen dem Kaltsinn der Politik und dem Bedürfnis des einzelnen Lebens, zwischen Individuum und Gattung, zwischen Ideal und Wirklichkeit. Gegen diese lebenszerstörenden Polarisierungen mobilisiert der Eingangssatz der Neunten Symphonie zahlreiche Figuren des Widerstands oder, mit dem Vokabular der Beethoven-Zeit geredet, zahlreiche Figuren der Autonomie. Schon indem der Satz auf Ent-täuschung: auf das Aufheben der Täuschung über eine korrupte Gegenwart zielt, appelliert er an die ethische Stärke des Subjekts. Oder wie sollte man sonst das Ende des Allegro maestoso auffassen? Bspl. 4: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende Nach 512 Takten ergebnisloser Versöhnungsarbeit nun also der Gestus gemeinsamen Schreitens, zunächst im Charakter eines Kondukts. Wenig später dann die heroische Steigerung dieses Epilogs. Sie setzt das Kopfmotiv des Satzes dem tragischen Prozess entgegen: mit dem Anspruch des Subjekts, des Themensubjekts nämlich. So endet des Allegro maestoso in einer Verwandlungsmusik, deren Bahn vom Pathos des Schmerzes zum Ethos der Unbeugsamkeit verläuft. Schiller würde das so beschreiben: »Zum Pathetisch-Erhabenen werden (...) zwei Hauptbedingungen erfordert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Leidens, um den mitleidenden Affekt in der gehörigen Stärke zu erregen. Zweitens eine Vorstellung des Widerstandes gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit«, die »moralische Selbständigkeit im Leiden«, »ins Bewusstsein zu rufen«. Widerstand, Selbständigkeit, Autonomie aber bedeuten Freiheit und Freiheit wiederum das »Bewusstsein unserer moralischen Natur«. Ein Bewusstsein allerdings, das wie im Eröffnungsallegro der Neunten Symphonie erst »in einem gewaltsamen Zustande, im Kampfe« entsteht, wobei der »Sieg (...) nicht früher als am Ende (...) zu erlangen« ist. Dass der erste Satz der Neunten Symphonie die Stimmen seiner Schlusstakte zum Tutti-Konsens bündelt, gleicht einer Anspielung auf den Kollektivsingular der menschlichen Gattung. Auf die Gattung im Sinn eines kollektiven, aber einheitlich vernunftgeleiteten Subjekts. Betont wird die Kraft der Solidarität gegenüber der Ohnmacht privatisierten Schmerzes. Dass dies jedoch erst im letzten Augenblick und am äußersten Rand des Satzes geschieht, formuliert die Musik zum Postulat, die »Prosa der Welt« zu durchdringen: mit der »Macht der Vereinigung«. Eine hegelsche Umschreibung für Schillers Leitmotive der »Sympathie« und der »Freude«. Bspl. 5: Neunte Symphonie, 1. Satz, T. 513 bis Ende Zeitgenössische Besprechungen des Scherzos aus Beethovens Neunter Symphonie betonen fast durchweg den »Humor« dieses Satzes. Da ist die Rede vom »stets trippelnden Thema«, vom »humoristischen Schlag der beiden F-Pauken«, ja sogar von einer Szene der italienischen Commedia dell' arte. Und wieder die Frage: war die Sprache Beethovens seiner Zeit bereits so fremd geworden, dass das Bedrohliche und Hintergründige dieses Scherzos biedermeierlich entschärft werden musste? Hatte man kein Ohr mehr für das Getriebene dieser Musik? Oder sind - umgekehrt - die katastrophengeschulten Ohren unserer Zeit taub geworden gegen den komödiantischen Zug dieses Satzes? Bspl. 6: Neunte Symphonie, 2. Satz, Beginn bis T. 150 Auffällig ist, dass sich im Gesamtverlauf der Symphonie allein das Scherzo gegen das ethische Repertoire des Werks abdichtet. Einzig das Scherzo präsentiert keine imperativischen Fanfaren, keine postulierenden Signale, die auf das Ethos des Finales verweisen würden. Und selbst der Posaunenstoß zu Beginn des Trios erfüllt weniger Appell-Funktion als die Markierung eines Szenenwechsels. Jedenfalls verrät der perpetuum-mobilehafte Irrlauf des Satzes mehr von Zwang und Unrast als von der Freiheitsidee der praktischen Vernunft. »Possen«, die Charakterisierung, die Beethoven dem Scherzo in den Finalskizzen zuordnet, taucht bei Kant nicht zufällig im Zusammenhang mit der »geschäftigen Torheit« einer moralfernen Zivilisation auf. Abgesehen vom arkadisch aufgelichteten Trio kreist der Scherzo-Hauptteil mit jener ›Macht der Sinnlichkeit‹ und ›Getriebenheit‹ in sich, die Schillers Ästhetische Erziehung dem »physischen« Zustand zuschreibt. Schillers Ästhetische Erziehung und ihr Zivilisationsmodell. Vieles spricht dafür, dass Beethovens Neunte Symphonie diesem Modell folgt, demzufolge »der Mensch in seinem physischen Zustand bloß die Macht der Natur (erleidet); er entledigt sich dieser Macht in dem ästhetischen Zustand, und er beherrscht sie in dem moralischen«. Präziser lässt sich der pädagogische Gang der Neunten Symphonie nicht skizzieren. Ein Läuterungsprozess, der nach dem Epochenbefund des ersten Satzes den zweiten Satz, also das Scherzo, dem »physischen« Zustand korrespondieren lässt, den dritten dem »ästhetischen« und den vierten endlich dem »moralischen«. Dass Beethovens Neunte Symphonie sich an Schillers Kartographie der menschlichen Gattungsgeschichte ausgerichtet hat, liefert wohl auch die einleuchtendste Erklärung für die Änderung der überkommenen Satzfolge: für die Umgruppierung des langsamen Satzes an die dritte Stelle der Gesamtform, also zwischen den »physischen« Charakter des Scherzos und den »moralischen« des Finales. Als Ausdruck des unfreien »physischen Zustands« hält das Scherzo die Hörer in einem Objektstatus, der eine »freie«, »autonome« Position diesem manischen Satz gegenüber nicht zulässt. Zahlreich sind die Übereinstimmungen des Scherzos mit jenen Attributen, die Schiller dem »physischen« Stadium zuschreibt. At-tributen wie denen des »Bizarren«, des »Heftigen und Wilden«, der »raschen Übergänge« und »grellen Kontraste« etwa. Ins Zentrum von Beethovens Molto vivace führen vor allem Schillers Charakteristika des »Überraschenden« und des ›Zufälligen‹, das »kein Gesetz achtet« und den Sog des »Zeitlichen« spürbar werden lässt. Dann nämlich, wenn der orgiastische Rhythmus, der den Satz in Gang hält, plötzlich und gegen jede musikalische Logik leer läuft und in einer Generalpause zum Stillstand kommt. Vergleichbar auslaufenden, abbrechenden und erneut anhebenden Rotationen perforiert diese mechanisierende Wirkung den Zusammenhang auf leere Zeit hin. Eine momenthafte Zerrüttung; eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und zugleich eine Entbürdung von formender Regie. Dass sich der Rang eines Komponisten danach bemisst, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Formelhaftem zu entbinden weiß, vergisst Beethoven im Umkreis dieser Zeit- und Sinnrupturen bewusst. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich die Musik der Schablone an. Ästhetische Zeit verrinnt in die empirische. Bspl. 7: Neunte Symphonie, 2. Satz, T. 9 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) bis T. 176 Beethovens Aufsplittern des Formkontinuums und der Hörkontinuität antwortet auf das Schwinden der Tradition, zumal auf die der Ziele von 1789. Dass der Verlust historischer Kontinuität nicht mehr guten Gewissens ästhetisch verschleiert werden kann, dämpft den Anspruch der Musik, Zeit ungebrochen zu organisieren. Mehr noch bedeuten solche Störungen der Zeitordnung Irritation von Sinn. Eine Irritation, die mit einem Kollaps der Form als der Garantin von Einheit und Stabilität die Apathie des Publikums aufsprengen will. Wenn das Auslaufen und Wieder-Anrollen der Motiv-Bewegung den Taumel des Satzes auf sein Kalkül hin durchschlägt, wird ein Ineinander von Trieb und Getriebe hörbar, als wollte Beethoven die Motorik wie die Erstarrung der restaurativen Gesellschaft freilegen und ihre unfreie Geschichte unterbrechen. Bspl. 8: Neunte Symphonie, 2. Satz, T. 93 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) bis T. 176 Der erste Satz von Beethovens Neunter Symphonie setzt seine Themen und Motive der »reißenden Zeit« eines Dramas aus. Anders der dritte. Er behandelt seine Themen nicht als Objekt, als Material. Das Adagio molto e cantabile verschwendet mit der Reihung seiner Variationen Zeit eher, als sie einer zielgerichteten Effizienz zu unterwerfen. Frei von motivisch-thematischer Arbeit nimmt der Satz kontemplative Züge an. Eine Nähe zu jenen Sphären, die um 1820 immer noch als Gegenwelt zur Niederung profaner Geschäftigkeit galten: zu den Sphären von Natur und Religion. Nach den ersten beiden Sätzen lässt der Adagio-Satz aufatmen. Er hat etwas mit jener »freien Stimmung« zu tun, in der für Schiller »das Gemüt weder physisch noch moralisch genötigt und doch auf beide Art tätig ist«; im Sinn eines »mittleren Zustands« zwischen dem »physischen« und dem »moralischen«. Schiller nennt ihn den »ästhetischen«. Dieser »ästhetische Zustand« ermöglicht jene »freie Betrachtung«, mit der wir in die »Welt der Ideen« treten, ohne doch »darum die sinnliche Welt zu verlassen«. In solch »liberalem Verhältnis« zur Welt hebt sich die »Gewalt« des »physischen« Stadiums auf. Und damit auch die des Scherzo-Satzes der Neunten Symphonie. Bspl. 9: Neunte Symphonie, 3. Satz, Beginn bis T. 24 (ausbl.) Dennoch: der »ästhetische Zustand« bringt »keinen einzelnen, weder intellektuellen noch moralischen Zweck« zur Ausführung, sondern eröffnet lediglich ›Möglichkeiten‹ des Übergangs. Deshalb kommt auch dem Adagio der Neunten Symphonie nur eine Durchgangsfunktion zu. Zu sehr verleitet die freie Stimmung des Satzes zu Projektion und Gedankenflucht. Ein Satz, der seine Themen nicht durch Phasen der Bewährung hindurchtreibt, kommuniziert mit der Innerlichkeit des isolierten Ich. Isoliert, weil es den Blick für die Belange der Gattung verloren hat. Bedenken, der Adagio-Satz könnte zu sehr ins Idyllische abgleiten, finden sich bei Beethoven selbst. In einer Notiz zur Einleitung des Finales kommentiert er das Adagio-Zitat schlicht als »zu zärtlich«. Vor allem aber reflektiert die Musik diesen Sog zum Stimmungshaften: gegen Ende des Satzes, im Monolog einer Bläserpartie, die allmählich an Richtung verliert und den symphonischen Gemeinsinn zugunsten eines Privatsinns der Empfindsamkeit aufgibt. Das Adagio droht in ziellosem Kreisen zu stagnieren. Die formende Regie zieht sich zurück, die labyrinthische Sequenz entgleitet dem Satzgefüge und trübt sich schwermütig ein. Ohne prägnante Erinnerungsfiguren an den Satzverlauf, ohne ein Zusammenhang stiftendes Motivgefüge läuft die rezipierende Aufmerksamkeit ins Leere. Bspl. 10: Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 83 bis T. 98 (ab. T. 97 ausbl.) Die kontemplative «Anschauung« macht uns «unfrei«, sofern das Subjekt »keinen anderen Inhalt als den des angeschauten Objekts« hat, um endlich überwältigt von der Autonomie dieses Objekts seiner eigenen verlustig zu gehen. So oder so ähnlich würde Beethovens Bläserepisode in einem philosophischen Text ihrer Zeit kommentiert werden. Beethoven streift hier die Nähe der Kontemplation zur Melancholie mit ihrer Weigerung, vor- und weiterzudenken, und ihrer Aufkündigung des »Interesses für die Außenwelt«. Nach dem Bläser-Einschub wirkt die arkadische Klang- und Seelenlandschaft jedenfalls wie ins Vergangene entrückt, vom Idyllischen ins Elegische. So wird die Bläserepisode zur Zeitachse des Satzes. Trotz ihrer Rückkehr zur Grundtonart B-Dur zeigt die darauf folgende 12/8-Variation Spuren einer Verflüchtigung. Die Musik wird zum Abgesang, bis massive Tutti-Fanfaren Protest und Einspruch gegen einen Satz zu Gehör bringen, der als selbstgenügsames Idyll die ethische Leitbahn der Symphonie verdunkelt. Bspl. 11: Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 108 (aufbl.) bis T. 123 (ausbl.) Die stimmungswidrig in den Variationsfluss einbrechenden Tuttisignale der Coda werden zum Gattungsappell, der den kollektiven Anspruch und das Gebot tätiger Weltpräsenz zur Besinnung bringt. So wie Schillers »ästhetischer Zustand« einer der Vorbereitung und des Durchgangs ist, so drängt auch Beethovens Fanfarenappell zum »moralischen« Zustand des Finales. Wie schwer freilich der Abschied vom arkadischen Idyll fällt, macht das Ende des langsamen Satzes deutlich: der schmerzliche Gestus seiner Dur-Moll-Wechsel mit ihrer Gefühlsambivalenz zwischen Erwartung und Erinnerung. Durchzogen überdies von Seufzermotiven wie aus Wehmut darüber, dass Arkadien nicht Elysium ist. Die Natur »umgebe dich wie eine liebliche Idylle, (...) bei der du Mut und neues Vertrauen sammelst zum Laufe und die Flamme des Ideals (...) in deinem Herzen von neuem entzündest«. Trotzdem führe uns der Dichter der Moderne »nicht rückwärts in unsre Kindheit, sondern (...) vorwärts zu unsrer Mündigkeit«. »Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, (...) welche (...) den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt«. Bspl. 12: Neunte Symphonie, 3. Satz, T. 149 (aufbl.) bis zum Ende des Satzes + Neunte Symphonie, 4. Satz, Beginn bis T. 30 (ab T. 28 ausbl.) Die Tuttifelder zu Beginn des Finales überziehen die Hörer mit dissonantem Ungestüm, als sollten Mauern aus Gleichgültigkeit und Harthörigkeit zum Einsturz gebracht werden. Eine Klangkaskade, um ein »ganzes Zeitalter in die Schranken« zu fordern, und ein schockhafter Kontrast zur Seelenlandschaft des dritten Satzes. Bestürzend noch immer die zeitdiagnostische Schärfe dieses Beginns. Sie findet man auch bei Schiller, der die in den »Individuen« zersplitterte »Gattung« in ihrer Entfremdung entlarvt. Dass mit der Verkümmerung des Einzelnen im arbeitsteiligen Getriebe »allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt« wird, wird zum Symptom der Epoche. »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus«, »anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen«; ein bloßer »Abdruck seines Geschäfts«. Schillers Zeitkritik von 1793 hatte sich für Beethoven rund 25 Jahre später nur noch verschärft. Eine mehr und mehr vom Industrialismus, vom Geldfetisch und von Konkurrenz dominierte Gesellschaft, gestützt auf Militär und Beamtenschaft, stabilisiert durch Überwachung und Zensur des Metternich-Regimes: diese Szenerie ist beim Finale der Neunten Symphonie mitzuhören. Vor allem bei seinem von Wagner als »Schreckensfanfare« empfundenen Beginn: Memento einer negativen Wirklichkeit und Signal zur Umkehr in einem. In der Alla marcia-Partie des Finales nun demonstriert Beethoven ein Musterbeispiel, wie sich der realistische Blick auf die Zeitumstände mit dem idealen Schwung der Neunten Symphonie kreuzt. Bspl. 13: Neunte Symphonie, Finale, T. 331 bis T. 374 (ab T. 367 ausbl.) Noch einmal setzt Beethoven das marschhafte Idiom bekenntnishaft in Szene: im Namen republikanischer Öffentlichkeit. Schon die »Türkische Musik« erinnert mit ihrem Instrumentarium von Großer Trommel, Becken und Triangel an die Freiluftmusik der Französischen Revolution. Mag der marschhafte Aufbruch des Alla marcia auch gegen den Tritt laufen: der Ansporn des Tenors, »Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen« lässt einen strahlenden, zielgewissen Durchbruch erwarten. Bspl. 14: Neunte Symphonie, Finale, T. 359 (aufbl.) bis T. 448 (ab T. 444 ausbl.) Doch es kommt anders. Während des folgenden Fugatos zersetzen die aneinander sich abarbeitenden Stimmen mit der thematischen Substanz auch die Basis ihrer Antriebskraft. Das marschmäßig rhythmisierte Thema der Freude, das motivisch verdichtet das Fugato wie eine ethische Leitidee durchziehen sollte, wird bis zur Eintaktigkeit aufgerieben. Bspl. 15: Neunte Symphonie, Finale, T. 485 (aufbl.) bis T. 525, erstes Viertel (ab T. 518 ausbl.) Kurz vor dem endgültigen Verschleiß dann die Entrückung des Freudenthemas - oder was davon übrig geblieben ist - nach h-Moll, in die Ferne. Im Pianissimo und buchstäblich in letzter Minute. Oder sollte man besser sagen: in höchster Not? Ihrer Verbürgtheit entzogen steht für einen Augenblick die sittliche Signatur des gesamten Satzes auf dem Spiel. Bspl. 16: Neunte Symphonie, Finale, T. 520 (aufbl.) bis T. 540 (ab T. 538 ausbl.) Schließlich eine ruckartige Weitung zum Fortissimo-Tutti des »Freude, schöner Götterfunken«. Eine Euphorie der Wiederkehr in D-Dur. Allerdings, kein Phönix ohne Asche: dem Auflösungsfeld kann die Musik nur noch unter Aufbietung einer massiven Beschwörungsrhetorik standhalten. Bspl. 17: Neunte Symphonie, Finale, T. 526 (aufbl.) bis T. 550 (erstes Viertel) (T. 546 ausbl.) Zudem kommt eine weitere Beschwörungs-, eine Legitimationsrhetorik ins Spiel. Dass der Beginn des Alla marcia der vorangehenden Variation mit ihrer Verklärung des göttlichen Namens scharf, gar blasphemisch kontrastiere, ist eine Täuschung. Im Gegenteil: zumal die göttliche Aura ist es, die den Appellcharakter des »Alla marcia« aufs Entschiedenste bekräftigt. Bspl. 18: Neunte Symphonie, Finale, T. 321 bis T. 340 (ab T. 337 zügig ausbl.) Obzwar durch eine Generalpause getrennt, ergeben sich gerade über die Generalpause hinweg vielfältige harmonische und motivische Bezüge. Bezüge zwischen der von sakraler Hoheitssymbolik bestimmten oberen, göttlichen Region und der zum geschichtlichen Naturgrund säkularisierten unteren des Marsches. Die Generalpause markiert zwar einen Umschlag, einen Ort der Verwandlung, aber eben nur in engem Bezug zur göttlichen Sphäre. Von dieser Sphäre aus wird der krude Ton zu Beginn der Marsch-Sektion belebt und zum geschichtlichen Triebgrund aufgeladen. Gott und Geschichte, Ethos und Konkurrenz, Perfektibilität und Fortschritt: philosophische Grundmuster schon der Aufklärung. Und auch bei Kant finden sich die Motive Beethovens an einer prominenten Stelle seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht: die Motive von der bildenden Kraft des Antagonismus und von der regulativen Gottesidee, dem Schlussstein der Konstruktion des Sittlichen. Der »Antagonismus in der Gesellschaft«, die »ungesellige Geselligkeit der Menschen«, mit der »Neigung, sich zu vergesellschaften« und zugleich »sich zu vereinzeln«, stellt »das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen« in den menschlichen Vermögen »zu Stande zu bringen«. »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht«. Fluchtpunkt dieser Vollendungsvision bleibt die Zuversicht, die »Zwietracht« werde am Ende doch die »Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung«. Kant interpretiert den gesellschaftlichen Antagonismus zum Motor des kulturellen Fortschritts, mit dem Ziel einer Verwandlung der Gesellschaft in ein »moralisches Ganzes«. Wobei gerade diese Zweckgerichtetheit die »Anordnung eines weisen Schöpfers« vermuten lässt, jene göttliche Instanz eben, die Beethoven unmittelbar vor Beginn des Alla marcia postuliert. Denn »ohne einen Gott (...) sind die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung«. Auch wenn die göttliche Instanz das irdische Treiben im Sinn einer regulativen Idee überhöhen soll: mehr noch kommt es darauf an, die göttliche Transzendenz in die weltliche Immanenz der Geschichte einzuholen; der Geschichte also die Kraft göttlicher Vernunft als säkularen Endzweck zuzubringen. Befördert durch die Rivalität der Individuen in der ökonomischen Arena – der Triebkraft der Annäherung an eine »vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung«. Diese Verstrebung von Transzendenz und Geschichte komponiert Beethoven aus. Bspl. 19: Neunte Symphonie, Finale, T. 325 (aufbl.) bis T. 550 (ab T. 545 ausbl.) Wie Geschichte in das Alla marcia eindringt, zeigt die modulatorische Unrast des Fugatos und seine Dynamik der Reduktion zur Genüge. Die martialische Rasanz der gegeneinander geführten und einander verfolgenden Stimmen entfaltet sich zum ästhetischen Gleichnis des liberalistischen Wirtschafts- und Konkurrenzgefüges. Mit dem Enthusiasmus des »Laufet, Brüder!« als der ihr gemäßen Losung. Allerdings zeigt Beethoven, dass dem Emanzipationsgedanken Kants, Herders oder Schillers so ohne weiteres nicht mehr zu trauen ist. Dem Gedanken also vom »Antagonismus der Kräfte« als dem »großen Instrument der Kultur«, das »die Gattung zur Wahrheit« führen soll. Zu sehr hatten Profitstreben und Gewinngier bereits den Kampfplatz der individuellen Privatinteressen okkupiert, als dass die Hoffnungschiffre »Elysium« noch mit der Sicherheit der Ankunft zu verkünden gewesen wäre. Bis zuletzt ging Beethovens Wunschproduktion von einem Einheitsbegriff der Person aus, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Mittlerweile sind solche Voraussetzungen unhaltbar geworden. Das heroische Subjekt der klaren Konflikte und Postulate ist passee. Wo wären im gegenwärtigen »Abstrakt des Ganzen«, wie Schiller das schon 1795 nannte, das Subjekt; und wo sein Widerpart, die Gesellschaft? Wo das Allgemeine und wo das Individuelle? Wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sich überlagern und widersprechen, sondern schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Was aber kann multiplen Psychen, die gelernt haben, widersprüchlichste Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen, noch die Direktive moralischer Autonomie bedeuten? Was die Einheit der Gattung? Vom historischen Kern der Neunten Symphonie einmal abgesehen: dass in ihr etwas mehr komponiert ist als das Gedankenarchiv der Philosophie ihrer Zeit, resultiert allein schon aus dem Unterschied zwischen der argumentativen Logik des Begriffs und der affektiven der Musik. Auch wenn dieses Mehr heute vielleicht nur noch darin liegt, das funktional durchtrainierte Ego wenigstens für Augenblicke zu verunsichern. Beethovens Neunte Symphonie – ein Zeugnis der Zerrissenheit und des Widerstands in einer Gesellschaft gefesselter Alltäglichkeit damals wie heute. Vielleicht wäre auch das eine Möglichkeit der Auseinandersetzung - über die Distanz hinweg. Eingelöst wird sie in Bernd Alois Zimmermanns Photoptosis , wenn eine Textur aus bedrohlichen Signalen schließlich die Final-Fanfare der Neunten Symphonie freigibt. Wirkt Beethovens Appell, vom katastrophischen Kontext abgeschwächt, darin eher wie ein nachdrücklich werbendes Postulat, mit besänftigender Wirkung auf die Musik: beunruhigend wird das Beethoven-Zitat als tönender Spiegel. Als ein Spiegel, in dem Gegenwart auf Vergangenheit antwortet. Doch auch das wäre weiter nicht sonderlich irritierend. Antwortende Spiegel kennt man schließlich aus dem Märchen. Beklemmend wird es erst, wenn der Spiegel selbst beginnt Fragen zu stellen – etwa die, was denn wohl die Gegenwart vor Beethoven bedeutet. Bspl. 20: Zimmermann, Photoptosis (SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Ernest Bour) (Ausschnitt mit Beethoven-Zitat)
- Johannes Bauer, Telesupervision. Marginalien zur medialen Welt
Marginalien zur medialen Welt Teles upervision Hermann Schweppenhäuser zum 1. Juli 1996 (Tele-)Visio Dei »Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft«. »Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt!«1 Nietzsche ist wohl das prominenteste Beispiel eines literarischen und philosophischen Sensoriums, dem sich die erhabene Sicht des Künstlers und der Spekulation auf die Niederung des Weltlaufs im Formenkreis des Blicks von oben konkretisiert. Sein »Pathos der Distanz«2 begegnet dem Trauma von Industrialisierung und Massengesellschaft mit dem Gestus des Überhobenseins und dem verachtenden Hochmut des intellektuellen Aristokraten: mit einer Warte des »Ausblicks und Herabblicks«3, von der aus »die ganze Thatsache Mensch in ungeheurer Ferne unter ihm [liegt]«4. Zeitgleich zur Spur des Wanderermotivs besetzt das Finale des abendländischen Säkularisierungsprozesses die Sphäre zwischen Himmel und Erde als den letzten Ort einer gottähnlichen Kontemplation des auktorialen Autors. Von diesem Zenit des »Odi profanum« her inszeniert die Optik der Elevation fern dem Weltgetriebe die Variationen ihrer kritischen Höhenmessung. Konnte Petrarca die Besteigung des Mont Ventoux dank Augustinus und der Schau auf die Unsterblichkeit der Seele noch theologisch-diätetisch als meditatio vitae et mortis rückbinden«5, wird Jean Paul mit dem Zerfall des ethikotheologischen und vernunftteleologischen Überbaus die hohe Luft »über der schwülen irdischen Hölle« zum Schauplatz eines skurril phantastischen Flugs, der den »Menschenverächter« Giannozzo durch das »lange Totenhaus der Erde« trägt«6. Läßt Eichendorff von weiten Naturemporen aus das romantische Weltpanorama über dem »praktischen Abgrund«7 frühindustrieller Nützlichkeit noch einmal in rätselhafter Illumination aufleuchten, nimmt Stifter von der »luftigen Einsamkeit« des Stephansturms herab bereits das »wirre Babel« der Großstadt ins Visier, die rastlose Menge gleich »wimmelnden Insekten« und »dunklen Ameisen«8. Rund 200 Jahre nach Pascals tremendum saeculare vom »ewigen Schweigen« der »espaces infinis«9 entzaubert sich schließlich Schopenhauers kosmischer Entgrenzung die Erde selbst zu einer verlorenen Kugel »im unendlichen Raum«, »auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat«10. Eine Desillusionierung, die Nietzsche zur »Minuten«-Existenz jenes »Gestirns« in »irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls« fortschreibt, »auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden«11. Konnte sich Nietzsche indes noch eremitenhaft zu einem »Rendez-vous von Erfahrungen« stilisieren, »die man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht«12, so demonstriert das neue innerweltliche Gebot wohl keine Sequenz eindringlicher als die am Schluß von Balzacs Le Père Goriot , in der Eugène de Rastignac den Moloch Paris vom Père-Lachaise herab mit den »grandiosen Worten«: »A nous deux maintenant!« in die Schranken fordert, bevor er erfolgssüchtig und mit der Entschlossenheit des siegesgewissen Aventuriers in die Arena der großen Welt hinabsteigt. Seitdem vollzog sich mit dem Ende der metaphysischen Episteme eine Umwertung des weltenthobenen Blicks. Analog zu dessen ästhetischer Entmächtigung wuchs zwar die empirisch-technische Reichweite, ohne aber je wieder der irdischen Gravitation und ihrem Praxistribut entrinnen zu können: in den sportiven Grenzerfahrungs- und Abenteurersehnsüchten einer gipfelstürmenden Hochgebirgstouristik ebensowenig wie in der Observationsperspektive von Astronauten- und Satellitenaugen nach Weisung militärischer, nachrichtentechnischer oder naturwissenschaftlicher Belange. Terrestrisch gebunden und ausgerichtet geht das Auge der Moderne zudem einen immer innigeren Pakt mit medialen Bildtypologien ein. Und leicht verflüchtigt sich zur fausse présence, was sich nicht an ihrer Präformationsorder und Präsentationsmanier ausweist: an der Transformation zu einer telegenetischen Erkenntnisart a priori, in der die Sicht des anderen zur mediengerechten Kontrolle im Dienst des populistisch geeichten Zeitgeists wird. Doch auch diese Schule des Sehens hat ihre Geschichte. Als eine der Individualisierung und Psychologisierung läuft sie dem profanierten Sturz des Blicks vom Scheitelpunkt meditativer Höhe zur Adaption an die elektronische Apparatur parallel. So formuliert schon 1453 Nikolaus von Kues' De visione Dei mit ihrer komplexen Subjekt-Objekt-Verschränkung und ihrer variablen Raum-Zeit-Geometrie eine sinnbildliche Einführung in die mystische Theologie, die vom Denken und von der Anthropologie der humanitas her einen herausragenden Beitrag zur neuzeitlichen Logik der Visualisierung liefert. Unter Rekurs auf die zeitgenössische niederländische und italienische Malerei wählt Cusanus deren Kunst, den Blick des Porträtierten, speziell der Imago Christi, jedem Betrachter beständig an jeden Punkt des Raums folgen zu lassen, zum Leitmotiv seiner Gleichnisrede: als ein »Bild des Allsehenden«, das mit der »Beweglichkeit des unbeweglichen Blicks« nach »allen Seiten zu sehen scheint«13. Als èåð´ý wird Gott seiner Etymologie des èåûòåé~í und èåé~í gemäß zu dem, der alles sieht und alles durchläuft.«14 Diese Potenz des Durchmessens und Durchdringens dynamisiert die »visio Dei« zu einer Optik des Auge in Auge, in der sich noch die logistischen und operationalen Muster der Tele-Visio(n) als eine Säkularisierung des göttlichen Blicks zu erkennen geben. Daß die Absolutheit des »Deus perfectissimus« unentwegt und frei von jeder Beschränkung alles sieht – »wenn ich mich auch von dir wegwende«, »so wendest doch du deshalb weder Auge noch Blick«15 –, daß sein Modus des »simul et semel«, des zugleich und einmal«16, die temporal-lokalen Koordinaten von Sukzession und Spatium überwunden hat, daß schließlich die Essenz des »Sehens« als »Verursachen« gedacht wird, als der Akt, daß »alles ist, weil du [sc. Gott] es denkst«18: all diese Parameter finden sich in nuce auch im Fundamentalismus der TV-codierten Optik wieder: in ihrer untergründigen Insinuations-, Zensur- und Kontrollpräsenz, ihrem Zeit- und Raumdistanzen sprengenden Panoptikum und ihrer welterzeugenden Epistemologie. Beerbt vom Evangelium der Information gehen göttliche Allwissenheit und Allmacht an die Agenturen der News über, die die Welt pausenlos und inquisitorisch nach Sensationen durchforschen, an die unwiderlegbare Apparatur ihrer Archivierungsriten, an die Heiligkeit der Fakten (eingerechnet alle Pflichten und Sachzwänge moderner Berichterstattung) und an die Sendungshierarchie der Bildemanation, ausgestrahlt in die Köpfe der gläubig empfangenden Massengemeinde. Und so wie im Text des Cusaners der auf alle und in je besonderer Zuwendung auf jeden einzelnen gerichtete göttliche Blick, das »complicat omnes rationes videndi«19 seines unbedingten und sinnstiftenden Sehens, die Allgegenwart der Telekratie antizipiert, so findet in dieser noch die »coincidentia oppositorum« ihr spätes Pendant: im Neutralisierungssog der Television als dem allgemeinen Äquivalent ihrer gesendeten Inhalte, als Dominanz der Struktur über das Material, durch die das mediale Design noch die Katastrophen mit dem Firnis der Distanz und des Irrealen überzieht. »The medium is the message«, »the medium is massage«20. Daß die Individualitätsemphase der Visio Dei zwischen Mystik und Humanismus ein nahezu persönliches Gegenüber von Gott und Mensch in Szene setzt, ermöglicht es ihr, göttliche Allgegenwart als das »ewige Vaterauge« eines »provisor noster paternus«21 zu denken: als eine Identität von »Sehen« und »Lieben«22, letztlich als eine Koinzidenz des Universellen mit dem einzelnen. Am Ende des Auszugs aus der Transzendenz jedoch, am Ende auch der Geschichte vom Drama des Subjekts und seinen Grenzgängen zwischen Autonomie und Autismus eskaliert diese Nähe zu der eines unerträglichen Über-Ichs, zur Tragödie des Vatermords. Nietzsche zufolge mußte Gott gerade seiner Zeugenschaft wegen sterben. Sah er doch »mit Augen, welche Alles sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit.« Der Mensch aber »erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt«23. Die Entmachtung der göttlichen Supervision und ihrer tyrannischen Präsenz in einem Leben des Aufschubs, des Verzichts, der Reue und des Todes gelang Nietzsche allerdings nur um den Preis einer Selbstreflexion, der der »grosse Schmerz«24 zum Senkblei der Erkenntnis wurde: mit der psychologisch gewandelten Auferstehung des alten Gottes in der Überwachungsfigur des »Einen grossen Auges«, »das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt«25. In solcher Introspektion erliegt die Existenz der Vivisektion der Selbstbeobachtung: »verurtheilt zu dir selber«, »zur eignen Steinigung«, und zur »Heilung aus dir selbst«26. Die Verinnerlichung des göttlichen Blicks erzeugt das investigative Fieber der Selbsterkenntnis: »Selbstkenner! Selbsthenker! [...] du wirfst dich nicht ab von dir...«27. Nun ebnet aber im Exil der entzauberten Konkurrenzgesellschaft genau die Bürde des Sinnlosen, des Schmerzes, der Entfremdung und des Todes, der nihilistische Grund all dessen, wogegen sich der athletische Kraftakt im Entwurf des Übermenschen richtet, das Terrain für die neue Religion der medialen Mythen: kulminierend in den produktionsenergetisch hochgerüsteten Wirtschaftsnationen, die den Fluch der Vertreibung aus dem Paradies und den der Arbeit bibeltreuer internalisiert haben als je zuvor, deren Verwertungsdiktat nicht nur alle in Hörigkeitsverhältnisse zwingt, sondern zudem Millionen überzähliger, in Arbeitslosenstatistiken abgebuchter Rationalisierungsopfer mit der zynischen Laudatio auf Vollbeschäftigung und einer schamlosen Beschwörung des kollektiven Wir über alle Vermögensgrenzen hinweg als Konkursmasse des expropriationsgestützten Profits ausstößt. Bedeutet aber Kapitalismus zuinnerst eine Ökonomie der Beschneidung, dann wird deren Kastrationsgewalt von der Antimäeutik der Kulturindustrie, dem Selbstläufertum ihrer Blendungsstrategien stabilisiert und potenziert. Nunc stans: mediale Liturgien Daß sich Glück und Tugend in einer vom Motor egoistischer Interessen getriebenen Gesellschaftsmaschinerie und ihrer Energie aus Gewinnsucht und persönlichem Nutzen nicht decken, verleitete noch Kant unter Berufung auf den Vollkommenheitsanspruch des moralischen Prinzips zur Rehabilitation der Ideen von Gott und Unsterblichkeit, den postulierten Garanten des »höchsten Guts«. Mit dem Ende der Zuflucht zu metaphysischen Hinterwelten aber kommt die Last einer immanenzverwunschenen Welt zum Vorschein, die bewältigt sein will. Was die Hypothek eines innerweltlichen Szenariums und die Ausrichtung des Blicks auf irdische Maße nach dem theologischen Interpretationsruin und der Verdrängungsgeschichte der Metaphysik bedeutet, läßt sich von Bachs Orgelchoral »Alle Menschen müssen sterben« her erahnen, dessen Memento mori von einer für heutige Ohren irritierenden Musik kontrapunktiert wird: einer G-Dur-Tanzcharaktere beneidenswert heiterer Zuversicht, die trotz der himmlischen »Herrlichkeit« der »Frommen« jegliche Bigotterie des »Letzten Stündleins« und jenseitstrunkener Weltflucht, aber auch jede Todespanik im Bann eines versäumten Lebens hinter sich läßt. Anders als diesem auf Unzerstörbarkeit hin ausgerichteten decursus vitae wird einer unwiederholbar diesseitsvereidigten Existenz deren Dauer als Zufälligkeit und bloße Frist fühlbar. Frist allein schon aufgrund einer Zeitordnung, die über ihre Akkumulationsdoktrin bis in vermeintlich privateste und intimste Refugien hinein zur Taxierung nach Gewinn und Verlust anhält. Während die ökonomische Erpeßbarkeit funktionale Selbstdisziplinierung erzwingt, hält die Leistungsgesellschaft dazu an, jeden Augenblick nach dem Saldo gewinn- oder verlustträchtiger Momente zu mustern. Droht sich unter solchem Diktat auch noch das vorgeblich persönliche Wunsch- und Erfüllungsarsenal einem Sperrbezirk reglementierter Scheinvergnügen und Genußparodien anzunähern, bestenfalls der Befriedigung am erfolgreichen Wechselspiel von Investition und Ertrag, dann dringt die Ahnung vom heteronomen Leerlauf der Arbeits- und Konsumfron zumindest punktuell ins Gedächtnis. Inmitten der Geiselnahme aller durch eine naturwüchsige Ökonomie wird zu guter Letzt auch das Unterhaltungsbusineß auf sein hohles Versprechen hin durchlässig, nimmt das angestrengte Amüsement einschließlich seiner Pornoprüderie das Aussehen einer circensischen Veranstaltung an, bei der Dressur und Lust ununterscheidbar werden. So markiert das Drama einer zwischen Begehren und Verzicht ödipalisierten Kultur jene letale Spur, die sich um so nachhaltiger artikuliert, je mehr eine Welt des elektronischen Reproduktions- und Simulationszaubers die Hinfälligkeit menschlicher Existenz vor Augen führt: ihre dem Gebrechen einer schnellen somatischen Entropie ausgelieferte Vergänglichkeit. Daß auf diese Verwundbarkeit des Lebens und seine nach High-Tech-Maßstäben naturbedingte Zurückgebliebenheit die Konjunktur von Gentechnik und Reinkarnationsesoterik ebenso reagiert wie die der Körper- und Jugendlichkeitseuphorie, ist evident. In einer wirtschaftlich vergreisten Gesellschaft, die allen ohne Unterlaß die fable convenue von der »Verwertung des Werts«28 als den einzig authentischen Text des Weltgeistes souffliert, zitieren das Ideal juveniler Leichtigkeit und die Kosmetik des Makel- und Spurenlosen noch in ihrer Synthetik den flüchtigen Traum von Unsterblichkeit, signalisiert die Attitüde des Cool-Seins noch in ihrer Mimesis an die Kälte der täglichen Konkurrenzscharmützel Wehrhaftigkeit wider deren Blessuren. Kein Bereich aber erhellt das Kompensationsunternehmen gegen den verwaisten Ort der Transzendenz und den vom versehrten Leben tabuisierten des Todes mehr als die Interpretations- und Illusionsgier der medialen Liturgien. Lévi-Strauss hat einmal notiert, daß große Kompositionen die »heillos diachronische, da irreversible Zeit« der Empirie »eingeholt« und in einer synchron »geschlossenen Totalität« aufgehoben haben, »so daß wir, wenn wir Musik hören und während wir sie hören, eine Art Unsterblichkeit erlangen«29. Suspensionsinteressen verfolgt auch die Ablenkungsindustrie. Allerdings will sie die arbeitsdominierte Eintönigkeit und deren Todesgrund im monotonen Taumel des audiovisuellen horror vacui und seinen Klang- und Bilderfluten nach dem Takt freizeitdissoziierter Zeitquanten betäuben und vergessen machen. Gerade die Angst, nicht zu leben, schürt als Triebgrund der Erlebnisgesellschaft den neuen Entertainment- und Sensationsamok der alten concupiscentia oculi et auris. Damit ist die Unterhaltungsbranche Teil eines gigantischen elektronischen Netzwerks, das seinem innersten Impuls nach als eines der Zeitüberlistung fungiert. Deren Agens offenbart sich in den Blitztransfers der internationalen Finanzmärkte; im monetären Deal der Traders mit geringsten, wenngleich effektmaximalen Differenzen in der Volatilität der Kurse; in den Transaktionen, die mit Lichtgeschwindigkeit riesige Mengen Geldes um den Globus treiben, und sei es an Scheingeld, an purer Spekulationsmasse, die die Gebrauchswertfunktion des allgemeinen Äquivalents, sämtlichen anderen Waren gegenüber Träger von Tauschwert zu sein, im Bruchteil von Sekunden in der reinen Geld-Geld-Tautologie kurzschließt: in all diesen schnelligkeitstrainierten Zeittriumphen, in denen sich Computertaktik und Spielerrisiko verbünden, um die Unwägbarkeiten des weltwirtschaftlichen Tableaus zu bezwingen und dem Crash zu entgehen, manifestiert sich das Verlangen der Kontrahenten nach Zukunftsgegenwart. Nur in ihr läge die Sicherheit vor den Demütigungen des Markts. Geld, Worte, Bilder zirkulieren mit einer kinetischen Energie, die an eine Art Relativitätstheorie des hochbeschleunigten corps social denken läßt: an eine Zeitdehnungsrelation zwischen Geschwindigkeit und Verjüngung mit dem Fluchtpunkt Unsterblichkeit. Der Tauschwert des Neuesten und das Tempo seines Transfers werden zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gesellschaftlicher Ressorts, namentlich zu dem von Informations- und Finanzbörsen. Gewinn und Sensation resultieren aus der konkurrenzüberlegenen Zugriffsrasanz im Flottieren der Kurse und Ereignisse, verspannt in eine weltweite Tachokratie und deren Allianz mit dem Rüstungssektor. Nichts katastrophaler als verpaßte Nachrichten, versäumte Preisschwankungen und veraltete Erstschlagwaffen. Die Verschränkung der Zeiten auf den Daten-Highways will die Irreversibilität von Naturzeit aussetzen und überwinden. Auch wenn trotz des Beschleunigungsrausches immer noch und gerade kleinste, hocheffiziente Umschlagszäsuren die Tausch- und Gewinnzyklen in Bewegung halten und vor einer Implosion der Verwertung und damit einem Kollaps des Profits bewahren, wird wie in Wagners Parsifal die Phantasmagorie vom totalen Räumlichwerden der Zeit zum Wunschszenarium des vernetzten Planeten. Sein Traum imaginiert über die Allgegenwart der Welt das »Nunc stans« einer holistischen Gleichzeitigkeit des Raums. In dieser virtuellen Ewigkeit der Zeitkompression, in der sich temporale Frakturen vornehmlich in Computerabstürzen und Börsenkrachs bemerkbar machen, zergeht die überkommene Chronometrie. Im globalen Theater telekommunikativer Simultaneität zerfällt endgültig die theologisch-teleologisch fundierte consecutio temporum. Nach der Undurchschaubarkeit und Absurdität der Kausalketten spätestens seit Diderot und Kleist wird zunehmend die Aufhebung von Ursache und Wirkung ratifiziert. Und während die anthropomorphe Schriftmetaphorik abendländisch-christlicher Provenienz, der sich die Menschen zu Lettern im Buch des Lebens und der Historie figurierten, von der Idee eines ursprünglichen Textes, vom Archetypus der Handschrift und – ob Gott, Weltgeist oder Schicksal – von einer federführenden Instanz zeitbestimmter Geschichte ausging, wird die Frage nach originären Strukturen wie die nach der Wirklichkeit des Wirklichen in der Simulationspotenz des Internet weithin sinnlos. Gleichwohl gerinnt der zersplitterten Alltagserfahrung die temporale Synthetik zum Überall und Nirgends. Dies gilt insbesondere für das programmierte, gespeicherte und permanent reproduzierbare Arsenal der visuellen Unterhaltungselektronik, ihre Filme, Computerspiele und Live-Suggestionen gegen die Zeit und quer durch die Zeiten. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in den raumüberwindenden Zeitstaus der elektronischen Simultan- und Parallelwelten und ihrer virtuellen Szenerie kontrastiert der gelebten Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in den einzelnen Biographien. Reibung und Widerspruch zwischen technischer Kunstzeit und gesellschaftlich gebrochener Naturzeit lassen die Schwerkraft des Sozialen und seine Pression fühlbar werden. Immer wieder stürzt die simulierte Raum-Zeit in ein schwarzes Loch dramatisierter Leere, grundiert vom Hintergrundrauschen der Kommunikationsgesellschaft und ihren Aphasien. Zudem: sowie sich die audiovisuellen Halluzinationsräume, fantasy und fiction inbegriffen, in den realitätstüchtigen Sinnmustern des Abbildempirismus, seinen narrativen Schablonen und deren deterministischer Einfalt verfangen, verfängt sich auch die rezeptive Einbildungskraft der Wiederkehr des Gleichen in einem permanenten Déjà vu; mit dem Resultat, durch Versagung abermals den Flucht- und Suchtcharakter der Konsumenten anzustacheln. Schließlich entwirft auch die Bildfabrikation ihre Visualisierungen bis hin zu Cyberspace und interaktiver Multimedialität weitgehend nach den Koordinaten entfremdeter Arbeit. Am auffälligsten wohl in der zu Spots atomisierten Beliebigkeit und einer Hektik der Bildwechsel im umgekehrten Verhältnis zur extensiven Redundanz der Inhalte. Kein Wunder, daß das ungestillte Verlangen des auf Wiederholung abonnierten Sensoriums nach neuen, nicht minder uniformierten Effekten unentwegt vom désir de toucher zum délire de toucher umschlägt und befriedigt werden will: eine Einheit von Fliehen und Verfolgen als die zeitgemäße Furie des Ixion. Ihre schlechte Unendlichkeit ist es, die den Hunger nach Konkretion weckt. Seine Bindung an ein Wirklichkeitsmodell vom Genre des »Wie im richtigen Leben« und dessen gleichzeitige irreale Einfärbung erfüllt neben der massenhaften Ware der Talkshows vorzugsweise der Boom des katastrophengesättigten Reality-TV mit untrüglichem Instinkt für das Reizambiente des Voyeurismus: eine zum Thrill depravierte Gegenwartsversion des Erhabenen, die tägliche Dosis Selbstbehauptung im Gefühl, wieder einmal entronnen zu sein. Doch wie jede noch so objektive Aussage vorweg Interpretation ist, so weist jedes noch so wirklichkeitsnahe Bild allein schon aufgrund seiner selektiven Qualität retortenhafte Momente auf. So nähert sich das scheinbar realistische Abbild dem Trans- und Surrealen einer ihrerseits immer schon medial gedoubelten Instant-Realität des Realen. Der heiße Markt der elektronischen Vernetzung und seine Verteilungskämpfe bestätigen in brisanter Weise Horkheimers und Adornos Analysen zur Kulturindustrie. Nach wie vor harmonieren deren Prototypen mit dem Gesetz der Profitmaximierung, nach wie vor läßt die Effizienz der Vermarktung den herbeigeredeten Pluralismus als Farce einer befreiten Vielfalt im Regime von Macht und Geld verschwinden. Wie die Peitsche der Einschaltquoten Gleichschaltung erzwingt, so zeugt umgekehrt die Vervielfältigung der Programme von einer konkurrenzverstrickten Manie des Ununterscheidbaren. Abgesehen davon, daß sie die Masse der in bornierte Reproduktionszwänge integrierten Konsumenten nicht interessieren, richten sich die ghettoisierten Kulturkanäle weiterhin an Bildungs-, Arbeits- und Zeitprivilegierte. Daß aber »Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner [sc. des Menschen] Naturgaben, die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit [sind]«, monierte schon Kants Aufklärungsschrift«.30 Technisch gesteigert gipfelt dieser Wille zur Heteronomie in der »entarteten Form der Massenkultur« als einer der »schändlichen Wiederholung«: »wiederholt werden die Inhalte, die ideologischen Schemata, die Verkleisterung der Widersprüche, aber die oberflächlichen Formen werden variiert: ständig neue Bücher, Sendungen, Filme, verschiedene Stories, aber immer derselbe Sinn«31. Ihn haben Horkheimer und Adorno als »Gehorsam gegen die gesellschaftliche Hierarchie« bestimmt«.32 Du sollst dir ein Bildnis machen! Mit dem auf Dunsinan eingeschlossenen Macbeth, der unter dem Druck seiner Belagerer in autistischem Wahn und schließlich de facto den Kopf verliert, liefert Shakespeare ein frühes Gleichnis der Omnipotenz- und Destruktionsphantasien bürgerlicher Subjektivität. Der wenig später von Descartes' hellem »Cogito« geworfene Schatten der Vernunft entfaltet bereits im Werk des Dramatikers eine Aura des Wahnsinns, die das Sinnmonopol der Identität gleich einer fiktionalen Bastion im Dunkel der Trugbilder und fixen Ideen von Solipsismus, megalomaner Ekstase und taedium vitae zerrinnen läßt. Im Medienzeitalter werden Wahrnehmung und Erkenntnis von der audiovisuellen Kinetik einer anderen Art Dekapitation unterzogen: der der Amnesie. Sie erzeugt im Dschungel der Bilder und Informationen Apathie als Atrophie von Erfahrung. Wenn sich den Konsumenten via Fernbedienung das, was Marcuse die obszöne Gleichzeitigkeit der Widersprüche genannt hat«33, zum Cocktail aus Kriegsgreueln, Hungersnöten, Werbung und Showbusineß mixt, muß das machinal abgerichtete Leben gegen dieses Irrsinnskaleidoskop der Eindrücke zwangsläufig den Reizschutz der Empathieverweigerung aktivieren. Zudem ritualisiert der mediale Vampirismus, sofern er Bewußtsein aufsaugt, um es telegen in Regie zu nehmen, selbst schon den Habitus der Verdrängung. Das Sensationsdiktat des Nachrichtengeschäfts zeitigt eine Zeugenschaft der Bilder, deren zirkulationsrasantes Kurzzeitgedächtnis auf Dauer jede Zeugenschaft unterläuft. Infotainment bedeutet das Gegenteil einer Martyrographie der Geschichte im Eingedenken ihres katastrophischen Grundes. Ein Leitsatz der metaphysischen Tradition, die Sinnenwelt könne vor dem Denken nicht bestehen, kehrt sich um: Denken zergeht vor der Kolonisierungsgewalt der Bilder. Ähnlich verrät der Absatzboom von Kameras und Camcordern mit dem Wunsch nach einer privaten Dokumentation der werbeträchtig angepriesenen »schönen Stunden des Lebens« den Drang nach Entlastung von gelebter Erinnerung. Kann diese in der verordneten Betriebsamkeit leicht zur bedrohlichen Unbekannten werden, vereint ihre Entschärfung im photographischen Exorzismus Präsenz und Absenz zur abgelegten Verschlußsache. Entsprechend den Gedenkroutinen, den Datenbanken, Dokumentationscentern und musealen Komplexen zeigt sich hinter den Speicher-, Abruf- und Löschprozeduren technisierter Mnemonik die Anatomie einer Kultur, in der sich Memorial und Memento überlagern: als zelebrierte die Welt in der gigantischen Pantothek der Registraturen fortwährend ihre eigenen Funeralien. Dieser Präsenz- und Archivierungsfanatismus sagt etwas über den Mumifizierungskult enttraditionalisierter Gesellschaften aus, die kaum mehr auf die Zeugenschaft der Überlieferung setzen können; Gesellschaften, denen der Tod zum letzten Verwaltungsakt gerinnt. In ihrem neuen Animismus existiert nur, was als Bild existiert. Objekt bedeutet Objektiv, will sagen: gesehen durchs Objektiv. Indem der Gegenstand zum konkretistischen Bild entmächtigt wird, das noch die letzte Romanfigur ihrem reduktiven Filmdasein aussetzt, vollzieht sich die Mobilmachung des Visuellen auf Kosten ästhetischer Intuition. Als Totenmaske der Erfahrung bringt eine Ikonographie weniger Standards die Laterna magica bilderloser Imagination zum Erlöschen. Imagination wird zum Image. Gleichwohl bleibt der Bildimperialismus auch in seiner Umkehrung des Bilderverbots an dessen Theologumenon gebunden. Das trustmäßig verfügte Konkretionsgebot »Du sollst dir ein Bildnis machen!« besetzt das von der entschwundenen Transzendenz erzeugte Sinnvakuum durch die endlose Multiplikation immanenter Visual-Welten. Der Bildschirm wird zum Spiegel des medial narkotisierten Narziß, dem sich das Telepanorama zum Raum seiner Projektionen verzaubert. Zugleich steht hinter dem Motto: ein Bild sagt mehr als tausend Worte, der Wunsch nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Orientierung in einer zentrifugalen Lebenswelt. Noch die quer durch alle Kanäle expandierenden Seifenopern, die sämtliche Alltagssituationen durchkonjugieren, werden zu Prothesen einer Kybernetik des Sozialen, in der die ausgestrahlte Idolenlehre so etwas wie Verbindlichkeit als fernsehgerechtes Verhalten vermittelt: Television als Telepathie und Telekinese. In einer von Nachrichten- und Übertragungssatelliten umstellten Welt mit der Verdopplung zum Panoptikum ihrer selbst gibt das photographische Abbild und dessen dynamisierte Form der movie pictures vom Schlag gängiger Film- und Fernsehproduktionen das Maß des Verständlichen ab. Solche Konditionierung repräsentiert eine der zentralen Stationen im Trend der Aushöhlung und Negierung eines genealogischen und physiognomischen Denkens. Dessen Schwierigkeit zeigt sich schon bei Schlegel als Kontrapunkt zu Hegels Triumph des Begriffs: als die Aporie, den Grund, die Idee, den Namen nicht mehr in diskursiver Präsenz, geschweige denn affirmativ aussprechen zu können. Daß die Sprache als Garantin des Absoluten den Sieg des Allgemeinen über die Schlacken des Besonderen hinweg verbürge, weicht mit der Einsicht in die Willkür des des seiner göttlichen Referenz enthobenen, a priori partikularen Urteils dem Exodus der Philosophie in den Raum des Approximativen. Mit dem Abschied von jener Sicherheit, die Hegel unter der Garantie des absoluten Wissens an jeder Stelle der dialektischen Arbeit angekommen sein läßt, entäußert sich die Geschichte des Denkens zu einem deiktischen Umkreisen der Differenz ex negativo. Sie findet sich bereits in Hölderlins Formel vom »Seyn im einzigen Sinne des Worts«34 und läßt Adornos Struktive des »Nichtidentischen« und des »ganz Anderen« als Zeugnisse eines experimentum configurationis der Reflexion unter dem massiven Druck realer Antagonismen verstehbar werden. Wird aber die Epopöe der Welt schon im Metier des Begriffs porös, dann um so drastischer – als ihre Auflösung – im Aktions- und Zerstreuungsimperativ des Mediamix- und Online-Fiebers. Am auffälligsten in der Transformation der Sprache zur vollmundigen Sprachlosigkeit kommandohafter Slogans und einer Warenpropaganda, deren Superlativhörigkeit inflationär und mit der Brachialität klarer Verhältnisse unaufhörlich Jahrhundertromane, Megastars und Tophits oktroyiert. Meinungsgesellschaft heißt hier Unfähigkeit zum Urteil: eine Zersetzung der Kritik durch die Kontrollraster des Klischees, eine Aufkündigung der Differenzierung im Gemenge der Vorurteile und des Dafürhaltens. Daß in den Rayons der Konsumideologie alles egalitär nebeneinander rangiert, fügt sich zum Patchwork des Unterschiedslosen, zur Gleichgültigkeit des gleich Gültigen: ein Anything goes der Indifferenz als Ruin der Kunst der Unterscheidung, ihrer Wahrheits- und damit ihrer Qualitätskriterien. Wahr ist, was gefällt. Normierung und Schematisierung repräsentieren Spätformen einer Instrumentalisierung der Welt zum caput mortuum rationalistischer Autopsie- und Sektionsverfahren und ihrer Meß- und Berechenbarkeitskanons. Sie sind Male einer Sucht des Zurichtens und Überschaubarmachens. Infotechnischem Management nach soll generell alles einer oralen Gestimmtheit zufolge in leichten Bissen einzuverleiben sein. Vor allem der unverdrossen angemahnte Imperativ, jegliches Gesprochene und Geschriebene müsse gefälligst beim ersten Mal aufzufassen sein, zeigt Symptome der autoritär geköderten Abwehr eines Denkens, das den Pulk der Gemeinplätze mit verbotener Rede brüskiert. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis bestallte Popularisierungskomitees zur Durchsetzung einer mit lizenzierter Nutzbarbarkeit gepaarten Verständlichkeitsdoktrin Hegels Logik oder Beethovens Hammerklaviersonate einem Textlifting unterziehen, bevor sie endgültig dem Desinteresse und der Belanglosigkeit zufallen. Der Versicherungsgesellschaft gilt der Ausschluß unberechenbarer Imagination und einer riskanten nouveauté des Unvorhersehbaren als eines ihrer obersten Ziele. Die Kunst des Impromptus verschwindet im observierenden Blick des Geklonten, indes die über Gebühr vergötzte und herablassende Simplifizierungsorder unter Berufung auf pragmatische Gründe eine Revue der Oberflächenreize, ein Potpourri der Desinformation konserviert. Medientechnisch ist ihr Prinzip der Segmentierung und des Anekdotischen bereits im Programmschema der Sender angelegt: als dem Output von Trivialisierungsmaschinerien. Je handlicher und eingängiger die einzelnen Beiträge, desto elastischer und tauglicher sind sie. Selbst in den sogenannten E-Musik-Ressorts wirken die weiten oder ins Offene entgrenzten Dimensionen etwa von Feldmans For Philip Guston , von Cages Winter Music oder der großen indischen Raga-Tradition wie undomestizierbare Zeit-Emanationen gegen das kleinformatige Design eines hörerfreundlichen Parzellenwesens. Gegen die »mémoire involontaire« einer herrschaftskritischen Phantasie der Irritation und Transgression und gegen die Muße meditativer Suspension wird das Gebot, nicht zu langweilen, zum obersten Imperativ. Der Verstoß dagegen zur kommerziellen Todsünde. Dominant bleibt der hastige Wechsel kurzgeschnittener impressions zur Wiedererkennung des Bekannten. So konditioniert der telematische Beliebigkeitsrapport für ein erfolgreiches Lebensstyling und jene geschmeidige Anpassung in Worten und Werken, der Gesinnung zur Ware der Opportunität verkommt. Die Wut des Verstehens als eine des Nicht-verstehen-Wollens nähert sich der Haltung der »Anti-Intrazeption«, einer »Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Sensiblen«, letztlich des Eros selbst.«35 Ähnlich verhält es sich mit der Abkehr vom Aufklärungspotential der Psychoanalyse. Auch wenn die Aversion gegen introspektive Expeditionen und Geständniszwänge nachzuvollziehen ist: anstatt sich den psychischen Strangulationen zu stellen, wird blockiert, was die Sonde der Reflexion tiefer in die Triebschächte des Bewußtseins gleiten lassen könnte, als der gängige psychologische Positivismus erlaubt. Analog einer Produzenten- und Konsumentenhektik, die das Bruchstückhafte und die Panik ihrer Aktivitäten in der gottverlassenen ökonomischen Diaspora ahnt, zwingen vornehmlich die Didaktikfanatiker der scientific community als Handlanger einer alles durchdringenden Bürokratisierung den Gedanken zur Prostitution von Billigwaren im Discount der Paradigmen. Mit dem vielleicht raffiniertesten, weil am besten getarnten Anspruch des Seriösen wird Denken zum Engineering von Wissen präpariert.«36 Während Hegels begriffsimmanente Idee der Vermittlung noch mit Dynamik, mit »Werden«, »Bewegung«, »Tätigkeit«, »Lebendigkeit«, »Weg« und »Reflexion« konnotiert war, harmoniert deren Veräußerlichung zum Taylorismus des Verschulungseifers mit den headlinegestutzten Info-Quickies des Nachrichtengeschäfts und der Expansion des Visuellen über dessen raison d'être hinaus: seine Restriktionstechniken gegen die Erfahrungsintention des Gedankens korrelieren dem mortifizierenden Blick der Photokratie. »Aus dem Buchstaben, nicht aus dem Geist« lautet die heimliche Devise dieses gleich detailnegierenden wie -fetischistischen Wissensrecyclings nach dem Ideal des Piktogramms. Liegt aber in der Linearität der Schrift der Zwang des kausalen Procedere, so verpuppt sich im Jetzt des Bildes die Eliminierung des Diskursiven. Während ökonomisch alles seinen Preis hat, soll der Geist partout umsonst sein. Hier zeigt sich das Phänomen eines intellektuellen Geizes, der mit der Emotionslosigkeit wissenschaftlicher Objektivität lediglich der grassierenden Empathieunfähigkeit nach dem Mund redet; einer Verwaltungsmentalität, die das Potential von Widerstand und Veränderung als private Abfuhr kaserniert, um das vorhandene Machtgefüge um so reibungsloser zu stabilisieren. Doch nur weil die Emotionen im täglich geforderten Heroismus des Hartseins allzuleicht auf ihren aggressiven Grund hin durchschlagen, kann der Habitus des Gefügigen und Moderaten glorifiziert werden. Während die Kapitalisierung von Zeit und Leben ein unerbittliches Ritual von Verstoß und Strafe freisetzt – Vergehen gegen die Arbeits- und Leistungsökonomie müssen mit existentiellen Beeinträchtigungen bis hin zum Ruin der Existenz bezahlt werden – graviert die Mnemotechnik der Verwertung ihren Agenten das Tabu der Übertretung ein. Als Gesetz der Bilanzierung von Soll und Haben schreibt die Wettbewerbsgesellschaft den archaischen Rachemythos von Frevel und Vergeltung als monetäre Logik fort. Deren Abrechnungsdespotie nach dem moralisch drapierten Kodex von Schuld und Schulden, Buße und Einbußen, Solvenz und Absolution liefert den funktionalen Kitt in der Ananke des wirtschaftlichen Systems. Galt Fichte, Hegel oder Humboldt der Kontrapart des Anderen als ichkonstitutiv, bedeutet es schon für Rilkes Malte das »größeste Entsetzen, erwidert worden zu sein«37. Die Einbindung in »verabredete Grenzen«38 wird ihm zur Unterwerfung unter eine Zwangsgemeinschaft, in der Sprache zur Überredungsrhetorik des Man und Liebe zum taktischen Profil von Partnern wird. Deshalb durchschlug die Kunst der Moderne in zahlreichen Varianten der Subjektparalyse das linear-epische Zeitkontinuum, seine finale Ökonomie und deren mnemonische Synthesis als Instanzen einer Buchung von Einsatz und Gewinn, die sich bis in die Ästhetik des Erzählens hinein am Leben halten. Im Aufstand anarchischer Zeitrisse und blasphemischer Schocks gegen die Homogenität der temporalen Ordnung und deren Sinn- und Moralsedimente wollte zumal die Avantgarde die totalitären und blinden Züge bürgerlicher Demokratie und ihre wachstumsverblendete Diachronie des Fortschritts demaskieren: die Akkumulationsgier hinter der pharisäischen Larve vom Ethos der Askese, das Katastrophische im irrational durchwachsenen Atheismus des Kapitals mit seinen zu ideologischem Moder verkommenen religiösen Versatzstücken; allen voran die Heiligsprechung der Erwerbsarbeit und ihrer Rechtfertigungsexerzitien für Sinn und Leben. Gegen den Kommerz der Sprache stand die Absage an den Umlauf inflationärer Wortmünzen. Nach dem Motto von Artauds »briser le langage pour toucher la vie«39 galt es, die Sprachmaschine mit ihren syntaktischen Sperrbügeln, ihren semantisch verbrämten Leerläufen und logischen Blockaden samt ihrem identifikatorischen Getriebe zu sprengen. Um den Preis, daß die poetische Sprache vom gängigen Sprachcode her immer hermetischer und verrückter wurde. So antwortet der »Ekel am Kommunikativen«, von dem Adorno in der Tradition moderner Ästhetik spricht, einem Realitätsprinzip, das die Legierung von Pragmatik und Sprache nach Maßgabe des Kalküls und einer pseudosinnlichen Entsinnlichung vorantreibt, hin zu einer Sprache, der zufolge jedes Wort seinen Nutzen abzuwerfen hat. Hölderlins Xenion: »Wißt! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber geworden, Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Faktum erzählt«40, markiert früh den Beginn dieser Entwicklung, in der wenig später Grabbes Faust der hoffnungsträchtigen Sentenz der Friedensfeier: »seit ein Gespräch wir sind«, im imaginären Dialog entgegnen kann: »So wär die ganze Menschheit nur Geschwätz!«41. Heute eskaliert der Fetischismus der Fakten in der Herrschaft des Bildes, mit gravierenden Auswirkungen auf die Sprache. Deren Anpassung an die Logistik der Organisation und des Advertising signalisiert im Zug ständig erhöhter Zugriffsgeschwindigkeiten die Übermacht des Greifens im Begreifen. Die taktile Beschränkung auf das Faß- und Handhabbare, die Manipulationen eines alles durchdringenden Reklamejargons, der kognitive coup de main als putschistischer Handstreich zeitoptimierten Know-hows zugunsten der griffigen Formel schärfen mit dem Ende des polysemantischen Wechselspiels von Ausdruck und Bedeutung das Wort zum Definitionsprojektil mit möglichst eindeutiger Trefferquote, frei von transzendierendem Ballast. Auffällig wird die haptische Dominanz des 'Kontrollinstruments der Information'42 in den Beschwärungsformeln des »Eigentlichen«, »Wirklichen«, »Echten«, in denen sich Sprachlosigkeit und Konkretionsbedürfnis legieren. Die »Abschleifung der Sprache zu einem verkehrstechnischen Instrument«, das »dem Wort die Zeit versagt«, und ihre »Instrumentalisierung« zu einem 'Rüstungsmittel'43; die »operationelle Rationalität« einer »radikal antihistorischen Sprache«, die, extrem in ihrer Abkürzungssucht, »begriffliche Entfaltung blockiert«, Erinnerung auslöscht und der »Unterdrückung von Geschichte« zuarbeitet44: solche massenkommunikativ transportierten »idola fori« sind es, die der Not der Zeit ihren Namen verweigern. Hegel bleibt aktuell auch darin, daß sich das Konkrete, erst recht in Form des modernen pathologischen Konkretismus, zum Abstrakten verkehrt, letztlich zur Abstraktion eines Verstandes, der sich in seiner technischen Idolatrie selbst gefangennimmt. Daß derzeit etwa von einer fundierten Ökonomiekritik nichts zu spüren ist, ist beängstigend; als hätte die Kontamination zwischen dem Zusammenbruch der östlichen Systeme und der von Marx initiierten Kapitalismusanalyse die oppositionelle Stringenz noch in den letzten Köpfen paralysiert. Auf seiten der Schrift offenbart der instrumentelle Konkretismus ein Doppeltes. Zum einen seine Willfährigkeit gegenüber einer »rituell-autoritären« Öffentlichkeit, die Tatsachen einsetzt aufgrund der Macht meinungsbildender Kartelle«45, indes ihre Stereotypen sich mit einem »weithin manipulierbaren Bewußtsein« kurzschließen46; zum anderen seine Zurückgebliebenheit hinter den Ressourcen einer Emanzipation der Mittel. Die Konventionsraster linearer Textformation, die auf die gesellschaftliche Eindimensionalität des Profitablen und dessen Progressionsdrang verweisen, bleiben mit ihrer theologisch-teleologischen Sinnmatrix hinter einer Welt zurück, die eben diese Matrix außer Kraft setzt: neuerdings zugunsten einer Auflösung der Kontinuität von Tradition und Geschichte in den Mischungs- und Klitterungseskapaden des computer imaging und einer Kombinations- und Vernetzungsschwemme von allem mit allem. Daß auf die Herausforderung des medialen Historismus bis auf wenige Ausnahmen selbst literarisch kein Umbruch der hochbetagten Text- und Signifikanzarmaturen reagiert hat, ist grotesk; ein Umbruch, der neben dem behauptungs- und begründungsdistinkten Diskurs, seiner diachronen Kausalität, seinen Vermittlungshierarchien und seiner Visualisierung im Schema des Blocksatzes endlich auch dessen graphische Überschreitung einließe. Mallarmés Coup de dés muß keineswegs Literatur bleiben. Die Entbindung variabler Typographien jenseits der Abgeschlossenheit eines Textkörpers, der Blick und Schrift im Gitter der Lineatur gefangenhält, bliebe aber als Mimesis an das, was dem Begriffsnetz der Sprache entgleitet, und gegen die gesellschaftlich praktizierte Heilslehre des Machbaren um jeden Preis dem Organon des Denkens und seiner Grammatik nicht äußerlich: als eine Subversion der technokratischen Rede. Ihr Reduktionismus resultiert nicht zuletzt aus der Abwesenheit jener weißen oder devianten Stellen, deren semantische Wirbel und Frakturen den Parcours der herkömmlichen skripturalen Ökonomie und ihrer Reflexionsmuster über die Topologie der »Evokation«, der »Andeutung« und »Anspielung«47 hinaus durchqueren und auf eine revolutionäre Polysemie hin transmutieren könnten. Weit entfernt von einer außer Kontrolle geratenen Assoziationsrhapsodie, der eingefahrenen Textur vielmehr an Präzision überlegen: als ein Sensorium der Kritik ohne das Überläufertum zu einer Willkür, der gerade die strenge Linearität souverän opponiert, und als eine Unterminierung jener gerundeten Schriftpraxis, die in einer Welt des Perspektivismus und der Relationen seltsam stabil bleibt und nur aus der Verinnerlichung kommerzieller, bürokratischer und autoritärer Konstanten erklärt werden kann: mit dem Zeilenprogreß als Zeremonienmeister des Gedankens, seiner in der Linie befangenen diachronen Mnemonik und dem Zwang einer syntaktisch geschlossenen Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien.48 Zu Recht konstatiert Roland Barthes: »'Changer la langue', mot mallarméen, est concomitant de 'Changer le monde', mot marxien«49. Es ist nur eine Facette dieses Sachverhalts, wenn das Gros zeitgenössischer Dichtung biedermeierliche Züge des Narrativen kultiviert. Längst haben das Monopol des Photographischen und die Story-Dramaturgie des Kinos weite Teile einer vermeintlichen Gegenwartsliteratur im Griff. Der Film zum Buch, das Buch zum Film konvergieren marktkonform. Während der Niederschlag der Wertabstraktion als Auszehrung des Besonderen die Warenstruktur der Sprache intensiviert, paktiert der narrative Gestus mit der merkantilen Algebra der Aktiva und Passiva: allein schon über den handlungsimmanenten Investitions- und Renditefonds seiner wie immer gebrochenen Geschichten. Noch gegen sein »J'accuse« transportiert der episch ausgelaugte Linearitätskanon der Literatur und des Films samt seinem Abbildcharakter Erfahrungsmodelle aus einer Zeit, als der Bürger sich noch als Souverän und im Besitz eines possessiven Identitätskontos fühlen konnte. Bis in die Syntax, die Erzählzeit und die Szenenwechsel, bis in die Kameraführung, den Schnitt und die Frequenz der Takes hinein organisieren trivialisierte Subjekt- und Weltlegenden das kollektive Bündnis mit dem, was der Fall ist, mag das Erzählte noch so verfremdet sein. Damit verringert sich der Unterschied der seriösen zur Trivialliteratur auf ein Minimum. Anstatt – wie Tendenzen der musikalischen Avantgarde – mit dem Dereglement der enkratischen Sprache ernst zu machen50, nimmt die Verdopplungs- und Dokumentierliteratur nicht nur hierzulande unter unermüdlicher Berufung auf den Signifikanzprimat des Worts das Mandat des utilitaristischen Realitätsprinzips wahr: im deskriptiven Erlebnisdiskurs als dem Generator seiner eigenen Sinnspur ebenso wie im akkumulativen Ich eines syntaxgläubig urteilenden Erzählers von Subjekts Gnaden – als hätte es Joyce und Breton nie gegeben. Vorbei die Zeit, als Flaubert von einem »Buch über nichts« träumte; einem »Buch ohne äußere Bindung, das sich selbst durch die innere Kraft seines Stils trägt«; einem »Buch, das fast kein Sujet hätte, oder bei dem das Sujet zumindest fast unsichtbar wäre«; von einer »Form«, die »alle Liturgie, alle Regel, alles Maß auf[gibt]«, die »das Epische zugunsten des Romans [verläßt]« und, mit der »Befreiung vom Stofflichen«, »keine Orthodoxie mehr an[erkennt]«51. So konsterniert heute das Paradox, ein Regime hochdifferenzierter technischer Produktivkräfte und deren Expansions- wie Liquidationsfuror von einer Provinzialität des literarischen Markts begleitet zu sehen: eine Legierung von Statik und Dynamik, die zu anderen Zeiten einmal den Bodensatz totalitärer Systeme abgab. Am Ende der eschatologischen Vertröstung Nachdem zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Goethe bis Eichendorff die Vokabel von der Europamüdigkeit die Runde gemacht hatte, bei Nietzsche dann von einer Müdigkeit am Menschen, bei Hofmannsthal schließlich von einer am Wort und am Urteil die Rede war, grassiert in den heutigen Industriegesellschaften eine am offiziell Politischen. Dies irritiert und ist begreiflich zugleich in einem unter der weltweiten Wettbewerbsknute auf Kapitalinteressen hin ausgerichteten Systemkonnex mit seinen oft genug zu Handlangerdiensten degradierten parlamentarischen Lobbyisten, einer von adäquater Gewinnbeteiligung ausgeschlossenen Lohnarbeit und einem Sozialetat auf Widerruf zu Lasten unrentabler Sozialparias, deren Entsorgung klammheimlich die Phantasien so mancher Gehirne in Politik und Wirtschaft heimsuchen dürfte. Zu sehr dominiert in den Entscheidungs- und Schlüsselbereichen mit Wirkung auf die unteren Ebenen eine bürokratisierte Saturiertheit, deren Funktionärswesen im Handeln wider besseres Wissen eine Allianz aus Apathie und Betriebsamkeit in Gang hält. Sie deklariert das, wofür gemeinhin kritisches Denken, Opposition, Zivilcourage stehen, zu taktischen Mißgeschicken im Management des Erfolgs. Mit dem Resultat, daß sich die restaurativen Manöver mit ihrer Sucht nach Karriere und privater Vorteilsnahme im männerbündischen Utilitarismus von Cliquenwirtschaft und Fraktionszwängen ebenso etablieren wie im Fundamentalismus der Einverständnishysterie mit ihrem Lieferantentum von Ausreden. Fusioniert mit der Ideologie des Geredes vom Ende der Ideologien und dirigiert vom medialen Über-Ich und seinen Amnesie- und Entdifferenzierungsgeboten hält in den kapitalistischen Formaldemokratien zudem die Verinnerlichung gesellschaftlicher Zwänge über die libidinöse Besetzung von Machtsphären einschließlich noch der des Starkults den Triebmechanismus von Aggression und Destruktion quer durch alle Instanzen am Leben. Zwar hat sich der autoritäre Typus hinter der Maske des Liberalen zu einer Spielart des zynischen gewandelt; seine Psychodynamik von eigener Unterordnung und einer Unterwerfung von anderen bis in die binären Denkschaltungen des Entweder/Oder, des Ja/Nein, des In/Out hinein kommt jedoch wie stets den institutionellen Hierarchien in vorlaufendem Gehorsam entgegen. Dies zeigt die Anamnese der neokonservativen Gegenwart mit ihren vereinten Mitten noch über deren Kaste hinaus nur zu deutlich. Die lautlos über ein Netz von Tabus gesicherten Abwehrstrategien gegen Regelverstöße, die sich wider die Gerontokratie des Bestehenden richten könnten, lassen weiterhin Macht als Macht funktionieren, indes noetisch verfestigte Verwaltungsrigiditäten der Reproduktion der »Authoritarian Personality« zuarbeiten. »Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts«52. Was Marx im Rahmen der Warenanalyse als einen der Nervenpunkte von Verdinglichung ausmacht, erfaßt ungebrochen den Grund, der die Wertobsession des Kapitals, die Verfügungsregie der Bürokratie, die Stereotypie der Medienindustrie und die Normenhörigkeit des autoritätsgebundenen Charakters über die Exhaustion des Besonderen konvergieren läßt: in der generellen Profitfungibilität der Ware ebenso wie im administrativen Primat des Regelfalls, in der Auswechselbarkeit und Neutralisierung des Inhalts kulturindustrieller Typisierung nicht weniger wie in der Differenzierungssperre einer potentiell totalitären Konformität. Daß mit der Verkümmerung des einzelnen, der sich in arbeitsteiliger Mobilität »verzehrt«, »allmählich das einzelne konkrete Leben vertilgt« wird, »damit das Abstrakt des Ganzen sein dürftiges Dasein friste«; daß sich in dieser Einförmigkeit »der Mensch selbst nur als Bruchstück aus[bildet]«, »ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt«, ein bloßer Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft», diagnostizierte Schiller am Ende des 18. Jahrhunderts.53 Mittlerweile hat sich diese Zersplitterung zu einer handfesten Polyphrenie entwickelt, die die suggerierte duale Spaltung des gängigen Schizophreniebegriffs harmlos erscheinen läßt. Normal wird der je eigene Wahn widersprüchlichster Rationalisierungen, sofern dieser nur auf allgemeine Fügsamkeit eingeschworen bleibt. Unter dem Druck der Verhältnisse werden alle zu multiplen Agenten, gerade weil die Idee der Differenz zu dem, was ist, das Parieren im Puritanismus agonaler Geschäftigkeit bedroht und tunlichst entschärft werden muß. Im engmaschigen Delegationsnetz einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft samt ihrem gegängelten Konsumsektor und einer reglementierten Scheinöffentlichkeit unter Ausschluß der Mehrheit von wesentlichen Entscheidungen zerrinnt das Leben zwischen Beliebigkeit und Bevormundung. Nur ist der Hang zur Delegation, bei Kant hieß das: der »Unmündigkeit« gegen den couragierten Entschluß des »Sapere aude!«, im Labyrinth äußerster Spezialisierung mittlerweile zu einer Notwendigkeit des Überlebens geworden. Dennoch helfen angesichts des Kaspar-Hausertums einer Gesellschaft, die sich über ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft und damit über ihre Gegenwart zunehmend im unklaren bleibt, weder moralisierende Besserwisserei noch fatalistische Endzeitstimmung weiter. Jedes Katastrophendiktum wird zum dogmatischen Salto mortale. Es geht nicht darum, der Videologie und dem Videotentum der Fernseh-Ära elitär-naiv Einkehr zu predigen, sondern darum, den Status quo ohne Defätismus und Utopismus am eigenen Mißverhältnis zwischen Realität und Potentialität zu messen. Welch emanzipatorische Prothetik die elektronische Armatur eröffnen könnte, entkäme sie dem heillosen Zirkel von Vermarktungsgier und einem konzernmäßig lancierten Terror des Massengeschmacks, liegt auf der Hand. Selbst ein noch so marginales Beispiel wie das der CD-Rom-Technik, die beim Hören etwa einer Beethoven-Symphonie das Herausheben einzelner Instrumentengruppen erlaubt, verdeutlicht das. Obwohl dieses Röntgenverfahren für Musikinteressierte, die keine Partituren lesen können, eine wichtige Rolle bei der strukturalen Auffassung des Komponierten spielen dürfte, existieren qualitätvolle Aufnahmen dieser Art so gut wie nicht. Absurd wäre es auch, wollte man das Phänomen einer informationsbedingten Sensibilisierung für Menschenrechts- und Umweltfragen in Abrede stellen, wenigstens in Regionen, die sich den Luxus von Ethos und Liberalität leisten können: in Zukunft dürften es rassistische Exzesse und ökologische Delikte zumindest ihrer Akzeptanz nach schwerer haben. All das kann nicht als pures Humanitätsmarketing abgetan werden. Und daß es den bis in die soziale und psychische Mikrophysik hineinreichenden teletechnischen Codes gelingt, ein Heer von lemurenhaft angepaßten Arbeits- und Konsumidioten zur bloßen Schnittstelle der Ware Öffentlichkeit zu instrumentalisieren, bleibt eher unwahrscheinlich. Ein Blick auf die verhärmten Gesichter vor gut sortierten Warenbergen und ihre von pausenlosen Nebenbei-Musiken angetönte Einsamkeit genügt. Manches spricht dafür, daß die kulturindustrielle Warendynamik noch in ihren entstellten Animationen einer Ebnung des ökonomischen Gefälles zuarbeitet: als die nicht mehr zu tilgende Ahnung einer global befreiten Fülle ohne den bisherigen Blutzoll von Armut und Verelendung. Trotz ihrer monolithischen Züge bleibt in den Konsum- und Freizeitressorts ein untergründiges Unbehagen zumal der unterprivilegierten Schichten dem asketischen Aufschub und der gleichmacherischen Verlogenheit politischer Bescheidenheits- und Verzichtsappelle gegenüber spürbar. Zugegeben eine privatistisch gepanzerte und nicht selten von Xenophobie und Ausgrenzungsparanoia verhärtete Resistenz, die angesichts eines vom ökonomischen Würgegriff deformierten Lebens aber kaum verwundert. Führt ein Weg von der »Visio Dei« des Nicolaus Cusanus über Nietzsches »grosses Auge« zum verinnerlichten Tele-Blick, dann zugleich einer zum Ende jener Transzendenz im Zeichen des Sündenfalls und einer infiniten Perfektibilität, die häufig genug einer Entwertung gesellschaftlicher und politischer Belange Vorschub leistete; ein Weg zum Ende der Differenz unter dem Bann jenseitiger Schuld und eines diesseitigen Verrats am Hier und Jetzt: gegen die Geduld des Wartens und ihre eschatologische Vertröstung, gegen das quantitative Fortschrittskalendarium der Aufklärung und gegen die Unerreichbarkeit sollensbedingter Approximationsfiguren – und sei es um den Preis von Nietzsches »letztem Menschen«. Das Problem der Rechtfertigung der Welt, woran der Philosoph der Geburt der Tragödie laborierte, verflüchtigt sich zum Phantomschmerz des letzten Metaphysikers vor dem unwiderruflichen Einzug der Transzendenz in die Immanenz und der mundanen Fixierung des Blicks. Adornos These zu möglichen Erosionstendenzen der geschlossenen Gesellschaft wäre demnach auch in ihrer zweiten Perspektive ernst zu nehmen. »Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren sie [sc. die Menschen] die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, daß damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert. [...] Die totale Vergesellschaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne daß bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.«54 Vorerst jedoch ist »dem immensen Beachtungsdefizit in Massengesellschaften durch Freigabe des Exhibitionismus für alle gesteuert«; »der Unfähigkeit, mit sich selbst und mit anderen etwas Rechtes anfangen zu können, durch die schlagartigen Erwartungserfüllungen aller Art, die durch Stimulationen, Effekte und so rasch wieder erlöschende wie aufblitzende Reize« gespeist werden, »nur nicht durch das, was langen Atem und Versenkung in die Sache braucht«; schließlich »dem Hunger der Dekonzentration durch unaufhörliche Dosen von Parole, Reizwort, abstract und Information.«55 Während die Kulturindustrie die alten Kampfcodes von Selbstbehauptung qua Ausgrenzung, von Sichfügen und Beherrschen konserviert, wird bislang nur in der Kunst der Moderne und derjenigen mancher außereuropäischer Kulturkreise – an den dezentrierten Entgrenzungen Mallarmés, Cages oder an japanischer Shakuhachi-Musik – erfahrbar, was dem gesellschaftskonformen Unterhaltungsdelirium am meisten verhaßt ist: Delinearisierung und Dehierarchisierung ohne Regression. Eine der faszinierendsten Stellen abendländischen Komponierens findet sich im E-Dur-Terzettino von Mozarts Così fan tutte. Um im Horizont des »desir« die Projektionen von Sehnsucht und Begehren zum Unbekannten und Abgründigen zu verrätseln, öffnet die Musik im Trugschluß eines wechseldominantisch verminderten Akkords das tonale Terrain plötzlich aufs Bodenlose hin. Obsessiv wiederholt steht dieser präzise Traumklang, der das Wort auf eine unendliche Reise schickt, in seiner Entrückung und seiner bedrohlichen Schwebe zwischen Erfüllung und Versagung wie eine chimärische Chiffre gegen das organisierte Glück und die gestanzten Träume des digitalen Zeitalters. Er innerviert über die private Wunschlandschaft des Belcanto-Zaubers und seine in Natur gespiegelte Meteorologie der Seele hinaus die Frage, ob die Kraft des Eros den Todessog einer Zivilisation des destruktiven Anankasmus doch noch eindämmen könne. Bis dahin aber, das heißt solange nicht ausgemacht ist, daß die Hoffnung auf ein Ende der Surplusökonomie und ihrer schamlosen Kluft zwischen Arm und Reich mit Inkonsequenz gleichzusetzen sei, gilt wohl: »wer immer in einer Wüste Sahara lebt, der kann ohne Fata Morgana [...] gar nicht existieren«56. Johannes Bauer 13. Dez. 2018 Sociologica Johannes Bauer 26. Nov. 2018 Stadtprosa Nachweise und Anmerkungen 1 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 6, S. 258. 2 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 205. 3 Ebd. 4 Nietzsche, Ecce homo, S. 259. 5 Vgl. Francesco Petrarca, Brief an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro, in: ders., Dichtung und Prosa, Hg. Horst Heintze, Berlin 1968, S. 251ff. 6 Jean Paul, Titan, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. von Norbert Miller, München 1975, Bd. 6, S. 966, 1007. 7 Joseph von Eichendorff, Viel Lärmen um nichts, in: ders., Sämtliche Erzählungen, München 1991, S. 152. 8 Adalbert Stifter, Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des St. Stephansturmes, in: ders., Die Mappe meines Urgroßvaters, München 1986, S. 281ff. 9 Blaise Pascal, Pensées, Hg. Jacques Chevalier, Paris 1954, S. 1113. 10 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in: ders., Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Bd. 3, S. 9. 11 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, KSA 1, S. 875. 12 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887-1889, KSA 13, S. 540, 543. 13 Nikolaus von Kues, De visione Dei, in: Geschichte der Philosophie, Bd. 2 (Mittelalter), Hg, Kurt Flasch, Stuttgart 1982 , S. 506. 14 a. a. O., S. 509. Vgl. auch Nikolaus von Kues, De quaerendo Deum, in: ders., Philosophisch-theologische Schriften, Wien 1982, Bd. 2, S. 571, 583. 15 Nikolaus von Kues, De visione Dei, S. 514. 16 a. a. O., S. 510. 17 a. a. O., S. 522. 18 a. a. O., S. 529. 19 a. a. O., S. 510. 20 So Marshall McLuhans eigene Variante. 21 Nikolaus von Kues, a. a. O., S. 521f. 22 a. a. O., S. 512. 23 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 331. 24 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 350. 25 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 239. 26 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 198. 27 Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, KSA 6, S. 390f. 28 Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 618. 29 Claude Lévi-Strauss, Mythologica 1, Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt/M. 1976, S. 31. 30 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: ders., Werke in zwölf Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 11, S. 54. 31 Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/M. 1982, S. 63. 32 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969, S. 139. 33 Vgl. Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt/M. 1969, S. 21ff. 34 Friedrich Hölderlin, Hyperion, in: ders., Sämtliche Werke, Hg. Friedrich Beißner, Frankfurt/M.-Wien-Zürich 1965, S. 717. 35 Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973, S. 82. 36 Vgl. dazu Christoph Türcke, Vermittlung als Gott. Kritik des Didaktik-Kults, Lüneburg 1994. 37 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 1982, S. 198. 38 a. a. O., S. 83. 39 Antonin Artaud, Le Théatre et son Double, Paris 1966, S. 12. 40 Hölderlin, Sämtliche Werke, S. 177. 41 Hölderlin, Friedensfeier, in: ders., Sämtliche Werke, S. 346; Christian Dietrich Grabbe, Don Juan und Faust, Stuttgart 1963, S. 42. 42 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied u. Berlin 1967, S. 122. 43 Martin Heidegger, Hölderlins Hymne »Andenken«, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 52, Frankfurt/M. 1982, S. 10f., 34f. 44 Marcuse, a. a. O., S. 116f. 45 Ebd. 46 Adorno, Stichworte, in: ders., GS 10.2, Frankfurt a. M. 1977, S. 711. 47 Stéphane Mallarmé, Verskrise, in: ders., Sämtliche Dichtungen, München 1992, S. 284. 48 Vgl. zum Problem der Linearisierung den ersten Teil von Jacques Derridas Grammatologie, Frankfurt/M. 1983, insb. S. 144ff. 49 Barthes, Leçon, Frankfurt/M. 1980, S. 34. 50 Vgl. Barthes, Die Lust am Text, S. 62. 51 Gustave Flaubert, Briefe, hg. von Helmut Scheffel, Zürich 1977, S. 181. 52 Marx, a. a. O., S. 70. 53 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Sämtliche Werke in fünf Bänden, München 1980, Bd. 5, S. 584f. 54 Adorno, Negative Dialektik, in: ders., GS 6, Frankfurt/M. 1973, S. 339f. 55 Hermann Schweppenhäuser, Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, S. 93. 56 Theodor Fontane, Die Poggenpuhls, Stuttgart 1969, S. 30.
- Johannes Bauer, Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik
Das Schweigen der Sirenen © Johannes Bauer, Logbuch ohne Kurs (2013), 29,8 x 29,1 cm, Acryl auf Papier Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik [Vortrag, gehalten auf dem Frankfurter Adorno-Kongress 2003. Erschienen in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33), S. 303-324.] Meine Ausführungen verstehen sich als offene Textur. Offene Textur soll heißen, manche Argumentationsfäden zu knüpfen, um sie wieder aufzulösen. Freilich soll die Offenheit nicht so weit gehen, dass am Ende Fontanes Stechlin resümieren könnte: „wenn ich das Gegenteil gesagt hätte, wäre es ebenso richtig“(1). Zudem bin ich mir der Problematik bewusst, den Pluralismus zeitgenössischen Komponierens unter das Abstraktum „Neue Musik“ zu subsumieren. Steht deshalb in meinen Erörterungen das Spätwerk Morton Feldmans für ein Opus magnum gegenwärtiger Musik, dann keineswegs mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit. Beginnen wir nach diesen web- und begriffstechnischen Anmerkungen nun mit der Gedankenarbeit selbst. Hölderlins Bestürzung über das „Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und Systeme“, deren Wechsel „fast tragischer“ sei als die ,wirklichen Schicksale’, dokumentiert einen Abschied vom Absoluten.(2) Und das zu einer Zeit, als Hegel daranging, den Gott der Theologen in der "Großen Logik" zu beerben. Ist doch die Logik als „Reich des reinen Gedankens“ die „Wahrheit [...] ohne Hülle an und für sich selbst“, ja die „Darstellung Gottes [...] in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes“.(3) Ähnlich spricht auch Goethe von einem Gott vor der Erschaffung der Welt, nun aber nicht vom Reich der Idee, sondern von dem der Musik her: Es sei ihm beim Hören einiger Kompositionen Johann Sebastian Bachs gewesen, „als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben“.(4) – Warum dieser Beginn in einem Vortrag über Adorno? Abgesehen davon, dass Goethe, Hegel und Hölderlin als drei der Heroen aus der Zeit des „paradoxen Einstands von Absolutismus und Liberalität“(5) für Adorno selbst eine gewichtige Rolle spielen, lassen sich mit ihnen die Grundgedanken meines Vortrags exponieren. Mit Hölderlin das Motiv vom Zeitkern jeder Theorie; mit Hegel das Motiv von der Deutungsmacht der Philosophie; mit Goethe schließlich das Motiv von der Autonomie der Kunst. Wie weit trägt heute noch eine Philosophie der Neuen Musik, die am Subjekt, an Durchgestaltung und Stimmigkeit, am „Ausdruck des Entsetzens“ festhält? Zumal in einer Welt der schnelligkeitstrainierten Funktions- und Wahrnehmungsmuster, der Übermacht von short-term memory und elektronischer Zeitüberlistung, der multiplen und gleitenden Oberflächenidentitäten? Steht Adorno mittlerweile nicht für das Denkmal einer normativen, gleichsam ex cathedra verfassten Ästhetik? Allzu gefangen in ihren dogmatischen Fallen, um jener Vielfalt zeitgenössischer Musik gerecht zu werden, der kein Weltgeist mehr souffliert, wie zu komponieren sei? Auch wenn es in der Nachfolge Adornos lange üblich war, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat: mindestens ebenso lange wurde Adornos Rigorosität kritisiert, die vieles aus dem Ensemble legitimer kompositorischer Ausdrucksformen des letzten halben Jahrhunderts ausgeschlossen habe. Ein Ausschluss um den Preis allerdings, dass die künstlerische Praxis unbekümmert um ästhetische Gebote ihren Weg ging. Denn nicht jeder, der außerhalb der „Dissonanzpflicht“ gegen „Konsonanztabus“ verstoße, muss darum bereits ein „Mitläufer der falschen Totalität“ sein. Vom „Verhängnis der Welt“ könne man schließlich „auf sehr verschiedene Weise wissen“.(6) Und doch war es Adorno, der auf den Zeitkern jedweder Theorie verwiesen hat, die eigene nicht ausgenommen. Und damit auf eine Instanz der historischen Ernüchterung, die in den Texten eine kritische Masse an Spannungen und Widersprüchen, an Mehrdeutigkeiten und Offenheiten mit durchaus nach vorne weisenden Tendenzen ausformt. Dass die keineswegs doktrinär geschlossenen Reflexionen Adornos zur ästhetischen Konstruktion, zur Unversöhnlichkeit der Kunst oder zum Faktor Subjekt das Überschreitungspotenzial seiner Philosophie ausmachen, wäre ein Beleg dafür. Doch dazu später. Bekanntlich ist für Adorno der Geist einer Komposition von der Notation nicht zu trennen. Seine Ästhetik orientiert sich am schriftlich fixierten Werk. Genauer: am notenschriftlich fixierten Werk der Musik seit Johann Sebastian Bach, mit dem „für jeden anständigen Musiker [...] die eigentliche Musik eben doch [erst] an[fängt]“(7).“Ohne Schrift keine hochorganisierte Musik; der historische Unterschied von Improvisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen“.(8) Notation aber hat zunächst etwas mit Organisation, mit Logik, mit Sinn zu tun, selbst wenn Sinn und Logik in der Musik sich extrem verschatten und Kausalität sich ins Unkenntliche auflöst. Zudem verweist kompositorische Logik auf die Relevanz des künstlerischen Subjekts noch in seinem beckettschen Habitus. „So wenig Musik dem Subjekt gleichen darf [...], so wenig darf sie ihm auch vollends nicht gleichen: sonst würde sie zum absolut Entfremdeten ohne raison d'être“(9). Noch in seinen späten Schriften insistiert Adorno darauf, das „Unbekannte“ müsse sich „durchs Subjekt“ und durch die Reflexionsinstanz der Form hindurch konturieren.(10) Und schließlich zielen Sinn und Logik auf das Medium einer qualitativ artikulierten Zeit, von der Adorno auch die Neue Musik nicht entbunden wissen wollte. „Das zeitlich Aufeinanderfolgende, das die Sukzessivität verleugnet, sabotiert die Verpflichtung des Werdens, motiviert nicht länger, warum dies auf jenes folge und nicht beliebig anderes. Nichts Musikalisches aber hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes bestimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.“(11) Natürlich läuft Adornos Zeitgebot, gemessen an der Musik der letzten Jahrzehnte, ins Leere. Komponieren, das mit dem geplanten Zufall, mit variablen, offenen Formen und einer bislang unbekannten Verantwortung und Freiheit der Interpreten und Rezipienten arbeitet; das mit dem Aufbrechen der Einheitszeit des geschlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt, die Schicksalsmacht Zeit hinterfragt; ein Komponieren auch, das auf aktions- und situationsbestimmte Verflüssigungen der Werkästhetik inklusive der Kritik am Fundamentalismus der Notation setzt: solches Komponieren fügt sich keiner Zeitvorstellung mehr, die dem Organismuskonstrukt und seinem Telos der Notwendigkeit die Treue hält. Für Adorno dagegen profilieren qualitative Zeitartikulation und mit ihr der gestische Sprachnimbus des Komponierten samt einer ins Werk gesetzten Stimmigkeit, die in der Moderne allerdings bis zur stimmigen Auflösung der Stimmigkeit reichen kann, den Ausdruck einer ,denkenden Musik’: komplex, welthaltig und apotropäisch gegenüber der „Macht des Bestehenden“. Das „zerrüttete Kunstwerk“, das als „Gegenstand des Denkens“ gesetzt ist und „am Denken selber Anteil“ hat: diese Konstante der Philosophie der neuen Musik von 1949 dominiert auch Adornos Analysen der Avantgardemusik seiner Zeit.(12) Warum aber besteht Adorno auf dem Denken des musikalischen Werks? Eine erste Antwort käme wohl auf die historisch begründete Angst vor einer institutionalisierten Amnesie; auf die Angst, sich inmitten der rastlosen „Verwertung des Werts“(13) und des Aktualitätsdiktats dem Verlust von Geschichte und Mnemosyne auszuliefern. Dass mit der „Anpassung ans je Gegenwärtige“ am Ende gar „Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert“ werden könnten: diese Gefahr ist es, die Adorno vom Fokus Auschwitz her Kunst zum „Gedächtnis des akkumulierten Leidens“ werden lässt.(14) Musikalisch aber bleibt für ihn Gedächtnis an die materiale und strukturelle Form- und Werkkonsistenz gebunden. Geht Musik auf Erkenntnis, auf Wahrheit, steht es ihr nicht frei, sich gedankenlos zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten; zumal als Menetekel im Namen eines fragilen Subjekts. Deshalb gelten Adorno musikalische Praktiken einer Auflösung des Werkcharakters ihrerseits als gewaltsame Demontagen eines letzten Rests an Subjekt: Manifestationen einer Musik, in der für das „Subjekt und sein Leiden schon kaum mehr Platz ist“, in der „Angst“ in „kaltes Grauen“ umschlägt, „jenseits der Möglichkeit von Gefühl, Identifikation und lebendiger Zueignung“. Solche „Abdankung des Subjekts“ in der jüngsten Musik „verbirgt sich im formalen Apriori, der technischen Verfahrungsweise“: als Triumph der Methode. „So gewinnt die Rationalität ihr Irrationales, das katastrophisch Blinde. Unter der vorgedachten, zugleich opaken und widerstandslosen Allgemeinheit wird der hörende Mitvollzug [...] unmöglich. Die Zeitdimension, deren Gestaltung die überkommene musikalische Aufgabe war und in der richtiges Hören sich bewegte, wird aus der Zeitkunst virtuell eliminiert“.(15) Womit Adorno für die Rezeption Neuer Musik das Re- und Decodieren durch ein strukturell hörendes Subjekt als unerlässliche Bedingung anmahnt. Natürlich wusste Adorno nur zu gut, wie prekär es um den Faktor Subjekt stand. Unmissverständlich diagnostiziert er, „dass die jüngste Geschichte, die fortschreitende Entmächtigung des einzelnen Individuums bis zur drohenden Katastrophe des Ganzen, den unmittelbaren Ausdruck von Subjektivität mit Eitelkeit, mit Scheinhaftem und Ideologischem überzogen hat“. Während das Subjekt „so tut, als wäre es der Schöpfer der Welt, oder der Weltgrund, ist es, englisch gesagt, fake, bloße Veranstaltung dessen, der sich aufwirft, sich aufspielt, während an ihm real kaum mehr etwas liegt“. Musik, Kunst überhaupt „muss eben jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und damit allemal affirmativen Subjektivität sich entschlagen, die der Expressionismus geradewegs von der Neuromantik ererbte“.(16) Doch gerade weil sich Adorno über die Zerrüttung des Subjekts in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts keine Illusionen macht, vollzieht seine Ästhetik eine Gratwanderung zwischen dem Zerfall des Subjektmonopols einerseits und der Bewahrung des Subjektmoments andererseits. Subjektmoment verstanden als eine mediale Instanz, die dem „Vorrang des Objekts“ in der Konstruktion des Kunstwerks ,beisteht’. Freilich hat Adorno das Subjektmoment zuweilen so stark gewichtet, ja seinerseits monopolisiert, dass der an ihm justierte musikalische Sinn zum Brennpunkt seiner Beschäftigung mit neueren Kompositionen wurde und zur Abwehr einer Dekonstruktionsvielfalt, die die Legierung von Formgedächtnis, Subjektspur und Ausdrucksgestus hinter sich lässt. Was könnte für Adornos Ideal vom denkenden Werk und seiner expressiven Subjektspur demnach ein Komponieren bedeuten, das sich strukturell gegen Null hin abrüstet? Eine Musik etwa wie die von John Cage? Jedenfalls kaum mehr als eine Regression aufs Vorkünstlerische, aufs „krud Empirische“, mögen ihr Adornos ambivalente, schließlich ratlose Cage-Kommentare auch ein Äußerstes im Ablassen von musikalischer Naturbeherrschung oder eine „polemische Replik auf die Expansion von Verwaltung“ zubilligen.(17) Der Einwand, der Ausschluss des Irrationalen aus der Musik habe selbst etwas Irrationales an sich, der Einwand auch, Cages 4´33 als Präsenzideologie abzufertigen, demonstriere eine seit Nietzsche verdächtige Arbeitsmoral in aestheticis, die den kompositorisch investierten Zeitaufwand mit der Qualität des Werks verrechnen will: solche Bedenken verfangen trotz ihrer theoretischen Reflexion für Adornos konkrete Analysen wenig. Für Adorno „opfert“ Cages „amorphes“ Aufgeben von Organisation und Artikulation „Logik und Stimmigkeit“, um sich als ohnmächtige Entlastung des geschwächten Ichs „dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität“ zu überantworten.(18) Musik bleibt für Adorno einer mimetischen Logik verschwistert, die besonders in seinen Cage-Wertungen an Hegels Feier der Vermittlung als der Essenz des Geistes im Gegensatz zur geistlos unvermittelten Natur erinnert. Schottet sich aber nicht genau diese Anspannung des Denkens gegen die Semantik exhaustiver Strukturen ab? Gegen Strukturen nicht nur im Echoraum der Stille, sondern – wie in der Paramusik von Cages 4´33 – als Echoraum einer wenn auch niemals absolut zu realisierenden Stille? Gegen die Verstörungen des Rauschens und Ausbleichens der Mnemonik und ihrer komponierten Sinndichte? In Reaktion auf eine Welt, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint? Die an Tönen und Signalen, an Zeichen und Sprachen und ihrem pausenlosen Akzeptanz- und Dechiffrierungsgebot erstickt, dessen Sinn-Normen stets auch Macht-Normen sind? Dass gegen die Vermarktungsstrategie des Sinns und seine hohen Wiedererkennungswerte, ja gegen den Sinn als Vermarktungsstrategie die Gedächtniserosionen der ästhetischen Praxis nicht nur zu einer Kraft der anästhetischen Abstinenz, sondern zur autonomen Qualität werden, irritiert den Imperativ ständiger, geistpräsenter Vergegenwärtigung. Und es irritiert das Verlangen des Verstandes nach Sinnsättigung; eine Irritation, die das an Segmentierung, Vernetzung und Konsolidierung gewöhnte Gedächtnis seiner Sicherheiten entwöhnt; zusammen mit einer Umwertung der Kategorie der Komplexität, die mittlerweile noch anders zu verstehen ist als nach den Grundsätzen einer ereignisgedrängten, subjektgesteuerten Werkfaktur; anders also als nach Art technisch und methodisch hochgerüsteter Werke gleich den komplexen Spiegeln einer komplexen Welt: nämlich im Gegenteil als eine selbstreflexive und eben darin ihrerseits komplexe Zurücknahme von Komplexität. Adorno musste an solchen Kompositionen scheitern, weil er sie einer Sinndirektive anmaß, deren Demontage für ihn der Affirmation des Sinnlosen gleichkam. Dass Adorno die Formung eines hochdifferenzierten Materials, das Medium des Subjekts, die Konsistenz des Werkorganismus und eine Hegel verpflichtete Idee der ästhetischen Wahrheit nie aufgegeben hat, lässt immerhin fragen, inwieweit hier der Philosoph den Musiker Adorno blockiert. Auflösung von Sinn heißt zunächst die Historisierung einer überkommenen Bedeutungsmatrix. Das Ausfransen und Ausflocken von Sinn erzeugt indes kein Jenseits, sondern fürs Erste eine andere, eine fragile Topik des Sinns, mag sie, gemessen am herrschenden Kanon, zunächst auch sinnlos wirken. Sinn als Produkt einer sämtliche soziale Bereiche durchdringenden Episteme bindet Kunst in die kulturellen Codes ihrer Zeit ein. Insoweit ist Adorno zuzustimmen, jedes Kunstwerk konfiguriere sich noch in der Sabotage des Sinns zum Sinnzusammenhang. Nicht-Sinn ist ein approximatives, tendenzielles Phänomen. Und doch handelt es sich bei Adornos Ästhetik des Sinns um eine Sicht, der zufolge die „Geschichte der neuen Kunst“ um einen „metaphysischen Sinnverlust“ kreist.(19) Mit dieser Figur des Mangels freilich ist das meiste an aktueller künstlerischer Produktion nicht mehr adäquat zu rezipieren; noch weniger damit, es wie zur Legitimation soziologisch rückzubinden, sofern „den Kunstwerken aufgebürdet“ sei, „wortlos festzuhalten, was der Politik versperrt ist“.(20) Dass die „Wahrheit“ der „avancierten Musik“ eher darin aufgehoben sei, „durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft“ zu dementieren, als „von sich aus positiven Sinnes mächtig“ zu sein, wäre eine dieser Rückbindungen(21), mit denen Adorno seine Mischung aus Faszination und Irritation und seine Reserviertheit gegenüber dem Neuen so mancher Gegenwartsmusik intellektualisiert. Während noch in der späten Wiener Schule die Vernetzung der traditionsgeladenen Signifikanten Klang, Rhythmus, Phrasierung, Motiv oder Thema das Signifikat einer wie immer gebrochenen Affektsprache ausformt, ist die Einheit dieser differenten Wechselwirkung etwa bei Morton Feldman längst in eine selbstreferenzielle Signifikanz übergegangen; in das, was der Komponist das „Abstrakte“ nennt.(22) Deshalb wirkt die These vom Sinn, dem nicht zu entrinnen sei, abwehrhaft verallgemeinernd, solange sie ausblendet, dass es ein gravierender Unterschied ist, ob sich das ästhetische Sensorium wie bei Feldman auf die musikalische Struktur hin decodiert, also gleichsam leer wird und seinen konstruktiven Besetzungszauber aufgibt, oder ob es die Struktur auf die Kohärenzökonomie seiner „produktiven Einbildungskraft“ hin recodiert, um das Werk – Adorno nennt als eigene Grenzerfahrung Weberns Streichtrio – hörend mitzukomponieren.(23) Vielleicht zeigt deshalb Adornos Ideal vom ,richtigen Hören’ am nachhaltigsten seine Auffassung vom Subjektstatus. Die detektivische Aufmerksamkeit, die in steter Wachsamkeit und Intimität das Komponierte entziffert, ist jener theologischen Achtsamkeit verwandt, die jede Nuance des göttlichen Worts zu vernehmen hat. Und sie geht davon aus, dass der Rezeption auf Seiten der Musik eine durchzuhörende Textur zu entsprechen habe. Mit dem Ende des rhetorisch-syntaktischen Stils aber wird das souveräne und prophetische Hören und seine Allianz von Mnemonik und Sicherheit außer Kraft gesetzt, bis Cage schließlich jede Rücksichtnahme auf geschmackspsychologische „likes and dislikes“ aufgibt. Heute verlangt Musik vom Zuhören immer mehr, „dass es auftauchen lässt “(24), und weist mit dieser Gelassenheit in eine Richtung, die Adorno selbst einmal die „opferlose Nichtidentität des Subjekts“ genannt hat.(25) Erinnern wir uns mit dieser Figur der Nichtidentität an das, was ich eingangs das Überschreitungspotenzial der Philosophie Adornos genannt habe. Dieses Potenzial lässt ja insbesondere in den späten Essays Adornos Ansätze einer neuen Wahrnehmungssemiotik erkennen, und zwar über den Graphismus der „Schrift“. „Schrift“ wird Musik durch den „Verzicht aufs Kommunikative“.(26) Und selbst wenn Adorno bis zuletzt einer äußersten Durchbildung der Werke das Wort redet: Musik weitet sich nun zu einer „veränderten Gestalt des Expressiven“; „unabhängig von der signifikativen Beziehung auf ein Auszudrückendes“ und einem „sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt“. Im „Absterben ihrer nachahmenden Momente“ bis hin zu denen „traditioneller Expressivität“ wird Musik zum ,Schema’ einer „nichtsubjektiven Sprache“.(27) Dass die „Unmenschlichkeit der Kunst [...] die der Welt überbieten [muss] um des Menschlichen willen“, wie noch die Philosophie der neuen Musik fordert(28), spannt sich jetzt auf den ,reinen, beredten Naturlaut’ hin, indem Musik „mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Menschlichen realisieren“ will.(29) Musik nähert sich einem „Unbekannten“, von dem her sich Adornos Ästhetik für einen Augenblick vom Trauma des „Schmerzes und der Negativität“ löst.(30) Ergibt sich hier nicht zumindest eine Seitenperspektive im Werk Adornos, weit genug, um die Sinnregie und Sinnrate im arbeitenden Bewusstsein des leidfixierten, ,denkenden’ Meisterwerks und seiner Rezeption noch auf eine andere Musik hin zu öffnen? Auf eine Musik, die wie diejenige Feldmans Kant darin aktualisiert, dass sie die Sphäre der Kunst qua Gewaltenteilung von ethischen und soziologischen Belangen entbürdet und damit eine neue Art ästhetischer Imagination erschließt? War Musik die Jahrhunderte hindurch eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert Feldman das Gedächtnis selbst: seine Vernetzungsarbeit, seine Engramme, Leerstellen und Zeitfenster. Im Namen des ästhetisch Erhabenen der Moderne verflüchtigt der ,große Maßstab’ seiner späten Kompositionen Wahrnehmung zu einem Nullsummenspiel aus Déjà-vu, fausse présence und „verfälschter Assoziation“(31). In den Patterns einer nichtnarrativen Musik und ihren Reibungen zwischen Bewusstsein und Gedächtnis verliert sich der teleologische Zug, der die Einzelmomente zu Funktionsträgern einer Idee organisiert: ein Zug also, den Feldman noch in der finalen Desintegration seines knapp fünfstündigen String Quartet (II) als zu „ideenorientiert“ aufspürt. Feldmans nicht mehr durchhörbare Musik versiegelt sich gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses. Zudem gibt sie nicht mehr vor, in ästhetischer Stellvertretung gesellschaftliche Konflikte thematisieren, gar beeinflussen zu wollen. Ihre Paramnemonik bezieht sich weder auf das Katastrophische noch auf das Sprachlose am Rand des Verstummens oder den Ausdruck des Ausdruckslosen, auf keine Kontexte also, die Adornos Ästhetik präskriptiv für Feldmans Musik anbieten würde. Wobei der Einwand, Adorno habe Feldmans Spätwerk nicht gekannt, von der Ästhetik Adornos selbst entkräftet wird, sofern ihr postulatorischer und prohibitiver Anspruch zukunftsweisend auftritt. Natürlich ist Feldmans Musik kein neurobiologischer Versuch, auch wenn sie die Ortungs- und Ordnungsfilter des Gedächtnisses durchsiebt und mit ihrem Modulieren von Mikrovarianten investigative Hörgewohnheiten außer Kraft setzt. Damit sich aber zerlegbare und beherrschbare „Form“ zur „Skala“, zur „Proportion“, zum „Maßstab“ transformiert, deren Wahrnehmung eher mit einem ungedeckten, unwägbaren Geschehenlassen als mit Kontrolle zu tun hat(32), muss das Gedächtnis in einer „disorientation of memory“(33) sich selbst fremd werden: und zwar dadurch, dass Feldmans jeder industrialisierten Zeitempfindung zuwiderlaufende Stücke Form als kalkulierbares Terrain deformieren und mit ihr Zeit und Identität dekonturieren. So wird Feldmans Spätwerk „between time and space, between painting and music, between the music’s construction, and its surface“(34) zu einem Komponieren des Weder/Noch. Mit der Dichotomie von Kohärenz und Inkohärenz, von Identität und Nicht-Identität ist dieser Musik nicht mehr beizukommen; einer nomadischen Musik, die als „Kunstform“(35), anders als die gängig proportionierten „Musikformen“, kognitive Standards zersetzt: in Perspektive auf eine „real good, very sophisticated memory“.(36) Darin für das Fassungsvermögen ähnlich überdeterminiert wie die Musik John Cages, die uns, so der Komponist, als eine Entstereotypisierung der Wahrnehmung beim Vergessen hilft, um nicht in der Standardisierung zu versinken. Warum das Gedächtnis zum Königsweg der Identität verklären, wenn Identität ephemer ist und Sinn ein Effekt, eine Variable der Konvention ohne ontologische Patina? Gedächtnis reimt sich ästhetisch auf Genese. Es zehrt sich auf, indem es sich erzeugt. Erst sekundär wird solches Komponieren als fait social lesbar: als Verwischen syntaktischer Sinnspuren etwa oder als eine Entmythologisierung von Bewusstsein und Erkenntnis, ihrem „Gleichmachen“ und „Assimilieren“(37) im Dienst von Nivellierungs- und Selbstbehauptungsstrategien. Die Frage, ob Feldman wie Beckett etwas mit dem Endspiel des Subjekts zu tun habe, wird einem Komponieren gegenüber zweitrangig, dessen Klangbahnen gewohnte Integrationsleistungen des Gedächtnisses außer Kraft setzen, samt ihrem Ritt der Bilder und ihrem Tanz der Begriffe. Einzig auf sich selbst als ihre eigene Wahrnehmungs- und Deutungsmaterie gerichtet lässt Musik die rezeptive Imagination in offener, abstrakter Spur durch die mnemonischen Maschen der Konstruktion gleiten. Musik drückt nicht mehr etwas aus. Sie verweist auf keinen ihr vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Frei von der Heteronomie rhetorischer Sinngebung verweist ihre Immanenz weder auf ein Objekt noch gehört sie dem Subjekt alter Fasson an. Wenn Feldmans Spätwerk patterns gegen die Tradition des syntaktisch-musikalischen Sinns verschiebt, indem es Musik hindert, syntagmatisch zu gerinnen, dann zieht der Konkurs des Narrativen den der ästhetischen Repräsentation nach sich. Jetzt verlangt musikalische Textur ein anderes Verständnis als jenes, das das „Gewebe“ als einen „fertigen Schleier“ auffasst, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält“. Musik lanciert eine „generative Vorstellung“, wobei ihr „Text“ durch „ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.“(38) Bleibt die Frage, was die Entdialektisierung der Musik für das negativdialektische Integral von Adornos Ästhetik bedeutet. Ich denke, zunächst einmal folgendes. Erst wenn die Theorie durchschaut, dass – wie in Adornos Auseinandersetzung mit der Musik nach 1945 – eine kryptoethische Ästhetik unter dem Patronat soziologisch vorentschiedener Gesellschaftsanalysen am Hören des Neuen Neuer Musik hindert: erst dann werden Stille und Zufall nicht mehr mit der Preisgabe des Subjekts oder einer Feier des Vergessens nach Maßgabe von Adornos doppeltem Sinnverständnis verwechselt. Obzwar Adorno den doppelten Sinnbegriff schon bei der Wertung von Schönbergs und Strawinskys Musik überstrapaziert – und doppelter Sinnbegriff heißt eine Spaltung des Sinns in eine Affirmation des Sinnlosen und eine Kritik des Sinnlosen durch das Sinnlose hindurch: vollends versagt die Sondierung des Entweder/Oder im Fall eines Komponierens nach der Auflösung der sprachgestischen Syntax, im Fall eines Komponierens also, das nach dem Ende dessen, was Nietzsche das Symbolische der Musik nennt, die Demarkation zwischen Sinn und Sinnlosigkeit unterläuft. Wenn Adorno noch 1966 postuliert, „im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle“(39), richtet sich dann diese Maxime nicht doch in erster Linie am Paradigma der Sprache aus, trotz Adornos Unterscheidung von „Sprachcharakter“ und „Sprachgestik“? Und resultieren – um einen Nebenschauplatz zu streifen – die musikalischen Monographien Adornos, gipfelnd im Mahler-Buch, nicht gerade aus der untergründigen Korrespondenz zwischen der syntaktischen und syntaxähnlichen Qualität im verbalen und musikalischen Sprachcharakter? Während mit dem Zerbrechen der semantischen Analogien von Sprache und Musik in zeitgenössischen Kompositionen auch die großen Einzelanalysen Adornos in allgemeintheoretische Reflexionen übergehen? Adorno vorzuwerfen, seine Arbeiten zur Neuen Musik seien mehr über als in den Sachen, klingt zunächst absurd. Hat nicht Adorno die Abstraktionsgewalt des Begriffs im Bereich der Ästhetik rigoros aufgedeckt? Und doch verwehrt der Limes des Dialektikers die Überschreitung so mancher Traditionsgrenze. Vor allem Adornos an Hegel wie an Beethoven geschulte Stringenz der Durchformung, die dem Subjektcharakter des Werks zur Signatur des Geistes wird, kollidiert mit einem Komponieren, das subjektcodierte Sinndepots auflöst. Insbesondere ist es, um mit Adorno gegen Adorno zu formulieren, die Tour de force einer in allen Teilen „gleich nah zum Zentrum“ gewichteten, unauflöslichen Engführung von Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik, die als ein Prinzip der Überlastung alle exegetischen Komponenten „verhext“.(40) Von diesem Vermittlungssoll her greift nicht nur in Adornos Sinnverständnis, sondern generell in Adornos Rekurs auf zeitgenössisches Komponieren das Erkenntnisregime der Sprache allzu souverän auf die Musik über. Sosehr Adorno die Abstraktionsrendite des Begriffs auch erkenntniskritisch entlarvt: unterwirft sich seine Deutung Neuer Musik nicht dem philosophischen und soziologischen Primat, sofern diese Deutung weniger von der Musik her flüssig gehalten wird, die musikalischen Phänomene vielmehr von der Theorie in die Pflicht genommen werden? Nicht selten fühlt man sich bei manchen Argumentationen Adornos an Goethes Satz von den „Theorien“ als den „Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes“ erinnert, „der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen [...] Begriffe [...] einschiebt“.(41) Umgekehrt zermürbt die extreme Bilderlosigkeit Neuer Musik den Begriff, indem sie seine zum Sinn gezwungene und zum Sinn zwingende Sprache auf Distanz hält. Wie sehr sich Adorno darüber im Klaren war, zeigt seine häufige Konnotation der „Kündigung des ästhetischen Sinns“ mit dem Ende der „äußeren und inneren Abbildlichkeit der Kunstwerke“.(42) Auch Feldmans Kompositionen sensibilisieren für die Hegemonie der philosophischen Spekulation über das ästhetische Phänomen und für ein Ritardando des theoretischen Zugriffs. In dieser Sensibilisierung zeigen sich der Widerstand einer Musik „between categories“(43) gegen die Synthesis des Urteils, sei dieses auch noch so sehr vom Riss des Nichtidentischen durchzogen, sowie die Spannung zwischen ästhetischer Logisierung und aisthetischer Erfahrung. Wenn etwa, um adornonahe Beispiele zu nehmen, Stockhausen davon spricht, dass stete Wiederholung und dauernder Kontrastwechsel auf Nivellierung und Neutralisierung hinausliefen, oder Ligeti davon, dass mit der Freiheit eines Konzepts, mit dem Anwachsen seiner möglichen Realisationen deren Unterschiedslosigkeit zunehme, weil Veränderung und Besonderheit im Bereich des X-Beliebigen fiktiv seien, dann schreiben solche Begründungen die Logisierungsoperationen des alten Erkenntnis- und Empfindungssubjekts fort und mit ihnen den Übergriff des Begriffs auf eine statisch gedachte Geschichte des Hörens. Seitdem hat sich die Asymmetrie zwischen der sinnvernetzten Sprache, ihrer auf Aussage und Wahrheit zielenden Resultante, und einer Musik, die zum Zeichen ihrer selbst wird, ständig vergrößert. Eine Asymmetrie, auf die Feldmans alles andere als ironische Bitte reagiert, man solle es bei statistischen Analysen seiner Kompositionen belassen.(44) Mit Goethe wäre die übergreifende Macht, die Hegel dem Begriff attestiert, in ihrem anthropozentrischen Verlangen zu entdecken: Der theoretische Geist ist „ein wahrer Narziss; er bespiegelt sich überall gerne selbst, er legt sich als Folie der ganzen Welt unter“.(45) Adorno wusste nur zu gut, wie sehr die Sprache der Philosophie zunächst sich selbst zuhören will. Ihrer Geschlossenheit nach geht jede Theorie im Harnisch. Unter dem Harnisch aber „Bewusstsein bis in alle Falten“.(46) Dass die Theorie von der Theorie gesprochen wird, dass sich der spekulative Gedanke ebenso autonom wie autistisch geriert, löst ja gerade Adornos Gegenbewegung des ,Mit-dem-Begriff-gegen-den-Begriff-Denkens’ aus. So hat man beim Lesen der Ästhetischen Theorie den Eindruck, als wollte sich die parataktische Entregelung des Textes insgeheim zum Kunstwerk transformieren; als wollten die Urteilsbahnen eine Sprache ohne argumentativen Aufschub ausloten, um sich ihrem Sujet, den ästhetischen Phänomenen, anzuverwandeln. Sosehr freilich Adorno den Diskurs der Ästhetischen Theorie azentrisch entgrenzt, sosehr setzt seine eigene Auslegung des Texttableaus auf einen Gravitationsschwerpunkt. Gruppiere doch die Ästhetische Theorie ihre „gleichgewichtigen, parataktischen Teile“, die „konzentrisch“ in ihrer „Konstellation“, nicht in ihrer „Folge“ die „Idee“ ergeben, „um einen Mittelpunkt“.(47) Selbst wenn dieser Vermerk zur Form der Ästhetischen Theorie von einem atopischen Mittelpunkt ausgeht, der aus der Konfiguration der Gedanken resultiere: weshalb besetzt Adorno die Konstellation des Textes überhaupt mit der Attraktion des Mittelpunkts? Wer sonst als Adorno hätte so leidenschaftlich für die Parataxe plädiert, die Hegel noch als ein Stigma der Natur gegen den Geist abwertet? Wer sonst außer Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein hätte die Nötigung des Denkens so scharf in den Blick genommen? In der Einsicht, dass die „Gedanken“ ihrer „logischen Stringenz“ nach immer auch unfrei sind, „Gewalt“, „Zwang dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Denkenden“. Während doch Denken, des „Identitätszwangs ledig“, vermutlich sogar einmal der „Kausalität entriete, die jenem Zwang nachgebildet“ ist.(48) An Kompromisslosigkeit lässt dieser Passus wahrlich nichts zu wünschen übrig. Umso verwunderlicher, dass es Adorno selbst auf dem kausalitätsfernen Gebiet der Musik nicht möglich war, die Streuungen des methodischen Zufalls – keinesfalls, wie die Impromptus notieren, des „reinen“(49), der schlicht undenkbar ist – oder die Abweichungen vom Prinzip einer qualitativ artikulierten Zeit als parataktische Radikalität zu hören und vom Makel des Geistlosen freizusprechen. Oder, von Spinoza und Goethe her, als eine Überdeterminierung, die die Arbeit des Verstandes überfordert und dadurch herausfordert. Oder eben als eine Verwerfung der Hypotaxe und damit als eine Verwerfung, die den Mittelpunkt an jedem Ort und zu jeder Zeit setzt, folglich den Mittelpunkt als Mittelpunkt zur Energie der Momente aufhebt. Fast scheint es – um die Kluft zwischen klassischer und moderner Physik als Vergleich heranzuziehen – als wäre Adorno auf die Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Makroebene fixiert geblieben, mit entsprechenden Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich des Mikrobereichs eines Komponierens, das Stockhausen in den 50er-Jahren nicht zufällig mit der Terminologie der neuen Naturwissenschaften kommentiert hat, mit Begriffen wie „Feld“, „statistischer Formvorstellung“ oder „Eigenzeit“. Was als Kommentar Adornos zur Disposition der Ästhetischen Theorie noch marginal bleibt, weil die Streuung des Textes den theoretisch behaupteten Mittelpunkt ignoriert: für Adornos Philosophieren über Neue Musik dürfte die Ortung auf ein Zentrum hin weniger irrelevant sein. Abgesehen davon, dass Jacques Derrida gezeigt hat, wie selbst unscheinbare Diskursmuster den Zeitkern philosophischer Texte aufbrechen lassen und in ihrer Begriffspolyphonie historisierende Stimmen freisetzen: Adornos Mittelpunktsfigur, deren Spur auf Hegel hin lesbar wird, einfach als eine Wendung en passant zu ignorieren, verunmöglicht allein schon die Häufigkeit, mit der sie der Sprach- und Reflexionsartist Adorno im Lauf der Jahrzehnte als suggestive Formel wiederholt.(50) Gerade auch in der Auseinandersetzung mit Neuer Musik. Obwohl Adornos Äquidistanzmodell des „Alles gleich nah zum Mittelpunkt“ die Relation zwischen den Einzelmomenten zur Konfiguration entbindet und damit variiert, was er an Benjamin als die Fähigkeit rühmt, „das Zentrum unablässig in die Peripherie zu setzen, anstatt das Periphere [...] aus dem Zentrum zu entwickeln“(51): der Mittelpunkt bleibt bei Adorno schon infolge der lokalen Präposition qualitativ abgehoben vom Tableau der Ereignisse. Oder sollte man sagen: transzendent in einer Weise, in der die Philosophie der neuen Musik über die „Nähe und Ferne vom Mittelpunkt“ spricht?(52) Dass für Adornos Analysen Neuer Musik die Figur des Mittelpunkts eine Rolle spielt, hängt mit der bereits mehrfach erwähnten Idee einer qualitativ artikulierten Zeit und der des kairós zusammen. Mit ihm rechnet Adorno in der Kunst wie in der Theorie: offen seinem Erscheinen wie seiner Gestalt nach, offen für die Befreiung vom Bann und offen, seiner antigriechischen Lesart nach, für die Katastrophe. Dass Neue Musik sich der Epiphanie des kairós gegenüber eher asketisch verhält – er wäre ihr zu subjektzentriert, zu sinnbezogen –, bedingt für Adorno, dass eine Komposition, in der die „Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks [...] die Gestaltung nach Erwartung und Erinnerung überwiegt“(53), zwar permanente Mittelpunktsnähe realisiert; weit mehr aber riskiert sie im Zerfall der subjektdramatischen Zeit eine letale Statik ohne „Entwicklung“. In ihrer amorphen Dichte wird Musik zu einer Kunst der „gesellschaftlichen Entropie“, ähnlich dem „totalen Funktionszusammenhang“ der „monolithischen Gesellschaft“, in deren ,offener Irrationalität’ die „universale Abhängigkeit aller Momente von allen die Rede von Kausalität als veraltet überholt“, eben weil „alles gleich nah zum Mittelpunkt“ ist.(54) So suggestiv diese Darlegung fraglos ist: auch hier verstellt die dialektische Armatur die Wahrnehmung. Wie sehr Adornos Figur des Zentrums innerhalb der Geschichte der Moderne und ihrer Auflösung mittelpunktsstabiler Milieus vom theologischen Index der Dialektik und vom erkenntnistheoretisch sublimierten Schatten des gut und böse belastet ist, äußert sich darin, dass der hierarchische Akzent des „Alles gleich nah zum Mittelpunkt“ lediglich ambivalent-polare Besetzungen erlaubt: entweder als Intensität oder als Erstarrung, entweder als befreite Zeit oder als sinnleere Statik. Weshalb verweigern sich Adornos Deutungsextreme den Nuancen zwischen Erstarrung und Entwicklung, wie sie zeitgenössisches Komponieren doch überwiegend interessieren? Wird das Denkbild des Mittelpunkts als transzendenter Überhang nicht zur blinden Stelle eines Philosophen, der gegen Hegel mit Hegel denkt und im dialektischen Raster das Neue der Neuen Musik aus dem Ohr verliert? Jenes Neue, dem das Modell vom mittelpunktslosen Rhizom wesentlich näher kommt? Und dies nicht nur, weil hier eine auffällige Korrespondenz zwischen Musik und Philosophie vorliegt. Jedenfalls scheint es plausibel, dass das Erkenntnisinstrumentarium des Rhizoms bei Deleuze/Guattari nicht unwesentlich von Boulez’ Verfahren der „Wucherung“ beeinflusst ist. Lassen Sie mich hier meine Kritik am Zentrumsaxiom Adornos mit einem kurzen Verweis auf Karlheinz Stockhausen erläutern. Zweifellos gibt es ja – historischen Parallelen zufolge – einen Bezug zwischen Adornos Mittelpunktsfigur und Stockhausens „Momentform“. Adorno wie Stockhausen geht es dabei um die Aussetzung von Vermittlungshierarchien, Rangfolgen und Brückenfunktionen.(55) So intendiert Stockhausens „Momentform“, „im Unterschied zum Stufenschema der finalen Form sofort intensiv“ zu sein, konzentriert auf das Jetzt, das in seiner Fülle zeitlos wird, und das „in jedem Moment“.(56) Entscheidend ist allerdings, dass Stockhausen, und mit ihm die Musik, ohne die Idee des Mittelpunkts auskommt, während Adornos Theorem das Zentrum nie in Frage gestellt hat. Spricht Stockhausen von der ,Zentriertheit’ eines jeden ,Jetzt’, argumentiert er – anders als die Gravitationsordnung Adornos – in der Tradition des Cusanischen „omnia ubique“. Das heißt in der Tradition eines azentrischen Universums mit der republikanischen Mittelpunktspotenz jedes einzelnen Moments. Und was die Musik betrifft, so liegt der Mittelpunkt etwa in Stockhausens Orchesterstück Punkte von 1952 in mittelpunktsloser Immanenz überall und nirgends, dynamisiert von einem Energiefeld transversaler und vektorieller Kräfte, in dem „alles [...] Hauptsache “ wird: „kein Formglied soll über das andere herrschen“.(57) Zirkuliert aber, wo alles Mittelpunkt ist, Adorno zufolge nur noch Peripheres in einer Formation des Immergleichen? Endet unentwegte Intensität nicht in Redundanz und Statik? Gibt es nicht, wenn „alles Hauptsache“ wird, nur noch Nebensächliches? Oder verfängt sich die Widerspruchslogik solcher Argumentationen in dualistischen Sprachfallen, die die Struktur der Musik verfehlen? Zumal die Aussage ,Alles wird Nebensache’ konträr zur Aussage „Alles wird Hauptsache“ wertet – nämlich in Richtung einer Subordination des Nebensächlichen? Natürlich steuert Stockhausens Synergie der Punkte keine automatenhaft unveränderte Dichte, sondern Mikroprozesse, deren Fluktuation jenseits von Kausalität und Folge und einer vergleichsorientierten Wahrnehmung gehört werden wollen: entsprechend der Organisation einer punktuellen Musik, die „keine Wiederholung, keine Variation, keine Durchführung, keinen Kontrast“ kennt und damit keine „,Gestalten’ – Themen, Motive, Objekte [...], die wiederholt, variiert, durchgeführt, kontrastiert werden [...]. All das ist [...] aufgegeben worden. Unsere Welt – unsere Sprache – unsere Grammatik“.(58) Die Konsequenz dieser Diagnose wird klar, liest man sie von Nietzsches Götzen-Dämmerung her: „Ich glaube, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“ Mit der Aufhebung letzter Rudimente einer tonsprachlichen Grammatik hat sich Musik endgültig säkularisiert. „Heidnisch“ und „mittelpunktslos“ ist sie, zugespitzt formuliert, keine „schuldig machende Mnemotechnik“ mehr.(59) Damit lässt sie den vom Baum der Erkenntnis her tradierten und vom Platzhalter des Mittelpunkts fixierten moralischen Kodex der Dialektik als binäres Sprachspiel des ästhetischen Begriffs ins Vage laufen – über die begrifflich irreduzible Präsenz der Werke hinweg. Nicht nur Stockhausen Punkte machen erfahrbar, wie schnell eine vom Satz des Widerspruchs bestimmte Exegese der Musik nach 1945 sich in formallogische Finten verkehrt. Umso bemerkenswerter, dass Adorno im Umfeld seiner Zentrumsfigur selbst immer wieder unbefragt die Grenzen einer Grammatik akzeptiert, die das Denken auf den platonisch-aristotelischen Kanon der Zweiwertigkeit reduziert: indem beispielsweise eine Musik, „in der jeder einzelne Ton durchsichtig durch die Konstruktion des Ganzen determiniert“ und „gleich nahe zum Mittelpunkt“ ist(60), gemäß der Äquivalenz von Determinismus und Statik und gegen die Emanzipation des Hörens als ein zufallshöriger Verlust des „Unterschieds von Essenziellem und Akzidentellem“ bilanziert wird(61) – mit der Agonie eines ,Stillstands der Dialektik’.(62) Wenn Hegels Philosophieren in der Parataxe, bis hinein in die Konstella tion der Sterne, die Anarchie des Zufalls argwöhnt – so als drohe ein Putsch der maßlosen Peripherie gegen den heliozentrischen Kosmos –, erzeugt dann das solare Licht der positiven Dialektik nicht auch einen Blendschatten in Adornos negativer?(63) Reibt sich Adornos Ästhetik nicht gleichermaßen an der subjektlosen Naturwüchsigkeit des Zufalls? Für Hegel jedenfalls verweigert sich die ,unbestimmte Vielheit’ der Sterne dem „Streben [...] nach einem Ort als Mittelpunkt“. Auch hier spielt also das Organon vom Zentrum eine Rolle, sofern für den Philosophen des Geistes und der Hypotaxe der stellare Kosmos im Gegensatz zum mittejustierten Sonnensystem nichts weiter als ein „Licht-Ausschlag“ ist und als eine Art Krätze des Firmaments ebenso wenig „bewundernswürdig“ wie ein ,Ausschlag am Menschen’ oder eine „Menge von Fliegen“.(64) Zudem zeigt die „formelle Repulsion“ der Sterne einmal mehr Hegels Gleichung zwischen Parataxe, geistferner Natur und jenem „Zufälligen“, das „verschwinden zu machen“ die Hauptaufgabe „des Begriffs und der Philosophie“ ist.(65) Sind doch „die Sterne“ ein exemplarisches „Feld [...], worin das Zufällige einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammenstellung hat“.(66) Man muss nicht sonderlich spekulieren, um zu vermuten, wie nah sich über die Zeit hinweg Hegel und Adorno bei der Beurteilung einer stellar gestreuten Musik wie der von Cages Atlas Eclipticalis wären, zumal Adornos Auseinandersetzung mit den kompositorischen Methoden des Zufalls die Diagnostik der Dialektik der Aufklärung in die Ästhetik hineintreibt, unbeirrt davon, ob denn gesellschaftliche Irrationalität mit dem aleatorischen Formenkreis der Musik gleichzusetzen sei. Obschon Adorno die ästhetische Kritik direkt in die soziologische übersetzt, wonach ein Teil der „jüngsten Musik“ als „Seismogramm der Realität“ am „Schein“ der Kunst „rüttelt“(67) und mit der „Flucht“(68) in die „Aleatorik“ den „Rest von Zufall in der universalen Notwendigkeit einbekennt, der gleichen Wesens ist wie die Irrationalität der rationalisierten Gesellschaft“(69); obschon also Adorno den hegelschen Begriffsuniversalismus fortschreibt, ergibt sich noch lange keine plane Relation zwischen sozialen und musikalischen Formationen gemäß einer Dialektik von Integration und Desintegration, von „absoluter Determination“ und „absolutem Zufall“.(70) Außer man zieht mit der Macht der Idee jene Differenz zwischen Kunst und Empirie ein, auf der Adorno um der Autonomie der ästhetischen Mimesis willen doch stets bestanden hat. Philosophisch verdunkelt die Rede vom Mittelpunkt mehr als sie erhellt. Vor allem seit Adornos Kritik am Serialismus, in der der Grenztopos des Sinns als hermeneutische Mauer symptomatisch wird. Was immer der um des Namens willen namenlos gebliebene Mittelpunkt bei Adorno chiffriert: Längst hat die Entwicklung der künstlerischen Produktion gezeigt, dass sie die Entscheidung zwischen einem „bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk“ und einer „Entfaltung der Wahrheit“(71) hinter sich lassen kann und keineswegs mehr auf dem „perennierenden Leiden“(72) beharren muss, ohne deshalb zum belanglosen bricolage zu werden, differenzlos zu dem, was ist. Musik rechtfertigt sich immer weniger in einer Ethik zweiter Potenz, nachdem sich mit dem Zerfall der Trinität des Guten, Wahren, Schönen das Ästhetische aisthetisch akzentuiert hat – und auch das weitgehend ohne Regression. Feldmans Spätwerk ist schön und erhaben in eins, wenn ich die Termini Kants einmal paradox mischen darf, indem es ,Intimität mit der Größe des Maßstabs’ verschränkt.(73) Wobei die Überforderung des mnemonischen Fassungsvermögens, in der die Tradition des Erhabenen aufscheint, sich nicht wie bei Kant auf „Ideen“ hin transzendiert, sondern ins ,freie’, an sich selbst irrewerdende ,Spiel der Einbildungskraft’ eingebunden bleibt. Eher schon schwingt beim Hören von Feldmans Musik der „Gedächtnisformen“ die Erinnerung an Kants Dynamik der „transzendentalen Schemata“ mit, an ihre ,bilderlose’ und doch ebenso „intellektuelle“ wie „sinnliche Vorstellung“ inmitten der bewusstseinsstrukturierenden Wechselwirkung zwischen Stoff und Kategorien.(74) Als eine Musik fern den gängigen Polarisierungen, die, wie der Komponist anmerkt, als eine Nötigung des Entweder/Oder nicht in der Sache selbst, sondern in der europäischen Tradition des Geistes liegen, ist Feldmans Kunst jenseits der Scheidung nach Wesen und Erscheinung, nach Grund und Oberfläche Nietzsches „tief, aber ohne Gedanken“(75) ungleich näher als Hegels Dramaturgie von Kollision und Versöhnung. Gegen die Rhetorik setzt sie das Ereignis und mutet dem hermeneutischen Wort zu, ,mit ET statt mit EST zu denken’.(76) Sie dämpft die Sinngier der Sprache – „ich versuche, nichts einen Namen zu geben“(77) – und begegnet dem philosophischen Hunger nach Auslegung mit einem Fasten der begrifflichen Semantik. Resistent gegen die Opposition von Positivismus und Metaphysik ist Feldmans Musik Teil jener „zeitgenössischen Kunst“, die Adorno mit dem „Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod“ charakterisiert(78). Teil einer „Kunst ins Unbekannte hinein, [...] weder heiter noch ernst; das Dritte aber zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben“.(79) Nur wurde dieses ,zugehängte Dritte’ bereits enthüllt, ohne dass die künstlerische Praxis sich an Adornos Fluchtpunkt des von Entzug und negativem kairós gefärbten „Nichts“ hätte orientieren müssen. Von Daseinsapotheosen und Leidensapologien gleicherweise entfernt, spielt für Feldman die „Alternative von Tragik und Komik“ keine Rolle mehr, weil seine Musik sich vom possessiven Souveränitätsverständnis des Subjekts und seiner affektiven Sinnbühne befreit hat. Eher erinnert eine Komposition wie For Philip Guston an den so häufig missverstandenen Schluss aus Foucaults Les mots et les choses , in dem der Mensch verschwindet „comme à la limite de la mer un visage de sable“.(80) Wie bei Kafka schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen, die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel mit Kurs auf viele Ithakas. Was in einer Musik, die nicht mehr auf die Expression von Leiden, auf das „Entsetzen der Geschichte“ oder das „gesellschaftliche Unwesen“ einzuschwören ist, ohne zynisch und menschenverachtend zu sein, als subjektferne Kälte empfunden wird, ist keine Kälte der Musik, sondern eine im Empfinden des rezipierenden Bewusstseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte um seiner emotionalen Selbstbestätigung willen da zu sein. Dagegen löst Feldman die Sinnmacht des Subjekts in Richtung einer Welt, in der der Mensch „nicht immer wieder nur Spuren seiner selbst fände“.(81) Nicht umsonst lässt Boulez´ Methode der Proliferation in der Troisième Sonate pour Piano die Komposition polyvalent und chaotisch wuchern, bis sich „alle individuellen Züge“ in der ,Anonymität verlieren’.(82) Im Namen eines von der Überheblichkeit des Geistes befreiten Denkens hat freilich Adorno selbst sein Philosophieren einer Odyssee der Gegendiskurse ausgesetzt. Mag auch das Grauen von NS-Terror und Stalinismus auf der Massenbasis des „autoritären Charakters“ zu schwer gewogen haben, um an dem, was ästhetisch eine „Abdankung“ des „Subjekts“ schien, mehr als Enteignung und Verrat wahrzunehmen: selbst noch die vom „Entsetzen der Geschichte“ gezeichnete Physiognomie der Kunst der Moderne, ihr ,Finsteres und Schwarzes’, wird der Ästhetischen Theorie nicht zum Dogma. Aus der Überlegung heraus, ob in der „Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze [...] mit sich führt“, nicht auch „das Gedichtete, Gemalte, Komponierte [verarme]“.(83) Womit wir wieder beim Überschreitungspotenzial einer Philosophie wären, die es für möglich hält, dass der Druck des universalen Leidens und seine ästhetische Präsenz mit dem Verblendungszusammenhang des Status quo kollaborieren könnten. Denn „nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit“.(84) Schließlich weiten sich Adorno gar der ,Verlust der Identität’ und der ,falsche Reichtum’ des Pluralismus zur zweideutig offenen Perspektive. „Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren [die Menschen] die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, dass damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert“.(85) Hatte Adorno nicht 1956 an Hans Magnus Enzensberger geschrieben: „Ich halte mich [...] für alles eher als einen Defaitisten“?(86) Hegels positive und Adornos negative Dialektik bleiben antagonistisch verfasst, gebunden an Zerrissenheit und Entzweiung. Während Hegel jedoch die an den Widersprüchen sich abarbeitende Bewegung des Begriffs zur Produktion einer weltumspannenden Synthesis ohne wesentliche Restreibungsgrößen entbindet, hält Adorno die traumatischen Risse der Zivilisation als Wunde offen; ohne auf das Gebiet der Rationalisierung überzuwechseln und ohne das Gefühl der Freiheit zu verleugnen, das im Kinderglück von Amorbach und seinem herrenlosen Refugium zwischen der bayerischen und badischen Grenze seinen Ursprung hat.(87) Stets hat Adorno auch philosophisch auf Zwischengrenzbereichen beharrt, die als solche der Atopie denen der Utopie verwandt sind. Dass sich in diesen Refugien manches Reflexionsterrain in ein unwiderruflich verlorenes Niemands- und Brachland verwandelt, bleibt den Verwerfungs- und Enteignungsprozessen der Geschichte des Denkens geschuldet. So geht schließlich auch die metaphysische Enklave vom Mittelpunkt, durch keinen Begriff mehr adäquat zu kartographieren, in einem anderen, zukunftsweisenden Topos des Unbekannten auf, der in den späten Schriften Adornos wie ein theoretisches Mantra wiederkehrt und die künstlerische und wohl auch die spekulative „Utopie heute“ begreift als die Notwendigkeit, „Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind“.(88) Anmerkungen 1 Theodor Fontane, Der Stechlin , Frankfurt am Main 1975, S. 33. 2 An Sinclair, 24. 12. 1798, in: Briefe von und an Friedrich Hölderlin , hg. v. Peter Härtling, Köln 1994, S. 248. 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I , Werke in zwanzig Bänden , hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 5, S. 44. 4 An Zelter, 17. 7. 1827, in: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter , hg. v. Gerhard Fricke, Nürnberg 1949, S. 144. 5 Theodor W. Adorno, Minima Moralia , GS 4, S. 37. 6 Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung , Frankfurt am Main 1987, S. 41. 7 Adorno, Im Gedächtnis an Alban Berg , in: GS 18, S. 494. 8 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei , in: GS 16, S. 632. 9 Adorno, Vers une musique informelle , in: GS 16, S. 527. – Zur Subjektproblematik bei Adorno vgl. auch Johannes Bauer, Im Angesicht der Sphinx. Subjekt und System in Adornos Musikästhetik , in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos , Darmstadt 1995, sowie Johannes Bauer, Seismogram- me einer nichtsubjektiven Sprache. Écriture und Ethos in Adornos Theorie der musikalischen Avantgarde , in: Gerhard Schweppenhäuser/Mirko Wischke, Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno , Hamburg 1995. 10 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 121. 11 Adorno, Vers une musique informelle , a. a. O., S. 518. 12 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 118f. 13 Karl Marx, Das Kapital , Bd. 1 (MEW Bd. 23), S. 618. 14 Adorno, Ästhetische Theorie , a. a. O., S. 387. 15 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , in: GS 14, S. 378; Hvhbg. J. B. 16 Adorno, Vers une musique informelle , a. a. O., S. 502. 17 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , a. a. O., S. 393. 18 Adorno, Kriterien der neuen Musik , in: GS 16, S. 225. 19 Adorno, Ohne Leitbild , in: GS 10,1, S. 449f. 20 Adorno, Engagement , in: GS 11, S. 430. 21 Adorno, Philosophie der neuen Musik , a. a. O., S. 28. 22 Vgl. z. B. Feldman, After Modernism , in: Give My Regards to Eighth Street. Collected Writings of Morton Feldman , Ed. by B. H. Friedman, Cambridge 2000, S. 74. 23 Adorno, Vers une musique informelle , a. a. O., S. 494. 24 Roland Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn , Frankfurt am Main 1990, S. 262f. 25 Adorno, Negative Dialektik , in: GS 6, S. 277. 26 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei , a. a. O., S. 634. 27 Ebd., S. 635, Hvhbg. J. B. 28 Adorno, Philosophie der neuen Musik , a. a. O., S. 125. 29 Adorno, Ästhetische Theorie , a. a. O., S. 121, Hvhbg. J. B. 30 Adorno, Klassik, Romantik, Neue Musik , in: GS 16, S. 141. 31 Morton Feldman, Essays , hg. v. Walter Zimmermann, Kerpen 1985, S. 167. 32 Vgl. dazu Morton Feldman, Middelburg Lecture , in: Musik-Konzepte 48/49 (Morton Feldman), hg. v. Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München 1986, S. 61f. 33 Feldman, Crippled Symmetry , in: Give My Regards to Eighth Street , S. 137. 34 Feldman, Between Categories , in: Give My Regards to Eighth Street , S. 88. 35 Feldman, Essays , S. 205. 36 Michael Whiticker, Morton Feldman: Conversation without Cage , in: Ossia, 1 (1989), S. 6. 37 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884/85 , KSA Bd. 11, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, S. 645. 38 Barthes, Die Lust am Text , Frankfurt am Main 1982, S. 94. 39 Adorno, Form in der neuen Musik , in: GS 16, S. 618. 40 Adorno, Der Essay als Form , in: GS 11, S. 28. 41 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen , dtv-Gesamtausgabe, Bd. 21, München 1963, S. 49. 42 Adorno, Die Kunst und die Künste , in: GS 10.1, S. 450. 43 Nach Feldmans programmatischem Aufsatz, in: Give My Regards to Eighth Street , S. 83ff. 44 Feldman, Middelburg Lecture , a. a. O., S.54. 45 Goethe, Die Wahlverwandtschaften , Hamburger Ausgabe Bd. 6, München 1977, S. 270. 46 Gottfried Benn, Das moderne Ich , in: Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. Dieter Wellershoff, Bd. 3 (Essays und Aufsätze), Wiesbaden 1968, S. 581. 47 Zit. n. d. Editorischen Nachwort zu Adornos Ästhetischer Theorie , a. a. O., S. 541. 48 Adorno, Negative Dialektik , a. a. O., S. 232. 49 Adorno, Impromptus , GS 17, S. 270. 50 Vgl. GS 4, S. 79; GS 6, S. 265; GS 7, S. 156, 228, 449, 541; GS 10.1, S. 25, 166, 242; GS 11, S. 578; GS 12, S. 61, 73, 98; GS 13, S. 244, S. 393; GS 15, S. 94, S. 242, S. 386; GS 16, S. 472, 589, 623, 662; GS 17, S. 25, 90; GS 18, S. 68. 51 Adorno, Einleitung zu Benjamins ‹Schriften› , in: GS 11, S. 570. 52 Adorno, Philosophie der neuen Musik , a. a. O., S. 61. 53 Adorno, Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren , in: GS 16, S. 662. 54 Adorno, Negative Dialektik , a. a. O., S. 264f. 55 Adorno, Ästhetische Theorie , a. a. O., S. 228. 56 Karlheinz Stockhausen, Momentform. Neue Zusammenhänge zwischen Aufführungsdauer, Werkdauer und Moment , in: Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Köln 1963, Bd. I, S. 198f. 57 Stockhausen, Arbeitsbericht 1952/53: Orientierung , in: Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , S. 36. 58 Ebd., S. 37. 59 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los , Berlin 1979, S. 44. 60 Adorno, Philosophie der neuen Musik , a. a. O., S. 61. 61 Ebd., S. 61. 62 Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik , Frankfurt am Main 1993, S. 38. 63 Zum Verhältnis von Parataxe und Natur bei Hegel vgl. Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie (=Musikwissenschaftliche Studien, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Bd. 8), Pfaffenweiler 1992, S. 145f. 64 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II , Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 9, § 268. 65 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts , Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 7, § 324. 66 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II , Werke in zwanzig Bänden (wie Anm. 3), Bd. 9, § 268. 67 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , a. a. O., S. 379. 68 Adorno, Ästhetische Theorie , a. a. O., S. 166. 69 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , a. a. O., S. 379. 70 Adorno, Impromptus , a. a. O., S. 270f. 71 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III , Werke in zwanzig Bänden , Bd. 15, S. 573. 72 Adorno, Negative Dialektik , a. a. O., S. 355. 73 Pie-Slicing and Small Moves. Morton Feldman in Conversation with Stuart Morgan , in: Artscribe , 11, S. 35. 74 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft , Hamburg 1956, S. 196ff. 75 Nietzsche, Also sprach Zarathustra , KSA Bd. 4, München 1980, S. 380. 76 Gilles Deleuze/Claire Parnet, Dialoge , Frankfurt am Main 1980, S. 64. 77 Feldman, Essays , S. 184. 78 Adorno, Zur Dialektik von Heiterkeit , in: GS 11, S. 606. 79 Ebd., S. 606. 80 Michel Foucault, Les mots et les choses , Paris 1966, S. 398. 81 Sabine Sanio, Autonomie, Intentionalität, Situation. Aspekte eines erweiterten Kunstbegriffs , in: Klangkunst, Handbuch der Musik des 20. Jahrhunderts , Bd. 12, hg. v. Helga de la Motte-Haber, Laaber 1999, S. 118. 82 Pierre Boulez, Wille und Zufall , Zürich 1977, S. 57, sowie Werkstatt-Texte , Frankfurt am Main-Berlin 1972, S. 178. 83 Adorno, Ästhetische Theorie , a. a. O., S. 66. 84 Adorno, Negative Dialektik , a. a. O., S. 396. 85 Ebd., S. 339f. 86 Zit. nach Stefan Müller-Doohm, Adorno. Eine Biographie , Frankfurt am Main 2003, S. 621. 87 Vgl. Adorno, Amorbach , in: GS 10.1, S. 305. 88 Adorno, Vers une musique informelle sowie Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei , a. a. O., S. 540 und 634.
- Johannes Bauer: Roland Schmenner, Die Pastorale
Roland Schmenner Die Pastorale Beethoven, das Gewitter und der Blitzableiter Bärenreiter 1998 Ein neues Beethovenbuch ist erschienen, genauer: eines zu Beethovens Pastorale . Was die "Erfindung des Blitzableiters, die neue körperliche Zeiterfahrung durch Straßenbau und Schnellpostkutschen und die Freizeitwelt des Landschaftsgartens" mit Beethovens Sechster Symphonie zu tun haben, stellt Roland Schmenner in einem bei Bärenreiter erschienenen Band zur Diskussion. In einem Band, der zugleich ein neues Beethoven-Verständnis dokumentiert. Während die traditionelle Beethoven-Forschung unermüdlich den Bestand musikalischer Verlaufsanalysen anreichert, geben zunehmend auch Deutungen den Ton an, deren philosophisch und soziologisch geweiteter Ansatz die Auszehrung des akademischen Puritanismus nur um so nachhaltiger entlarvt. Deutungen mit einer Weitung des Horizonts, wie ihn etwa das 1993 veröffentlichte Beethovenfragment Adornos entwirft. Dieser Tendenz ist auch Schmenner verpflichtet. Seine Auseinandersetzung mit einem der populärsten Werke der Musikliteratur analysiert Beethovens Pastorale als einen Brennpunkt im Naturverständnis ihrer Zeit. Das heißt einem Naturverständnis, in dem Natur auf Geschichte hin durchlässig wird und Geschichte sich in Metaphern der Natur bricht. Daß bei diesem Unternehmen Namen wie Kant, Goethe oder Schiller und deren Natur- und Gesellschaftsverständnis zu Leitmotiven werden, liegt auf der Hand. Wenn Schmenner zudem die Kunsttheorie eines Eulogius Schneider einbezieht, die Beethoven in Bonn kennengelernt haben könnte, greift er damit eine bekannte, bislang aber immer noch zu wenig beachtete Facette der intellektuellen Erfahrung Beethovens auf. Vor allem verdeutlicht er dadurch das Netz direkter wie indirekter Einflußnahmen etwa auf dem Gebiet der Ästhetik des Erhabenen, der Beethovens musikalisches Denken maßgeblich verpflichtet ist. Sicher wurde in der Pastorale schon von Beginn an eine Erfahrung der Natur mitgehört, deren kulturell gebundene Triebdynamik vom Widerhall des politischen Geschehens und von einer Meteorologie der Affekte nicht zu trennen ist. Was heißen soll, daß Beethoven in der "Gewitter"-, "Sturm"- und "Hirtengesang"-Szene der Sechsten Symphonie ein mehrschichtiges Prisma komponiert. Ein Prisma, das Naturgeschehen, Affektpsychologie, Revolutionserfahrung und individuelle wie gesellschaftliche Erneuerung wechselseitig bricht und steigert. In Szene gesetzt als ein ethisches Läuterungsunternehmen großen Stils und immer noch getragen von der Hoffnung auf eine Vernunft der menschlichen Gattung, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln können. Es dürfte inzwischen allgemein bekannt sein, wie sehr im Zug der frühindustriellen Entwicklung und einer bürgerlich gesteigerten Subjektemphase das Modell der Arbeit für Beethovens Musik an Bedeutung gewann. In einer Weise, daß das Aussetzen der kompositorischen Durcharbeitung und Vermittlungsarbeit den Ausdruck des Naturhaften und Sakralen annahm: aufgrund der Nähe zu jenen meditativen, weil der Arbeit enthobenen Sphären von Religion und Natur, die zahlreiche poetische und theoretische Texte um 1800 nicht oft genug als heilende Kräfte wider das mechanische Leben beschwören konnten. Auch ist es wohl kein Geheimnis mehr, daß Beethovens Sechste Symphonie diese betont utopische Rhetorik im Idyll der "Szene am Bach" oder als Verschränkung von Natur- und Choral-Idiom in der "Hirtengesang"-Szene ihres Schlußsatzes auskomponiert. Soweit stützt sich Schmenners Untersuchung auf geläufige Erkenntnisse und Erfahrungen der Beethoven-Rezeption. Aufschlußreich ist jedoch, wie der Autor diese ästhetischen Befunde im Material, dem historischen wie dem musikalischen, präzisiert. Mehr noch: wie er bekannte Thesen differenziert, revidiert und eben damit zu neuen Einsichten transformiert. Was Schmenner im Rekurs auf die Pastorale zum Gegensatz von Stadt und Land, zum Phänomen der Beschleunigung im frühen 19. Jahrhundert, zum Utopie-Topos "Schweiz" und dessen Bezug zu Beethovens Komposition oder generell zur bürgerlichen Rezeption von Natur beibringt, läßt außerdem die übliche Art soziologischer Bebilderung hinter sich. Zum einen dadurch, daß die materialen Befunde auf ihren ideellen Hintergrund hin durchlässig werden. Beispielsweise in einem Kapitel, das den Formenkreis der Apokalypse als Bindeglied zwischen Religion und Politik behandelt. Zum anderen dadurch, daß bei aller geschichtlichen und ideengeschichtlichen Dokumentation die Musik nicht zu kurz kommt. Was etwa zur Problematik der Paarbildung von Pastorale und Fünfter Symphonie gesagt wird, zu ihrer schon fast klischeehaften Arbeitsteilung im bürgerlichen Seelenhaushalt, zur Verschiedenheit ihrer Zeitbegriffe und deren Funktion in einem Konzept der Moderne, ist instruktiv zu lesen. Vor allem, weil argumentativ entfaltet wird, was bisher eher im Bereich intuitiver Mutmaßung lag. Dies gilt ebenso für Schmenners Anatomie des Gewittersatzes der Pastorale . Ihn macht der Autor als komponierten "Lärm" aus, um dessen Zumutung in die Zerrüttungsfigur einer "Leere des Ichs" und eines "Entgleitens der Sinne" hineinzutreiben. An solchen Stellen wird der idealistische Traditionsschutt vorurteilslos beiseite geräumt. Vor allem werden solche Chaos-Partien Beethovens mit der wachsenden Entzauberung des Humanitätsideals nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution in Zusammenhang gebracht. Konnte Geschichte bislang im Modell einer heilsgeschichtlichen Zeit versöhnt werden, so zerreißt diese Versöhnung im Aufbrechen des Triebgrunds von Geschichte und Subjektivität. Sie zerreißt ebenso im Aufsprengen der säkularen Dreieinigkeit von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit durch ein unberechenbares Schicksal wie in der Trübung des hellen Ich durch ein übermächtiges Es. Schmenner macht plausibel, wie sehr dieser Triebgrund bereits im Gewittersatz der Pastorale rumort, und sucht zu sondieren, was denn der Terror der Gewitterszene mit der Terreur der Französischen Revolution, der Akkumulation des technisch-militärischen Gewaltpotentials und dem Humanitätsbegriff des deutschen Idealismus zu tun hat. Soweit einige Facetten des Buchs. In einem Punkt macht es sich Schmenner allerdings etwas zu leicht. In seiner Behauptung nämlich vom Unzeitgemäßen, Veralteten, Überholten der Musik Beethovens. Der Schlußsatz des Buches: "Beethovens Musik erschüttert heute keinen Menschen mehr, sie läßt allenfalls noch Baukräne am Berliner Potsdamer Platz tanzen", ist unter Anspielung auf ein Konzert mit Beethovens Neunter Symphonie zur Grundsteinlegung der Berliner Mercedes-Benz-Niederlassung nur unter Vorbehalt richtig. Sicher trifft zu, wie vom Autor behauptet, daß wir "prinzipiell der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet bleiben, auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung die vormals gültigen Prinzipien jedoch verlassen haben". Im gesperrt gedruckten Bekenntnis jedoch: "wir sind über Beethoven hinaus ", verdrängt die soziologische Argumentation die ästhetische Analytik. Natürlich steht der Zeitkern Beethovens außer Frage. Kein Zweifel auch, daß in einer Reliquien- und Gedenkkultur der philharmonische Beethoven-Diskurs zumeist zum Anpassungstraining verkommt; zur Festigung des Status quo im Ritual der Gewohnheit und der Gewöhnung. Trotzdem behält auch hier eine Variante aus Adornos Hegelstudien ihr Korrektiv. Das Korrektiv, was denn die Gegenwart vor Beethoven bedeute. Nicht als ob die Gewalt in Beethovens Symphonik zu vertuschen wäre; ihre eroberungshaften Züge, ihr bürgerlicher Durchdringungseifer im Pakt von Ich und Arbeit. Und doch ist in Beethovens Musik noch etwas mehr komponiert als ihr unerbittlicher Formimperativ, ihr ethisches Sinndiktat oder ihre ökonomischen Kontrollprozeduren. Etwas, das schlicht als transsubjektiver Impuls zu charakterisieren ist. Oder, pathetischer ausgedrückt, als der Impuls eben jener Erschütterung, die Schmenner in Zweifel zieht. Ein Impuls, der gegen die Psychopathologie der Gesellschaft den Panzer des Ego und das Monopol der kleinlichen Gefühle immer noch für Augenblicke zu durchschlagen vermag. Trotz des Makels des Bildungsprivilegs können das Sensorium der Massengesellschaft und ihr Unterhaltungsdelirium kein Maßstab ästhetischer Relevanz sein. Zumal die eskalierende Technisierung und elektronische Vernetzung im Mißverhältnis zu einem beileibe nicht nur ästhetisch zurückgebliebenen Bewußtsein steht; zugeschnitten auf eine Gesellschaft, die in ihrer Verdinglichungsmacht, ihrem Konkretismus und ihrer Besitzvereisung zwar ständig nach neuester Technik verlangt, ihren ökonomischen, politischen und ästhetischen Möglichkeiten nach aber unerträglich vergreist bleibt. Gleichwohl: Schmenners Studie ist ein interessanter Beitrag zur Geschichte der Naturästhetik. Und unter diesem Aspekt hält das Buch, was es verspricht: ein Buch zu sein für "kultur- und musikgeschichtlich interessierte Leser, die Näheres über den allgemeinen Wandel des Naturverständnisses und über Beethovens künstlerischen Umgang mit Alltagserfahrungen wissen möchten". Johannes Bauer
- Johannes Bauer, Zum Formenkreis des komponierten Atems
Zum Formenkreis des komponierten Atems lDeutschlandRadio Berlin (2000) Ein Radio-Dialog für zwei Sprecherinnen »Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren.« Bspl. 1: Schnebel, Atemzüge [Tr. 3 (25´42´´-26´03´´)] (21´´) A Vielleicht war es so, oder so ähnlich, damals, am 8. Januar 1889, als Franz Overbeck seinen Freund, den Philosophen Friedrich Nietzsche, »stöhnend und zuckend« in dessen Turiner Herberge vorfand. Hineingeglitten in den »Kreis der Wahnvorstellungen«. - Oder vielleicht so? Bspl. 2: Artaud, pour en finir avec le jugement de dieu [Tr. 8(Beginn - 0´41´´)](41´´) Inszenierung eines Delirierenden, der »Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat, hervorstieß«, »worauf wieder Konvulsionen und Ausbrüche eines unsäglichen Leidens erfolgten«. B Warum dieser Beginn mit Nietzsche und Artaud? Warum dieser Beginn an den Rändern der Sprache in einem Gespräch zum Formenkreis des komponierten Atems? Wir könnten doch auch anders beginnen. Etwa so: Bspl. 3: Shika No Toone für Shakuhachi [ZEN, Tr. 1 (1´07´´-1´40´´)] (33´´) A Nietzsche, Artaud, ein Stück für die japanische Bambusflöte -: alle diese Beispiele haben direkt oder untergründig etwas mit Atmen und Atem zu tun. B Trotzdem die Frage: warum diese Mischung? Und wo bleibt die Neue Musik? A Zumindest ein Beispiel daraus haben wir ja schon gehört. Sie erinnern sich: Bspl. 4: Schnebel, Atemzüge (=Beispiel 1) (21´´) $$ B Fangen wir am besten nochmals von vorn an; oder fast von vorn. Mit einem Aspekt der abendländischen Kunstmusik nämlich, sagen wir bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich nehme an, Sie pflichten mir bei, dass der Ausdrucksbereich des Körpers jahrhundertelang durch ein spirituelles Reinheitsideal von der europäischen Kunstmusik ausgeschlossen war. A Deshalb der Verweis auf Japan? Hörbarer Atem, raue und geräuschhafte Tongebung als wesentliche Elemente der Shakuhachi-Musik. B Zum Beispiel. Die Meisterschaft des Shakuhachi-Spiels liegt ja gerade darin, sich dem Ton der Natur anzuschmiegen, etwa dem Geräusch des Windes in welkem Bambusgebüsch. Ausdruck einer Tradition der leidenschaftlichen Versenkung in die Farben und Töne der Natur. A Und Ausdruck einer Musik, die durch keine metaphysischen Jenseitsfilter vom materiellen Klang getrennt ist wie die christlich inspirierte des Abendlands. B Eben. Der sich selbst genügende Klang in der Komplexität seines Jetzt und Hier ist keiner, der sich von Natur erst zu reinigen hätte. Oder nehmen Sie noch ein anderes außereuropäisches Beispiel. Einen Dikr aus dem Sudan. Hier führt die Anrufung Allahs als unablässige Wiederholung seines Namens zu mystischer Entrückung. Und zwar mittels einer ekstatischen Dramaturgie geräuschhaft keuchenden Atmens. Bspl. 5: Dikr (Sudan) [LP 1, B 2 (gegen Ende): Ausschnitt ca. 0´30´´] (30´´) A Ich muss bei diesem Beispiel unwillkürlich an Goethes West-östlichen Divan denken, an jene Stelle, in der er vom »Atemholen« als von »zweierlei Gnaden« spricht: »Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. / Jenes bedrängt, dieses erfrischt« und so weiter. B »Im Atemholen sind zweierlei Gnaden« - ob Sie beim folgenden Beispiel immer noch an Goethe denken? Bspl. 6: Lejeune, Parages [Le Cycle d’Icare (Chute)] (1´40´´) A Von »zweierlei Gnaden« kann hier weiß Gott nicht mehr die Rede sein. Eher von Angst, Schwindel und Abgrund. B Und genau darum geht es in der Komposition von Jacques Lejeune. Es geht um den Sturz des Ikarus, um ein endloses Sturz-Glissando, angekündigt vom Atem der Angst. Es geht um den Schock, der den Atem verschlägt, um den plötzlichen Höhenschwindel. A Interessant nur, wie sich der Sturz akustisch immer weiter entfernt und sich damit endlos fortzusetzen scheint. Interessant deshalb, weil sich der Sturz damit zur Chiffre auflädt. B Zur Chiffre wofür? A Vielleicht für das Bewusstsein der Angst. Das wäre zumindest angesichts der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verwunderlich. Egal ob man nun die Geschichte der Angst von Kierkegaard bis Heidegger kennt. Die Geschichte von der Angst als dem »Schwindel der Freiheit«. B Ach ja, Kierkegaards berühmte Angst-Figur. Angst als die Erfahrung vom Blick in den Abgrund, aber auch von Atemnot und drohendem Ersticken, womöglich an der bitteren Speise des Lebens. Bspl. 7: Lejeune, Parages [Le Cycle d’Icare (Chute)] (Nach ca. 45´´ abbl.)(0´45´´) A Fragt sich also, was Lejeunes Ikarus gesehen hat. Ist es der Schock des Abgrunds, der auch in Baudelaires Ikarus-Gedicht eine so zentrale Rolle spielt? B Oder ist es das Nichts, das ihm das schockhafte Atmen aufzwingt. Jenes Nichts, das seit Kierkegaard so eindringlich mit der Angst verbunden wird. A Und das Heidegger ebenfalls bemüht. Ihm »versinken« in der Angst »alle Dinge und wir selbst« in »Gleichgültigkeit«. »Es bleibt kein Halt. (...) Die Angst offenbart das Nichts«. - Und noch etwas: die Angst »verschlägt uns das Wort«. Womöglich gar den Sinn? Bspl. 8: Ligeti, Aventures (Beginn bis ca. 1´25´´) (1´25´´) B Ob man bei den Aventures Ligetis allerdings mit dem Begriff der Angst weiterkommt? Eher macht doch ihr soeben gehörter Beginn das Atmen als den materialen Grund der Sprache bewusst. A Sie meinen als Anfang und Ende von Sprache? B Ja. Und überdies als den Grund einer Sprache, deren Sinn auf Konvention basiert, durch und durch künstlich ist. A Dies war übrigens eine der Überlegungen für den Beginn mit Nietzsche und Artaud. Beide haben schließlich das Fiktive und damit zugleich Freie des Sprachrapports blutig ernst genommen. Mit Blick auf Ausdrucksmöglichkeiten jenseits von Syntax und Urteil und deren Wahrheitsgier. Denken Sie nur an Artauds Credo »Briser le langage pour toucher la vie«, »Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren«. B Bis schließlich beide im Schrei oder im Schweigen des Wahnsinns endeten. A Das meinen Sie hoffentlich nicht abfällig. B Aber natürlich nicht. Ligetis Aventures und ihre künstliche Sprache jedenfalls zeigen, wie sehr die angeblich verständliche Sprache des Worts unverständlich, schal, ausdruckslos geworden ist. Sicher mag das ein Angstmoment beinhalten. Aber eben doch nur ein Moment. A Atmen also als materialer Grund von Artikulation und Sprache. Aber auch als eine Art Windmaschine des emotionalen Repertoires. B Schön formuliert. Sicher wird der Sprachgrund des Atmens verstärkt, insofern Ligetis Mimodram pure Lautdichtung ist: asemantisch und in phonetischer Schrift notiert. A Man könnte auch sagen, erst mit ihrer Dekomposition wird Sprache auf ihren körperhaften Grund hin durchlässig. Erst jetzt kann sie ihr energetisches Luftmoment als ästhetisches Element einlassen, das Atmen. B Und deshalb taucht auch beides, die Dekomposition der Sprache und das Geräusch des Atmens, fast zeitgleich in der Musik auf. Wie gesagt: Ligetis Libretto lädt sich hauptsächlich seiner Künstlichkeit wegen mit einem gestischen Ausdruck auf, der es verständlich und unverständlich, bekannt und unbekannt zugleich werden lässt. A Und grotesk und unheimlich in eins. Auf jeden Fall werden die emotionsgeladenen Rollenspiele der Sänger tatsächlich zu Aventuren, zu Abenteuern auf dem Gebiet der Expression. Getragen vom Atem als Grund der Artikulation und, wie ich sagte, in Form einer Windmaschine des emotionalen Repertoires. B Um auf Ihren Gedanken vom Zusammenhang zwischen dekomponierter Sprache und komponiertem Atem einzugehen. Für ihn spricht auch, dass zumal in den 60er- und 70er-Jahren zahlreiche Komponisten auf der Basis einer rein phonetischen Sprache arbeiten und diese Basis auf den Formenkreis des Atmens hin erweitern. A Als da wären - B zum Beispiel Mauricio Kagel oder Luciano Berio. Bspl. 9: Berio, Visage [Ab ca. 1´45´´(aufbl.) bis »parole«] (1´57´´) Man kann das Herausproduzieren der Artikulation aus dem Reservoir des Atems wie unter Geburtswehen wohl kaum eindringlicher zu Gehör bringen. Eine traumatische Sequenz, die Berios Visage hier in Szene setzt. Und wenn die aus den realen und künstlichen Atem-Geräuschen auftauchende Artikulation aufs Deutlichste im Wort »parole« kulminiert, liegt darin etwas von Beschwörung. A Und von einem Bedürfnis nach Halt. B Aber auch die Erkenntnis, dass dieser Halt der »parole«, der Worte, der Sprache trügerisch ist. A Das klingt, als verdichte sich bei Berio eine Reflexion aus Hofmannsthals Chandosbrief : Sprache als ein Mittel der Konvention und damit auch einer gewissen Sicherheit; Sprache auf Grund dieser konventionellen Fasson aber auch als ein beängstigender Abgrund, der auf das Leere hin durchlässig wird: auf das Rauschen des Atems. B Wir sollten uns nur hüten, die komponierten Atemgeräusche der Neuen Musik auf Angst hin einzuengen. Eine Facette des Atmens liegt beispielsweise im Assoziationsbereich des Schlafs. A Und damit auch des Todes, des »Schlafes Bruder«. B Und des Traums. Schlaf, Schlafen -. Seitdem sich die Geschäftigkeit des Tages zur rastlosen Profitökonomie auszuwachsen und allen Zauber der Nacht und der Fantasie als unrentablen Seelenluxus in die Sphäre des Ästhetischen abzudrängen begann, lockt der Reiz des Nächtlichen umso mächtiger. A In den großen Nachtgedichten Eichendorffs etwa - mit ihrem Rauschen als einer Atemsprache der Natur. B Schlaf, Traum: letzte Refugien in einer zunehmend von Schlaflosigkeit und Alpträumen geplagten Funktionswelt. Apropos Eichendorff. Seine Rede von der »wunderbar verschränkten Hieroglyphe« Natur führt uns aufs Schönste zu einer anderen Nische, in die sich die Sehnsucht nach dem verwehrten Zauber des Nächtlichen flüchten konnte. Ich meine zum Zauber Ägyptens. A Und damit zur Faszination einer Kultur, in der das Nacht- und Todesreich von dem des Tages und des Lebens nicht zu trennen ist. B Eben dieser altägyptische Mythenkreis hat den 1998 verstorbenen Komponisten Gérard Grisey mehrfach beschäftigt. A Womit wir wohl endlich bei den pneumatischen Übungen des New Age wären. B Bei wem? A Bei den Seelenmassagen des New Age und seiner Konfektionsmusik für Gestresste. B Keineswegs. Warum sich bei Grisey keine Spur von meditativem Schnickschnack findet, hängt mit der Struktur seiner Musik zusammen. Sie konturiert zwar einen Horizont der Analogien, ohne ihn jedoch auch nur im geringsten zu illustrieren. Mag sich Griseys Komposition Jour, Contre-Jour auch vom altägyptischen Mythos des Wegs der Sonne durch das Reich der Toten inspiriert zeigen: programmmusikalische Deutungen wären sinnlos; noch sinnloser die Projektion kruder Polaritätsmuster wie die von Tag und Nacht. A Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Jour, Contre-Jour eher eine Musik des Bündnisses von Tag und Nacht, von Leben und Tod gegen deren ökonomieverrückte Spaltung. Ein Stück Zivilisationskritik also. B Ein Stück musikalischer Zivilisationskritik, formuliert durch die kompositorische Struktur selbst. Schon der Anfang mit dem körperhaften Repertoire sich beschleunigender Puls- und Herzschläge und vereinzelter Atemzüge wirkt wie der Beginn einer archäologischen Seelenfahrt in Bereiche, die der ökonomischen Nachtblindheit unzugänglich sind. Hier wird der Sprachschatten des Atems zu einer mächtigen Schattensprache, die der Lichtmetaphorik der Komposition im weiteren Verlauf erst Kontur und Kontrast gibt. Bspl. 10: Grisey, Jour, Contre-Jour (Bei 2´00´´aufbl.) (1´00´´) A Übrigens haben ja schon Stockhausens Hymnen eine lange Phase ruhigen Atmens zum Traumszenarium inszeniert. Weit programmatischer und eindeutiger allerdings als Grisey. B Im Jahr 1970, glaube ich. A Früher, 1966/67. Aber das ist nicht so wichtig. Wichtiger ist für uns Stockhausens Absicht. Ihm geht es um Völkerverständigung; um eine befriedete Welt auf dem Weg zum »utopischen Reich der Hymunion in der Harmondie unter Pluramon«, wie Stockhausens griffiger Formelreigen das nennt. B Planetarisch-kosmische Dimensionen also, A die Stockhausen über die elektronischen Klangtransformationen und Intermodulationen zahlreicher Nationalhymnen zu Gehör bringen will. B Und dabei spielt, lassen Sie mich raten, die visionäre Sphäre des Traums eine entscheidende Rolle, angedeutet eben durch eine Atemsequenz. A Genau so. Wenn in der vierten Region der Hymnen Stockhausens Atemzüge von Erinnerungseinschüben, das heißt von früheren Stationen der Hymnen, sprich: Ländern und Völkern, resümeehaft durchquert werden, B dann liegt der Gedanke an den sprichwörtlichen Traum von einer besseren Welt auf der Hand. A Eben. An einen Traum jedenfalls, zu dessen Verwirklichung Stockhausens Musik animieren will. Indem sie beispielsweise in einem offenen Entwurf der Stille von fast eineinhalb Minuten endet; oder indem Stockhausen über die Stimme eines Croupiers nachhaltig zum Einsatz, sprich: Engagement für das Unionsprojekt Welt auffordert. B Nun denn: »Faites vôtre jeu, Messieurs, dames, s’il vous plaît!« Bspl. 11: Stockhausen, Hymnen, IV [Tr. 55 (ab 0´10´´ aufbl.) - Tr. 57 (0´45´´)(1´33´´) A Gleichwohl droht die planetarische Dimension immer wieder ins Dekorative, Triviale abzustürzen.Weil Stockhausens Höhenflug die materiell geschichtliche Basis aus dem Blick verliert B Gewissermaßen die Berührung mit dem Boden des Allzuirdischen. A So könnte man sagen. Am auffälligsten wird dies anlässlich der von Stockhausen selbst ausgegebenen Formel »Pluramon«, einer Art Mantra für die Idee der Universalität. Wird dieses Mantra zunächst nur zögerlich wie im Halbschlaf gemurmelt, flankiert von gleichmäßigen Atemzügen, um schließlich wie in einer plötzlichen Erleuchtung verkündet zu werden, erinnert das an einen Werbeslogan, noch dazu an einen dilettantisch produzierten. B Den Stockhausen im Dienst der guten Sache aber verteidigen dürfte. A Sicher. Nur wirkt die Stelle inmitten der hymnischen vierten Region mit ihren weihevoll statischen Klangblöcken und ihrer umfassenden Welt-Idee leicht schief und unfreiwillig komisch. Bspl. 12: Stockhausen, Hymnen, IV [Tr. 61 (0´41´´) bis z. 2. »Pluramon«)](2´22´´) B Lassen wir einmal das Sendungsbewusstsein des Meisters beiseite. Den globalen Blick vom All aus auf den Blauen Planeten und seine Völkerschaften samt dem Steckbrief ihrer Nationalhymnen. Mich beschäftigt mehr die Aura des Atmens. Obwohl Stockhausens Hymnen -Musik auf des Messers Schneide tanzt, großartig stringente Partien neben solche eines messianisch inspirierten Multikulti setzt: man kann sich der Faszination der Atempartien nicht entziehen. Es scheint fast so, als könnte der komponierte Atem die Musik selbst noch von einem falschen Zungenschlag erlösen. Woran liegt das? Was meinen Sie? A Vielleicht daran, dass Atmen zum radikalen Kürzel für Leben und Tod geworden ist. Zu verstehen als eine soziale Spiegelungsfigur. »Das Leben lebt nicht«, steht als Motto in Adornos Minima Moralia . Umgekehrt könnte man sagen, dass die Verdrängung des Todes in der Funktions- und Betäubungsgesellschaft genug über deren Lebensentwurf aussagt. Die Verdrängung des Todes und die von Leben hängen engstens miteinander zusammen. Leben, oder noch deutlicher: Lust und Tod sind die großen Skandale einer Gesellschaft, die alle zu Geiseln der Ökonomie macht. Kein Wunder, dass der industrielle Furor, dessen Profitdiktat dem Leben den Atem nimmt und Lebenszeit zur bloßen Frist, womöglich zur Galgenfrist entwertet, das Röcheln und Seufzen der Sterbenden wenn nicht verbieten, so doch wenigstens am liebsten in schalltote Räume verlegen möchte. Vor dieser Szenerie lädt sich das Atmen gleichermaßen zur Hoffnungs- wie zur Resignationschiffre aller Entwürfe und Utopien auf. B Und Sie glauben wirklich, all das spielt bei den Atemsequenzen der Neuen Musik eine Rolle? A Ich denke schon. Zumindest in Form eines untergründigen Assoziationshofs. B Szenenwechsel! Helmut Lachenmanns Komposition temA für Flöte, Stimme und Violoncello verweist schon im Titel auf den Formenkreis des Atmens. temA , anders kombiniert, buchstabiert sich zu »Atem«. Allgemein gesprochen demonstriert Lachenmanns Komposition die Unmöglichkeit - zum Glück - einer reinen, unberührten, der Geschichte enthobenen Natur. A Sie meinen im Sinn des Gedankens, dass noch der Blick des Forschungsreisenden, sollte er denn auf ein Stück unentdeckter Natur stoßen, geschichtlich gebrochen ist. B Genau. Lachenmanns Musik zielt gegen den Mythos einer Ur-Natur auf deren Veränderlichkeit und Veränderbarkeit. Bspl. 13: Lachenmann, temA (9´49´´-11´04´´) (1´15´´) A Das verschlägt einem nun wirklich den Atem. Diese Musik unablässig komponierter Plötzlichkeiten. Keine Spur mehr von der schalen Ausdruckskunst eines theatralisch aufgespreizten Subjekts; eher eine - B Explosion des Körpers, die die Bedeutungen aus dem materialen Inneren der Sprache hervortreibt. A Der Sprachbegriff erweitert sich, indem Sprache nicht mehr lediglich als ein mediales Objekt des Ausdrucks begriffen wird. B Im Gegenteil: es geht um einen Sprachbegriff, in dem das Artikulationsrepertoire des Atmens selbst zur Sprache wird. - Um nochmals auf den Gedanken einer durch und durch geschichtlichen Natur zurückzukommen: dem Mythos vom Atmen als einem Versprechen reiner Natur widersteht Lachenmanns temA gerade durch den Einsatz einer enorm entwickelten und in sich emanzipatorischen Technik. A Eben. Rückwärts gewandten Geborgenheitsträumen verweigert sich eine Musik, der bewusst ist, dass die Sprache des Körpers erst an einem bestimmten Punkt der Geschichte ihre ästhetische Internierung sprengen konnte, ja musste. B Um vom Stand der technischen Mittel und ihrer emanzipatorischen Kraft in temA eine Vorstellung zu bekommen, vergegenwärtigt man sich am besten das virtuose Artikulationsrepertoire der Komposition. Angefangen vom schlichten Atmen über geflüsterte Dialoge bis hin zum »schreienden Einatmen« soll die Sängerin auch noch ›ganz hinten im Hals hecheln‹ oder den »Ton durch unnatürlichen Druck verzerren«, außerdem zwei Tremolo-Arten anwenden: Schnarchen und Knattern. Und das alles mit einer ungeheuren Agilität, die zeigt, wie aus dem Seelenton der Stimme einer der Lust und des Widerstands geworden ist. A Schnarchen und Knattern: indem kein Geräusch zu minder ist, wird zugleich die Ausgrenzungsgewalt des Zivilisationsprozesses ein Stück weit zurückgenommen. B Insbesondere weil der Klang - so Lachenmann - als »Nachricht seiner Hervorbringung und der dabei mitwirkenden mechanisch-physikalischen Bedingungen« gezeigt wird. A Und nicht nur das. Indem Lachenmanns Autopsie des Tons den Zusammenhang zwischen der Materialbasis des Klangs - bis hin zum Atmen - und dem musikalischen Diskurs einsichtig macht, praktiziert sie musikalische Metaphysikkritik. Die Idee ist von ihrer materialen Basis nicht zu lösen. Endgültig passee ist der Platonismus einer Musik des reinen Tons und der reinen Bedeutung. Bspl. 14: Lachenmann, temA (12´53´´-14´00´´)(1´07´´) B Den Abschied vom Platonismus des reinen Tons, wie Sie das genannt haben, vollzieht in kompromissloser Weise auch Dieter Schnebel. Seine Atemzüge von 1970/71 komponieren Atemverläufe. Nicht mehr und nicht weniger. Schnebel bezeichnet sie als Exerzitien, die zu Produktionen werden können. A Exerzitien – das klingt nach Praktiken der Besinnung und inneren Einkehr. B In gewisser Weise sind sie das auch. Sollen doch »Atemtiefe und Atemgeschwindigkeit«, »Mund- und Zungenbewegungen« und schließlich »die Stimmbänder in die Atemgestaltung einbezogen« werden. A Was heißt, dass die Ausführenden mit den in den »Exerzitien« gesammelten Erfahrungen »Produktionen« in Gang setzen können. B Oder Prozesse in Form von Interaktionen zwischen den Ausführenden; Prozesse aber auch zwischen den Interpreten und dem Publikum. Und dass sich solche Prozesse mit der ganzen Palette an egoistischen und alt-ruistischen Emotionen und Praktiken aufladen können, wen wundert es. Bspl. 15: Schnebel, Atemzüge (27´00´´-28´52´´) (1´52´´) A Was zunächst allzu therapeutisch klang, erschließt sich beim Hören dieser Atem-Musik als ein tiefgründiger Exkurs zum Zusammenhang von Genese und Geltung. B Genese und Geltung? In Bezug worauf? A In Bezug darauf, dass die Musik zu lange, zu hartnäckig ihre feudale Komponente verteidigt hat: das reine, schlackenlose Endprodukt. B Sie meinen den schönen Ton, die schöne Ordnung der Konstruktion, die Schönheit des sublimierten Ausdrucks, so hässlich und abgründig er sich zuweilen auch gebärden mochte? A Ja. Schnebels mit analytischer Aufmerksamkeit interpretierte Produktionsprozesse dagegen nehmen die vormals zu organischen und stimmlichen Handlangern abgewerteten Produzenten des Tons endlich ernst. Allem voran den Atem. B Für Schnebel gibt der Atem »selbst schon genug Geräusche her«. Mehr noch aber ist der ›Atemrhythmus formbildend für die Laute‹. Laute also als eine »hörbar gemachte Atemäußerung«. A Die Richtung wäre somit klar: Schluss mit einer Körperdessur, die von der materiellen Produktion des Tons ablenkt. Vom Ansatz her erinnert diese »Einbeziehung des Körpers« stark an Artaud. Als wäre Artauds Le Théâtre et son double von 1938 auf die Musik übertragen worden. Auch für Artaud ist ja - Zitat - »die Frage des Atems (...) die wesentliche«. Zumal sogar die Schauspieler »vergessen haben, dass sie auf dem Theater einen Körper hatten«. B Dies trifft sich exakt mit Schnebels Ansatz. Zudem geht es Schnebel in den Atemzügen wie auch in den Choralvorspielen um eine Säkularisierung des Pneumas. Um das Wehen eines kreatürlichen Geistes sozusagen, der die Dinge mit »experimenteller Fantasie« durchdringt. A Sie erwähnten soeben Schnebels Choralvorspiele . Ich kann mich noch gut an eine ihrer Aufführungen erinnern, bei der mich beindruckt hat, wie die Musik die Kirchentüren aufstieß - ins Offene, Freie. B Erst dann nämlich wird es interessant und nötig, der Welt zuzuhören, mit all ihren Alltagsgeräuschen und ihrem technomorphen Hintergrundrauschen. A Damals wurde mir klar, wie sehr Schnebel dem Pfingst-Mythos verpflichtet ist: starr separierte Sphären, versteinerte Normen und Konventionen müssen vom Sturm, vom Atem revolutionärer Imagination durchdrungen und aufgebrochen werden, bevor sie zu neuen Konstellationen zusammenschießen können. Lassen Sie mich aber noch kurz auf eine Schlussversion der Choralvorspiele I eingehen. Sie zeigt nämlich über das Motiv des Atmens, mit welcher zivilisatorischen Gewalt es das ästhetische Unternehmen zu tun hat. Schnebel komponiert hier ein beinahe heroisches Athletentum moderner condition humaine. Ein Ineinander von panischem Nach-Luft-Ringen - nahe am Ersticken, umtost von aggressivem Motorenlärm - und heftigstem An- und Gegen-Atmen gegen die strangulierende Wucht einer technizistischen Welt. Mörderische Attacke und Momente des Widerstands verschränken sich zu einer wahrhaft atemberaubenden Intensität des Ausdrucks. Vor allem, indem die schockartigen Atemstöße punktuell die Kraft eines Sogs gewinnen: in Kombination mit den nur knapp zeitversetzten und daher wie kausal an sie gebundenen, brutal einbrechenden Schlägen der Instrumente. So als könnten die Atemstöße die Agonie ruckartig von einem Punkt der Befreiung her aufbrechen, um dann doch wieder wie gelähmt zu erstarren. Bspl. 16: Schnebel, Choralvorspiele I (8´47´´ – Ende) (1´37´´) B Zurück zu Schnebels Atemzügen . Schnebel verwandelt in ihnen das Atmen in eine Sprache sui generis A und emanzipiert damit die Partialtriebe der Stimme: atmen, röcheln, stöhnen, ersticken; wie gesagt, nichts wird ausgeschlossen. B Das bislang Knechtische der unteren Produktionssphäre, die der Organe, rückt ins Bewusstsein, um mit ihrer Emanzipation auch den schönen Ton von seiner sterilen Herrschaft zu erlösen. Es geht demnach um eine Aufhebung von Hierarchie- und Machtverhältnissen. A Und um eine Archäologie des Verschütteten und Tabuisierten, die die Ausdrucksvielfalt des Atmens bewusst macht. Eine Vielfalt der Besonderungen, die nicht in der Identität der Individualität aufgeht. Anders etwa als die Stimme im Bereich der gesprochenen Sprache, die über ihre Klangfrequenzen individuell identifizierbar ist. B Deshalb wird institutionell ja auch schon genügend von Spracherkennung Gebrauch gemacht. Atemerkennung wäre schlicht ein Unding. Atemgeräusche ermöglichen höchstens Unterscheidungen in puncto Geschlechtszugehörigkeit. A Und doch: trotz des Verschwindens - oder sollte man besser sagen: trotz des Überschreitens individueller Erkennbarkeit reicht Atmen in die individuelle Existenz hinein wie keine Sprache sonst. Vielleicht liegt darin eine weitere Facette der Aura des Atmens. Atmen - das Individuellste und Allgemeinste zugleich. Vor- und übersprachlich, Gattung wie Individuum in gleicher Weise verbunden. B Sie meinen als eine wahre Vox humana; während die verbalen Sprachen stets das Erbe der babylonischen Sprachverwirrung mit sich führen und an der Last der Bedeutung und dem Allgemeinheitssog ihrer Begriffe zu tragen haben. A Genau. Atmen als die letzte Lingua franca einer Menschheit, die wie besessen daran arbeitet, den eigenen Naturgrund zum Verschwinden zu bringen. Atmen aber auch als eine Lebensäußerung, die von der Unterwerfung unter kapitalistische Vermarktungszwänge noch weitgehend verschont geblieben ist. B Daher vielleicht die starke Naturassoziation, die sich mit dem Atmen verbindet. A Vielleicht. Atem - schon das Wort ist nur im Singular verwendbar - wird durch die Grammatik des Atmens zum Ausdruck eines Kollektivsingulars: dem Gattungssubjekt als letztes körperhaftes Memento eingeschrieben. Zum Schluss noch eine Erfahrung mit einer anderen pneumatischen Musik, mit Luigi Nonos »Das atmende Klarsein« für Bassflöte, Chor und Live-Elektronik auf Fragmente aus antiken orphischen Dichtungen und Rilkes Duineser Elegien . B Das klingt nach Todesmystik oder nach einem Kult der Verinnerlichung im Sinne von Rilkes »Nirgends wird Welt sein als innen«. A Gleichwohl wäre nichts verkehrter als das. Nonos Musik ist kein Memento mori. Im Gegenteil: sie ist eine des Memento vivere auf der Basis einer Versöhnung von Tag und Nacht - wie bei Grisey. Wenn überhaupt, dann liegt darin ihr orphisches Element. B Und doch: indem Nonos Musik auf Grund ihrer ins Piano und Pianissimo possibile zurückgenommen Dynamik von weither zu kommen scheint, nimmt sie auch etwas Mystisches an, finden Sie nicht? A Aber auch etwas Sirenenhaftes, Verlockendes. Wenn Nono mehrmals Rilkes Wendung »ins Freie« aufgreift und die Musik immer wieder auf langen Fermaten Atem schöpfen lässt, wird klar, wie sehr es ihm um Suspension geht. Um den Atem der Suspension und damit um den befreiten Augenblick. B So als könnte die atmende Verschwendung der Zeit die gängige atemlose Vernichtung des Augenblicks wie in einem Spiegel entlarven. A Ja. Und was könnte wie bei Nono den Atem der Suspension besser zum Ausdruck bringen als ein Instrument, das vom menschlichen Atem zum Klingen gebracht wird? Dem Körper deshalb ungleich enger verbunden ist als die manuell mit größerer Distanz gespielten Streicher? Die Flüchtigkeit, die Klage und das Versprechen des Naturlauts bewahrt der Flötenton jedenfalls weit dringlicher. B Und auch das Wechselspiel zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Atem und Wind beispielsweise, im Eingedenken eines gemeinsamen pneumatischen Grundes. Und dies alles mit einem Ton, der stark und fragil zugleich ist. A Einem Ton, der das Starre zum Vibrieren bringt. Dieses atmende Erzitternlassen wird bei Nono produktiv, sofern die Partien von Soloflöte und Live-Elektronik minimale Abweichungen, Wandlungen und Zwischentöne des Klangs entfalten, die gehört werden wollen: mit einer Sensibilität der Differenzierung und imaginativen Aufmerksamkeit. Eine hintersinnige Metapher für die verkannten Möglichkeiten des Jetzt und Hier und für die Harthörigkeit einer Zeit, in der sich Wirklichkeitsterror und Weltverlust ergänzen. B Mir scheint, Musik solcher Stille wird selbst zum offenen Ohr für leiseste Resonanzen und Echos - A und zum Resonanzboden für Unhörbares, Überhörtes, Unerhörtes. Nono vertraut auf die Imaginationskraft des Gehörs. Und vielleicht auch darauf, dass das Aus- und Aufatmen seiner Musik die Atemlosigkeit einer Welt im selbstvergessenen Taumel der Verwertung doch noch verstört. B Das haben Sie, glaube ich, nun doch etwas zu gutgläubig formuliert. Aber warum auch nicht – im Sinn eines ermutigenden Schlussworts ... A Eben. Und im Sinn einer Musik des Versprechens - als könnte es sich doch noch entfalten: »nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein«. Bspl. 17: Nono, »Das atmende Klarsein« [Tr. 1 (0´44´´-3´17´´)] (2´33´´) Musik- und Tonbeispiele Beispiel 1: Schnebel, Dieter, Atemzüge (wergo 286 287-2) Beispiel 2: Artaud, Antonin, pour en finir avec le jugement de dieu (sub rosa SR92) Beispiel 3: Shika No Toone für Shakuhachi (wergo SM 1033/34-50) Beispiel 4: Schnebel, Atemzüge Beispiel 5: Dikr (Sudan) (Museum Collection Berlin MC 10) Beispiel 6: Lejeune, Jacques, Parages (INA Collection GRM, AM 709.06) Beispiel 7: Lejeune, Parages Beispiel 8: Ligeti, György, Aventures (Deutsche Grammophon 423 244-2) Beispiel 9: Berio, Luciano, Visage (BVHAAST 9109) Beispiel 10: Grisey, Gérard, Jour, Contre Jour (ACCORD SACEM 201952) Beispiel 11: Stockhausen, Karlheinz, Hymnen (Stockhausen Verlag 10 A-D) Beispiel 12: Stockhausen, Hymnen Beispiel 13: Lachenmann, Helmut, temA (AUVIDIS MO 782023) Beispiel 14: Lachenmann, temA Beispiel 15: Schnebel, Atemzüge Beispiel 16: Schnebel, Choralvorspiele I (wergo 286 287-2) Beispiel 17: Nono, Luigi, »Das atmende Klarsein« (col legno WWE 31871)