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- Johannes Bauer, Schatten, Echos. Der Komponist George Crumb
Echos, Schatten und ein Abend in Granada Der Komponist George Crumb WDR (2009) Bspl. 1: Five pieces for piano, Nr. 1 Klänge stehen lassen, ihrem Verklingen nachhören, ihrem Ausschwingen, ihren Echos, ihren Schatten. Schon ein frühes Klavierstück aus dem Jahr 1962 macht klar: hier interessiert sich ein Komponist für das Endliche und Flüchtige der Töne, für die Tradition der Musik als einer Meditatio mortis. Durchzieht doch die Spur des Todes das Gesamtwerk des Komponisten George Crumb auch von den thematischen Sujets her: Zumal über die Texte Federico Garcia Lorcas oder als Widerhall des Vietnamkriegs in Crumbs Streichquartett Black Angels mit seinen Einschüben abendländischer Todesmusiken. Crumbs Schatten- und Echosprache geht es um das Gedächtnis des Körpers, um das vom Primat des Rationalen und Rationellen als mythisch und mystisch Verdrängte. Womöglich erklärt dieser Abstieg in die Katakomben der Zivilisation auch Crumbs Affinität zu Lorcas Lyrik mit ihren existenziellen Brechungen des Lebens im Bann von Liebe, Natur und Tod, der bei Lorca nicht zufällig „Schwingen aus Moos“ trägt. „Los muertos llevan alas de musgo“. Bspl. 2: Madrigals I, Nr. 3 (Los muertos llevan alas de musgo) Sicher, das Existenzielle läuft Gefahr zu existenziell, zu mystisch und damit zum abstrakten Gegenprogramm einer hochtechnisierten Gesellschaft zu werden. Und wenn sich der Formulierung solch existenzieller Kräfte schließlich auch noch eine globale Weltmusik als Material anbietet - ihr gegenüber ist Crumb durchaus aufgeschlossen -, dann droht der Absturz in esoterische Scheintiefen umso drastischer. Allerdings benutzt Crumb sein Zitat- und Assoziationsrepertoire nicht als einen Materialvorrat, der für sich selbst sprechen soll: ein Zitat- und Assoziationsrepertoire übrigens, das von der Gregorianik über Schubert und Chopin bis zu Debussy und Ives reicht und dabei Mythologien verschiedener Kulturen ebenso einbezieht wie spirituelle Zahlensymbolik oder die Schriften des Nostradamus. Indem freilich Crumbs interkulturelle Vernetzungen vom Metier zeitgenössischen Komponierens her entwickelt und modelliert werden, bleiben sie den kommerziellen Crossover-Mixturen des Multikulti gegenüber resistent. Weit mehr verdichtet sich Crumbs Assoziationsfundus zu einem Ensemble tieferer Schnitte; tief genug jedenfalls, um in einer Operation am offenen Herzen der Zivilisation archaische Schichten freizulegen. Es ist dieses Bündnis von Material und Geschichte, das in einer Rückbesinnung auf Vergangenes die Diagnose des Gegenwärtigen schärfen soll. Und doch ist Crumbs Musik zumeist keine, die sprachlos, die atemlos macht. Vermutlich weil das Inventar ihrer Zitate und Anspielungen, ihrer Verweise und Botschaften oft so dicht ist, dass sich die Musik mit hohen formalen und expressiven Wiedererkennungswerten auflädt, mit Konvention also. Gelegentlich entgleiten einige von Crumbs Kompositionen gar in Richtung einer musikalischen Séance, vor allem im Klavierzyklus Makrokosmos . So manchen Stücken dieses Zyklus hört man an, dass Tierkreis und Sternenmagie in einer Welt des entzauberten Diesseits und der Frist des Nur-einmal-Lebens wohl nur noch um den Preis einer privatmystischen Entrückung zu haben sind, garniert mit einem Übermaß an bloßen Effekten und allzu vielen "Urklängen" - mögen diese zuweilen auch durchaus augenzwinkernd und ironisch gemeint sein. Bspl. 3: Makrokosmos I, 1 (Cancer / Primeval Sounds / Genesis I) In einer Welt mit zu viel Sinn, zu viel Sprache, zu viel Musik rüstet auch Crumb das Sinninventar weiter auf. Vielleicht ist seine Musik deshalb auf höchstem Niveau, wenn sie abrüstet, wenn sie sich öffnet, ohne diese Öffnung sofort wieder mit einem überschweren Ballast an Bedeutung zu befrachten. So entfaltet sich etwa die Aura des fünften Stücks aus Crumbs Ancient voices of children gerade aufgrund einer äußersten Zurücknahme der Mittel. Erst diese Zurücknahme, erst diese Fülle des Ausgesparten in einer Musik der leisen Töne mit ihrem stenographischen Duktus von Melos, Harmonie und Instrumentation ermöglicht die abgründige Spannung des Komponierten: die Spannung zwischen einer vom Sopran gesungenen Gedichtzeile Federico Garcia Lorcas und einer instrumental zitierten Arie Gottfried Heinrich Stölzels aus dem Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach. „Todas las tardes en Granada, todas las tardes se muere un niño“, „Jeden Abend in Granada, jeden Abend stirbt ein Kind“. Indem Crumb Lorcas Todesgesang der Arie Stölzels konfrontiert - einer Arie vom tröstlichen Sterben in Freude und Gelassenheit -, erzeugt die Hohlform dieses beklemmenden Wiegenlieds aus den Ancient voices of children einen erschütternden Riss der Zeit und der Zeiten; nicht zuletzt, weil Crumb das Barockzitat als textlose Melodie auf einem verstimmten Kinderklavier anklingen und nach Art des Vanitas- und Todessymbols einer Spieldose leerlaufen lässt. Dieser Zeit- und Zeitenriss ist einer zwischen dem Jenseits-Trost eines seligen Todes und der Diesseits-Verzweiflung eines sinnlos frühen Kindersterbens, in dem Leben als bloßes „Aufhören“ in ein absurdes Fragment des Daseins zerbricht. Bspl. 4: Ancient voices of children, Nr. 5 (Todas las tardes en Granada) Natürlich ist Crumb trotz der auffälligen Präsenz des Todes in seiner Musik kein todessüchtiger Komponist. Die Spur des Todes ist für ihn vom Puls des Lebens nicht zu trennen, zumal Leben und Tod über einen naturhaft spirituellen Grund miteinander verwoben sind, über einen Grund, dessen Erfahrung Crumb den frühen Naturerlebnissen seiner Kindheit zuschreibt. George Crumb, der 1929 in Charleston, West-Virginia, geboren wurde, im Oktober dieses Jahres also seinen 80. Geburtstag feiert, muss sich längst nicht mehr über mangelnde Resonanz beklagen. Crumb, der bei Boris Blacher in Berlin und bei Ross Lee Finney in Ann Arbor studiert und selbst über 30 Jahre als Professor an der University of Pennsylvania unterrichtet hat, zählt mittlerweile zu den meistaufgeführten amerikanischen Komponisten der Gegenwart, geehrt mit zahlreichen Auszeichnungen bis hin zu Pulitzer-Preis und Grammy Award. Freilich bleibt bei einem solchen Erfolg speziell im Bereich der Neuen Musik die Überlegung nicht aus, ob dieser Beifall nicht auch etwas mit einer voreiligen ästhetischen Kompromissbereitschaft zu tun haben könnte. Gewiss, für eine radikal hermetische Avantgarde hat sich Crumb nie interessiert. Schon die Einflüsse Debussys, Bartóks und Weberns auf Crumbs frühe Arbeiten verwandelt der Komponist unabhängig von jeder Schuldoktrin in ein eigenes Verfahren experimenteller Klangerkundung und motivischer Strukturbildung. Zudem versteht sich Crumbs Musik stets als eine Fahrt ins Offene, die für das abendländische Repertoire ebenso empfänglich bleibt wie für das Repertoire außereuropäischer Kulturen. Hat Crumb nicht selbst von seinem Wunsch gesprochen, Zitat: „alle Musikformen der Welt möchten zusammenkommen, um eine einzige Musik zu bilden“? Versteht man unter Postmoderne die Verfügbarkeit von Welt nach Art eines frei zugänglichen Archivs an Kulturen, Traditionen, Ideen und deren Kombinationen, dann ist Crumb zweifellos ein Komponist der musikalischen Postmoderne; ein Komponist allerdings, der sich aufgrund seiner konstruktiven Gestaltungskraft unverkennbar vom postmodernen Einerlei abhebt. Die Frage ist nur, ob Crumb auch einer Postmoderne zuzurechnen wäre, die das vermeintlich Inhumane der Neuen Musik wieder in menschliche Proportionen überführen will, indem sie überkommene Stil-, Sprach- und Affektmuster aufnimmt, mischt und auf eine Weise verfremdet, die gängige Hörgewohnheiten eher konserviert als aufbricht. Die Antwort lautet ja und nein. Ja, was die Verfügung Crumbs über tradierte Bestände und deren kompositorische wie rezeptive Sicherungs- und Sicherheitsrenditen anbelangt; nein jedoch, was Crumbs strukturelle Einbindung dieses Fonds an historischen Ressourcen in seine Musik betrifft. So ist es etwa für das 1970 unter dem Eindruck des Vietnamkriegs geschriebene Streichquartett Black Angels nahezu irrelevant, in den attackenhaft einbrechenden, plötzlich auftauchenden und wieder verschwindenden Klangschwärmen seines Beginns den Lärm amerikanischer Hubschrauberstaffeln mitzuhören. Gerade mit dem Überschreiten programmmusikalischer Intentionen erreicht die Komposition, in der sich der Ton zur Detonation schärft, die panische Beklemmung und den unheimlichen Ausdruck einer aggressiven, nicht zu ortenden Gefahr jenseits jeder Bebilderung. Die fiebrige Nervosität des Komponierten legt die Saiten der Streichinstrumente wie Nervenstränge bloß, und dies in einer Musik, die zum verminten Gelände wird und harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt. Bspl. 5: Black Angels Diese stress- und gewaltgespannten Saiten seines Streichquartetts nun spannt Crumb im Bewusstsein einer alle Macht und Gewalt grundierenden kreatürlichen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit geradezu schockhaft ab, indem er dem Angespannten, dem technisch wie semantisch Auf- und Hochgerüsteten seiner Komposition Schuberts Quartettsatz Der Tod und das Mädchen entgegensetzt. In diesem Augenblick wird die Frage nach postmoderner Verbindlichkeit bedeutungslos: Zu groß ist die Betroffenheit, mit der uns das fahl und vibratolos ausgedünnte, gambenartig verfremdete und seinerseits wie erstorben klingende Schubert-Zitat den Wahnsinn einer, so der Komponist, „verwirrten Zeit“ spüren lässt und in ihr unsere eigene Erschöpfung. Warum aber hören wir dann nicht gleich Schubert und ersparen uns den Umweg über Crumb? Einfach aus dem Grund, weil erst das splitterhafte Nachbeben der Streicherattacken von Crumbs Quartettbeginn in Schuberts Musik Irritation, ja Bestürzung auslöst. Es ist der wechselseitige Kommentar zwischen dem in Kriegszeiten komponierten Streichquartett Black Angels und Schuberts Todesmusik, mit dem Crumb uns über eine Epochenspanne hinweg den Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Aufrüstung bewusst macht: Und mit diesem Zusammenhang die Einsicht, wie sehr die zum System gewordene Maximierung des Willens, wie sehr also das Heroentum des Bezwingens und Behauptens, des Bewältigens und Überwältigens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Welt erst schwer und gewaltsam und unheimlich und tödlich werden lässt. Bspl. 6: Black Angels Musikbeispiele Bspl. 1: George Crumb, Five pieces for piano, Nr. 1 [Tr. 1, 0,00 - ca. 2´15] 2´15 [Bojan Gorišek] [Audiophile Classics APC 101.301-3] Bspl. 2: George Crumb, Madrigals I, Nr. 3 (Los muertos llevan alas de musgo) [Tr. 19, 1´09 - 3´10] 2´01 [Arnold / Rudich / Wesner-Hoehn / Tramontozzi / Colson] [Bridge Records 9170] Bspl. 3: George Crumb, Makrokosmos I, 1 (Cancer / Primeval Sounds / Genesis I) [Tr. 1, 2´14 (aufbl.) - 4´50] 2´36 [Bojan Gorišek] [Audiophile Classics APC 101.301-1] Bspl. 4: George Crumb, Ancient voices of children, Nr. 5 (Todas las tardes en Granada) [Tr. 5, 0´00 - 2´45] 2´45 [Arnold / Murray / Cooper / Starobin / Stuckenbruck / Bress / Grace / Kinzie / Foster / Hill / Colson] [Bridge Records 9170] Bspl. 5: George Crumb, Black Angels [Tr. 1, 0´00 - 1´23] 1´23 [Kronos Quartet] [Electra Nonesuch 7559-79242-2] Bspl. 6: George Crumb, Black Angels [Tr. 2, 0´00 - 1´06] 1´06 [Kronos Quartet] [Electra Nonesuch 7559-79242-2]
- Johannes Bauer, Goethes musikalisches Denken
Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten Goethes musikalisches Denken Abweichend von Untersuchungen, die sich mit der Bedeutung der Musik in Goethes Leben, in seiner Kunstanschauung und Dichtung oder mit der Ästhetik der Vertonungen seiner Werke beschäftigen, analysiert der Essay »Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten« Goethes Oeuvre selbst nach musikalischen Kriterien: über Korrespondenzen zu Mozarts und Beethovens kompositorischem Denken und dessen Erkenntnis- und Deutungscharakter. Ausgehend von Goethes Ambivalenz gegenüber Beethoven wird die Bewunderung des Dichters für Mozart unter dem Aspekt einer Wahlverwandtschaft vorgestellt. Thematisiert wird vor allem die Basis dieser Wahlverwandtschaft: das Spiel mit zentrifugalen Formkräften, die Artistik des Unerhörten und die Inszenierung des erfüllten Augenblicks. Thematisiert wird aber auch die Wechselwirkung dieser Dramaturgie des Regelwidrigen und der Übertretung des Gewohnten aufgrund eines Widerstands gegen die ökonomisch beschleunigte Durchdringung der Sprache mit jener Kommunikationsnorm des Nützlichen, des Kalküls und der Entsinnlichung, die den poetischen Ausdruck zunehmend ins Bizarre und Verrückte abdrängt. Neben einer Präzisierung der gattungsspezifischen Besonderheiten des poetischen und des musikalischen Diskurses wird Goethes Dichtung - in Übereinstimmung mit Mozarts Musik - als eine der Verschwendung und der Überschreitung des Moral- und Rationalitätskorsetts ihrer Zeit charakterisiert: als eine Dichtung somit, die gerade dadurch jene »dämonische« Aura annimmt, die Goethe zufolge die Verstörung bürgerlicher Erfahrung und Vernunft auszeichnet. Auch wenn diese Produktivkraft des schöpferischen Eros, der Maske und der Verwandlung dem Arbeitsprinzip und dem Ethos der sogenannten mittleren Stilperiode Beethovens entschieden kontrastiert, ergeben sich gleichwohl enge Beziehungen zwischen Goethes und Beethovens letzten Werken: sofern deren Tektonik und Rhetorik nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution, nach der Entzauberung transhistorischer Ideale und inmitten der frühindustriellen »Unrast« des »Reichtums und der Schnelligkeit- (Goethe) auf ihre Beschwörungen und Brüche hin durchlässig werden. Der zweite Teil des Essays untersucht insbesondere die Risse, die das Alterswerk Goethes als Spuren vom Zerfall geschlossener Weltmodelle zu Beethovens späten Streichquartetten in Beziehung setzen. Erörtert wird, warum und auf welche Weise sich die Zurüstungen und Stilisierungen beider Spätwerke - ihr enzyklopädischer und didaktischer Anspruch, ihre Stilistik des Lakonischen und Elliptischen, ihr Hang zur Sentenz und zum Manierismus - zu einer Ästhetik des Exzentrischen schärfen: in Opposition zur tödlichen Mitte der Konvention, gezeichnet vom Trauma und von der Prosa der Welt. Für Elvira Seiwert Um die Musik Goethes soll es im Folgenden gehen, um die Musik in Goethes Sprache. Mit gelegentlichen Seitenblicken auf Mozart und den späten Beethoven. Ohne die Unterschiede zwischen Poesie und Musik zu verwischen, werden meine Ausführungen also weder die Bedeutung der Musik in Goethes Leben, seiner Dichtung und Kunstanschauung thematisieren noch ihren Rang in Vertonungen seiner Werke. Beginnen wir mit einer Erfahrung Theodor W. Adornos. Goethes Sprache, so sein Essay Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie , überflutet derart das Sichtbare, daß sie, trotz der gerühmten visuellen Genauigkeit, in Musik hinüberspielt. (...) Wer als Kind bei einer klassizistischen Aufführung der Iphigenie, mit Hedwig Bleibtreu, zugegen war, wird sich daran erinnern, wie unsichtbar gleichsam das Ganze eilends vorüberzog, wie weit ab von aller gegenständlichen Sinnlichkeit, so daß der Sinn darüber entglitt.(1) Entgleiten von Sinn, gegen den Begriffsballast der Sprache: ist das das Musikalische bei Goethe? Liegt es in der geweiteten Grammatik und den gewagten Wortkonstellationen des Spätwerks? Oder eher in den Experimenten der Sturm-und-Drang-Zeit? In den Gedichten der Jahre 1772-75 mit ihren Regelwidrigkeiten des Satzbaus; im pindarischen Sprachtaumel von Wandrers Sturmlied , das doch so präzis kalkuliert ist? Zumal Goethe selbst von den Gedichten in freien Rhythmen als von »Halbunsinn« spricht und damit auf die entgrenzte Bedeutung einer musikalisch entregelten Sprache zielt?(2) Liegt das Musikalische womöglich in den Gräzismen der Iphigenie, in dem, was Adorno ihren Hang zur »natürlichen«, »gewaltlosen« Rede, zur »désinvolture« nennt, in der sich der »Krampf des Wortes« löst?(3) Oder korrespondieren all diese Facetten untergründig miteinander? Natürlich provozieren solche Überlegungen den Einwand, ob denn nicht jede Dichtung musikalische Elemente aufweise. Allein schon aufgrund ihrer Entlastung von der Argumentationslogik. Hier hilft nur Differenzierung weiter. Und sie bedeutet in unserem Fall, Goethes Werk im Zeitkontext zu lesen. Im Unterschied zu Schiller etwa. Deshalb zunächst zwei Äußerungen Goethes über den Weimarer Dichterfreund. Äußerungen, die um den Zusammenhang von »Arbeit«, »Anstrengung«, »Gewalt« und »Idee« kreisen wie die folgende: »Schiller hat in seiner Natur etwas Gewaltsames«; »er handelte oft zu sehr nach einer vorgefassten Idee ohne hinlängliche Achtung vor dem Gegenstande, der zu behandeln war«(4). Andernorts ist die Rede davon, daß Schiller »mit unsäglicher Anstrengung arbeite«, da »seine Begriffe von dem Ideal, nach dem er hinauf arbeitete, (...) zuweilen etwas überspannt und abenteuerlich« waren.(5) Falls hinter solchen Quellen aus zweiter Hand eine parteiische Goethe-Verehrung stehen sollte: Aussagen wie die zitierten können von Goethes Schriften her gestützt werden. So favorisieren die Maximen und Reflexionen den empirischen Ansatz von unten, der als der eigentlich poetische vom Besonderen ausgehe, im Kontrast zu Schillers Ansatz von oben, vom Allgemeinen, von der Idee her. Und was die Arbeit anbelangt: nicht daß Goethe nicht gearbeitet hätte; nur war sein Arbeiten spielerisch grundiert. »Ich will alles, was ich kann, spielend treiben, was mir eben kommt und solange die Lust daran währt«, äußert er 1807 Riemer gegenüber.(7) Und ist nicht schon Goethes Produktionsweise des Diktierens eine Zwitterform aus Spiel und Arbeit? Hier zeigen sich erste Parallelen zu Mozart, dessen vielfach dokumentierte burladorhafte Nervosität sich beim Komponieren zur beweglichen Freiheit des Geistes wandelt. Vergleichbar derjenigen Goethes, der die Wahlverwandtschaften diktiert, also einen Roman spricht, dessen Detailkosmos atemberaubend ist. Bekannt ist der Bericht, Goethe habe während einer Wagenfahrt zwischen Jena und Weimar vor der schriftlichen Fixierung der Wahlverwandtschaften ganze Partien daraus erzählt, »als ob er von einem Buche abgelesen habe«(8). Bekannt auch Schillers Bewunderung der raschen und leichten Entstehung von Hermann und Dorothea oder – im Fall Mozarts – die Geschichte von der Niederschrift der Don Giovanni -Ouvertüre wenige Stunden vor der Uraufführung. Daß die Agilität solcher Produktion ins Innere der Werke weist, liegt auf der Hand. Wie sehr die Manie der Arbeit mit Beginn der industriellen Revolution sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens zu durchdringen beginnt und »immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite (bekommt)«(9), hat Goethe illusionslos erkannt. Ich verweise nur auf das Pandora -Festspiel oder den zweiten Teil des Faust . Wie sehr freilich das Arbeitsmodell selbst in die Sphären von Kunst und Philosophie eindringt, demonstrieren Goethes Zeitgenossen Beethoven und Hegel. Bei ihnen agiert der musikalische, der theoretische Geist als »Werkmeister«(10), um das Dogma von Thema und These aufzulösen, neu zu erarbeiten und damit zu legitimieren. Goethe selbst reagiert auf den wachsenden Arbeitsfuror, indem er dessen Dynamik aufnimmt, also etwa die Sprache gegen den Sog des Bezeichnens und Kennzeichnens verflüssigt. Hören wir Goethe selbst, wenn er anläßlich einer Charakterisierung des Griechischen und Lateinischen unterderhand sein eigenes Sprachverständnis formuliert. Welch eine andre wissenschaftliche Ansicht würde die Welt gewonnen haben, wenn die griechische Sprache lebendig geblieben wäre und sich anstatt der lateinischen verbreitet hätte. (...) Das Griechische ist durchaus naiver, zu einem natürlichen, heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag glücklicher Naturansichten viel geschickter. Die Art, durch Verba, besonders durch Infinitiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden Ausdruck läßlich ; es wird eigentlich durch das Wort nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt , es ist nur eine Andeutung , um den Gegenstand in der Einbildungskraft hervorzurufen. Die lateinische Sprache dagegen wird durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch . Der Begriff ist im Wort fertig aufgestellt, im Worte erstarrt , mit welchem nun als einem wirklichen Wesen verfahren wird.(11) Hier liegt Goethes Poetologie programmatisch vor uns: ihre Ablehnung des ‘Befehlshaberischen’ und ‘Erstarrten’ einer Sprache, die zur begrifflichen Totenmaske der Welt versteinert. Namentlich das Wort vom »bepfählen« zielt gegen eine Sprachgewalt, die die Pflöcke der Signifikanz imaginationsblind ins Buch der Welt rammt. Ein Einspruch Goethes gegen den Zungenschlag auch seiner eigenen Epoche, die sich zum Nützlichen hin abschleift und das poetische Ingenium in die Sphären der Phantasie abdrängt oder in die Not des Verstummens. »Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen, / Herzen schlagen und doch bleibet die Rede zurück?« So Hölderlins Elegie Heimkunft von 1801. Untergründig kreist die Kritik Goethes um die Identifikationssucht des Urteils. Zumal die zweiwertige Logik des Richtig und Falsch und ihre moralische Tiefenperspektive des Gut und Böse sind ihm in ihrer Rigorosität verdächtig. Goethes Sprache, die mitunter wie vom Schlaf der Semantik verzaubert scheint, mißtraut der Besetzungs-, der Besatzungskraft des Satzes gegenüber Dingen und Welt. Der Satz als Gesetztes, als Satzung und Gesetz der Sprache, gerinnt in seiner Richterfunktion zum gegenpoetischen Schwergewicht, zur Entscheidungswillkür eines Geredes, in dem »immerfort wiederholte Phrasen sich zuletzt zur Überzeugung verknöchern«(12). Gebündelt finden sich solche Motive schon im Werther , der der Scheinalternative des Entweder-Oder die ‘mannigfaltige Schattierung’ von »Empfindungen und Handlungsweisen« entgegenhält.(13) Eine ‘herabgeorgelte’ Periodik(14) und die »gewöhnliche Terminologie« der Wortschablonen(15) werden ebenso mißbilligt wie jene sittliche Selbstgefälligkeit, die sich anmaßt, Kausalketten gottgleich zu überschauen und abzuurteilen. Daß ihr Menschen (...) gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! (...) Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein.(16) Grundiert wird die Wertschätzung der Gefühle und ihre Sprache der »Inversionen«(17) von einer Grammatik der Psyche, die eher abbricht, als ihre Leidenschaft in falscher Verbindlichkeit einzudämmen. »Ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrücken«(18). Auf den Spuren von Goethes musikalischem Denken begegnet also sehr bald das Unbehagen am verdinglichten Wort und die Sensibilität gegen das Schnellgericht einer urteilend verurteilenden Sprache. Daß die Urteilsform des Satzes auf Geschlossenheit zielt, bedingt die Gefahr der »Erstarrung«. Daß die Konvention der Sprache das Urteil durch Wiederholung zum Vorurteil verkürzt, bedingt die Gefahr der Verhärtung. Goethe wußte, daß erst unter dem Pflaster der Vorurteile der Strand der »exakten sinnlichen Phantasie« liegt, »ohne welche doch eigentlich keine Kunst denkbar ist«(19). Seine Pfingstzeit der Sprache ist eine Antwort auf das Klischee; sein schöpferischer Eros ein Aufbrechen der Wortgitter und des Sprachgefängnisses gemäß der Devise: »Und umzuschaffen das Geschaffne, / Damit sichs nicht zum Starren waffne«(20). Zweifellos spielt die schon von Zeitgenossen an Goethe hervorgehobene Lust der Verwandlung nicht nur biographisch eine Rolle. Goethes Lebensmotive der Erneuerung und Verjüngung, seine Rede vom »Wiedergeborenwerden«(21), vom ‘Schalen abwerfen’(22), vom ‘Ablegen der Schlangenhaut’(23) oder von der »wiederholten Pubertät«(24) sind Gleichnisse auch seiner Dichtung. Goethes »Proteus-Natur, sich in alle Formen zu verwandeln, mit allen zu spielen, die entgegengesetztesten Ansichten aufzufassen und gelten zu lassen«(25), ist auch die seiner Sprache. Sie gewinnt etwas unentwegt Sich-Häutendes, Schlangenhaftes; ein schillerndes Gleiten, das oft genug ins Paradies einer grandiosen Weltillumination geleitet. Der »lose liberale Gang«, den Zelter Goethe gegenüber an »gewissen Symphonien von Haydn« rühmt(26), ist der von Goethes eigenem Schreiben: die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, Umwege, Labyrinthe nicht scheuen. Mit dem Verlassen eingefahrener Sinnbahnen entbindet Goethe den Überschuß des unendlich Interpretierbaren. Daß seine Sprache die Bedeutungsnorm überschreitet, läßt sie den Sinn weiten, musikalisieren, verrätseln. Virtuos durchgespielt im Märchen , das »zugleich bedeutend und deutungslos« sein will, »an nichts und an alles erinnert«(28). Besser kann nicht umschrieben werden, wie die Fülle der Sinnbezüge in jenes Entgleiten des Sinns umschlägt, von dem eingangs die Rede war: unfassbar der logisch abgehärteten Gewöhnung. Die Eindeutigkeit der Zuordnungen im gelockerten Satzgefüge aufzuheben, ist eine der Eigenheiten in Goethes Altersstil. Seine Vorliebe für Perioden ohne Konjunktionen oder Prädikate bringt die Satzelemente aus dem Takt des Regelhaften: hin zu einer eher musikhaften Grammatik assoziativer Korrespondenzen. Solche Deregulierungen verwandeln Sprache in den Wunsch, von Funktionalität freigesetzt zu sein, ohne sich im Ordnungslosen zu verlieren. Der Beginn des zweiten Gedichts aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten zeigt diese gleitende Logik in Vollendung. Weiß wie Lilien, reine Kerzen, Sternen gleich, bescheidner Beugung, Leuchtet aus dem Mittelherzen Rot gesäumt die Glut der Neigung. Nicht nur ein erstes Lesen sucht hier vergebens nach einem an gängige Satzmuster gebundenen Sinn in Mustersätzen, zumal der Sachverhalt, daß es sich in dieser Strophe um ein Bild »frühzeitiger Narzissen« handelt, erst aus dem zweiten Teil des Gedichts ersichtlich wird. Zwar lassen sich das Prädikat »leuchtet« und das Subjekt »Glut der Neigung« ausmachen, die Klärung eines Objekts jedoch stößt auf Schwierigkeiten. Die Reihung »Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung,« ist als schwebendes Attribut mit dem Folgenden äußerst leicht verbunden. Außerdem irritiert eine weitere Eigentümlichkeit in Goethes Spätstil: seine Vorliebe für adjektivische und adverbiale Genitivkonstruktionen: »Sternen gleich, bescheidner Beugung,« heißt es. Dazu kommt noch die außergewöhnliche Verdichtung »Mittelherzen«. All dies verwandelt sich in einen mehrschichtigen Bildfluß. In eine sprachliche Art der entoptischen Spiegelung, auf die Goethe so große Stücke hielt, weil in ihr die »Erscheinungen (...) von Spiegel zu Spiegel nicht etwa verbleichen, sondern sich erst recht entzünden«(29). Mit Musik aber hat diese gleitende Logik insofern zu tun, als Musik sich von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden.(30) Lassen Sie uns hier einen anderen Weg einschlagen. Bekanntlich spielt die Weberei für Goethe eine besondere Rolle. Nicht nur ihren akustischen Umständen nach, wie in der Geschichte mit Goethes Nachbarn, dem Leineweber Herter, den der geplagte Dichter mitsamt dem Lärm der Webstühle seit 1793 vergeblich loszuwerden suchte. Daß Goethe von der sinnbildlichen Ikonographie des Webens fasziniert war, belegt seine häufige Rede von »Zettel und Einschlag«. Das Ineinandergreifen von »Zettel«, also den längsverlaufenden Kettfäden des Webstuhls, und »Einschlag«, den vom Schiffchen quergezogenen Schußfäden, repräsentiert ihm das lebendige Gleichnis des Verwobenseins von Natur und Geschichte, von Dauer und Wechsel, von Gesetz und Erscheinung. Großartig formuliert im Antepirrhema aus Gott und Wel t: So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt! Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt; Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann.(31) Mag Goethe im dritten Buch der Wanderjahre das Spinnen und Weben auch bis ins Einzelne behandeln: mir geht es weniger um Details des Weberhandwerks als um den Vergleich zwischen Gewebe und Text, den schon der lateinische »textus«-Begriff zieht: in seiner Doppelbedeutung als »Geflecht« und als »Zusammenhang der Rede«. Es geht darum, Sprache für einen Augenblick textil zu begreifen: als Text, als eine filigrane Textur, in der sich die Erfahrung von Welt in mannigfaltigsten Mustern bricht. Goethe selbst spricht ja von seinen Schriften als von »unzähligen Webereien und Strickereien«.(32) Erste Gemeinsamkeiten sind offenkundig. Wie das Weben so ist die Sprache darauf verwiesen, daß die Fäden sich nicht verwirren, daß sich im Gewirr der Worte der gedankliche Faden nicht verliert und auflöst. Wie die Kett- und Schußfäden sich gegenseitig verriegeln, so mobilisiert die Sprache die Bindungskräfte des Satzgefüges. Und wie die Sperrung oder die Freigabe der einzelnen Kettfäden in Kombination mit dem Schuß das Abweben des Musters bedingt, so arbeitet die Sprache durch Sperrung oder Freigabe einzelner grammatischer Bahnen dem Muster von Sinn und Fabel zu.(33) Deshalb möchte ich für Goethes Sprache, insbesondere von den Wortschöpfungen des Spätwerks her, den Satz, wie »ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«, folgendermaßen variieren: wie ‘ein Wort tausend Verbindungen schlägt’. Ein eindringliches Gleichnis dafür, wie Goethe das Wort als erfüllten Augenblick umwirbt. Oft in semantischen Prismen, vor deren Bedeutungsglanz die Deutung schier verzweifelt. Von einer Dichte wie in Goethes Wortspiel: »bogenhaft in Weile«. Es begegnet uns im Bild jener heftig wirkenden Pfeile von Liebe und Leidenschaft, die »Gehetzt in Eile, bogenhaft in Weile / In Tausendfält'gem Wollen sich vermischen«.(34) Jede Philosophie dürfte Goethe um die Tiefenschichtung dieser Figur beneiden, deren Zauber doch in keinem Philosophem aufgeht. In ihr blitzt der Bogen Amors ebenso auf wie die trügerische Ruhe, die im Irrgarten der Passionen immer schon unmerklich in die bedrohlich offene Eigendynamik von Gefühl und Verlangen übergegangen ist. Eine Stelle von beispiellosem Ausdruck, die an solche Passagen Mozarts erinnert, in denen sich Zeit in einem unerhörten Moment staut und mit der Zeitenfolge auch den interpretierenden Begriff aussetzt. Etwa im E-Dur-»Terzettino« aus Così fan tutte , einem gleichfalls hintersinnigen Gefühlstableau. Hier entrückt ein wechseldominantisch verminderter Trugschluß-Akkord auf »desir« in eine trügerische Wunschlandschaft: ein sphinxhafter Akkord, der das Wort auf eine unendliche Reise schickt. Wiederholt öffnet der präzise Traumklang die Tonalität aufs Bodenlose hin, um Sehnsucht und Begehren zu einer im Element von Wind und Wellen gespiegelten Meteorologie der Seele zu verrätseln: im Wissen um das Fragile jeder Erfüllung. Der Auflösung »bepfählender« Sinnzurichtung und dem Strom der Reflexions- und Affektbahnen nach wäre vom Medialen bei Goethe und Mozart zu sprechen. Insbesondere was Mozarts Zeitstrukturen anbelangt, die melodische Gestalten »auseinander hervorgehen, ineinander untergehen [lassen] – doch ohne thematische Kontraste, die dem Fortgang Halt gäben, Einhalt geböten«(35). So wie im ersten Satz des Klavierkonzerts KV 595 unter Zurücknahme des solistischen Ausstellungscharakters der Fluß der Themen und Motive in Gang gehalten wird, ohne durch Widerstände gestaut oder durch Kollisionen dramatisiert zu werden. Basierend auf einem Verfahren der Phrasenüberlappung, das Zäsuren oft erst rückwirkend erkennen läßt. Ein gravierender Unterschied zu den taktischen Coups in Haydns und Beethovens Zeitgestaltung. Mit dem fließenden Duktus hängt indes zusammen, daß der erfüllte Augenblick bei Mozart nicht erarbeitet wirkt, sondern plötzlich in kurzen, ausdrucksdichten Motivgestalten erscheint, deren Gegenwart nicht auf den Fluchtpunkt der Idee hin gespannt bleibt wie in so vielen Sätzen Beethovens; deren Gegenwart aber auch nicht in sich abgedichtet ist wie in der zerklüfteten Klangrede Carl Philipp Emanuel Bachs, die das Anhalten des Atems in auratischen Momenten nicht kennt. Frei vom Schatten der Idee haben die Epiphanien Goethes und Mozarts etwas von einer Fata Morgana an sich: Erscheinungen einer verzauberten Ordnung. In Goethes West-östlichem Divan steht dafür das Gedicht Liebliches . Ein Gedicht, das inmitten der thüringischen Landschaft – in der Erstfassung steht noch der Name Erfurt – eine morgenländische Vision aufscheinen läßt. Was doch Buntes dort verbindet Mir den Himmel mit der Höhe? Morgennebelung verblindet Mir des Blickes scharfe Sehe. Sind es Zelte des Vesires, Die er lieben Frauen baute? Sind es Teppiche des Festes, Weil er sich der Liebsten traute? Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt Wüßt' ich Schönres nicht zu schauen; Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras Auf des Nordens trübe Gauen? An dieser Stelle gerät die Vision zur epoché: zur ekstatischen Gegenwart in einer Frage des Erstaunens, die das richtende Urteil aufhebt. Nichts anderes bedeutet ja epoché in der Tradition der skeptischen Philosophie. Die Sprache weckt nicht nur Unbekanntes im Bekannten, sie öffnet über das neue Wort auch neue Bahnen der Imagination. Bereits in der ersten Strophe steigern drei artifizielle Wortmodulationen – »Morgennebelung«, »verblindet«, »Sehe« –, was schon die beiden Eingangszeilen mit ihrem heiter angetönten Bild empfinden lassen: mehr die Luftigkeit einer Impression denn die Logik einer beschreibungsgenauen Bestandsaufnahme. Ein berückendes Spiel der Nuancen gegen die Macht verbaler Usancen, ein Spiel, das sich gegen Ende des Gedichts in der Wendung von den »bunten Mohnen« wiederholt, Die sich nachbarlich erstrecken, Und, dem Kriegesgott zum Hohne, Felder streifweis freundlich decken. Goethes Hang zum mot rare, zum gewagten Wort, das »tausend Verbindungen schlägt«, ist einer zum unverbrauchten. Und so wie Goethe die Begriffsschablonen hin zum unvergleichlichen Wort aufsprengt, so durchdringt Mozart das Floskelhafte der Kadenzen, die sich im Finale des zweiten Figaro-Akts zu Knotenpunkten der Emotions- und Gedankenspuren verdichten. In einer Musik, die dem Verlangen ihrer Impulse folgt und sich die harmonische wie metrische Konstruktion höchst beweglich hält. Eine Musik, ähnlich der Sprache Goethes: gleitend, schillernd, zustoßend. Gestisch, ohne im Körperhaften aufzugehen, spirituell, ohne sich im Idealen zu verlieren. Anders als Faust, die rastlose Wunschmaschine, die den Augenblick vernichtet – »ich habe nur begehrt und nur vollbracht / Und abermals gewünscht«(36) –, kennt Goethes Sprache wie die Musik Mozarts die Suspension im Flüchtigen. »Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit Einem Wort ausdrücken kann, was die andere umschreiben muß«(37). Mit einem Wort allerdings, das Welt per Definition nicht stillstellt, sondern durch Konfiguration entbindet. So tragen Goethes Zaubervokabeln den Entwurf eines neuen Sprechens, das den Parcours der Vermittlung und die Fallhöhe des Hohen und Niedrigen in Frage stellt, um die Worte auf ungeahnte Bedeutungshöfe hin auszuleuchten. Etwa in den Komposita »Pappelzitterzweige«, »Glanzgewimmel« oder »Mittelherz«. Goethes poetischer Kosmos meidet demonstrative hierarchische Staffelungen noch im Periodengeflecht von Haupt- und Nebensätzen. Im Glück des Ausdrucks zergeht jener »Schulverstand«, der »seine Worte wie seine Begriffe an das Kreuz der Grammatik und Logik schlägt«(38). Lassen Sie uns hier den Vergleich zwischen Gewebe und Sprache wieder aufnehmen. Mit einem Blick auf Friedrich Theodor Vischers Faust II -Parodie, die sich am Mechanischen, am Künstlichen in Goethes später Kunst stößt; sozusagen an ihrer industriellen Reproduzierbarkeit. Ausgeworfen vom Selbstläufertum einer Sprachmaschine, deren Getriebe es bloßzulegen gilt. Was hat nun Vischers Persiflage mit Goethes Webmetaphorik und seinem musikalischen Denken zu tun? Zu Goethes Zeit war der 1805 von Joseph-Marie Jacquard konstruierte Webstuhl webtechnisch die revolutionärste Erfindung. Mithin der von einem zentralen Punkt aus gesteuerte Webautomat, der seine Einzelmechanismen effizient kombiniert. Bei ihm dirigiert ein System von Lochkarten das Spiel der Schäftestellungen und das Ausheben der Kettfäden, mit dem Resultat einer äußersten Vielfalt und Feinheit an Mustern und Geweben. Wie nun bei der geistvollen Jacquard-Maschine hinter dem Organismus der Dessins die Logistik des Gestanzten steht, so könnte ja hinter der Sprachtextur des späten Faust-Dramas gleichfalls ein Automatismus des Kalküls stehen. Und wie der Jacquard-Webstuhl die massenhafte Herstellung bislang aufwendig produzierter, kostbarer Stoffe ermöglichte, so könnte ja auch Goethes Sprachmotor eine Art fabrikmäßiger Poesie-Ware ausstoßen. Es wäre aberwitzig, die Sprachmagie des Zweiten Faust auf einen Mechanismus zu reduzieren und gegen die Wundersprache der Klassischen Walpurgisnacht taub zu werden. Dennoch. Hat Vischer nicht doch die Gefahr einer Dichtung aufgedeckt, die sich der prosaischen Welt kompromißlos stellt, demzufolge aber den poetischen Anspruch kompromißlos steigern muß, ohne daß die Sprache dies durchweg aushielte? Eine Gefährdung, gerade weil Goethe die Sprache musikalisiert, das heißt die Naht zwischen dem Wort und seiner konventionellen Konnotation auftrennt, das entbundene Gewebe jedoch mit einem schematischen Rapport der Sprache, ihrem prosaischen Tagesrest, verknüpft? So daß dem Gesang von Goethes Rosen streuenden Engeln: Rosen, ihr blendenden, Balsam versendenden! Flatternde, schwebende, Heimlich belebende Zweigleinbeflügelte, Knospenentsiegelte, Eilet zu blühn! (39) – sein eigenes verzerrtes Echo in den »guten Geistern« des Dritten Faust antworten kann – mit maschineller Geläufigkeit und unter perfekter Anverwandlung eines Sprachalgorithmus des Goetheschen Zweiten : Selig derjenige, Der die Helenige, Mehr krinolinische Als heroinische, Nicht sehr natürliche, Wächsern figürliche, Klassisch beschwatzende, Mannsgeist befratzende, Dann die euphorische, Hüpfend emporische, Auf und ab purzliche, Springende, sturzliche, Naseweis knabische, Gummiarabische, Sturmdrangpoetische, Wilde, phrenetische, Lordische, britische, Launische, wittische, Zweifelzerbissene, Weltschmerzzerissene, Willen kastrierende, Dasein negierende, Prüfung bestanden!(40) Ist Goethe also das in Musik hinüberspielende Sprachexperiment Faust II mißglückt? Hat sein artistisches Sensorium die selbstauferlegte Prüfung doch nicht bestanden oder lediglich mit dem spöttischen Zertifikat seines sarkastischen Imitators von 1862, auch wenn die Euphorion-Szene im Gedenken Byrons eine visionäre Allegorie der Poesie der Moderne entwirft, durchquert von Wagnis und Sturz? Oder steckt hinter den Schwungrädern von Goethes Reimmanufaktur selbst schon ein Stück Ironie? Eine bewußte Desillusionierung wie an so vielen Stellen des Faust II , vorzugsweise im Part des Mephisto? Muß sich Kunst der »Prosa der Welt«(41) stellen, dann liegt Goethes Gratwanderung darin, sich auf die Dissonanz des Realen einzulassen, ohne mit deren Poetisierung abzustürzen. Vischer hat mit dem Risiko, mit dem ein bestimmter Sprachduktus in Goethes Faust II , einer von vielen übrigens, sich manieristisch auflädt, die Widerstandskraft der Sprachvielfalt des Dramas übersehen; das, wodurch ihre Inkommensurabilität an Ausdruck gewinnt. Daß die poetische Sprache abstürzt, wenn sie sich vom Weltgetriebe fernzuhalten sucht, ist das eine. Daß sie abstürzen kann, auch wenn sie sich dem Prosaischen stellt, im Sturz aber wieder in Poesie umzuschlagen vermag, das andere. Und noch etwas hat Vischer übersehen: daß die Bewältigung mechanischer Momente zum ästhetischen Kanon des beginnenden 19. Jahrhunderts gehört. Vischer hätte demnach auch bei Beethoven fündig werden können. Etwa wenn im zweiten Satz der Neunten Symphonie der orgiastische Rhythmus zerfällt und im Stillstand endet: ähnlich der Wirkung auslaufender, abbrechender und erneut anhebender Rotationen. Eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und eine Entbürdung von formender Regie. Daß sich der Rang eines Komponisten danach bemißt, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Stereotypie zu entbinden weiß, vergißt Beethoven im Umkreis dieser Rupturen bewußt. Er inflationiert den Quintenzirkel mit Absicht. Komponierte Zeit verrinnt in die empirisch leere. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich Musik der Schablone an: eine Antwort auf die frühindustrielle Erschütterung der Tradition, die nicht mehr guten Gewissens im Kontinuum des Kunstwerks kaschiert werden kann. Zurück zu Goethes Affront gegen die etablierte Sprachdisziplin. Dieser Affront widersetzt sich dem Umlauf nichtssagender verbaler Kennmarken, als gälte es, billige Münzen umzuschmelzen. »Verba valent sicut nummi«(42). Von Goethes verschwenderischer Sprache her entwerten sich die kleinen Münzen des Geredes zu solchen einer abgegriffenen Begrifflichkeit. Geradezu exzentrisch sind demgegenüber Goethes Neuprägungen, zumal die seines Altersstils; Prägungen wie: »Unglücksbotschaft häßlicht ihn«; »eigensinnig zackt sich Ast an Ast«; »das Schaf bewollt sich dran«; »gehörnte Herde braunt«; »auf und niedertröstend«; »hinfeuchten«(43). Und wie die Wort- und Konstruktionsvielfalt so erzeugt auch der Überfluß an Versformen und Rhythmen ein »Gewoge der Klänge«(44). Verbunden oft mit asyndetischen Serien wie denen am Ende des Zweiten Faust – »Waldung, sie schwankt heran, / Felsen, sie lasten dran, / Wurzeln, sie klammern an« oder denen des Pater ecstaticus: »Ewiger Wonnebrand, / Glühendes Liebeband, / Siedender Schmerz der Brust, / Schäumende Gotteslust«, schließlich solchen von nur noch assoziativer Bindung: »Worte, die wahren, / Äther im Klaren, / Ewigen Scharen / Überall Tag!«. Selbst noch Goethes sparsame Interpunktion richtet sich eher nach musikalischen als nach grammatischen Gesichtspunkten.(45) Im Sinn einer Scheu, den Satzfluß unnötig zu stauen oder durch Sinnsignale zu zerstückeln: wie die häufige Transitivierung intransitiver Verben ein weiteres Mittel der Mehrdeutigkeit. Goethes subtile Wort- und Satzirritationen erinnern an Mozarts Kunst der minimalen Differenz mit maximaler kompositorischer Wirkung. An Mozarts feinnuancierte periodische Asymmetrien, an seine harmonischen und melodischen Konstellationen, die mit einer einzigen Rückung, mit einer einzigen Tonvariante ungeheure Ausdruckswechsel auslösen oder konventionelle Topoi und Genres mit sinnlichem Glück beseelen können. Zum Beispiel im zweiten Satz des C-Dur-Klavierkonzerts KV 467 . Einem Satz von tiefgründiger Leichtigkeit. Schon die chromatisch gefärbte Kantilene der gedämpften ersten Violinen über Triolen-Bebungen und einem Pizzicato-Puls des Streicherchors entfaltet ihr Melos über einem hochdissonanten Grund. So dissonant jedenfalls, daß Leopold Mozart diese Klänge im Ohr gehabt haben mag, als er sich die kühnen Harmonien des Konzerts mit Kopistenfehlern zu erklären suchte. All diese Valeurs zudem legiert mit einer vorwiegend ungeradtaktigen Periodik und einer oszillierenden Tektonik: mag das Andante auch schemenhaft auf den Typus des Sonatenhauptsatzes hin transparent werden, weit mehr wird es durch die Verstrebung von Improvisation und Konstruktion charakterisiert. Daß das Irreguläre stets gegenwärtig ist und doch in vollendeter Ausgewogenheit aufgeht, läßt an die ständigen Abweichungen in Goethes welthaltig austarierter Sprache denken. Noch der Umstand, daß eine rhythmisiert fallende Tonleiter zum erfüllten Augenblick werden kann wie in Takt 17, hängt von einem Kontext ab, der die Dissonanz präsent hält und zugleich verflüchtigt. Es handelt sich hier um eine der großen Stellen Mozarts: um eine zur Geste der Gelassenheit spiritualisierte Formel. An diesem Satz kann man studieren, wie eine dissonant und dur-moll-verschattete Binnenstruktur den Eindruck einer Klarheit gewinnt, die sich am ehesten mit dem Begriff des Heiteren umschreiben läßt: einem stoisch aufgehellten, melancholisch grundierten Bewußtsein, von dem die Wanderjahre sagen: »Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön«(46). Hier trifft sich Mozarts Verwandlung der Klangrede von innen heraus mit Goethes wandelhafter Sprache. Wenn es bei Goethe anstelle von Liebeswerk »Liebewerk« heißt oder »Kriegesgott« anstelle von Kriegsgott oder wenn das Wort gespenstisch zu »spenstisch« verkürzt wird, sind selbst solche unscheinbaren Spielarten keine des Effekts, sondern Verschiebungen gegen den Schematismus der Sprache. Verschiebungen, die bis in die zahlreichen Oxymora hineinreichen, unbekümmert um das Ideal der Widerspruchsfreiheit. Spricht Goethe im zweiten Teil des Faust vom »Schauderfeste«(47), vom »Häßlich-Wunderbaren«(48), vom ‘Gefällig-Wilden’(49), macht er die Grenze gegen das verbotene Wort durchlässig. Das Unvereinbare vereinen bedeutet, sich der Vieldeutigkeit des Verdrängten zu nähern – gleich der Musik als »begriffsloser Synthesis«(50). In Goethes mitunter konsternierenden Wortkombinationen und Wortverdichtungen zeigt sich der schöpferische Eros monadisch, der sonst im Großen jenes syntaktische und kausale Poröswerden bindet, das die Sprache auf das Abgründige der Konvention hin öffnet. Oder was soll man von Sätzen wie den folgenden aus Goethes Pandora halten? »Entsetzlich stürzt Erwachenden sich Jammer zu«. »Wen treff ich schon, wen treff ich noch den Wachenden?« Oder von jener interpunktionslosen Sequenz aus Wandrers Sturmlied : »Glühte deine Seel Gefahren Pindar!«? Während die Sprachnorm Erfahrung nach immer den gleichen Regeln verarbeitet, entfaltet Goethe eine Bühne steter Verwandlung. Dabei lockert Poesie die Sinnschlaufen, die die fable convenue zwischen Wort und Welt knüpft, riskiert eher Webfehler, als daß sie sich nach Vorgabe wohlfeiler Muster in den Maschen einer Sprache verfinge, die das Unbekannte vom Bekannten her ausbleicht. Die Freiheit des poetischen Subjekts und ihre semantischen Spielarten instrumentieren eine Sprache neu, die angesichts ihrer Entzauberung erst in Distanz rücken muß, um wieder sprechen zu können. Daß jede noch so beiläufige Äußerung auf ihren von der Erscheinung untrennbaren Grund hin durchlässig wird, ohne daß dieser Grund als eine Art Urprinzip dingfest gemacht würde, erklärt den metaphysischen Duft von Goethes Sprache. Sie entschwebt weder in ätherische Regionen noch bebildert sie weltanschauliche Manifeste. Ihr Charakteristikum ist, daß sie ihren Gehalt wie Musik strukturell ausformt. Symbolische Gravitationsfelder wie die von »Wolke«, »Äther«, »Farbe« oder »Licht« setzen die Sprache selbst meteorologisch frei: in funkelnden Satzgebilden, die strahlenförmig aufbrechen, sich verdichten, verwandeln oder ‘flockig auflösen’(51). Goethes Delinearisierung, beispielhaft in den zahlreichen nur vage gebundenen Konditionalsätzen seiner Lyrik, entspricht einer Interpretation der Welt, für die die teleologische Deutung wenig Gewicht hat. Während teleologische Konzepte auf der Delegation an die Gattung, der Ökonomie des Aufschubs und der Entwertung der Gegenwart zum Investitionsfonds für eine ferne Zukunft gründen, gewinnen im antiteleologischen Präsens Phänomen und Augenblick an Bedeutung. Gegenwart wird nicht zum Mittel, Vergangenheit nicht zum Überwundenen. Goethe, dessen Verständnis des Mythos zwischen dem Uralten und Neuesten Funken schlägt, setzt daher weniger auf Diachronie als auf Synchronie. Wie Mozarts Zeitmodelle gehen auch diejenigen Goethes nicht auf ein dramatisiertes, Gestalten verschlingendes Vorwärts aus, sondern auf eine Einlösung des »omnia simul«, des »alles zugleich«, um einen Gedanken Giordano Brunos aufzugreifen, mit dem sich Goethe des öfteren beschäftigt hat. Noch die weitläufigen Perioden in Goethes Prosa wirken eher parataktisch ziseliert als hypotaktisch verkeilt, wie eine Passage aus der Italienischen Reise zeigen mag: Auf eine besonders feierliche Weise sollte jedoch mein Abschied aus Rom vorbereitet werden; drei Nächte vorher stand der volle Mond am klarsten Himmel, und ein Zauber, der sich dadurch über die ungeheure Stadt verbreitet, so oft empfunden, ward nun aufs eindringlichste fühlbar. Die großen Lichtmassen, klar, wie von einem milden Tage beleuchtet, mit ihren Gegensätzen von tiefen Schatten, durch Reflexe manchmal erhellt, zur Ahnung des einzelnen, setzen uns in einen Zustand wie von einer andern einfachern größern Welt.(52) Insgeheim läuft die Gewaltlosigkeit jeder Konfiguration auf jenen Fluchtpunkt zu, den Goethe im Bild der dem ‘Staub eingezeichneten’ Dichterworte umschreibt. Vergleichbar Mozarts Geste, das Finale des Klavierkonzerts KV 415 ohne triumphalen Schluß im Pianissimo mehr verlöschen als schließen zu lassen. Nicht mehr auf Seidenblatt Schreib ich symmetrische Reime; Nicht mehr faß ich sie In goldne Ranken; Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet Überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht, Bis zum Mittelpunkt der Erde Dem Boden angebannt.(53) Daß das Entgrenzen von Bedeutung Bedeutung schafft, nämlich eine gegen die praktikable Sinnagentur der Sprache, macht eine andere Nähe Goethes zur Musik aus. Deshalb läuft die exegetische Überbewertung des Gleichnishaften, über die Sprachirritation hinweg Sinnstiftenden seiner Dichtung Gefahr, ihre Musikalität zu überhören. Setzt man als Bindung ihrer gelösten Faktur symbolische Dichte ein, droht die Falle idealistischer Sprachauffassung. Goethes Spätstil ist keine Addition von Wortsymbolen als Auslöser unerschöpflicher Reflexionsstränge, um deren semantische Knoten herum das Sprachgewebe Falten wirft. Der empirischen Gravitation in Goethes Sprache zufolge müssen die Worte stets auch in der Intention ihres puren Jetzt und Hier wahrgenommen werden. Sonst unterschlägt man ihren Realismus, analog zur apollinischen Idealisierung Mozarts. Goethes Sprache ist nicht nur der »Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit«(54), durch den das Absolute hindurchschimmert; sie ist zweifellos auch derart präsent, daß sie noch die Fracht der Symbolik wie eine Haut abstreifen kann. So in einem der Dornburger Gedichte: einer einzigen ununterbrochenen Periode mit schwebender Konditionalbindung, hochsymbolisch geladen und doch autark in einem Sich-selber-Sprechen der Sprache. Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen, Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet, Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden. Goethes Kunst der Abweichung geht es um Nuancen und Valeurs, um Chromatisierung. Ähnlich Mozarts Vorliebe für die Chromatik zum Ausdruck des Farbenspiels der Seele, ihrer Aufhellungen und Eintrübungen, ihrer Gezeiten. Und es geht ihr um den Widerstand gegen die skelettierende Definitionsmacht der Sprache, die Goethes Poesie oft genug dadurch unterläuft, daß sie sich der urteilssichernden Copula des Prädikats verweigert. Spätestens seit Nietzsche ist es kein Geheimnis mehr, wie sehr Sprache, Sinn und Moral über die Legalitätsforderungen des Satzkanons einander zuarbeiten. Satzstrukturen sind Sinn- und Moralstrukturen. Richtet sich Goethes Sprache gegen die Bedeutungsnorm, dann richtet sie sich damit gegen Moralvereisungen. »Bin die Verschwendung, bin die Poesie« ist der Grund einer Dichtung, in der Sprache zum sinnbeirrenden Proteus wird.(55) Chirons Ausruf im zweiten Teil des Faust : »Den Poeten bindet keine Zeit«(56), enthält die zweite Lesart: und keine Konvention. Es sind androgyne Züge, die Goethes Sprache annimmt, indem sie dem Triumph des »bepfählenden« Urteils widersteht: Züge des Fremden, Mignonhaften, in deren zwitterhaften Mehrdeutigkeiten ihre verführerische Musik liegt. Goethes intendierte Unwägbarkeiten im Satzbau, dem Codex Iuris aller Rhetorik, rehabilitieren das Stoffliche durch Entstilisierung. Es sind Unwägbarkeiten gegen die Ordnung der Sprache im Vertrauen auf diese Ordnung. Wenn in die Sprache der Musik logische Rudimente, kausale etwa, verschattet eingehen und Goethes syntaktische Freiräume im Lösen kausaler Verkettungen ihrerseits die Sprache musikalisieren, bedeutet das eine Annäherung von Musik und Poesie gegen den Zugriff des Benennens. Man muß sich in Faust II nur die zahlreichen Wendungen gegen das Festhalten- und Besitzenwollen vergegenwärtigen, um dieses Spätwerk als eines gegen die Sucht des Greifens und Ergreifens, gegen die Griffigkeit des Begreifens zu verstehen; geführt bis an die Legalitätsgrenzen von Vokabular und Grammatik. Goethes Denotation des von der Sprache Abgedunkelten schärft sich zur Detonation der Konvention. Und zu einer Absage an die Erwartung, Sprache sei zuallerst ein Spiegel für den Narzißmus der Leser. Das Ideal der puritas, der Sprachrichtigkeit, wird neu interpretiert: erst der Verstoß gegen den Konsensgrund der Sprache unterbricht das Wiederkäuen der Worte und das Ersterben ihrer expressiven Kraft in den Sielen der alltäglichen Rede. An diesen Verstoß ist der Widerwille gegen den subsumierenden Akt gebunden, der Goethe und Mozart einander so verwandt macht. Goethe entzieht das Körperhafte der Sprache der Anatomie der Grammatik, um Sprache dem Stoff anzuverwandeln. Gerade weil die grammatikalische Orthodoxie mit Distanz-Filtern gegen die Empirie ausgerüstet ist, läßt Goethe in die geistgebundene Form deren Naturgrund ein, das Maternale des Materials. Gibt es doch eine »zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird«(57). Für Goethe wie für Mozart bleibt das Bündnis mit der Natur, der Psyche, dem Somatischen unwiderrufbar. Und das Buch der Natur birgt ungemein dichte Texte wie den vom nächtlichen Vesuv, wenn in der Dämmerung die Fensterläden aufgestoßen werden und den Blick auf ein Schauspiel freigeben, das »man in seinem Leben nur einmal sieht«: Der Vesuv gerade vor uns; die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und glühenden Dünsten; übrigens Meer und Erde, Fels und Wachstum deutlich in der Abenddämmerung, klar friedlich, in einer zauberhaften Ruhe. Dies alles mit einem Blick zu übersehen und den hinter dem Bergrücken hervortretenden Vollmond als die Erfüllung des wunderbarsten Bildes zu schauen, mußte wohl Erstaunen erregen. (...) Wir hatten nun einen Text vor uns, welchen Jahrtausende zu kommentieren nicht hinreichen.(58) Kehren wir nochmals zum Flechten und Weben zurück: nämlich zur Schürzung des tragischen Knotens. Goethe hielt von solcher Straffungsarbeit wenig. So wenig, daß in ihrer Verweigerung vielleicht die Basis seiner Affinität zur Parataxe der Musik liegt. Goethe denkt nicht daran, den Stoff, die Fabel im Dienst des Ethos auf Kollision und Spannung hin zu zentrieren. Seine poetische Einheit ist eine andere als die der tragischen Dramaturgie. Worauf deren Idee abhebt, zeigt Schillers Egmont -Kritik. Abgesehen davon, daß der Charakter des Helden »kein großer« sei, spricht Schiller Goethes Stück den Rang einer Tragödie ab, da ihm »kein dramatischer Plan« zugrunde liege, es vielmehr aus einer »bloßen Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen« resultiere.(59) Auch hier also der rügende Ton gegen reihende Konfigurationen. Ein Ton, den ebenfalls jene Kritiker Mozarts anschlagen, die die verschwenderisch lose Folge an Einfällen und Gedanken dieses »allerstillosesten« unter den »ausgezeichneten Autoren« aus der Fassung bringt.(60) Daß die Sucht nach Identität Seele und Welt immer auch verkürzt, Goethe und Mozart folglich auf Perzeptionen und Impressionen setzen, die nicht sofort von der Ichinstanz reglementiert werden, vielmehr das flüchtige Ich erst konturieren, mißversteht eine Kritik, die die Einheitsökonomie des Charakters im Gedanken an Mäßigung und Mitte anmahnt.(61) Ist Schiller als Tragiker methodisch, hält Goethes Antitragik von Methode nur wenig. Goethe mißtraut der Geschlossenheit des Systems als einer methodischen Hypertrophie. »So viel Neues ich finde, find ich doch nichts Unerwartetes, es paßt alles und schließt sich an, weil ich kein System habe und nichts will als die Wahrheit um ihrer selbst willen«(62). Der antisystematische Zug ist antistrategisch, antitragisch, antiidealistisch, da »zur Methode (...) nur der getrieben wird, dem die Empirie lästig wird«(63). Während Hegels System keinen blinden Fleck duldet, der womöglich noch als punktuelles Sinndefizit provozieren könnte, läßt Goethe die Lücke ein. Sein »realistischer Tic«(64) bewahrt sich die Erfahrung des gedanklich nicht Auflösbaren und des Staunens: im Bewußtsein einer Empirie, deren »em peira« etymologisch etwas mit Erprobung, Wagnis, Gefahr und einer Offenheit zu tun hat, die bis in die Leerstellen und Läßlichkeiten der Wanderjahre und des Zweiten Faust hineinreicht. Goethes Abneigung, das Material nach dem Willen eines Meisters der Form zu präparieren, zeigt sich bereits bei der »ohne Plan und Entwurf« konzipierten Erstfassung des Götz . »Bloß der Einbildungskraft und einem innern Trieb« überlassen, »riß mich eine wundersame Leidenschaft unbewußt hin«, vermerkt Goethe zum Entstehungsprozeß des Werks.(65) Mit entsprechenden Auswirkungen auf die »höhere poetische Einheit«. Wenig später wird Goethe den Werther »ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich« zu Papier bringen, »ohne ein Schema des Ganzen«(66). Die vom Gebot der Stringenz her ‘antitheatralische Grundrichtung’(67) seines Œuvres wird den Dichter lebenslang begleiten: angefangen von der bereits in zeitgenössischen Urteilen am Götz beklagten Formlosigkeit über Goethes zahlreiche Dramenfragmente bis hin zur Großreihung des Zweiten Faust . Nicht nur Schiller, Goethe selbst war darüber im Zweifel, ob er denn »eine wahre Tragödie schreiben könnte«. Goethes rhizomatisches Denken, seine »Ramifikationen«(69), tilgen mit der Grenze zwischen Zentrum und Peripherie auch die zwischen dem Sittlich-Allgemeinen und den individuellen Triebmonaden. Darin entspricht Goethes antitragische Haltung seiner parataktischen. Parataktisch ist allein schon der Verzicht auf eine vorgeordnete Einheit. Einheit soll sich aus der mannigfaltigen Korrespondenz der Teile ergeben, mag dadurch das Einzelne auch den Zusammenhang mit dem Ganzen tarnen, gar verlieren. Während die Hypotaxe im Namen von Vernunft und Sittlichkeit von oben her ansetzt, setzt die Parataxe im Bewußtsein der Kreatürlichkeit des Geistes von unten, von der Erfahrung her an, so wie Goethes poetisches Selbstverständnis sich selbst versteht. Kein Wunder also, wenn gerade Hegels »Arbeit des Begriffs« die Parataxe abwertet. Hegel ordnet das reihende Prinzip jener Geistlosigkeit der Natur zu, der die Einheit mit sich fehlt. Der Skandal der ins »Neben- und Nacheinander«(70) zerfließenden Natur ist, daß sie nicht denkt, nicht arbeitet. Ungleich höher schätzt Hegel die hypotaktische Vermittlungsaktivität der tätig sich entäußernden absoluten Idee. Stehen doch hypotaktische Formationen mit ihren Über- und Unterordnungsgeboten, ihrer Wertung nach Haupt- und Nebensächlichkeiten, mit ihren Strecken der Entwicklung und des Resultats Prozessen der ökonomischen wie der tragischen Arbeit weitaus näher als die auf assoziativen Bei- und Nebenordnungen gleichberechtigter Elemente beruhende Parataxe. Sie kommuniziert mit Natur, weil sie sich gegen die Vermittlungs-, Ziel- und Systemstrenge als wesentlich resistenter erweist. Durchmißt die Tragödie den Widerstreit zwischen Freiheit und Notwendigkeit im Opfergang des Helden, erscheint Mozart und Goethe das Gegen, das Anti, der Dualismus als zu abstrakt. Agon ja, aber kein Antagonismus; Zweifel ja, aber keine Verzweiflung. Während das Tragische im Bann dualer Polarisierung steht – Worte wie Entzwei ung, Zwie spalt, Verzwei flung lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig – schlagen Goethe und Mozart das platonisch-christliche Erbe der Tragik aus. Sie halten nichts vom Aufschwung in spekulative Welten, den das Tragische umkreist. Bei ihnen fehlt, was Schiller das »Satirische« nennt: der Widerspruch zwischen der »Wirklichkeit als Mangel« und dem »Ideal als der höchsten Realität«(71). Eben weil »alles Tragische auf einem unausgleichbaren Gegensatz «(72) beruht, glaubt Goethe, nicht »zum tragischen Dichter geboren« zu sein: »Meine Natur [ist] konziliant«; »daher kann der rein tragische Fall mich nicht interessieren, welcher eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein muß, und in dieser übrigens so äußerst platten Welt kommt mir das Unversöhnliche ganz absurd vor.(73) Der schöpferische Eros ist antitragisch, wenn tragisch bedeutet, der Unversöhnbarkeit von Gegensätzen ausgeliefert zu sein. Und er ist antimoralisch, wenn moralisch bedeutet, in die endlose Verkettung von Schuld und Sühne verspannt zu sein. Prozesse tödlicher Ausweglosigkeit unter dem Druck des Ideals oder solche der Besserung, der Bekehrung, gar der Buße aber sind das Letzte, was Goethe und Mozart reizt. Wenn Mozart im »Molto Allegro« der späten g-Moll-Symphonie den dunklen, allzu oft voreilig als tragisch charakterisierten Ton in Szene setzt, handelt es sich dabei noch lange nicht um das Ethos Beethovens. Mag sich die Durchführung des Satzes auch unerbittlich auf den Hauptgedanken konzentrieren: sie verweigert die tragische Arbeit, gespeist von Zerrissenheit und deren Überwindung. Vorgeführt wird nicht die motivisch-thematische Dramaturgie unter der Regie der sittlichen Idee, sondern der modulatorische Sturm des leidenschaftlichen Affekts und der Passion, in dem sich das Thema physiognomisch bricht, verzehrt und regeneriert. Musik inszeniert einen Ausschnitt aus der »Experimentalphysik der Seele«, keine ethischen Postulate. Wie Goethe kennt auch Mozart nicht den Gerichtshof der Form, obwohl in seinem gleich gewagten wie souveränen Spiel mit tektonischen Fliehkräften eine überaus rationale Konstruktion Regie führt; etwa die weitgespannte Balance der Tonarten im Finale des zweiten Figaro -Akts. Solch subkutanen Netzwerken der kompositorischen Logik vergleichbar liegt auch Goethes Nähe zur Musik, maßgeblich zu derjenigen Mozarts, nicht in einem willkürlichen Aufgeben der Bindungsenergien, darin also, daß parataktisches Gleiten und zentrifugale Formtendenzen sich zu einer als musikalisch mißverstandenen Bindungslosigkeit potenzierten. Selbstverständlich arbeiten Mozart und Goethe mit einer dichten Kombinatorik, die den »filo«, den Faden der Gedanken gegen deren Zerfall zum Pasticcio garantiert und noch Goethes syntaktische Deregulierungen und Mozarts periodische Asymmetrien bis hinein in den festen Strophenbau und die stabilen Kadenzverhältnisse sichert. Nur: Goethe und Mozart stellen ihre Konstruktionen sous terre nicht als Strategie aus. Beide wollen das »Pathos« nicht »mit den Mitteln des Ethos« reden lassen.(74) Und beiden gilt ästhetische Vernunft im Sinne Humes und Diderots selbst als ein gemäßigter, wenngleich nobilitierter Affekt, ohne ständige Bewährungsproben auf die Ethik der Form. Das Spiel der Vielfalt ist etwas anderes als die Idee der Totalität. Ich darf daran erinnern, wie sehr das Ende des 18. Jahrhunderts von Auseinandersetzungen mit patriarchalen Instanzen bestimmt war: mit der göttlichen in Kants Kritik der reinen Vernunft , mit der monarchischen in der Französischen Revolution. Das Gesetz der Väter freilich kennt viele Facetten. Eine zeigt sich darin, das ästhetische Gewissen auf den Einstand von Integralität und Integrität zu vereidigen. Vornehmlich auf jener Basis, die das Einzelne vom Imperativ der Formtotale her steuert wie bei Schiller und Beethoven. Sosehr beide das Partikulare zur Totalität, das Individuum zur Gattung steigern wollen, sosehr müssen sie die Motive der Direktive einer Idee dienstbar machen. Ihre Werke komprimieren sich zu Postulaten; bei Beethoven schließlich zu einem Drängen der Musik gegen die Musik – hin zu einer Musik des Urteils. Anders als in einer solchen Kritik an der Vereinzelung des Besonderen entwirft sich der nonkonforme Einzelne bei Goethe und Mozart, Faust etwa oder Don Giovanni , keineswegs gemäß der Perspektive sündhafter Partikularität. Eher schon als ein Repräsentant des zivilisatorisch gebrochenen Naturgrunds, ohne daß Besonderung sofort als Egoismus auf dessen Urform, auf luziferische Eigensüchtigkeit hin projiziert würde. Im Gegensatz zum Skandal der Vereinzelung nehmen Goethe und Mozart das Besondere bis in die Form hinein so ernst, daß sie die Form eher dem Risiko der Dezentrierung aussetzen als schnelle Bändigungsmanöver zu mobilisieren. Goethe und Mozart eignen sich nicht zur Tragik des ödipalen, vom Formgesetz geblendeten Künstlers. Als hätten sie geahnt, wie gut sich zentralistische Konstruktionsnormen mit der Inthronisierung von Vaterinstanzen vertragen, unterwandern sie die Autorität der Form von innen her. Auf deren monistisch monotheistischen Sog reagiert Goethes Satz, als Dichter sei er Polytheist.(75) Das ist seine Einsicht in die Moral und Unmoral der Form. Mag zwar eine jede Form das »Glas« sein, »wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln«, stets hat sie auch »etwas Unwahres«(76). Im Faust -Drama demonstriert Goethe am entschiedensten, was er von der patriarchalen Ökonomie des Form- und Moralgesetzes hält. So wenig jedenfalls, daß er die Schuld des Helden und zumal die, nach der das Leben mit dem Tod bestraft wird, mit der ‘Erlösung’ in der Sphäre des »Ewig-Weiblichen«(77) aussetzt, ja in der Parataxe des Dramas regelrecht verdunsten läßt. Die chthonischen Bergschluchten des mütterlichen Landschaftskörpers lassen in der Schlußszene die Aura der »Liebe« jenseits von Gut und Böse in geradezu inzestuöser Färbung aufscheinen. Faust – ein glücklicher Ödipus.(78) Sosehr sich die »Triebe«(79) in Goethes maternalem Imaginationsraum aus ihrer Verstrickung lösen, sosehr wird auch das zweite ödipale Verbrechen getilgt: der Vatermord. Hier sublimiert zu einer Entmächtigung durch Vergessen. Wenn am Ende des Prologs im ersten Teil des Faust der »Himmel schließt«(80), geschieht dies endgültig. Vom »Herrn« ist im Folgenden nicht mehr die Rede. Er entfällt für den Teufel als Adressat des Vertragsrechts.(81) Gott, den Richter-Gott vergessen: das ist die Version vom Tod Gottes in Goethes Saturnalien des Geistes. Und mit dem Richter über Erlösung und Verdammnis wird in eins die Wette samt ihrem Wechsel über Leben und Tod annulliert. Am Ende des Dramas wird der Faust-Himmel von keinem Vatergott mehr dominiert. Er geht in jener Imago des »Weiblichen« auf, die noch die Teiltragödien des Ersten und Zweiten Faust , die von Gretchen, Helena, Euphorion oder Philemon und Baucis, von moralischer Erblast befreit. Wie im naturwissenschaftlichen Denken die mechanistische so setzt Goethe im poetischen Denken die moralische Kausalität außer Kraft. Schon zu Beginn des Zweiten Faust sprengen Natur und Vergessen zivilisatorische Härteformationen und deren Komplizenschaft mit dem christlichen Reuebegriff. Goethe läßt zwar keinen Zweifel an Fausts Verfehlungen. Im Wissen aber, daß der »Handelnde [...] immer gewissenlos«(82) ist, spricht er seinen Helden frei, ohne ihn zu rechtfertigen. »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.«(83) Der Tausch von Vergehen und Strafe wird vom Drama aufgezehrt. Goethe geht es nicht um Untergang, sondern um Übergang und Verwandlung. Auch wenn er am Sittengesetz für die Subjektmonade festhält, an dem von »Liebe«, »Pflicht« und »Streben«, nicht aber von »Sollen«, wird ihm Moral eher zur Sünde der Zivilisation, als daß Sünde als Moral der Zivilisation hingenommen würde. Goethe, der Geschichte als ein ständig überschriebenes Palimpsest ihres Naturgrunds liest, setzt auf den naturgegründeten Eros, um die polaren Verhärtungen von Geist und Natur und ihre Moralkoordinaten aufzuheben: »So herrsche denn Eros, der alles begonnen!« – »So ist es die allmächtige Liebe, die alles bildet, alles hegt.«(84) Während die Tragödie an Gott und Sittengesetz, an die Ideale des Über-Ichs und ihren Konflikt mit dem Weltlauf, an Verblendung, Sturz und Tod gebunden bleibt, zeigt sich Goethe an der Hypothek des Schicksalhaften, an Unausweichlichkeit und Scheitern, am Kreislauf von Schuld und Sühne uninteressiert. Statt den sittlichen Charakter auf Identität zu fixieren, um ihn überhaupt zur Rechenschaft ziehen zu können, unterläuft der Verwandlungsreigen in Faust II mit der personalen Inkonsistenz auch die Moral. Zugleich geht das Rhapsodische der Verwandlungen über die parataktischen Wort- und Satzgirlanden in die bildhafte Reihung des Dramas ein – fern jedem tragischen Zeitsturz. Die szenische Streuung läßt die Klärung des heldischen Charakters, »ob er heilig, ob er böse«(85), hinfällig werden. Das schon für Diderot unlösbar-unsinnige Frage-Antwort-Spiel »Est-il bon? Est-il méchant?« verweigert auch der Zweite Faust in seiner von »ethischen Paradoxen«(86) freien Disposition des Sujets. Sprachlich in enger Verbindung mit Goethes musikalischem Denken: mit dem Aufbrechen des hierarchischen Form- und Satzregimes bis hin zur Sprengung der Gattungsgrenzen der Tragödie unter wechselseitiger Durchdringung sämtlicher Genres. Was die volonté générale der Form an Opferritualen verlangt, wissen Goethe und Mozart nur zu gut. Ihre Metamorphosen lassen im bunten Schwarm der Motive die Libertinage des Vielen zu, die die Identität liquide hält, zuweilen gar liquidiert. Ihre Parataxen schreckt in keiner Weise, was den Rationalismus der Epoche ängstigt: das nicht gebundene Mannigfaltige, das zu verführen droht, weil es der Kontrolle des Verstandes und der Rückvermittlung des Subjekts entgleitet. Im Vertrauen auf die geheime Korrespondenz der Ding- und Lebensspuren stimmen Goethes »Eros« und Mozarts »attrativa« mit Humes Prinzip der »Sympathie« überein. So ist die vielschichtige Weltpräsenz in Goethes und Mozarts Werken auch eine Folge der dynamischen Anziehungs- und Abstoßungskräfte des Begehrens: im Unterschied zu jener mechanischen Statik, die Goethe Crébillon vorwirft, der die »Leidenschaften«, blind gegen deren »zarte chemische Verwandtschaft«, wie »Kartenbilder« behandle, »die man durcheinander mischen, ausspielen, wieder mischen und wieder ausspielen kann, ohne daß sie sich im geringsten verändern«(87). Auch hier erinnert Goethes Forderung nach Verflüssigung an Mozarts körperhafte Sprache der Psyche; an ihren Puls- und Herzschlag, der der musikalischen Rede erst Leben verleiht; an die blitzartigen Energiekurven seiner Opern, oft zäsurlos dicht, die das Ensemble der Charaktere im Wirbel der Passionen gegenseitig durchlässig halten: alles andere als ein Kataster der parzellierten Seele, wie ihn Dittersdorfs Sinfonia Il Combattimento delle passioni umani vor Ohren führt. Die Revue von Affekten und Stimmungen ist ein Gemeinplatz des 18. Jahrhunderts. »Ich hatte im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter, je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert«, notiert Diderot.(88) Ebenso entladen sich die Aphorismen Lichtenbergs zu unberechenbaren Gedankenblitzen. In ihnen schillert die menschliche Seele wie ein »Chamäleon, das mit jedem Augenblick seine Farbe verändert«(89). Und »beinah wie ein Chamäleon« erscheint auch der junge Goethe in einem Brief Caroline Herders. Nicht zu vergessen der von Goethe hochgeschätzte Laurence Sterne und sein Labyrinth der Sprünge, Zufälle und Abschweifungen. Bei all diesen Autoren findet sich wie bei Mozart die Sensibilität für das Instabile, Diskontinuierliche von Ich und Person, für das Rapide und sich Überlagernde der Bewußtseins- und Seelenzustände. Goethe und Mozart sind Wahlverwandte Humes, der den Verstand in eine Folge von Eindrücken und Vorstellungen auflöst, »die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind«(90). Was in der Exposition von Mozarts letztem Klavierkonzert an Charakteren durchmessen wird, führt in seiner Vielfalt jeden Versuch einer klaren Affektscheidung ad absurdum. Die Spannbreite reicht nicht nur vom erhabenen bis zum buffonesken Ton. Sie durchläuft auch eine Summe komplexer Mischungen: »eine Art Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen, und sich in unendlicher Mannigfaltigkeit der Stellungen und Arten der Anordnung untereinander mengen«(91). Wie sich bei Goethe historische und biographische Textschichten durchdringen, deren vermischte Lagen jederzeit in produktiver Erinnerung aufzuleuchten vermögen, so hält Mozarts Musik ein Netz von Affektbahnen präsent, mögen einzelne dieser Bahnen zuweilen auch wie in einem Tunnel verlaufen. Darin kontrastiert Goethes und Mozarts ästhetischer Eros der ethischen Verwerfung Schillers und Beethovens. Und der Sprache des Tragischen, die sich als die Umkreisung eines Delikts verstehen läßt. Als eine der Beschattung, um das corpus delicti nicht aus dem Blick zu verlieren: den Riß zwischen Natur und Sittlichkeit. Daß Mozarts Musik nicht richtet und verurteilt, etwa in Così fan tutte , ist die Aktualität des 18. Jahrhunderts in ihr. Ähnlich weist Goethe im Rückblick auf den Werther das »alte Vorurteil« zurück, ein Buch müsse einen »didaktischen Zweck« haben.(92) Goethes und Mozarts Freiheit des Geistes gründet darin, daß sie der Naturgeschichte der Seele die Treue halten. Lehnt Goethe auch den Materialismus eines Helvétius, d'Holbach oder Lamettrie ab, seine Kritik an der Trennung der oberen und unteren Seelenvermögen bindet ihn um so enger an die französische Aufklärung und ihren Heros Diderot. Und wie Mozart hebt Goethe die Decksteine der Zivilisation an, um deren Unterbau freizulegen. »Glaube mir«, schreibt er 1781 an Lavater, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.(93) Zeitig schon hatte Goethe in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt und eine desto schrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zustand hereinbricht.(94) Man erkennt den Blick in jenen »Grund«, in dem laut Schelling immer noch »das Regellose (liegt), als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden«(95). Beim Gang in die Unterwelt der Zivilisation wird die dichterische wie die musikalische Sprache zur Seelenführerin ins Unbewußte. Hört man Mozarts Idomeneo im Vergleich mit Glucks Iphigénie en Aulide wird klar, was die Musik an psychologischer Tiefenschärfe gewonnen hat. Glucks »bella semplicita« hat sich bei Mozart zu jener Leib gewordenen condition humaine gewandelt, die einer seiner Briefe den »Arsch« nennt, den die Musik bekommen soll, da sie doch bislang nur einen »Kopf« habe.(96) Musik wird bei Mozart zum Seismographen des beseelten Körpers, so wie Natur in den Wahlverwandtschaften zum Seismographen der Gesellschaft wird. Diese Sensibilität für den Formenkreis der Psyche und des Unbewußten ermöglicht es Goethe und Mozart, den Zufall nicht als narzißtische Kränkung tabuisieren zu müssen. Eine weitere Variante ihres parataktischen Ingeniums. Im Gegensatz zum zentralistischen Form- und Personbegriff scheut das naturinspiriert konfigurative Arrangement das Unvorhergesehene, scheinbar Planlose weit weniger. Goethes Satz: »Dann mag der Zufall selbst als Geist der Einheit schalten«(97), ist für ihn selbst wie für Mozart von eminentem Rang. Goethes Verständnis des Zufalls zielt auf eine Sicht jenseits der Spaltung von Wesen und Erscheinung. Wiewohl sich Goethe gut spinozistisch »sowohl das Geregelte als Regellose von einem Geiste belebt« denkt(98), beläßt er dem Zufall jenes Recht, das ihm die Zähmung und Verspannung in eine Zieldynamik, speziell bei Hegel, abspricht. Daß »zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben« können, und »das, was wir Schicksal nennen, (...) bloß Zufall sein« könnte(99): ein solches Bewußtsein verrät Einsicht ins Spiel der Welt. So führt auch die anthropologische Konstante des Menschlich-Allzumenschlichen, die Goethes und Mozarts Fahrten in die Nacht des Geistes ernst nehmen, nicht zur Resignation, sondern zu epikureischer Heiterkeit. Am ehesten ließe sich diese Weltsicht als eine der verweigerten Ankunft im Prinzipiellen bezeichnen. Wichtig ist ihr die Gelassenheit im Aufruhr der Affekte, frei von jeglicher Blasphemie gegen das Leben; eine Gelassenheit, die Epikur mit der âàëç´íç , der Meeresstille, verglichen hat. Erinnert das nicht an das Ende von Così fan tutte , das die »bella calma« inmitten jener »turbini« des Lebens feiert, die schon vom Wort her auf die »perturbationes animi« anspielen? Und schließlich hat mit epikureischer Heiterkeit auch Goethes und Mozarts Freilassen der Sprache zu tun; das Zurücktreten des Ich, um die Sprache der Poesie und der Musik selbst sprechen zu lassen: in der Gewaltlosigkeit einer antisystematischen Kunst. Sicher steckt Goethes historischer Kern in dem, was er zur Sprache bringt und was nicht, was er übersieht oder maximenhaft abblendet. Was verschweigt der Sizilien-Teil der Italienischen Reise nicht alles an sozialem Elend. Auf welch fragwürdige Weise illuminiert Goethes »malerischer Blick« nicht zuweilen die Welt: »Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut in einem Kriegsbilde auch nicht übel.«(100) Schließlich: welches Maß an Naturmetaphorik muß Goethes späte orphische Dichtung aufbieten, um der eigenen Vergänglichkeit den Stachel zu nehmen, welch lehrhaften Ton: »Kein Wesen kann zu nichts zerfallen«. »Getrost! Das Unvergängliche / Es ist das ewige Gesetz«. Und doch kannte Goethe nur zu gut die Gefahr des inneren Chaos. Regelmäßig tauchen in seinen autobiographischen Schriften der Hang zum Planlosen, Bruchstückhaften und der Abgrund des Zerfalls auf. Fühlt' ich nicht solchen Anteil an den natürlichen Dingen und säh' ich nicht, daß in der scheinbaren Verwirrung hundert Beobachtungen sich vergleichen und ordnen lassen, wie der Feldmesser mit einer durchgezogenen Linie viele einzelne Messungen probiert, ich hielte mich oft selbst für toll.(101) Gegen sein Erschrecken vor dem Regellosen setzt Goethe die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten. Ob es sich um seine Begegnung mit dem Straßburger Münster, mit indischer Skulptur, mit der Villa des Prinzen Palagonia oder um seine Beschäftigung mit der Wolken- und Witterungslehre handelt. Daß er dennoch die Spur des Irregulären, Inkalkulablen im poetischen Diskurs aushält und als unverzichtbar in dessen wenig arrondierten Formen mitkomponiert, macht seine Modernität aus. Mozart hat jenes »überhand nehmende Maschinenwesen«(102) nicht mehr erlebt, dessen traditions- und bewußtseinsattackierende Wucht Goethes Spätwerk registriert und darin demjenigen Beethovens gleicht: in Form einer Auseinandersetzung mit der als »Halbkultur«(103) beargwöhnten Epoche des heraufziehenden Industrialismus. Vor allem der Tribut, den Kunst einer nüchternen Welt zu entrichten hat, nähert Goethes Spätstil demjenigen Beethovens an. Zurückgedrängt wird die Macht der Formung, die dem Stoff gönnerhaft den Schein der Freiheit gewährt. Überdeutlich werden die Momente des Eingriffs und die Thematisierung des Materials. So im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie , der eine Reflexion der kompositorischen Mittel demonstriert. Wenn sich die Exposition des Hauptthemas in einer Geste der Revision zurücknimmt, um in einem zweiten Versuch den kritischen Punkt des ersten zu überwinden – durch den Einsatz eines hebelartigen Motivpartikels –, dann bedeutet diese Reformulierung Verwerfung und Strategiewechsel zugleich. Beethoven erweckt den Eindruck eines komponierten Irrwegs. Was sonst dem läuternden Skizzenbuch anvertraut blieb, geht in die Gestalt des Werks selbst ein und zersetzt dessen Homogenität. Eine vergleichbare Selbstreflexion repräsentiert in Goethes Wanderjahren die Abdankung des hintergründig wirkenden, allwissenden Autors zugunsten eines Redakteurs, der die Organisation der Stoffmassen aufdeckt: Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil (...) wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten. Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der typographischen Einrichtung zu verknüpfen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hätten.(105) Von solch redaktionellen Instruktionen ist der Weg zur Schnitt- und Blendentechnik in den Tempo- und Gestaltwechseln der späten Beethoven-Quartette nicht weit. Auch hier entäußern sich die Eingriffe des Autors zur Dehnung und Raffung und zur Aufsplitterung von Kontinuität und Zeit; drastisch im ersten Satz von Opus 130 . Auffällig an Goethes und Beethovens Verwandtschaft ist der enzyklopädische Zug. Bei Beethoven vom Tanz bis zur Fuge, von Rezitativ und Arie bis zur Sonate reichend, bei Goethe, allein im Rhythmischen, vom Altdeutschen bis zur Antike, vom romanischen Formenkreis bis zu aktuellen Neubildungen. Neben summenhaften Bilanzierungen als Antwort auf das Ende der großen Theodizeen zeigen sich zudem Ähnlichkeiten in einer Materialfülle, die oft nach Art eines luxuriösen En passant präsentiert wird. Bei Beethoven durch eine Kunst der Andeutung, die weite Affekt- und Reflexionskomplexe anreißt, bei Goethe durch ein Raffinement der Symbolverdichtungen. In einer Materialfülle auch, was die Flexibilität der Formdisposition anbelangt. Der Austausch ganzer Sätze in Beethovens letzten Streichquartetten erinnert an Goethes Verfahren, Spruchsammlungen als bewegliche Masse der Wanderjahre einzusetzen, um im wahrsten Sinn des Wortes Bände zu füllen. Ähnlich ist in beiden Fällen außerdem die Einsicht in den Zerfall der diskursiven Logik, ein organisatorisches Laisser-faire, das im Ablassen von einer rigorosen Durchorganisation des Werks die Teile gleichgewichtig aufwertet und damit in ihrem Wechselverhältnis enthierarchisiert. Fraglos auch die Gemeinsamkeiten in der Überlagerung von Sprache und Gegensprache. Daß die Cavatina aus Beethovens Streichquartett op. 130 über einem metrisch konstanten Puls rhythmisch freie Rezitativsplitter wie »beklemmt« stocken läßt, erinnert an Goethes syntaktische Erosionen. Etwa im Mittelteil der fünften Strophe der Marienbader Elegie , der etwas von einer außer Atem gekommenen Sprechweise annimmt. Wie in Beethovens Cavatina die periodische Regularität von irregulären Sequenzen mit realistischer Wirkung durchsetzt wird, so beginnt in Goethes Elegie die strenge Stanzenform, die die seelische Erschütterung fassen soll, im Verlassen der wohlartikulierten Diktion zu beben: durch Überdehnung der grammatischen Bahn im Aufschub klarer Bezüge. Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden Mit jedem Stern des Himmels um die Wette An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden; Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere Belastens nun in schwüler Atmosphäre.(106) Die Cavatina aus dem Streichquartett op. 130 von 1825 ist Beethovens große Elegie, vergleichbar der berühmten Marienbader Goethes von 1823. Beide Konfessionen kreisen um die Leidmetaphorik des Herzens. »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.« Figuren der Enge, der Angst werden akut. »Beklemmt« steht über dem von Ces-Dur nach as-Moll führenden Mittelteil von Beethovens Cavatina . Vom »wüsten Raum beklommner Herzensleere« spricht Goethes Elegie . Weltseele und Entelechie werden als Souveränitätsmuster fragil. »Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen«(107). Und immer wieder, der Erfahrung äußerster Einsamkeit kontrapunktiert, das Motiv der Hoffnungssehnsucht. Wird bei Beethoven der stammelnde Duktus von kantablen Teilen flankiert, die auf die Hoffnungsarie Leonores aus dem Fidelio anspielen(108), »dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle« auch in Goethes Spätgedicht. Und sei es in der Erinnerung. Momente des Aufschwungs und des Sturzes in beiden Monologen. Die Kondition, daß die Wortsprache auf das zeitliche Nacheinander angewiesen ist, das es ihr im Gegensatz zur Musik nicht erlaubt, divergente Motive und Themen simultan zu schichten, überschreitet Goethe in den Wanderjahren auf musikhafte Weise. Bricht der Roman die Folgelogik auf, dann lockert er damit die argumentative Vermittlung des Einzelnen in der Zeit und läßt die Motivkreise in räumliche Gleichzeitigkeit zueinander treten. Umgekehrt greift die Musik um 1820 Raumstrukturen auf: in Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli . Auch sie sind auf Verräumlichung angelegt: in Form eines Zirkels materialanalytischer Varianten. Im Unterschied zu den variativen Steigerungen der Neunten Symphonie und mit einem ähnlichen Hang zur Typisierung der Charaktere wie in Goethes Wanderjahren. So versenkt sich die zwanzigste Variation in ein Themensubjekt am Rand seiner Identität: entindividualisiert und ins Abstrakte gewendet, vor seiner Auflösung nur noch durch die Periodik des Ausgangsmodells bewahrt. Wie bei Goethe ist die Einzigartigkeit des Subjekts, die Unverwechselbarkeit des Helden bisweilen nur wenig von Belang. Faust wird in der ‘Tragödie zweitem Teil’ nur mehr als eine »Art von durchgehender Schnur« benutzt, »um darauf die verschiedensten ‘Weltenkreise’ aneinander zu reihen«(109), während Wilhelm Meister in den Wanderjahren als Individualität im »funktionellen Figurenspiel der Erzählkreise«(110) verschwindet. Was könnte mehr vom mächtigen Weltgetriebe zeugen als diese Transformation ins Typische? Wie die Spruchsammlungen der Wanderjahre so formulieren auch Beethovens späte Bagatellen aphoristisch zugespitzte Entlastungen von jeglicher Vermittlungs- und Durchführungsarbeit: eine experimentelle Prosa und Musik der rasanten Anspielungen und der Anforderung an eine Einbildungskraft, die dem kaleidoskopartigen Umschlagen der Stimmungen und Gedankenassoziationen gewachsen ist; diesem, wie Goethe an Sterne rühmt, »schnellen Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und Gleichgültigkeit, von Leid und Freude«(111). Als tour de force durchgeführt im pausenlosen Übergang der sieben Sätze von Beethovens cis-Moll Quartett mit seinen sechs verschiedenen Haupttonarten, seinen 31 Tempoänderungen, zu schweigen von seiner Textur- und Formenvielfalt. Während Hegel noch glaubt, daß alles gesagt werden kann, weiß das Spätwerk Goethes und Beethovens von der Bedeutung des nur indirekt Sagbaren und der des Ungesprochenen, Nichtkomponierten. Von dem also, was sich aus dem Spiegelungsrondell der Teile ergibt: Da sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.(112) Diese Kunst der Andeutung durch wechselseitige Erhellung hat nichts mit Irrationalismus zu tun, einiges aber mit der polysemantischen Kraft der Musik und viel mit dem, was in der Ornamentik Negativform heißt. Damit also, daß ein Muster, eine gewebte Textur, ein geschriebener Text das von ihnen Begrenzte und Ausgesparte vexierbildhaft zu einem zweiten Muster, einer zweiten Textur, einem zweiten Text ausformen. Man könnte von einer Lesart des Penelope-Motivs sprechen: mit dem Erzeugen ihres Gewebes löst Kunst zugleich das Geflecht des alltäglichen Sinns auf. Eine solche Negativform konturiert sich im Spätwerk Goethes und Beethovens als die Erkenntnis vom Schwinden des archimedischen Punkts der Gesellschaft, dem ihrer sozialen Vernunft. Daß mit der Aufkündigung einer unabänderlichen Folgelogik die Urteilsinstanz der Wanderjahre zwar nicht aufgehoben, aber doch brüchig wird, hängt damit zusammen. Zum Problem wird, wie nach dem Zerfall der Trinität von Gott, Wahrheit und Sprache noch zu schreiben, zu komponieren sei, ohne in Unverbindlichkeit oder romantische Fluchttendenzen abzugleiten. Goethes Spätstil reagiert darauf, indem er die Sprache gegen deren sinnsyntaktische Weisungsgebundenheit musikalisiert, um sie für die Härte des Realen und dessen poetische Transfiguration geschmeidig zu halten. Das Risiko, dem Goethe die Prosa der Wanderjahre im Pakt mit der »Prosa der Welt« aussetzt, ist demzufolge enorm. Etwa in jenen Stellen über das Weberhandwerk, die Goethe als ungefilterte Sachschilderung in den Roman einläßt: Rechts gedreht Garn gehen fünfundzwanzig bis dreißig auf ein Pfund, links gedreht sechzig bis achtzig, vielleicht auch neunzig. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertelellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke fleißige Spinnerin behauptete vier auch fünf Schneller, das wären fünftausend Umgänge, also acht bis neuntausend Ellen Garn täglich am Rad zu spinnen.(113) Es ist, als würden in die offene Form der Wanderjahre zusätzlich Fenster eingelassen werden, durch die Realität eindringen kann, um das Werk nicht von innen her zu sprengen. Goethe selbst hatte sich über den Versuch mokiert, die Wanderjahre »systematisch konstruieren und analysieren zu wollen«, während sich der Roman doch »nur für ein Aggregat« ausgebe(114), für einen »Verband der disparatesten Einzelheiten«(115). Goethes und Beethovens Spätwerk ordnet sich nicht mehr um ein benennbares und verbindliches Zentrum, das den erloschenen göttlichen Deutungszauber durch neue Sinnstiftungen beerbt. Innerhalb des ästhetischen Kosmos soll zwar alles gleich nah zum Mittelpunkt sein, der Mittelpunkt selbst jedoch entzieht sich. Er löst sich in die gleichgewichtigen Gravitationsschwerpunkte der Teile auf, die sich durchdringen und ihren Zusammenhang untergründig stiften. Bei Beethoven durch das Symbol eines Viertonmotivs, das die Klammer zumal der Streichquartette opp. 130, 131 und 132 liefert. Bei Goethe durch das Motiv des »Kästchens«, das den Roman der Wanderjahre symbolisch und real zugleich durchzieht – wie eine geheimnisvolle black box. Was ein Merkmal der späten Beethovenquartette genannt wurde, findet seine Parallele auch in Goethes Spätwerk: nämlich »Assoziationen zu knüpfen, die halblatent bleiben«, zugleich aber »wesentlicher als die manifeste motivische Arbeit« sind.(116) Gegen den Kodex des Werkorganismus verstoßen Beethovens späte Streichquartette ebenso wie Goethes Wanderjahre . Ihre zur Offenheit tendierende Form weitet sich ins Unendliche, weil sie die Teile hochgradig mobil werden läßt. Wenn der Anfang von Beethovens Opus 130 bereits wie eine Fortspinnungssequenz klingt oder Goethes Wanderjahre mit einem »Ist fortzusetzen« enden, sind dies frühe Beispiele einer Destabilisierung des Beginnens und Schließens und damit einer Entmächtigung der Form selbst, ihres Alphas und Omegas. Vergleichbares findet sich in der letzten von Beethovens Bagatellen op. 126 , deren Anfangstakte wie ein Ende wirken; Anfangstakte, die das Stück dann tatsächlich auch unverändert als Schluß einsetzt, besser: montiert. Anfang und Ende sind austauschbar: wohl eine der radikalsten Arten, Form als Entwicklung zu verabschieden. Wie sich mit solchen Relativierungen die Verstrebungen im Innern der Werke lockern, zeigt Goethes und Beethovens Spätwerk durch seine Aussparungen. Durch solche des Verschweigens in den Wanderjahren , durch solche der Aufkündigung von Vermittlung und Umschreibung in der späten Lyrik; bei Beethoven, vornehmlich in den Streichquartetten, durch eine reduzierte Fortspinnungstechnik und die zu harten Kontrasten gerafften Modulationswege. Hinter all dem steht eine Idee des Poetischen, die Goethe 1827 so formuliert: »je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion desto besser«(117). Natürlich begünstigt solche Inkommensurabilität den Zufall. Erstaunlich ist es deshalb nicht, wenn die Wanderjahre dem Autor des Tristram Shandy ein Denkmal setzen: Laurence Sterne also, der den Zufall als Produktivkraft feiert, um das Zerstückelte und Entlegene auf den Subtext heimlicher Affinitäten hin diaphan zu halten. Die Sterne gewidmeten Aphorismen der Wanderjahre : sie sind vor allem auch kommentierende Spiegelungen von Goethes eigenem Spätwerk. Goethes und Beethovens letzte Werke haben es mit einer Realität zu tun, die nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution und inmitten der frühindustriellen »Unrast« und »Schnelligkeit«(118) die künstlerische Produktion immer mehr auf eine Ästhetik des Exzentrischen hin schärft: im Widerstand gegen die lähmende Mitte der Konvention. Von dieser Hypothek her erhellt Goethes und Beethovens enzyklopädischer Anspruch in all seinen Brüchen und Beschwörungen den Blick auf das metaphysisch entzauberte Asyl der Moderne. Sich der Prosa dieses Asyls zu stellen, lautet das ebenso offene wie geheime Motto. In einer Verwebung mit dem Poetischen, die eine radikale Diskursscheidung nicht mehr zuläßt. So wie in Goethes Wolkengestalt nach Howard : Vor Sonnenaufgang leichte Streifen an dem ganzen Horizont hin, die sich erhoben und verflockten, sobald sie hervortrat. Die Fahne, vollkommen in Nord, stand unbeweglich, mit wachsendem Tag häuften sich die Wolken. In Alexandersbad stand das Barometer 28 Zoll weniger anderthalb Linie, welches nach der Höhe des Orts schön Wetter andeutet. Nach Tische bewölkte sich der Himmel immer mehr, die Wolken schienen in tieferer Region zu schweben, Natur und Gestalt des Stratus anzunehmen, auch war das Barometer eine halbe Linie gefallen. Um acht Uhr war der Himmel ziemlich klar; doch lag im Süden eine langgestreckte, dichte Wolke, die sich aber nach und nach aufzuzehren schien. (...) Das leichteste Gespinst der Besenstriche des Zirrus stand ruhig am obersten Himmel, ganze Reihen von Kumulus zogen, doppelt und dreifach übereinander, parallel mit dem Horizonte dahin, einige drängten sich in ungeheure Körper zusammen und in dem sie an ihrem oberen Umriß immer abgezupft und der allgemeinen Atmosphäre zugeeignet wurden, so ward ihr unterer Teil immer schwerer, stratusartiger, grau und undurchscheinend, sich niedersenkend und Regen drohend.(119) Wo liegt hier die Grenze zwischen Poesie und Prosa? Zwischen lyrischer Emphase und wissenschaftlicher Präzision? Bildhafte Imagination und begriffliche Exaktheit mischen sich, so wie Goethe selbst gehofft hat, daß beide sich »freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen« könnten(120). Eine Versöhnung im Befriedeten, von Kunst und Leben auch, wie sie im »Presto« von Beethovens cis-Moll-Quartett Kontur annimmt. Einem Satz, dessen poetisch-prosaische Legierung von Trieb und Getriebe auf flüchtige Oasen des »piacevole« hin durchlässig wird, des »Freundlichen«, um Goethes Wort aufzugreifen, – und auf Kinderliedhaftes, befreit von Ernst und Askese. Anmerkungen 1 Theodor W. Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: GS 11, Frankfurt/M. 1974, S. 496. 2 Goethe, Dichtung und Wahrheit III/IV, Werke in 45 Bänden, München 1961 ff. (im folgenden abgekürzt als WW), Bd. 24, S. 72. 3 Adorno, Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, S. 503 f. 4 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, hg. von Regine Otto, Berlin 1982, 19. 2. 1829. 5 Goethes Gespräche, Hg. Wolfgang Herwig, Zürich 1965 ff., Bd. 1, S. 514. 6 Goethe, Maximen und Reflexionen (WW 21), S. 31. 7 Goethes Gespräche, Bd. 2, S. 360. 8 Hans Gerhard Gräf (Hg.), Goethe über seine Dichtungen I, Frankfurt/Main 1902, S. 365. 9 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Studienausgabe, München 1980, Bd. 3, S. 557. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt/M. 1970, Bd. 3, S. 508. 11 Goethe, Geschichte der Farbenlehre (WW 41), S. 122; Hvhbg. J. B. 12 Goethe, Hefte zur Morphologie (Zur vergleichenden Anatomie: Nachträge), in: WW 37, S. 179. 13 Goethe, Die Leiden des jungen Werthers (WW 13), S. 75. 14 Ebd., S. 92. 15 Ebd., S. 104. 16 Ebd., S. 77. 17 Ebd, S. 92. 18 Ebd., S. 111. 19 Goethe, Ernst Stiedenroth: Psychologie zur Erklärung der Seelenerscheinungen, in: WW 39, S. 191. 20 Goethe, Eins und alles, in: WW 2, S. 149. 21 Goethe an Caroline und Johann Gottfried Herder, 13. 12. 1786. 22 Goethe an Charlotte von Stein, 6. 1. 1787. 23 Goethe, Zahme Xenien, in: WW 2, S. 284. 24 Eckermann, 11. 3. 1828. 25 Goethes Gespräche, Bd. 3,2, S. 610. 26 Carl Friedrich Zelter an Goethe, 27. 10. 1809. 27 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 27. 5. 1796. 28 Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: WW 20, S. 83. 29 Goethe, Wiederholte Spiegelungen, in: WW 31, S. 229. 30 Dass Anton von Webern gerade dieses Gedicht für eine seiner Goethe-Vertonungen ausgewählt hat, mag zu denken geben. Vgl. dazu den Beitrag von Regina Busch. 31 WW 2, S. 156. 32 Weimarer Ausgabe, Abteilung IV, Band 49, S. 397 (Jahreswechsel 1831/32). 33 Goethes Web- als Textmetaphorik macht auch Klaus Jeziorkowski in seinem Essay »...ein Gleichnis das ich so gerne brauche«. Zur Syntax der Natur bei Goethe zum Angelpunkt seiner Überlegungen (Forschung Frankfurt 2/1999, S. 6 ff.). 34 Goethe, Gedichte aus dem Nachlaß, in: WW 4, S. 64. 35 Ivan Nagel, Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München 1985, S. 83 f. 36 Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, v. 11437 f. 37 Goethe an Friedrich Wilhelm Riemer, 30. 6. 1813. 38 Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, Sämtliche Werke in fünf Bänden, München 1980, Bd. 5, S. 706. 39 Faust II, v. 11699 ff. 40 Friedrich Theodor Vischer, Faust. Der Tragödie dritter Teil, Stuttgart 1978, S. 60 f. 41 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, WW 13, S. 199. 42 Goethe, Symbolik, in: WW 39, S. 166. 43 Zit. nach Erich Trunz, Ein Tag aus Goethes Leben, München 1999, S. 139 ff. 44 Ebd., S. 144. 45 Ebd., S. 191. 46 Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre I (WW 17), S. 76. 47 Faust II, v. 7005. 48 Ebd., v. 7157. 49 Ebd., v. 8384. 50 Adorno, Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins, in: GS 11, S. 471. 51 Goethe, Howards Ehrengedächtnis, in: WW 2, S. 160. 52 WW 26, S. 192. 53 Goethe, West-östlicher Divan (WW 5), S. 116. 54 Goethe, Zueignung, in: WW 1, S. 9. 55 Faust II, v. 4728-5986, insb. v. 5065-5986. 56 Faust II, v. 7433. 57 Wilhelm Meisters Wanderjahre II (WW 18), S. 56. 58 Italienische Reise I/II (WW 25), S. 310; Hvhbg. J. B. 59 Schiller, Über Egmont, WW V, S. 933 f. 60 Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten, Darmstadt 1983, S. 163. 61 Vgl. Karl Ditters von Dittersdorf, Lebensbeschreibung, seinem Sohne in die Feder diktiert, Regensburg 1940, S. 212. 62 An Charlotte von Stein, 15. 6. 1786. 63 Maximen und Reflexionen, S. 136. 64 An Schiller, 9. 7. 1796. 65 Dichtung und Wahrheit III/IV, S. 132 f. 66 Ebd. 67 Goethe an Wilhelm von Humboldt, 20. 7. 1804. 68 Goethe an Schiller, 9. 12. 1797. 69 Vgl. z. B. Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, in: WW 37, S. 69. 70 Hegel, Enzyklopädie, WW 8, S. 72. 71 Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, S. 722. 72 Goethes Gespräche, Bd. 3,1, S. 697. 73 Goethe an Zelter, 31. 10. 1831. 74 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen, KSA I, S. 492. 75 Goethe an Friedrich Heinrich Jacobi, 6. 1. 1813. 76 Aus Goethes Brieftasche, in: WW 33, S. 19. 77 Faust II, v. 12110. 78 Wie so vieles in meinen Goethe-Überlegungen verdanke ich diesen Aspekt dem Gespräch mit Sylvelie Adamzik und ihrem Buch Subversion und Substruktion. Zu einer Phänomenologie des Todes im Werk Goethes, Berlin 1985. 79 Faust II, v. 11870. 80 Faust. Der Tragödie erster Teil, Regieanweisung zu v. 349. 81 86 Faust II, v. 11832 ff. 82 Maximen und Reflexionen, S. 25. 83 Faust II, v. 11336 f. 84 Ebd., v. 8479 bzw. v. 11872 f. 85 Ebd., v. 4619. 86 Goethe, Glückliches Ereignis, in: WW 39, S. 175. 87 Goethe an Schiller, 23. 10. 1799. 88 Zit. nach Ernst Sander, Nachwort zu Denis Diderots Jacques der Fatalist und sein Herr, Stuttgart 1972, S. 344. 89 Georg Christoph Lichtenberg, Verschiedene Arten von Gemütsfarben, Schriften und Briefe, München 1972, Bd. 3, S. 577. 90 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I, Hamburg 1978, S. 327. 91 Ebd. 92 Dichtung und Wahrheit III/IV, S. 135. 93 Goethe an Lavater, 22. 6. 1781. 94 Dichtung und Wahrheit II (WW 23), S. 68. 95 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Sämtliche Werke, Stuttgart-Augsburg 1856-61, Bd. VII, S. 359 f. 96 Mozart an Abbé Bullinger, 7. 8. 1778. 97 Fa. Paralipomena zum Vorspiel auf dem Theater, in: Goethes Poetische Werke Bd. 5, Stuttgart 1951, S. 602. 98 Goethe, Nacharbeiten und Sammlungen, in: WW 39, S. 84. 99 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, München 1977, S. 531. 100 Goethe, Kampagne in Frankreich, in: WW 27, S. 37 f. 101 Italienische Reise I/II, S. 189. 102 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 171. 103 Eckermann, 2. 1. 1824. 104 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 125. 105 Wilhelm Meisters Wanderjahre I, S. 222. 106 Hvhbg. J. B. 107 Goethe, Trilogie der Leidenschaft. 108 Cavatina, T. 7 f. und 55 f.; Arie der Leonore: »Komm, Hoffnung«, T. 8 f. 109 Eckermann, 13. 2. 1831. 110 Dieter Borchmeyer, Goethe. Der Zeitbürger, München 1999, S. 304. 111 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 219. 112 Goethe an Carl Jacob Ludwig Iken, 23. 9. 1827. 113 Wilhelm Meisters Wanderjahre II, S. 93 f. 114 Goethes Gespräche, Bd. 3,2, S. 571. 115 Goethe an Rochlitz, 28. 7. 1829. 116 Carl Dahlhaus, Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987, S. 281. 117 Eckermann, 6. 5. 1827. 118 Goethe an Zelter, 6. 6. 1825. 119 WW 38, S. 169 f. 120 Goethe, Verfolg, in: WW 39, S. 71.
- Johannes Bauer, Beethoven als Stratege
Mit der Grande Armée des Orchesters Beethoven als Stratege Johannes Bauer 27. Mai 2019 Beethoven Johannes Bauer 26. Nov. 2018 Mozart Erstaunlich, dass sich bislang kaum eine der zahllosen Veröffentlichungen zu Beethoven und Napoleon für die Ähnlichkeit taktischer Modelle in Beethovens Symphonien und Napoleons „art de guerre“ interessiert hat. Formuliert denn nicht gerade Beethovens Orchestersprache einen Fundus an Überraschungs- und Ausweichmanövern, an Zermürbungspartien, Attacken und Blitzsiegen, der dem Aktionsrepertoire Napoleons, seinem militärischen Genie des Kalküls und der Improvisation verwandt ist? Auch wenn Beethoven, abgesehen vom Spektakel der Schlacht bei Vittoria , alles andere als programmmusikalische Kampfszenarien komponiert hat, schärfen sich insbesondere seine Symphonien zur Struktur eines plan de bataille, um, wie im Fall der Neunten , mit der Rhetorik der Offensive und dem Feuer von 1789 die restaurative Erstarrung der Ära Metternich aufzusprengen. Gleichwohl bleibt die Frage nach der Wirkung solcher primär strategischen Weltentwürfe, zumal auf den Habitus eines Bürgertums, das in Beethoven einen seiner Heroen feiert. Bayerischer Rundfunk, 2007 Bspl. 1: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz "Vergleichbar den verschiedenen Regimentern, die durch genaues Manövrieren zum Gewinn der Schlacht beitragen, folgen die Orchesterstimmen in Beethovens Symphonien Befehlen im Interesse des Ganzen und sind meisterhaft konzipierten Plänen untergeordnet." Nicht nur Balzacs Gambara , auch die musikwissenschaftliche Literatur hat an Beethovens Symphonien oft genug deren taktisches Potenzial hervorgehoben. Wollte doch Beethoven, Martin Geck zufolge, als ein „NapoIeon der Musik [...] die Kunst der Komposition beherrschen wie dieser die Strategie des Kriegführens“. Komponiert Beethoven demnach den Übergang zum Finale der Fünften Symphonie als militärisches Tableau? „Hatten sich Beethovens musikalische Truppen innerhalb des Scherzos in sicherem und übersichtlichem Gelände befunden, so ergeht nunmehr der Befehl, dem Feldherrn blind auf anderes, unbekanntes Terrain zu folgen. Als sie – ohne zu wissen, was geschehen ist – die Augen wieder öffnen, erstrahlt ihnen die Sonne des neuen, gelobten Landes.“ Vergisst Gecks Bebilderung hier nicht allzu unbekümmert die bilderlose Sublimierung des Strategischen in Beethovens Musik, ihre Struktur also? Jedenfalls hat Beethoven alles andere als martialische Programmmusik in Noten gesetzt, abgesehen vom Spektakel Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria . Und das klingt dann so: Bspl. 2: Beethoven, Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria Doch zurück zur Fünften Symphonie . Auch wenn der Übergang vom Scherzo zum C-Dur-Triumph ihres Finales immer wieder unter Berufung auf solare Lichtmetaphern analysiert wurde: verwunderlich bleibt, dass dabei niemals ein berühmter, der Komposition zeitnaher Sonnenmythos bemüht wurde. Jener vom 2. Dezember 1805 nämlich, als Napoleon in Austerlitz seine Strategie auf die Wetterbedingungen hin abstimmt und einige seiner im Nebel unbemerkt vorgerückten Divisionen zusammen mit der durchbrechenden Sonne unerwartet und mit vernichtender Konsequenz das Zentrum der gegnerischen Alliierten angreifen lässt: „Le beau soleil d´Austerlitz“. Natürlich illustriert Beethoven nicht die Legende von Austerlitz. Das wäre nur eine weitere programmmusikalische Zurichtung. Dennoch: eben weil im Fall der Fünften Symphonie zu programmmusikalisch gedacht wurde, konnte übersehen werden, dass die Gemeinsamkeit zwischen Beethoven und Napoleon in ihren Strategien liegt. So wie Napoleon meteorologische Variablen in seinen Gefechtsplan einbezieht, so färbt Beethovens Taktik die Überleitung zum Finale der Fünften Symphonie naturbildhaft ein. In beiden Fällen ein Stück strategisch inszenierter Natur. Womit wir beim Thema wären. Bspl. 3: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz Die Brückenpartie zum vierten Satz der Fünften Symphonie ist eine des Sogs. Im Verlauf von 50 Takten hellt sich ein schattenhaftes Klangterrain im letzten Moment mit gewaltiger Crescendo- und Tutti-Schubkraft auf, um das Finale durch eine Jubelbresche regelrecht zu inthronisieren. Solche Steigerungen gehören zu Beethovens neuen Strategien, die der erste Satz der Fünften Symphonie mit seiner arbeitsteiligen Mobilität und Effizienz sämtlicher musikalischer Parameter exemplarisch einlöst. Nichts vereinzelt sich auf Dauer, nichts dominiert, nichts unterwirft sich hier: Beispiel eines Organismus, dessen Modell in der Philosophie um 1800 eine zentrale Rolle spielt. Bürgerlich-republikanische Tendenzen melden sich darin zu Wort; Tendenzen mit naturhaften, naturrechtlichen Zügen. Kein Wunder, dass Kant das Wesen des Organismus an einem „Produkt der Natur" demonstriert, um von hier aus Parallelen zur "Organisation" eines "Staatskörpers" zu ziehen. "Denn jedes Glied soll [...] in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck [sein], und indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und seiner Funktion nach, bestimmt sein.“ Bspl. 4: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz In Beethovens Fünfter Symphonie bleibt die republikanische Zweck-Mittel-Relation des ersten Satzes auf eine bislang ungehörte Ökonomie des Materials hin abgestimmt: auf Kraftmassen und Massenkräfte mit einer eigenen Rhetorik, die im Tonfall der französischen Revolutionsmusik den Aufbruch einer Nation im Namen von Freiheit und Gleichheit zitiert und feiert. Es war dieser Aufbruch im Wirbel der Ereignisse von 1789, der in der Umwälzung des Kriegswesens seine Verteidigung gegen die Koalition der europäischen Monarchien finden musste. Grundlage der Bewaffnung und Kriegsführung war – und hier kommt die Dimension der Masse demographisch zum Tragen – die Ressource einer ganzen Nation und ihrer „Levée en masse“. Dieses Volksheer mit seinen ungewöhnlichen Kampftechniken optimal organisiert und eingesetzt zu haben, war Napoleons Verdienst. Die Grande Armée war kein schwerfälliger Mechanismus mehr, keine Maschine mit sturen Befehlsempfängern, sondern eine in autonome Teileinheiten differenzierte, wenn auch nach einem Generalplan agierende Streitmacht mit stellenweise flachen Hierarchien. Blitzschnell operierende Truppen bilden einen amöbenartigen Verbund, der offene und geschlossene Gefechtsformen, Schützenschwärme und kompakte Verbände, freie Formationen und Kolonnen virtuos kombiniert. Fähig zu unberechenbaren Einzelattacken wie zu massiver Angriffswucht. Alles in allem eine Armee, auf die selbst zutrifft, was ihrem Oberbefehlshaber als Wortspiel zugedacht war: „Napoleon – Chamäleon“. Fällt es wirklich so schwer, in diesen Taktiken etwas von Beethovens Orchesterstrategien zu erkennen? Bspl. 5: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz Es ist das Besondere am „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie , dass es Form produziert, um gleichzeitig durch diese Form kanalisiert zu werden. Die Notwendigkeit des Komponierten soll als Freiheit erscheinen. Als eine Einheit von Ausdruckswille und Formstruktur, die darauf abzielt, wie es in Clausewitz´ Kriegstheorie von 1810 heißt, „stets auf die Mitwirkung aller Kräfte zu wachen“ und zu achten, „dass kein Teil derselben müßig sei“. Denn „wenn einmal gehandelt werden soll, so ist das erste Bedürfnis, dass alle Teile handeln [...]“. Erst diese umfassende Arbeit produziert die Geschwindigkeit, Elastizität und Schlagkraft des ersten Satzes der Fünften Symphonie , dessen Rasanz zuweilen an elementare Naturvorgänge erinnert und damit an einen Habitus, der den Zeitgenossen an Beethoven und Napoleon auffiel. Wenn Bonaparte im propagandistischen Begleitorgan seines Italienfeldzugs sich selbst, den von Sieg zu Sieg eilenden General, mit den Worten rühmt: "Er fliegt wie der Blitz und schlägt zu wie der Donner. Er ist überall und sieht alles“, dann bricht sich das Ungestüm des Strategen in der Allgegenwart politischer Entschlusskraft. Solche Brechungen hat Beethoven in der Pastorale auskomponiert: In ihrer "Gewitter"-Szene spiegeln sich Natur und Kultur wechselseitig in einer Triebdynamik ungebändigter, nicht exakt ortbarer Kräfte bis hinein in die geräuschhafte Tongebung. Wer wollte klären, ob in dieser Entladung die Terreur der Französischen Revolution, Napoleons Heere oder eine reinigende Apokalypse der Geschichte schlechthin losbrechen? Bspl. 6: Beethoven, 6. Symphonie, 4. Satz Beethovens Kunst der Symphonie und Napoleons Kriegskunst: nicht selten sind ihre organisatorischen Parallelen solche der Dramaturgie. Bei Napoleon „zerfiel eine Schlacht in [...] zahlreiche getrennte Akte, in denen der Divisions- oder auch der Korps-Kommandeur über seine verschiedenen Waffen [...] nach eigenem Ermessen verfügte und der Feldherr erst [...] je nach den Umständen den Entschluss fasste über den Stoß, der die Entscheidung bringen sollte“. Deshalb wurde „für den Verlauf der Schlacht die Zurückhaltung und Verwendung einer Reserve [...] immer bedeutsamer“. „Das Gefecht war nicht mehr angelegt auf die Entscheidung durch den ersten Stoß, sondern wurde zunächst eingeleitet und dann aus der Tiefe genährt, hingehalten oder gesteigert.“ Wie oft aber – um mit Hans Delbrücks Analyse napoleonischer Schlachtenlenkung für die Musik zu sprechen – wie oft setzt nicht auch Beethoven auf Ressourcen. Nachdem die Schlusspartie der Fünften Symphonie ihren Geschichts- und Gattungsoptimismus mit einer Art Offenbarungsemphase verkündet hat, ohne dass weitere Steigerungen zu erwarten wären, übertrumpft Beethoven diese Schlusspartie samt Coda aus der Reserve heraus noch mit einer Stretta, die letzte Vorbehalte brechen soll. Bspl. 7: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz Auch in Austerlitz begann der letzte Akt mit dem Einsatz der Reserve der Gardekavallerie, um mit dem Artilleriebeschuss des Satschaner Teichs zu enden: Schlussdetonation eines neunstündigen Infernos mit rund 25.000 Toten und Verwundeten. Und eines Infernos, das sich unschwer mit Begriffen wie Exposition, Durchführung und Coda dramatisieren ließe. „Der Ausgang einer Schlacht ist das Ergebnis eines Augenblicks, einer Eingebung“, resümiert Napoleon auf St. Helena. „Man nähert sich mittels verschiedener Manöver, kommt miteinander ins Handgemenge, kämpft für eine gewisse Zeit, dann naht sich der entscheidende Augenblick, intuitive Gewissheit durchzuckt einen und die kleinste Reserveeinheit bringt die Entscheidung.“ Reserven verweisen im Rahmen einer Ökonomie der Kräfte auf die Heftigkeit und Wucht von Widerständen. Beethoven konstruiert solche Widerstände im musikalischen Material, um sie strategisch souverän zu überwinden. Der Eigensinn des Materials aber schärft das Ohr für die Physik in der Musik: für das Berechnen von Stoß und Gegenstoß, von Belastung und Entlastung, von Statik und Dynamik und für den Zusammenhang von Raum und Zeit, ja einer Raumzeit wie im ersten Satz der Fünften Symphonie . Indem dieser Satz das Areal der Partitur fast in jedem Moment und an jedem Ort durch ein äußerst variables Kernmotiv besetzt und unter Spannung hält, erzeugt er eine hochgradige Synchronisierung des gesamten Apparats. So wie Napoleons Tirailleure im „Interesse des Ganzen“ vor oder neben den Kolonnen ausschwärmen, überaus agil und raumgreifend operieren, so zeigt auch das Zentralmotiv im ersten Satz der C-Moll-Symphonie eine Präsenz und Wendigkeit der Stimmführung in alle Richtungen: ein Motiv, ebenso wandelbar wie expansiv, und darin der beste Agent einer kinetisch erhitzten motivisch-thematischen Arbeit. Geist ist hier Taktik und Taktik Geist, und die Gegenwart das höchste Stadium der Zeit. Bspl. 8: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz Das „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie gewinnt seinen rhythmischen Furor dadurch, dass sich dieser Furor an Widerständen bricht und entzündet. Es gehört zu Beethovens wie zu Napoleons Operationsfundus, Gegenkräfte dem Gesamtprozess einzugemeinden – als Rendite einer „Arbeit des Negativen“. Die stockenden Pendelbewegungen zwischen Streichern und Bläsern gegen Ende der Durchführung bedeuten deshalb nicht nur Kraftverlust und Innehalten, sondern mehr noch Sammlung neuer Energien, um im Durchbruch zur Reprise die hauptthematische Devise und mit ihr das Sturmbanner des Satzes zurückzuerobern. Bspl. 9: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz Auch wenn der komponierte Ernstfall Beethovens nichts mit dem Grauen, nichts mit dem Blut- und Todesmoloch auf Napoleons Schlachtfeldern zu tun hat: niemals vergisst Beethoven die Asche des triumphierenden Phönix, der als Sturmvogel der Revolution in seinen Symphonien unentwegt neu ersteht. Reflektiert nicht die soeben gehörte Oboen-Episode zu Beginn der Reprise des ersten Satzes die Opferarsenale der Fünften Symphonie ? Und damit jene Gewalt, die ein extrem kurzes und daher extrem manipulierbares Motivpartikel aus dem tonalen Sprachrepertoire herausschneidet, um es der Formtotale und ihrer atemlosen Kompression der Zeit umso müheloser unterwerfen zu können? „Zeit“ indes „ist in der Kriegskunst wie in der Mechanik [...] das große Element zwischen Masse und Kraft.“ Napoleons Maxime könnte als Motto über dem „Allegro con brio“ der Fünften Symphonie und seiner Mobilmachung der Zeit stehen. Kommt es nicht darauf an, rasch die Gunst der Stunde zu erkennen, von der alles abhängt? Ja die Gunst einer Viertelstunde, wie jener fast schon sprichwörtlichen in Austerlitz, mit der Napoleon den Angriff auf das Plateau von Pratzen verzögert, um die vorgetäuschte Defensive im entscheidenden Augenblick offensiv zu wenden? Die Schnelligkeit treffsicherer Entschlüsse gehört zur Qualität eines Heerführers, der Improvisation und Kalkül zu verbinden weiß; gerade weil nach Clausewitz der Krieg ein „wahres Chamäleon“ im „Spiel der Wahrscheinlichkeiten“ ist und die „Einmischungen des Zufalls machen, dass der Handelnde im Krieg die Dinge unaufhörlich anders findet, als er sie erwartet hatte“. Kein starrer Plan mehr gibt die Order im Labyrinth der Unwägbarkeiten vor, sondern ein Agieren nach Lage und Umstand. Denn, so Napoleon, „das Genie handelt nur nach Inspiration. Was unter bestimmten Umständen richtig ist, ist unter anderen Gegebenheiten falsch; deshalb gilt es die Prinzipien nur als die Achsen einer Funktion, die sich als Kurve abbilden lässt, zu verstehen“. Und wenn Napoleon das Gebiet um Austerlitz gleichsam auswendig lernt, bis hinein in die kleinste Bodenbeschaffenheit, um die Chancen und Risiken eines Kriegsschauplatzes abzuwägen, dann erinnert diese Kartographie der Möglichkeiten an Beethovens Sondierung der harmonischen Plateaus, Gefälle und Bahnungen in der Szenerie eines Symphoniesatzes. Überdies erinnert sie daran, wie sehr Strategie auf einen Angelpunkt der Effizienz abzielt. In Austerlitz auf die Hügelformation des Pratzen, im ersten Satz der Eroica auf jene schon in den frühesten Skizzen notierte E-Moll-Episode der Durchführung, die den Binnenspannungen und Dissonanzstaus des „Allegro con brio“ erst Funktion und Gewicht gibt. Bspl. 10: Beethoven, 3. Symphonie, 1. Satz Nun ist freilich Austerlitz nicht die Eroica und eine reale, mit ihren Unwägbarkeiten und Katastrophen unwiederholbare Schlacht kein reproduzierbares musikalisches Werk. Beethoven hatte sich deshalb daran zu messen, wie seine Kompositionen am Ungewissen, am Wagnis und an der Gefahr der „Prosa der Welt“ partizipieren könnten. Etwa über das Medium einer schockhaft unvermittelten Dissonanz, genauer: der eines Septakkords, der ohne metrisches Fundament einsetzt und sich in die Subdominante auflöst, bis endlich nach acht Takten die Tonika zum ersten Mal in ihrer Grundgestalt erscheint. Bspl. 11: Beethoven, 1. Symphonie, 1. Satz Eröffnet man so eine Symphonie? „Man“ sicher nicht, aber Beethoven eben. Was spielt es da für eine Rolle, dass das feierliche Eröffnungsportal fehlt? Mag auch noch fünf Jahre nach der Uraufführung ein Rezensent genau dieses Portal vermissen und kritisieren, ein solcher Beginn passe keineswegs „zur Eröffnung eines großen Concerts“. Wo bleibt das „prachtvolle Unisono“, das eine musikalische Akademie „besser eröffnet“ hätte als dieser „unbestimmte, wenngleich genialische Anfang“? Es ist der Formenkreis des Plötzlichen, dem der unerwartete, verstörende Beginn von Beethovens Erster Symphonie zuzurechnen ist; ein Formenkreis, den dieser Beginn mit einem Prinzip des „Kriegstheaters“ teilt, sofern nämlich „der Angriff [...] seinen einzigen Vorzug in der Überraschung besitzt, womit die Eröffnung der Szene wirken kann“. „Das Plötzliche und Unaufhaltsame sind seine stärksten Schwingen“, „wo es auf die Niederwerfung des Gegners ankommt“. Wo wäre nun aber, um mit Clausewitz und vom Beginn der Ersten Symphonie her zu fragen, der Gegner für Beethovens Strategien? Findet das Drama der Fünften Symphonie nur innermusikalisch statt? Oder nicht auch in Richtung Publikum? Soll nicht auch das Publikum überrascht, aus der Fassung gebracht, besiegt und dadurch verwandelt werden? Und wäre das nicht zugleich Beethovens politische Dimension? So wie für Napoleon das Schlachtfeld ein Mittel der Politik war? Clausewitz’ zu Tode zitierter Satz vom „Krieg“ als einer „bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zielt ja darauf ab, dass für Napoleon in seiner Eigenschaft als Kaiser und als Kriegsherr politische Potenz und militärischer Erfolg nicht zu trennen waren. Und Beethoven? Er notiert zur Konstruktion harmonischer Wechsel, dass sie "wirklich eine Veränderung in jedem Hörenden hervorbringen [sollen]". Diese Notiz mag belegen, wie sehr auch bei Beethoven das Strategische politisch ist. Warum sollte der Sturz ästhetischer Normen nicht ebenfalls gesellschaftliche Verkrustungen sprengen können? In Form komponierter Publikumsattacken etwa? Oder in Form symphonischer Kampfdiskurse mit einer zermürbenden und dadurch erschütternden Überforderung der Hörer? Solche Diskurse von Standhalten, Bewährung und Läuterung sind Beethovens Beitrag zur napoleonischen Ära, in der sich Konflikte nicht erst kriegerisch äußern, sondern bereits im Binnenraum des Subjekts manifest werden. Ist es doch das Drama von Freiheit und Notwendigkeit, das Hegel im Widerspruch zwischen dem „individuell ersehnten Leben und der objektiv sich vollziehenden Gewalt“ erkennt. Solche Risse und Oppositionen schreiben sich als Politikum der Entzweiung auch dem ersten Satz der Neunten Symphonie ein. Beethoven komponiert in diesem Koloss aus Ansätzen, Verwerfungen, Verdichtungen und Auflösungen – oder sollte man besser sagen: aus Offensiven, Fehlmanövern, Kollisionen und Rückzügen – einen „plan de bataille“, der das Publikum auf die Vernunft- und Moraldirektive des Finales hin ausrichten soll. Als könnte das Feuer von 1789 fünfunddreißig Jahre später die restaurative Winterwüste doch noch zum Schmelzen bringen. Und wäre eine tragische Zeitdiagnose musikalisch drastischer zu formulieren als mit der starren Unversöhntheit gegenläufiger Skalen auf dem Scheitelpunkt des Eröffnungssatzes der Neunten Symphonie ? Bspl. 12: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz Den Gedanken Goethes, dass „alles Tragische“ auf einem „unausgleichbaren Gegensatz“ beruht, setzt Beethoven in kleinste Motivgefüge um. Die spiegelsymmetrischen Auf- und Abstiegsfiguren gerinnen in ihrer Entzweiung zum Ausdruck objektivierter Verzweiflung. So bilanziert auch bei Beethoven die polare Zweiheit eine Kampfrhetorik, die Clausewitz, der Napoleon-Exeget, auf den Punkt bringt: „Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen.“ Es ist diese Art des Kriegs, die in der Egmont- und Coriolan-Ouvertüre die Bühne für den Zweikampf von Ich und Weltlauf, für Sieg und Niederlage aufschlägt. Und es ist die Spannung zwischen dem Tod des Helden und der Entschlossenheit im Aufstand der Niederlande gegen die spanische Repression, die im F-Dur-Schlussjubel des Egmont-Vorspiels ein Fanal der Freiheit setzt. Bspl. 13: Beethoven, Egmont-Ouvertüre Im Kontrast dazu, obschon über das kriegerische Milieu eng damit verbunden, der Motivzerfall am Ende der Coriolan-Ouvertüre . Mit der Todessymbolik des sich ausdünnenden Orchestersatzes, der die Phrasen auflöst und die Bewegung durch Generalpausen endlich zum Verlöschen bringt: Ein Schatten nur noch jener synkopischen Verbissenheit, die die Ouvertüre zunächst als Impuls einer unbeugsamen Selbstbehauptung in Gang gehalten hatte. Bspl. 14: Beethoven, Coriolan-Ouvertüre Dennoch meint das Scheitern am Ende der Coriolan-Ouvertüre keinen Zusammenbruch nach heutigem psychologischem Verständnis, sondern die Tragik eines heroischen Subjekts, das sich wie ein geschlossenes napoleonisches System des Willens gegen die Welt stellt und zerbricht. Die Helden-Ouvertüren Beethovens und ihre strategischen Muster orientieren sich an dem, was Hegel die „Ehre der großen Charaktere“ und ihre Dämonie jenseits von Gut und Böse nennt. Zudem erzählt ihre Musik etwas über jene Kämpfer und Agenten des Weltgeistes, denen Geschichte zum Stoff eines chaosgefährdeten Welttheaters wird und folglich eine despotische Regie geradezu herausfordert. Napoleon hat dieses Steuerungsmonopol für seine Person stets eingefordert. Und Beethoven? Er steigert den Verlauf seiner Symphonien nicht selten zu einer bedrohlichen Eigenmacht, die ihrem Schöpfer den Part eines Strategen mit höchster Bändigungskunst aufzwingt. Der Stratege aber bedarf eines Repertoires an Mitteln, die sich je nach Situation funktionalisieren lassen. So wie im Eröffnungssatz der Neunten Symphonie , in dem die erste Exposition des Hauptthemas entgegen seiner Entfaltungspotenz vorzeitig abbricht und wie ein erfolgloses Manöver ins Leere läuft. Erst in einem zweiten Versuch und mit einem demonstrativen Eingriff wird der kritische Punkt des Abbruchs überwunden: durch den Einsatz eines hebelartig dynamisierten Motivpartikels. Deutlicher als mit dieser Verwerfung und Reformulierung könnte sich Strategie gerade aufgrund ihrer Änderung nicht zu Gehör bringen. Bspl. 15: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz Strategien also. Strategien, die um 1820 mit der Gleichgültigkeit, mit der Gegnerschaft des Publikums zu rechnen haben und sich am realistischen Blick auf das Metternich-Regime schärfen. Die Engführung dieses Realismus mit dem idealen Schwung des Symphonischen soll einer in ihren Privatinteressen gefesselten Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Deshalb greift Beethoven im „Alla marcia“ des Finales der Neunten Symphonie noch einmal bekenntnishaft das republikanische Idiom des Marsches auf. Bereits das Instrumentarium – Große Trommel, Becken und Triangel – erinnert an die Freiluftmusik und die „Nation armée“ der Französischen Revolution. Mag das „Alla marcia“ zunächst auch gegen den Tritt gesetzt sein: der Ansporn des Tenors, „Laufet, Brüder, eure Bahn, / Freudig wie ein Held zum Siegen“, verspricht triumphale Zielgewissheit. Bspl. 16: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz Doch es kommt anders. Während des folgenden Fugatos zersetzen die aneinander sich abarbeitenden Stimmen zusammen mit der thematischen Substanz den Sinngrund ihrer Antriebskraft. Das marschmäßig rhythmisierte Thema der Freude, das motivisch verdichtet das Fugato wie eine ethische Leitidee durchziehen sollte, wird bis zur Eintaktigkeit aufgerieben: Resultat einer regelrechten Zermürbungsstrategie. Kurz vor dem endgültigen Verschleiß dann die Entrückung des Freudenthemas – oder was davon übrig geblieben ist – nach h-Moll, in die Ferne. Pianissimo ihrer Verbürgtheit entzogen und buchstäblich in höchster Not steht die visionäre Signatur des gesamten Satzes auf dem Spiel. Schließlich diese ruckartige Weitung zum Fortissimo-Tutti des „Freude, schöner Götterfunken“. Eine Euphorie der Wiederkehr in D-Dur, mit der die Musik dem Auflösungssog unter Aufbietung einer massiven Beschwörung standzuhalten sucht. Wie Geschichte als „Antagonismus der Kräfte“ in das „Alla marcia“-Fugato eindringt, zeigt die martialische Hast der gegeneinander geführten und einander verfolgenden Stimmen mit ihrem Druck der Reduktion zur Genüge: Eine Musik gewordene Urszene des liberalistischen Konkurrenzgetriebes und ihrer Kampfparole „Laufet, Brüder, eure Bahn!“. Die „ungesellige Geselligkeit der Menschen“ liefert das „Mittel“, „dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer Anlagen“ in den Menschen „zu Stande zu bringen“. „Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht“. So interpretiert Kant den „Antagonismus“ der Kultur als Motor des Fortschritts, das heißt der Verwandlung der Gesellschaft in ein „moralisches Ganzes“. Und wie Kant zufolge dieser Fortschritt die Absicht eines „weisen Schöpfers“ vermuten lässt, so postuliert auch Beethoven die göttliche Instanz als sittliches Unterpfand des „Alla marcia“ unmittelbar vor dessen Einsatz: im Verbund mit Schillers „Und der Cherub steht vor Gott“. Ziel wäre somit, den Vernunftgrund der Transzendenz in die Immanenz der Geschichte einzuholen. Und der Weg dahin? Ihn und mit ihm das Ziel komponiert Beethoven als offene Frage. Ist dem Emanzipationsentwurf Kants, Herders oder Schillers überhaupt noch zu trauen? Dem Gattungskonzept von Widerstreit und Rivalität in einer ökonomischen Arena, die im Exzess der Mittel den Zweckgedanken Kants von einer „gerechten bürgerlichen Verfassung“ zerreibt? Bspl. 17: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz Beethovens Strategien entlarven, wie sehr sich die Sphären des Kulturellen und Kriegerischen mischen. Wie sehr der Wertekanon des Idealen und Heldischen einer gesamtgesellschaftlichen Ökonomie zugehört, die das Denken und Handeln bestimmt und auf mannigfache Weise als Arbeit erscheinen lässt, und sei es als eine zerstörerische. Deshalb kann Clausewitz den noch nicht industrialisierten Krieg als einen „Akt des menschlichen Verkehrs“ begreifen, um damit zugleich einen untergründigen Kommentar zu Beethovens „Alla marcia“ zu liefern: Der Krieg „ist ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst, und nur darin ist er von den anderen verschieden. Besser als mit irgendeiner Kunst ließe er sich mit dem Handel vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten ist, und viel näher steht ihm die Politik, die ihrerseits wieder als eine Art Handel in größerem Maßstabe angesehen werden kann“. Bis zuletzt ging Beethovens symphonische Wunschproduktion von jener Einheit der Person aus, die das Einzelsubjekt im Zeichen der Vernunft an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Diese Einheit war es, die die Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft zuweilen mit den Konfrontationsstrategien einer musikalischen „bataille napoléonienne“ auszutragen erlaubte. So wie im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts und seiner Patt-Situation im hochdramatischen Kräftemessen zwischen Solo und Orchester. Ein Konfliktgipfel und eine Geschichtslektion sondergleichen. Und ein fragiler Augenblick nicht nur der Musikgeschichte, bevor sich Beethovens heroisches Subjekt der klaren Konflikte und Postulate allmählich in Funktionen und Rollen auflöst, die sich überlagern, einander widersprechen und mittlerweile vielfältige Entlastungs- und Bewältigungsroutinen schon im Alltäglichen verlangen. Vielleicht lässt uns deshalb der Ernstfall dieses Klavierkonzerts fragen – ohne Resignation und Nostalgie –, was denn wohl die Gegenwart vor Beethoven bedeutet, vor Beethoven und seinen Strategien. Bspl. 18: Beethoven, 5. Klavierkonzert, 1. Satz Musikbeispiele Bspl. 1: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz [Tr. 3, 4´06 – Tr. 4, 1´30] [2´03] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 2: Beethoven, Wellingtons Sieg [Tr. 11, 3´38 – 5´04][1´26] [Herbert von Karajan / Berliner Philharmoniker / Deutsche Grammophon 419 624-2] Bspl. 3: Beethoven, 5. Symphonie, 3. Satz [Tr. 3, 4´06 – Tr. 4, 0´10] [0´42] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 4: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 2´37 – 3´59] [1´22] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 5: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz, [Tr. 1, 0´00 – 1´18] [1´18] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 6: Beethoven, 6. Symphonie, 4. Satz [Tr. 8, 0´00 – 3´23] [3´23] [John Eliot Gardiner / Orchestre Révolutionnaire et Romantique Deutsche Grammophon, Archiv Produktion 439 903-2] Bspl. 7: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz [Tr. 3, 10´37 – 12´50)] [2´14] [René Leibowitz / Royal Philharmonic Orchestra / MENUET 160019-2] Bspl. 8: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 2´37 – 3´59] [1´22] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 9: Beethoven, 5. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 3´33 – 4´43] [1´10] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60093 2 5] Bspl. 10: Beethoven, 3. Symphonie, 1. Satz [Tr. 5, 6´45 – 8´49] [2´04] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60090 2 8] Bspl. 11: Beethoven, 1. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 0´00 – 1´16] [1´16] [Michael Gielen / SWF-Sinfonieorchester / EMI Electrola 7243 5 60090 2 8] Bspl. 12: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 5´43 – 6´39] [0´56] [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana, Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir, Eric Ericson Chamber Choir / Deutsche Grammophon 471 491-2] Bspl. 13: Beethoven, Egmont-Ouvertüre [Tr. 5, 5´33 – 7´32] [1´59] [Leibowitz / Royal Philharmonic Orchestra / MENUET 160021-2] Bspl. 14: Beethoven, Coriolan-Ouvertüre [Tr. 2, 6´27 – 7´57] [1´30] [Otto Klemperer / Philharmonia Orchestra / EMI Classics 7243 5 67965 2 2] Bspl. 15: Beethoven, 9. Symphonie, 1. Satz [Tr. 1, 0´00 – 1´45] [1´45] [John Eliot Gardiner / Orchestre Révolutionnaire et Romantique Deutsche Grammophon, Archiv Produktion 439 905-2] Bspl. 16: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 3´21 – 7´04] [3´43] [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana, Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir, Eric Ericson Chamber Choir / Deutsche Grammophon 471 491-2] Bspl. 17: Beethoven, 9. Symphonie, 4. Satz [Tr. 5, 2´59 – 6´18] [3´19] [Claudio Abbado / Berliner Philharmoniker / Karita Mattila, Violeta Urmana, Thomas Moser, Thomas Quasthoff / Swedish Radio Choir / Deutsche Grammophon 471 491-2] Bspl. 18: Beethoven, 5. Klavierkonzert, 1. Satz [Tr. 1, 9´56 – 11´43] [1´47] [Vladimir Ashkenazy / Chicago Symphony Orchestra / Georg Solti / DECCA 417 703-2]
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- Johannes Bauer, Helmut Lachenmann und die Conditio humana
Johannes Bauer Im Zentrum einer unberührten Wüste Helmut Lachenmann und die Conditio humana Lange Zeit war der Homo humanus seiner Idee und seiner Praxis nach der Ort, an dem Gott und Welt, Kosmos und Globus sich brachen, bis mit der Beschleunigung der Geld- und Warenzirkulation, mit dem Sturmlauf von Naturwissenschaft und Technik und mit dem Übergang zur Systemrealität der Massengesellschaft das humanistisch legitimierte cartesianische Subjekt selbst zu einem unendlichen Bruch wurde. Und während die jüdisch-christliche und renaissanceerhitzte Tradition vom Homo humanus als dem Herrn der Schöpfung ihre imperialistischen und barbarischen Züge zu offenbaren und einer Müdigkeit am Menschen zu weichen begann, grundierte sich das Lebensgefühl der Moderne mit einer innerweltlichen Tristesse, die im Bewusstsein transzendenzloser Endlichkeit und über den Tod der Individuen hinaus das Verlöschen der Gattung insgesamt in den Blick nahm. Dass es Äonen gab, in denen der Mensch nicht existierte, dass es Äonen geben wird, in denen er, ungeachtet aller Science-Fiction-Träume, mit dem Sonnensystem und seinen Planeten verschwunden sein wird, mag angesichts der dafür veranschlagten riesigen Zeiträume belanglos erscheinen und liegt doch - bewusst oder unbewusst - wie ein langer Schatten über den Leiden und Errungenschaften menschlicher Geschichte. Solche Befunde sind hinlänglich bekannt. Die Frage ist nur, wie die Musik der Gegenwart auf sie reagiert. Neue Konturen Ein Aufbäumen des Orchesters; danach eine eher statische Klangfläche mit leichten Nachbeben, auratisch gefärbt von der japanischen Mundorgel; schließlich ein geisterhaftes Klopfen der Klaviere, Luftgeräusche der Trompeten, Grenzgänge des Bogens in den Streichern: »Himmelfahrt«, »Shô«, »Epilog« - der Schluss von Helmut Lachenmanns »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern . Dass der Ausklang dieses Dramas um Kälte und Tod an eine Art Tombeau erinnert, an ein klaustrophobisches Trauma mit den letzten Signalen lebendig Begrabener, ergibt sich vor allem aus dem Eindruck der wie erstickt klingenden Pochimpulse am Ende des Werks. Liegt es nicht nahe, diesen Abgesang wie eine Kunde aus den arktischen Zonen einer Welt zu hören, die kurz davorsteht, an der fanatischen Verwertung des Werts zugrunde zu gehen? Und doch ist diese Auslegung zunächst nichts weiter als eine soziologische Deutungsschablone. Der Exegese von Lachenmanns Finale begegnen jedenfalls weitere Lesarten, solche etwa, die auf den Zerfallsprozess der abendländischen Metaphysik und damit auf das anthropozentrische Problem rekurrieren. Sind doch auch im Bereich der Musik Parallelen zu jenen Verfahren der »Umwertung« und »Destruktion« überdeutlich, die Nietzsche und Heidegger zu systemischen Sprengsätzen der philosophischen Arbeit schärfen. Ohne hermeneutische Nötigung ließe sich etwa Heideggers Destruktion der Philosophie hin zu einer Nichtphilosophie des Denkens mit Lachenmanns Verfahren einer Destruktion der Musik hin zu einer »Nichtmusik«(1) der Wahrnehmung vergleichen. In beiden Fällen geht es um einen Akt der Befreiung unter Einsatz geneaologischer Methoden, die sich als Revision metaphysischer Vorentscheidungen und ihrer Ausschlussprozeduren begreifen lassen. Wenn Lachenmann den Zusammenhang zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs, zwischen Sinn und Material erfahrbar macht, plädiert er mit dieser Aufdeckung für eine genealogische Option par excellence. Zur Metaphysikkritik wird diese Option, sofern Sinn von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen ist wie die Botschaft von ihrem Medium. Klang verstanden als »Nachricht seiner Hervorbringung«(2) hebt den Dualismus zwischen der Idee und dem Botenstoff des Sinnlichen auf, wobei die Kluft zwischen Geist und Materie nur für eine jener zahllosen Spaltungen steht, die der Gründungsakt der Metaphysik freisetzt. Mit der Zurücknahme dieser Spaltungen verliert indes auch die spaltende und über Zugelassenes und Ausgeschlossenes verfügende Instanz des Deus et homo divisor ihre Privilegien. Natürlich erwies sich die Selbstreferenz des Ego cogito als sicheres, gar absolut verlässliches Fundament der Welterkenntnis und Weltpraxis seit längerem schon als eine Luftbasis über ungeahnten Räumen und Tiefen. Deren ungeheure Dimensionen unterminieren die rational-rationelle Deutungs- und Handlungskompetenz des subjektivierten Ich und legen seine irrationalen Züge frei. Flankiert wird diese Entmachtung von einer Entzauberung letzter theokratischer Zentren, die den Formenkreis der metaphysischen Dualismen und ihre binären Hierarchien auf der Grundlage des Urteils von gut und böse variantenreich in Gang halten - bis hinein in den Moralkatalog des Schönen und Hässlichen oder den von Ton und Geräusch. In Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern wird diese Entzauberung ins transzendenzlos Offene am Nomen absolutum der »Himmelfahrt«-Passage thematisch. Dem Buchstaben nach anwesend ist der göttliche Name zugleich auch abwesend, indem er phonetisch zersplittert ins akustisch Unverständliche verwischt wird. Mit dem verwischten göttlichen Namen im Trugbild einer Ankunft »bei Gott« wird freilich auch die Fusion von Gott und Mensch brüchig und mit ihr die gottererbte Potenz des Homo humanus, der als Imago Dei und Homo oeconomicus unter dem Gütesiegel des Humanismus den anthropozentrischen Faktor in allen Belangen vorantrieb und Welt und Leben einer rigorosen Taxierung nach Wert und Nutzen unterwarf. Sind jedoch Metaphysik und Humanismus der Neuzeit voneinander nicht zu trennen, dann bedeutet die Kritik der Metaphysik immer auch eine Kritik des Humanismus. Dass Lachenmanns Musik solche zeitdiagnostischen Konstanten aufnimmt, bringt sie in den Verdacht des Inhumanen. Und dies umso mehr, je deutlicher sie hörbar macht, wie frei sich in der »Leere des verschwundenen Menschen«(3), befreit also von der anthropozentrisch-humanistischen Fasson und ihrer ästhetischen Apotheose komponieren lässt. Die Absage an das Humane als Maske des Inhumanen ergreift indes keineswegs Partei für das Inhumane, sondern skizziert - wie der Schluss von Lachenmanns Oper - neue Konturen jenseits der Besatzermentalität eines Subjekts, das so viel Glanz und Elend auf sich zog und seine Weltverfügung in alle Winkel exportierte. Weil sich jedoch die eurozentrisch übersteigerte Autonomie des Subjekts als Folge seiner eigenen Anmaßungen zunehmend in den bloßen Effekt gesellschaftlicher Systemenergien auflöst, richtet sich Lachenmanns Widerstand ebenso gegen die Wucht lautlos ausgreifender Systemzwänge. Dieser Widerstand zeigt sich vor allem in Lachenmanns Interpretation der Ästhetik als Aisthetik und damit in der Verwandlung der Wissenschaft und der Kunst vom Schönen in eine Wissenschaft und Kunst der Wahrnehmung. Schon in der griechischen Tradition dem Logos eng verbunden, entfaltet sich die körperhaft fundierte Erkenntnis der Aisthesis bei Lachenmann zu einer Tiefenkonturierung des Bewusstseins und zu einer Schule der Sensibilisierung wie der Brechung, um antrainierte Souveränitätsmuster fragil werden zu lassen und dem ästhetisch-technischen Apparat in seiner betriebsblinden Verwaltung gegenüber hellhörig zu werden. Appell ins Offene Mit der somatisch inspirierten Kunst der Aisthesis als einer Kunst der Wahr-Nehmung verbündet sich ein weiterer Impuls in Lachenmanns Kompositionen: Wie kann in einer technisch konditionierten und kontrollierten Welt noch Unverfügbares als Ereignis aufscheinen? Eine Musik allerdings, die dem Erlebnis das Ereignis entgegensetzt, muss die Bühne des Ego und das auf ihr gespielte Drama vom ständigen Wiederfinden seiner selbst demontieren. Und sie muss das Ideal einer Musik brechen, die von dieser Bühne aus gebrauchsfertig zurechtgehört werden kann: das heißt das Ideal einer Musik, deren magisch-organische Geschlossenheit der philharmonische Diskurs zum narzisstischen Spiegel des Ich=Ich funktionalisiert, ohne die selbstgefällig in sich abgeschottete Ich-Monade auch nur im Geringsten zu irritieren. Eine besondere Rolle spielt bei diesen Brechungen und Demontagen das Zero von Stille und Leere. So führt gerade die »Leere« des Stillstands in Lachenmanns Gran Torso ins »Zentrum einer unberührten Wüste«.(4) Eine durch schöpferische Erschöpfung »auf Null« gebrachte Musik, »glücklich« gewissermaßen und »heiter«, wird zum Entree in den Bezirk einer »Nicht-Musik« von »nie gekannter Freiheit«(5) und zum Entree in den Locus desertus, den leeren und verlassenen Ort einer semantischen Wüste, in der die etablierten musikalisch-ästhetischen Codes zu desertieren und vom Sinn abzufallen beginnen, ohne sich im Sinnlosen zu verlieren. Leere als Fülle und Leere als Freiheit nähern die Sprache der Musik einer Nicht-Sprache an, die sich umso mehr mit der aisthetischen Qualität des Materials auflädt, je mehr die symbolische Bedeutung von ihr abfällt. So bricht Lachenmanns Exorzismus der Musik im Namen einer Nicht-Musik mit den Normen des Sinns zugleich die in ihnen verkappten Normen der Macht des Normalen und Normgerechten. Dass in dieser Entlastung vom Fundamentalismus der Sinngebung die Wahlverwandtschaft Neuer Musik zu fernöstlichen Denktraditionen gründet, liegt auf der Hand. Und es ist diese Wahlverwandtschaft, die in der »Shô«-Episode von Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern hörbar macht, was abendländisches Komponieren lange übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Fülle des Ausgesparten. Wenn deshalb nach dem Tremendum der »Himmelfahrt« der Ton des Shô aufklingt und mit ihm eine Schwebe zwischen Gefühl und Nichtgefühl, dann entzieht sich dieser Ausdruck des Schwerelosen westlichen Stimmungsregistern. Entgegen der abendländischen Tradition, die dem martialischen Status von Konflikt und Kampf ein so überaus hohes Prestige einräumt, öffnet sich eine Terra incognita ohne Konfrontation und Antagonismus. »Shô«: ein musikalischer Ort weniger der Töne als der Tönungen und ein Ort, an dem sich die Musik von ihrer eigenen Willensanstrengung und Gewolltheit befreit. So, als würde sie daran erinnern, dass die Menschen zunächst einmal in einen Zustand der Gelassenheit gelangen müssten, um loslassen und gelassener werden zu können: ein Unterfangen, das im Bann einer weltweiten Effizienzmanie kein logischer, sondern ein realer Zirkelschluss des Lebens selbst ist, das bekanntlich tödlich endet. Schließlich dann der »Epilog« der Oper, den Lachenmann zu einer Musik ohne jedes heiße Material abkühlt; zu einer Musik am Rand der Musik, die das Wohltemperierte in tiefere Temperaturen absinken lässt, bis die Schwingungen gedämpft, dem Ton die Wärme entzogen und so gut wie keine klare Tonhöhe mehr erkennbar ist. Und doch ermöglicht erst diese musikalische Kältetechnik, nicht nur das Ende des Werks und sein rätselhaftes Klopfen in den Klavieren wie einen akustischen Kassiber ins Offene zu hören, sondern den Sinn für das Offene überhaupt zu sensibilisieren. Lachenmann weiß, dass das Verdunsten der metaphysischen Aura leicht in ein falsches Ecce-Homo-Pathos umschlagen kann. Deshalb wohl sendet seine Musik kein Echolot mehr in die Tiefen einer allzu lange mit dem Sentimentalen verwechselten Seele. Während das narzisstische, Einsamkeit kompensierende Hören nach dem Prinzip verfährt, »ich mag die Musik, die mich mag«, lässt sich Lachenmanns expressive Gestik nicht mehr als Wohlfühlgefühl verbuchen. Indem sie wie ein Blitz in die künstliche Behaglichkeitsatmosphäre sämtlicher Klangidyllen einschlägt, erschüttert sie die Blockadementalität des Ich in seiner Funktion als Produkt und Produzent individuell übersteigerter Vorlieben und Abneigungen. Auf die Gier der Animation, mit der die global medialisierte Mobilisierung des Erlebnisses alles nach ihrem Bild modelt, reagiert Lachenmann mit einer Entpsychologisierung und Entteleologisierung der Musik. So thematisiert das Ende seiner Oper weder Erlösung noch Verzweiflung, sondern den Schock einer Besinnung durch Ernüchterung im Blick auf eine Erde ohne Jenseitsbonus und mit einer Verantwortung im Hier und Jetzt. Lassen die intentionslosen Klänge des Shô zusammen mit den appellhaften Pochimpulsen des »Epilogs« nicht anklingen, worauf es Lachenmann ankommt: nämlich auf eine Abrüstung der abendländischen Ich- und Willensemphase, ohne damit einem Fatalismus der Passivität zu verfallen? Und liegt nicht gerade in der Verstörung des Heroentums des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Brisanz einer Musik in Zeiten des sensuell-kognitiven Umbaus menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob im Zug der universalen Wachstums- und Verwertungsideologie der technisch traktierte Mensch und sein absehbarer schleichend genetischer Umbau zu einer hybriden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Nutzung jeder Restnatur führt oder nicht? Was wäre folglich von Musik mehr zu verlangen, als dass sie uns trifft und bewusst macht, wie sehr das Problem des Deus absconditus, des verborgenen Gottes, mittlerweile zu einem Problem des verborgenen Menschen, des Homo absconditus, geworden ist? Anmerkungen 1 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 91 und 397. 2 Ebd., S. 402. 3 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S. 412. 4 Heinz-Klaus Metzger, Helmut Lachenmann, Fragen - Antworten, in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn, Helmut Lachenmann, Musik-Konzepte 61/62, München 1988, S. 126. 5 Ebd., S. 126f.
- Johannes Bauer, Karlheinz Stockhausen
Vom Sirius aus Karlheinz Stockhausen Ein Monolog Ist sie noch haltbar, die Spaltung zwischen dem überragenden Komponisten und Theoretiker der 50er-Jahre und dem in ästhetische Fragwürdigkeit abgleitenden Privatmystiker Stockhausen? Finden sich Ruf und Formel, traumhafte Intuition und religiöse Metapher nicht schon in seinen frühen, epochemachenden Werken und Texten? Besteht womöglich eine untergründige Beziehung zwischen der Planungsmacht serieller Strukturprinzipien und der kosmischen Schöpfungsattitüde eines Musikers, der sich zunehmend als Medium göttlicher Schwingungen empfand? Und wie verhält es sich mit der Spannung zwischen esoterischer Spiritualität und musikalischer Qualität? Fragen über Fragen also. Man darf gespannt sein, was der nunmehr um Lichtjahre entrückte Siriusbewohner Stockhausen darauf antworten wird. Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik, 2008 Endlich wieder zurück. Endlich wieder auf dem Sirius. Endlich wieder auf dem heimatlichen Stern. Seit acht Monaten schon. Aber was kümmern hier noch irdische Zeitmaße, jetzt, im Zustand steter Transfiguration, der alten Erde um Lichtjahre entrückt. Dieses allmähliche Abstreifen des alten Körpers, diese Vergeistigung! Selbst meine Stimme läutert und moduliert sich täglich zu feineren Timbres, längst schon entschlackt vom vertrauten rheinischen Idiom. Und doch: dieser verhaltene Empfang bei meiner Rückkehr, enttäuschend fast, um nicht zu sagen befremdlich. Dazu die Ankündigung eines Einbürgerungsexamens vor dem sirianischen Komitee für musikalische Angelegenheiten. Ist das wirklich noch der Ort meiner Lehrjahre? Ist das wirklich noch der Sirius, dessen „Bewohnern [...] Musik [als] die höchste Form aller Schwingungen“ gilt? Als vor einigen Tagen - oder was sich hier Tage nennt - die Rede auf mein eigenes Sirius-Opus kam, fiel sogar - aber ich muss mich wohl verhört haben - das Wort von einer Art elektronisch aufbereitetem Musikantentum. Bspl. 1: Stockhausen, Sirius Musikantentum! Wer urteilt hier? Was sind das für Ohren? Dazu all die Fragen in Rückschau auf meine Erdenexistenz. Wenigstens blieb mir bis jetzt die unselige Spaltung jener terrestrischen Kritiker erspart, die nicht scharf genug zwischen dem überragenden Komponisten und Theoretiker der 50er-Jahre und dem in ästhetische Fragwürdigkeit abgleitenden Privatmystiker Stockhausen trennen konnten. Als würden sich Ruf und Formel, traumhafte Intuition und religiöse Metapher nicht schon in meinen frühen, epochemachenden Werken und Texten finden. Hat man denn nicht erkannt, wie prägend von Anfang an gerade die ekstatische Energie des Rufs für mich war, verstärkt vielleicht noch durch die sporadische Lektüre von Heideggers Sein und Zeit während meines Kölner Philosophiestudiums? Der Ruf, dieser knappe, fordernde Modus der Rede am Rand der Sprache; diese unerbittliche Vokalinstanz für jeden Berufenen, der den Ruf zu vernehmen weiß, um selbst zu einem Rufer, zu einem Künder zu werden: Zieht sich denn dieses Motiv nicht durch mein ganzes Werk? Von den Invokationen im Gesang der Jünglinge über das Ausrufen der Götternamen in der 1968 komponierten Stimmung bis hin zum Michaels-Ruf aus dem Licht -Zyklus? Nicht zu vergessen meine eigene Verkündigung in den Hymnen. Und habe ich nicht schon im Kommentar zu meinen Gruppen davon gesprochen - ungewöhnlich genug -, dass die drei Orchester einander „zurufen“? Ganz zu schweigen vom zentralen Gestus der Anrufung in Inori . Ruf und Gebet, das sind die Fundamente meiner Musik durch all ihre „Litaneien“, „Prozessionen“, „Kommunionen“, „Hymnen“, „Mantras“ und „Licht“-Spektakel hindurch. Bspl. 2: Stockhausen, Stimmung Der Ruf aber kulminiert im Auftrag. Schon 1952 überlegte ich deshalb, meine Komposition Spiel für Orchester mit dem Titel Auftrag zu überschreiben. Ruf und Auftrag: in der Kunst haben sie wie ein Blitz zu zünden. Neue Musik muss ein neues Bewusstsein erzeugen. Sie muss, um mit Heidegger zu sprechen, aus der Verfallenheit ans „Man“ ins „Eigentliche“ reißen, sonst bleibt sie belanglos. Dass Musik Dynamit wird, zu einem Attentat auf das Gewohnte und Gewöhnliche, zu einer Art Wiedergeburt: nichts anderes wollte ich auch 2001 zum Ausdruck bringen, damals in Hamburg, in meinen landauf, landab skandalisierten Äußerungen zum 11. September. Auf das „Wachwerden“ kommt es an, auf den „Sprung aus der Sicherheit“ in einen Zustand, in dem zunächst einmal alle Orientierungen enteignet werden: durch eine Musik des Blitzes. Bspl. 3: Stockhausen, Gruppen Gruppen für drei Orchester - einer der Höhepunkte „seriellen Denkens“. Eine Musik der radikalen Immanenz, deren unerbittliche Eigengesetzlichkeit jedes Einfühlungsverlangen ins Leere laufen lässt; in ihrer Unberechenbarkeit, ihrer Ereignishaftigkeit wahrlich ein komponierter Blitz. Gleichwohl bin ich es müde, mich nunmehr auch noch von den Sirianern fragen zu lassen, ob ich denn den Anspruch der Gruppen in meinem späteren Œuvre eingelöst hätte. Lästig auch die ständigen Verweise, wie bahnbrechend, wie grundlegend doch meine frühen Aufsätze gewesen seien. Sicher: Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit in unterschiedliche „Eigenzeiten“ auflöst; dass die Quantenmechanik auf Daten verwiesen ist, die eine strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Verständnis von Prozessen erlaubt, die vormals dem blinden Zufall zugeschlagen wurden: solche Umwertungen seitens der Neuen Naturwissenschaft mussten ihre Parallelen in der zeitgenössischen Musik finden. Deshalb spielen in den Kompositionen meiner Aufbruchsjahre die Qualitäten von „Eigenzeit“, von „statistischer Zeitwahrnehmung“, von „Feldgrößen“ und „Quantelung“ eine so große Rolle. Dennoch ist die Nähe der Musik zur Naturwissenschaft nur ein Aspekt. Wo bleibt das, was darüber hinausgeht? „Serielles Denken“, zumal in seiner elektronischen Realisierung, ließ mich erkennen und ließ die Musik durch mich erkennen, wie alles mit allem verbunden ist. Der Zauber der Zahl als Ordnungs- und Organisationspotenz ist ebenso alt wie unbestreitbar, ebenso rational wie mythisch. Wobei ich den Ausdruck „mythisch“ durchaus positiv gebrauche. Welche tektonischen Raffinessen ließen sich nicht schon in meiner zweiten Elektronischen Studie mit der Zahl Fünf erzeugen. Darüber hinaus offenbart sich dem „seriellen Denken“ die Einheit bislang getrennter musikalischer Wahrnehmungskategorien. Rhythmus, Tonhöhe und Klangfarbe etwa: lediglich verschiedene Erscheinungsformen der Zahl, der in der Zeit sich entfaltenden Zahl und ihrer Proportionen. Bspl. 4: Stockhausen, Kontakte Serielle Musik basiert auf der komplexen Verschränkung von Zeit und Zahl. Und auf dem Faszinosum einer Steuerung, die die „Großform und alle Detailformen“ aus einer „einzigen Proportionsreihe abzuleiten“ erlaubt - bis hin zum kompositorischen Mega-Diskurs als Spreizung und Stauchung einer „supramentalen Einheits- und Superformel“. Nicht nur die Physik hat ihren Einstein. Natürlich ließen die Beckmesser nicht lang auf sich warten, die zwischen der seriellen Planungsmacht und meiner astralen Schöpfungsmusik zwanghaft Verbindungen ziehen wollten. Als kultiviere meine Arbeit die Herrschaftsgesten universaler Handhabbarkeit, gleichsam einen gottähnlichen Zentralismus, dem alles zum Rohstoff wird. Dazu noch einen permanenten Kurzschluss zwischen archaischen Projektionen und neuester Technik, zwischen Esoterik und Naturwissenschaft, zwischen Ritual und Tabelle. Der Synthesizer als Instrument technischer Intermodulation und als Instrument ideologischer Klitterung. Man scheint vergessen zu haben, was es heißt, ein Künstler, ein Künder zu sein. Schließlich hat mich das „serielle Denken“ in den Rang eines musikalischen „Creator mundi“ erhoben. Das „serielle Denken“, das alles integrieren kann, war mein Weg zur „Weltmusik“: ein Denken, das auf unerreichbare Weise zwischen dem Mikro- und Makrokosmos der Töne, zwischen ihren Einzelparametern und der Großform vermittelt. Keine Dualismen mehr, sondern ein durch kontinuierliche Übergänge geeinter, hierarchieloser Organismus. Alles ist Ordnung, Unordnung lediglich ein Minimum an Ordnung. Und wenn Formationen höchster Planung chaotisch wirken, dann nur, weil ihre Dichte unseren kausal beschränkten Verstand überfordert. Bspl. 5: Stockhausen, Klavierstück X Für den tiefer Wissenden, für den Seher und Visionär ist alles planvoll göttlich geordnet. Und diese meine Ordnung sollte purer Synkretismus sein, wie mir selbst die Sirianer vorhalten? Ein Synkretismus aus religiösen, pseudoreligiösen, mystischen, astrologischen und halbwissenschaftlichen Versatzstücken, dominiert von der Symbolmagie heiliger Kardinalzahlen, der Vier, der Sieben, der Zwölf? Einer Symbolmagie, die Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Elemente, Geschlechter, Wochentage und den Tierkreis samt seinen Charaktertypen in einen ewigen Reigen schlingt, in dem selbst die überzählige Dreizehn ein notwendiger Teil ist: Luzifer. - Als würde es um Macht gehen, wenn ein Medium göttliche Schwingungen empfängt. Begreift doch, dass meine Musik euch „schnelle Flugschiffe zum Göttlichen“ bereitstellt. Ihr müsst sie nur hören diese Raumklänge, diese Beschleunigungswirbel, diese ungeheuren Raffungen und kosmischen Pulse, die die Musik zu einer ungeahnten Zeitmaschine werden lassen – quer durch alle Universen. Bspl. 6: Stockhausen, Cosmic Pulses Vermutlich kommen solche Klänge für die meisten noch zu früh. Wer indes glaubt, dass das alte Handwerk in meiner Hand weniger fordernd, weniger transzendierend wäre, hat sich getäuscht. Wenn ich den „sausenden Webstuhl der Zeit“ anhalte, den Webstuhl, der der Musik die Textur der Schöpfung einwebt, dann transformiert sich dieser Moment in einen Augenblick des Unerhörten. Ein Zeitfenster der Stille, der Leere wird aufgestoßen, schockhaft, damit wir endlich wach und sensibel werden für die Entgrenzung zu neuen Sphären. Bspl. 7: Stockhausen, Trans Von Beginn an stand mein Komponistenleben unter dem Zeichen des „Trans“, wie mein Orchesterstück aus dem Jahr 1971 geradezu leitmotivisch heißt. Das „Trans“ in seiner Fülle des „Darüberhinaus“ und der Überwindung der Verstandesschranken war von jeher meine Profession. Und mit ihm das Transformieren, Transponieren, Transzendieren, ich könnte auch sagen: das Modulieren, Generieren, Synthesieren. Dass ich freilich dieses Modulieren, Generieren und Synthesieren mit Modulatoren, Generatoren und Synthesizern umsetzen konnte, war ein Geschenk der Vorsehung. Die Technik hat auf mich gewartet wie ich auf die Technik. War nicht eine meiner Inkarnationen die von Ovid, dem Dichter der Metamorphosen? Ovid und Stockhausen: eine frühe Existenz und zugleich eine Wiedergeburt in der Gegenwart, eine Wiedergeburt mit effektiveren Mitteln. Ein Ovid der Elektronik und des „seriellen Denkens“ zu sein, der alles verflüssigen und alles mit allem vereinen kann, das ist eine meiner Berufungen. Man muss in mir den Proteus erkennen, der mit den Hebammenmitteln moderner Technik uralte Geheimnisse ans Licht bringt. Setzt meine elektronische Musik nicht ungeahnte Verschmelzungsprozesse in Gang, indem sie „immer näher an die Kunst der Metamorphose in der Natur herankomm[t]“? Indem ihr Verwandlungszauber die Konvention starrer Separierungen auflöst? Ob Menschen oder Vögel - sie alle sind Entäußerungen des einen Naturgrunds. Bspl. 8: Stockhausen, Hymnen Das Ohr an den Resonanzkörper der Welt legen, um ihre Stimmen aufzufangen, um zu hören, dass alles belebt ist und spricht! Vorausgesetzt man besitzt jene spirituelle Fähigkeit, für die es kein totes Substrat gibt. Bspl. 9: Stockhausen, Mikrofonie I Die Energie des „Trans“ also. Und das Bündnis zwischen „Trans“ und Trance. Intuition, Inspiration, höhere Eingebung, was läge näher? Werke zu Teilen oder zur Gänze träumen, wie eben nicht zufällig mein Orchesterstück Trans oder das Helikopter-Quartett . „Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf“ - nichts als die Häme von Unwissenden. Müßig, ihnen das Überschreiten im großen Transit nahebringen zu wollen oder das Trans des Transhumanen und damit die Unabhängigkeit der Ars electronica von der Natur nicht nur der Interpreten. Endlich nicht mehr an die Obergrenze einer 12-maligen Fingerbewegung pro Sekunde gebunden sein, die die rhythmischen Maße vorgibt. Den Körper als das Non plus ultra der Musik hinter sich lassen: welch eine prophetisch-utopische Spur vom Umbau des Menschen und seiner Entmaterialisierung! Wenn nur die Transfigurationsphase hier auf dem Sirius nicht so kräftezehrend wäre, dieser Zustand zwischen Zeitleere und Zeitdichte. Während mir die Reminiszenzen an die Erde immer mehr entgleiten, ist zugleich noch so viel irdischer Tagesrest in mir. Noch einmal die konservierte und doch allzu vergängliche Erdenstimme hören, um im Erinnern mit meiner Erdenfunktion als Mundstück, als Medium, als Bote, als Übersetzer, als „Radioapparat“ abschließen zu können. Bspl. 10: Stockhausen, Litanei Ein Medium zu sein: das war das Zentrum meines Erdendaseins. Aber geht das nicht noch deutlicher? Mit dem Klang, mit den Worten meiner alten Vox terrena? Bspl. 11: O-Ton Stockhausen, Litanei „Ich habe es seit vielen Jahren unzählige Male gesagt und manchmal geschrieben: Dass ich nicht MEINE Musik mache, sondern die Schwingungen übertrage, die ich auffange; dass ich wie ein Übersetzer funktioniere, ein Radioapparat bin. Wenn ich richtig, in der richtigen Verfassung komponierte, existierte ich SELBST nicht mehr.“ Kein Wunder, dass bei einer solchen Entselbstung der Verstand für mich immer nur ein Vehikel zu Höherem war, ein Mittel zur Erkenntnis der Idee und einer die Idee übersteigenden Mystik „auf Gott zu“, „der die gesamte Intelligenz aller Intelligenzen ist: Das Licht der Welt“. Dieses Licht als das ewig Wahre aber ist rein und klar zu schauen und entäußert sich durch seine Schwingungen ins Hörbare, mehr noch ins Bildhaft-Konkrete, wie mein Licht -Zyklus zur Genüge zeigt. Über den beschränkten Verstand hinaus alles miteinander verbinden, darum geht es, sobald erkannt ist, wie Mikro- und Makrokosmos aufs Innigste miteinander kommunizieren. Deshalb wurde mir die Formel, gar das Konzentrat der „Superformel“, in der alles beschlossen ist, zu einem Form erzeugenden Generator und zur Garantie eines perfekten Ineinander des Kleinsten und des Größten. Sich eine Welt formen, sich eine Welt formeln: beides läuft auf dasselbe hinaus. Ein monotheistisches Prinzip, eine somit doch wieder hierarchische Ableitung von oben her? Meinetwegen! Dass sich allerdings auch auf dem Sirius so viele Vorbehalte gegen die Konzeption meines Licht -Zyklus als eine der Typisierung, der Normierung, der schematischen Vereinfachung richten? Ich jedenfalls spreche lieber von Vermenschlichung, davon also, die reine Lehre des „Seriellen“ als Botschaft zu etablieren. 1952 wurde diese Reinheit noch, wie ich an Nono schrieb, von der Überzeugung getragen, „dass wirklich eine Idee, eine totale Vorstellung alle Materialdimensionen notwendig auswählt“, wonach der „Schreibende nur noch die Funktion des Ausführens, des Dienens hat und vollkommen [...] unpersönlich [...], unmenschlich“ wird, „so, wie seine Musik immer unmenschlicher, immer reiner“. Bspl. 12: Stockhausen, Klavierstück IV Wie also konnte ich die entspiritualisierten und in ihre egomanen Lebensbelange verstrickten Erdbewohner an den überzeitlichen Kräften und Gesetzen teilhaben lassen? Doch nur, indem meine Musik fasslicher, menschlicher wurde. Die Gruppen für drei Orchester sind Musik, aber keine Botschaft. Zum Undank musste ich mir anhören, meine als mystischer Kitsch verkannten Visionen zumal des Licht -Zyklus würden die Musik mit diktatorischem Sinnzwang im Dienst ihres Künders und seines Sendungsbewusstseins strangulieren und selbst noch in ihren vielschichtigen Partien entwerten. Die Musik entfremde sich ihrer Eigengesetzlichkeit, abhängig vom Tribut ans Szenische; das „serielle Denken“ verkümmere zur Konvention von Repetitionen, Tremolos, Glissandi, markanten Rhythmen und melodiösen Tendenzen am Gängelband einer Superformel, die unentwegt gestanzte Regressionsmuster produziere! Bspl. 13: Stockhausen, Samstag aus Licht Die Kritik, in meiner späteren Musik würde alles so langatmig, so bedeutungsschwer, so guruhaft statisch, ist die Kritik tauber Ohren. Als würden sie nicht ertragen, dass ich eine Musik der Schöpfung und keine der Erschöpfung komponiere. Und als wollten sie das Katholische in meiner Biographie partout nicht zur Kenntnis nehmen: das Katholon, das alle und alles betrifft in einer Musik für die „ganze Erde“. Für mich waren das „serielle Denken“ und seine Zahlenspiele Ausdruck einer transsubjektiven Ordnung mit dem Ziel einer Transformation des alten Adam. Weil jedoch diese Musik für die meisten in ihrer Selbstbezogenheit zu unverständlich klang, musste ich schlichtweg verständlicher werden. Vom Unmenschlichen über das Menschliche zum Übermenschlichen: von dieser Spur her ist mein Gesamtkunstwerk Licht zu rezipieren. Wie Zarathustra nach zehn Jahren Einsamkeit unter das Volk gehen, um zu predigen, das war die Aufgabe. Ich musste künden und verkünden - in der Zuversicht, dass wir „alle levitieren“ werden. Singbare Formeln, einprägsame archetypische Figuren als Ausdruck der in uns allen verborgenen Ur-Formen und als Spiegel einer Ordnung, „in der alles Sinn macht“: das ist eine Facette meines Vermächtnisses an die Erdbewohner. Für den ins Innere der Schwingungen Eingeweihten gibt es als letzten Urgrund nur eine universal gestufte Harmonie, in der er immer nur sich selbst begegnet und niemals etwas Fremdem. Nicht umsonst durchzieht schon meine Hymnen von 1966 die lange Phase eines Traumszenariums, eines Szenariums freilich mit der Programmatik der Völkerverständigung auf dem Weg zum „utopischen Reich der Hymunion in der Harmondie unter Pluramon“, wie ich das mit griffigen Begriffsmustern genannt habe. Was lag dabei näher, als den planetarischen Gedanken über die Transformation zahlreicher Nationalhymnen zu Gehör zu bringen? Und wenn die Atemgeräusche dieser Passage und ihr Verweis auf Schlaf und Traum von Erinnerungseinschüben, das heißt von früheren Stationen der Hymnen , sprich: Ländern und Völkern durchquert werden, dann liegt die Assoziation an den sprichwörtlichen Traum von einer besseren Welt doch gleichsam auf der Hand. An einen Traum jedenfalls, zu dessen Verwirklichung meine Musik animieren will: Bspl. 14: Stockhausen, Hymnen Der Einwand, meine Musik stürze ins Dekorativ-Triviale ab, weil ihr Höhenflug jede geschichtliche Basis ausblende, weil der Katalog der Nationen anhand des Steckbriefs ihrer Hymnen reale Widersprüche in einem global abstrakten Kollektivplural verschwinden lasse und die Berührung mit dem Boden der Tatsachen verliere: er trifft mich nicht. Zählt denn das Allegorische und Metaphorische in der Kunst überhaupt nichts mehr? Propheten und Visionäre haben es schwer. Auch ein Künder von „Pluramon“, dem Reich des befreiten Miteinanders aller Wesen. „Pluramon“: diese utopische Losung, von mir zunächst nur zögerlich und wie im Halbschlaf gesprochen, um schließlich wie in einer Erleuchtung verkündet zu werden: was sollte daran kurios sein? Dass die Kündung an den Zungenschlag einer schlechten Reklame erinnere, die auf das Produkt abfärbt? Und wenn schon! Warum nicht - im Dienst an der guten Sache! Bspl. 15: Stockhausen, Hymnen Der Blick vom All aus auf den Blauen Planeten, das Fliegen und Überfliegen haben mich seit je gebannt. Genauso wie das Eintauchen in den globalen Äther. Grenzenlosigkeit in den Kurzwellen , der Telemusik , den Hymnen . Wie beschränkt ist die Ego-Monade gegenüber solchen „Selbstentäußerungen“ ins Überpersönliche. Je höher der Blick, umso absurder und nichtiger das irdische Gewimmel. Tagespolitik - ein Gezänk um Nichtiges. - Als hätte ich vor lauter Kreativität das Kreatürliche vergessen! Aber was heißt schon kreatürlich. Was liegt schon an einer einzelnen Existenz und ihrem Tod im unaufhörlichen Kreislauf der Wandlungen und Wiedergeburten. „Ganze Myriaden von sogenannten Menschenleben oder Lebewesen - nichts anderes als Atome einer übergeordneten Gestalt.“ Alles Übrige ist anekdotischer Kleinkram. Vor den Wundern der Reinkarnation wird der Tod zum Ammenmärchen für verstockte „Erdlinge“. Es gibt keinen Tod. Bin ich nicht das beste Beispiel - hier auf dem Sirius? Ich werde es also gelassen abwarten, das sirianische Examen. Weiß ich doch im Innersten, dass es lediglich ein Spiel sein wird, eine Pro-forma-Aktion, Teil einer Inszenierung. Wahrscheinlich eine Aufführung des Examens aus meinem Donnerstag aus Licht und damit bereits Teil einer künftigen Sternenmusik unter meiner Regie. Aber ja, das wird es sein, das muss es sein! Ich höre ihn schon, den Ruf der Sirianer: „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen! ... Jubelt, jubelt!“ Bspl. 16: Stockhausen, Donnerstag aus Licht, Examen Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen!“ Aber ja! Es wird sich alles klären. Ich werde leben, mich immer mehr vergeistigen, „astronische Musik“ komponieren und niemals mehr Rechenschaft geben. „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen.“ Eine Kunde quer durch alle Galaxien. Ich ahne es, ich höre es ... Siriana ... Stockhausens Siriana ... intergalaktisch ... „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen!“ ... Eine Musik der universellen Wahrheit ... „Aufgenommen!“ ... Natürlich! ... „Aufgenommen, selbstverständlich aufgenommen!“ Musikbeispiele Bspl. 1: Stockhausen, Sirius [CD 1, Tr. 3, 12´53 – 14´41 (ab 14´34 ausbl.)] [1´48] [Markus Stockhausen, Meriweather, Stephens, Carmeli / Stockhausen-Verlag / 26 A] Bspl. 2: Stockhausen, Stimmung [Tr. 9, 0´21 (aufbl.) – 1´00 (ab 0´54 ausbl.)] [0´33] [Theatre of Voices , Paul Hillier / harmonia mundi HMU 807408] Bspl. 3: Stockhausen, Gruppen [Tr. 34, 0´25(zügig aufbl.) – Tr. 37, 0´02] [1´12] [Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, Stockhausen, Maderna, Gielen / Stockhausen-Verlag / 5] Bspl. 4: Stockhausen, Kontakte [Tr. 13, 2´17 (zügig aufbl.) – Tr. 14, 0´35 (ab 0´30 ausbl.)] [0´48] [Stockhausen-Verlag / 3] Bspl. 5: Stockhausen, Klavierstück X [Tr. 2, 0´00 – 2´00 (ab 1´49 ausbl.)] [2´00] [Herbert Henck / WERGO WER 60135/36-50] Bspl. 6: Stockhausen, Cosmic Pulses [Tr. 1, 14´15 (aufbl.) – 15´00 (ab 14´50 ausbl.)][0´45] [Stockhausen-Verlag / 91] Bspl. 7: Stockhausen, Trans [Tr. 16, 4´35 (zügig aufbl.) – Tr. 17, 0´20 (ab 0´10 ausbl.)][1´13] [Orchester des Saarländischen Rundfunls, Hans Zender / Stockhausen-Verlag / 19] Bspl. 8: Stockhausen, Hymnen [CD 1, Tr. 13, 0´40 (zügig aufbl.) – 2´05 (ab 2´00 ausbl.)] [1´25] [Stockhausen-Verlag / 10 A] Bspl. 9: Stockhausen, Mikrofonie I [Tr. 2 (ganz) + Tr. 3, bis 0´26] [0´58] [Kontarsky, Fritsch, Stockhausen, Alings, Bojé, Davies, Spek / Stockhausen-Verlag / 9] Bspl. 10 Stockhausen, Litanei [Tr. 3, 0´11 – 1´47(rasch ausbl.)] [1´36] [SWR-Vokalensemble, Rupert Huber / Stockhausen-Verlag / 61] Bspl. 11: O-Ton Stockhausen, Litanei [Tr. 1, 0´56 – 1´34] [0´38] [Stockhausen-Verlag / 61] Bspl. 12: Stockhausen, Klavierstück IV [Tr. 4 (ganz)] [1´59] [Herbert Henck / WERGO WER 60135/36-50] Bspl. 13: Stockhausen, Samstag aus Licht [CD 3, Tr. 18, 0´19 (aufbl.) – 1´44 (ab 1´36 ausbl.)] [1´25] [Hölle, Pasveer, The University of Michigan Symphony Band, Robert Reynolds, Markus Stockhausen, Karlheinz Stockhausen / Stockhausen-Verlag / 34 C] Bspl. 14: Stockhausen, Hymnen [CD 2, Tr. 55, 0´25 – Tr. 57, 0´45] [1´16] [Stockhausen-Verlag / 10 B] Bspl. 15: Stockhausen, Hymnen [CD 2, Tr. 62, 0´00 – Tr. 64, 0´03][2´08] [Stockhausen-Verlag / 10 B] Bspl. 16: Stockhausen, Donnerstag aus Licht, Examen [Tr. 4, 23´04 (zügig aufbl.) – 24´40 (ab 23´40 als Texthintergrund; ab 23´30 ausbl.][1´36] [Pike, Markus Stockhausen, Stephens, Majella Stockhausen, Meriweather, Isherwood, Clarke, Louafi, Karlheinz Stockhausen, Chor des Westdeutschen Rundfunks Köln / Deutscher Musikrat / RCA 74321 73635 2] Vom Sirius aus Karlheinz Stockhausen - ein Monolog
- Johannes Bauer, Karl Valentin und die Musik
Karl Valentin und die Musik Duett auf zweieinhalb Trompeten oder: SWR 2005 Bspl. 1: Karl Valentin, Wo die Alpenrosen blühn [CD 4, Tr. 11, 0´00–1´24] [1´24] A Ein Kampf mit Worten, mit der Vertracktheit von Worten. Geführt von einem Desperado, einem Don Quichotte der Sprache, der im Dschungel der Wörter auf die Karte des Eigensinns setzt: B «Ich werd’ doch noch wissen, was ich red’.» A Im nahezu aussichtslosen Ringen um den richtigen Ausdruck wird Sprache zu einer Art Dämon: Wer sie herausfordert und gegen ihre Losung vom Fluss der Rede verstößt, verfällt dem Bann der Sinnleere und des Ausschlusses aus der Diskursgemeinschaft. Doch damit nicht genug. Das Unvermögen, den endlosen Wechselverweis zweier Musikanten zum Stillstand zu bringen, um zu klären, wer von beiden die erste, wer die zweite Stimme spielen soll, lässt einfachste kommunikative Handlungskompetenzen vermissen. Hegel würde von der Unfähigkeit sprechen, eine abstrakte Zweiheit ins Konkrete aufzulösen; von der Verstocktheit der «schlechten Unendlichkeit» also, für die sich der Eine und der Andere gleichgültig zueinander verhalten, da der Eine stets auch ein Anderer ist. Bspl. 2: Karl Valentin, Wo die Alpenrosen blühn [CD 4, Tr. 11, 1´28–4´08] [2´40] A Karl Valentins Affront gegen eingespielte Verständigungsrituale verstört das Bündnis von Sprache und Welt. Ähnlich provokant das konsumanarchische Verhalten, mit dem Valentin als Kunde eines Schallplattengeschäfts am Allgemeinheitsbegriff «Schall» festhält: Mit einer Hartnäckigkeit, die jeder Detailwahl als der Voraussetzung erfolgreicher Tausch- und Kaufgeschäfte unzugänglich bleibt. Erneut also eine Absage an den Konsens, genauer: an die Unterscheidung zwischen «Allgemeinem und Besonderem», über die Hegel vom Sprachideal der Vernunft her nur den Kopf schütteln würde: B «Das Allgemeine, formell genommen und neben das Besondere gestellt, wird selbst zu etwas Besonderem. Solche Stellung würde bei Gegenständen des gemeinen Lebens von selbst als unangemessen und ungeschickt auffallen, wie wenn z. B. einer, der Obst verlangte, Kirschen, Birnen, Trauben usf. ausschlüge, weil sie Kirschen, Birnen, Trauben, nicht aber Obst seien.» Bspl. 3: Karl Valentin, Im Schallplattenladen [CD 1, Tr. 18, 0´00–1´39] [1´39] A Valentin und Hegel: eine nur auf den ersten Blick überraschende Verbindung. Längst schon nimmt Valentin einen Platz auch unter den Philosophen ein. Gerade weil bei ihm Sprache kein Garantiefonds des Wahren, gar des Absoluten mehr ist. Im metaphysisch entzauberten Asyl der Moderne hat Sprache gegen sich selbst zu sprechen, um die Besatzungskraft der Sätze den Dingen und der Welt gegenüber zu brechen. Überdies wird Valentin in der Zeit des NS-Terrors und seiner totalitären Propaganda Sprache als Konvention verdächtiger als je zuvor. Sein Irrewerden am verordneten Verstehen und Urteilen misstraut jeder praktikabel gemachten Ideologie und Willkür. Liegt im gescheiterten Dialog Wo die Alpenrosen blühn die Schwierigkeit zunächst darin, dem Streit um den Part der ersten und zweiten Stimme zu entkommen, gerät das schließlich doch noch aufgeführte Duett seinerseits zum musikalischen Chaos. «Furchtbar!» lautet denn auch der Selbstkommentar des Interpreten nach einem Gesang, der die Terzen der Originalmelodie gnadenlos verfehlt, sich in archaischen Quartklängen und verqueren Dissonanzen windet, bevor er mehr verendet als endet: in einem Schluss, der völlig aus dem harmonischen Lot geraten ist. Bspl. 4: Karl Valentin, Wo die Alpenrosen blühn [CD 4, Tr. 11, 4´09–6´22] [2´13] A Valentins Resümee: B «Is’ guat, dass des der Kaiser Ludwig damals nicht g´hört hat», A wird zu einem Kontextverstoß erster Güte – gegen die Ordnung der Zeit und der Zeiten und gegen die Realität jeder Empirie. «Nachträglich», aus Anlass eines Jahrhunderte zurückliegenden Ereignisses, ein Ständchen zu blasen, das dann rückwirkend, den Jahrhunderten zum Trotz, seinen Adressaten gottlob doch nicht erreicht, setzt die Vernunfthoheit des Denkens außer Kraft. Sekundiert von seiner kongenialen Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt verhext Valentin Sprache in ein unkalkulierbares System, das bei kleinsten Abweichungen aus den Fugen gerät und Sinnirritationen produziert. Sind jedoch ‹die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt›, dann ist seit der Instrumentalisierung und Kommerzialisierung der alltäglichen Rede das Leben ebenso beschädigt wie die Sprache. Oder ebenso eintönig wie in der Valentiniade von den Vier Jahreszeiten . Hier löst die Reibung zwischen einer auf Abwechslung gespannten Hörerwartung und der Monotonie von Wort und Musik Verstimmung, ja Wut aus. Indem die besungene ‹Herrlichkeit› einer jeden Jahreszeit durch die Formelhaftigkeit der Strophen neutralisiert wird, bringt die Wiederholung das je «Eigne» zur Strecke. Das Besondere beschworen als Besonderes wird im Kreislauf der Einförmigkeit zum Auswechselbaren. Strophe für Strophe führt sich das Couplet ad absurdum: der Wunsch nach der Unvergänglichkeit von Frühling, Sommer, Herbst und Winter und damit nach ihrer jeweiligen Ausschließlichkeit löscht sich durch Generalisierung selbst aus. In der Beliebigkeit des Allgemeinen stirbt die Unverwechselbarkeit der Phänomene. Deshalb wirkt die zuletzt im Tumult untergehende Versicherung des Sängers, im Reigen der Jahreszeiten wäre doch ‹gerade der Winter so interessant gewesen›, wie ein Trick aus dem Verkäufermilieu: Ein letzter Ausfall gegen die Einbildungskraft, der Einzigartigkeit behauptet und im Turnus des Immergleichen zugleich verneint. Bspl. 5: Karl Valentin, Die vier Jahreszeiten [CD 2, Tr. 18 (ganz)] [3´00] A Valentin und die Musik, Valentin und seine Musik, Valentin als Musiker also: diese Bühne eröffnet dem «Linksdenker», wie ihn Kurt Tucholsky einmal genannt hat, ein ideales Plateau. Wovon könnten sich Valentins Sinndetonationen nachhaltiger abheben als vom Stimmungs- und Geschlossenheitsanspruch der Musik? Von hier aus kann der Bau der Sprache umso wirkungsvoller destruiert und sein Fundament freigelegt werden: das Fundament menschlicher Projektions-, Abstraktions- und Berechenbarkeitssucht beim Einpassen der Welt in das Korsett der Kausalität. Ein Fundament, das vom Gebälk der Syntax nur notdürftig überdeckt wird. Jedes Wort, jede Silbe vermag Risse im Sinngefüge zu erzeugen. Und weder der Satz vom Widerspruch noch der vom Grund noch die zweiwertige Moral von wahr und falsch stiften ausreichend Sicherheit. Solche Unbehaustheit in den Etablissements von Logik und Vernunft macht Valentin zu einem Wahlverwandten Becketts, der seinerseits Valentin bewundert hat. Verdichtete sich nicht auch für Beckett die Sprache B «immer mehr zu einem Schleier (...), den man zerreißen muss»? «Grammatik und Stil. Mir scheinen sie ebenso hinfällig geworden zu sein wie ein Biedermeier Badeanzug (...). Hoffentlich kommt die Zeit, (...) wo die Sprache da am besten gebraucht wird, wo sie am tüchtigsten missbraucht wird. Da wir sie mit einem Mal nicht ausschalten können, wollen wir wenigstens nichts versäumen, was zu ihrem Verruf beitragen mag: Ein Loch nach dem andern in ihr bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt.» A Auch Valentin durchlöchert die Sprache, um ihren Wahrheitsanspruch auf den Unterbau starrer Verknüpfungen, pseudologischer Zwänge und bildhafter Übertragungen hin zu erden und nebenbei so manche Liaison zwischen leeren Worten und schalen Empfindungen zu sprengen. Was passiert etwa, wenn man eine Operettenweise mit den Worten eines Gassenhauers in Einklang zu bringen sucht? Vermutlich ein veritabler Zerfallsprozess. Wollen Johann Strauß´ Melodie «Wer uns getraut» aus dem Zigeunerbaron und der Schlagertext Vom verlorenen Glück metrisch partout nicht harmonieren, müssen die Worte eben in eine musikalische Zwangsjacke gepresst werden. Dass solche Unvereinbarkeit die Ordnung von Strophe und Reim zerstört und Sinn verdampfen lässt, bleibt nicht aus. Valentin dekomponiert Sprache auf ihre phonetische Qualität, auf ihren materialen Grund hin. Sinnzerrüttung als Folge eines desorganisierten, silbisch zersplitterten Satzbaus lässt von der Sprache und ihrer Verengung zu einer kommunikativen Technik nur wenig übrig. Zudem demaskiert Valentins Montage durch die Demontage des Gefühligen den Kitsch der Herz-Schmerz-Schmonzetten. Wird der Krampf des Sentimentalen nicht hinreichend bloßgestellt, wenn der gegen Ende doch noch aufgefundene originale Operettentext das Stück in die Rührseligkeit von der ‹Liebe als einer Himmelsmacht› ausbrechen lässt? Bspl. 6: Karl Valentin, Wer uns getraut [CD 4, Tr. 8 (ganz)] [4´00] A Wie Valentins Sprach- und Gefühlszersetzungen ihrem historischen Ambiente nach zu verstehen sind, lässt sich mit Hugo von Hofmannsthal präzisieren: B «Die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt. Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wissenschaften, das alles sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben. Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. Es ist beinahe niemand mehr imstande, sich Rechenschaft zu geben, was er versteht und was er nicht versteht, zu sagen, was er spürt und was er nicht spürt. (...) Alle anständigen Menschen haben von vorneherein einen Widerwillen gegen einen, der gewandt geredet. (...) Mit dieser inneren Müdigkeit und dem stumpfen Hass gegen die Worte entstand auch der große Ekel vor den Gesinnungen. Denn die Gesinnungen der Leute sind nichts als ein gespenstischer Zusammenhang von ungefühlten Worten.» A Während der offizielle Diskurs als verabredeter und unablässig aufs Neue bestätigter Kommunikationsvertrag Erfahrung standardisiert, mimt Valentin den Anarchisten, der Sprache von ihren Rändern her denkt. Unbekümmert um Prinzipielles nähern sich seine Sinnzermürbungen der Musik und ihrer begriffslogischen Abstinenz an. Valentin, der am Ende seines Lebens verhungert ist, kennt nur zu gut den Hunger der Sprache nach Sinn. Sinn aber heißt in erster Linie Freiheit von Widersprüchen. Diese Sinngier gegen sie selbst zu wenden, ohne dabei die Sprache semantisch verhungern zu lassen, ist Valentins Metier. Während die Metaphysik fragt: «warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?», fragt Valentin, warum ist die Ordnung des Seienden so wie sie ist und nicht vielmehr anders? Wenn aber der Sprechende von der Sprache gesprochen wird und Sprache gegen den Sprechenden spricht, warum sollte dann der Sprechende nicht seinerseits gegen die Sprache sprechen? Die Unterwanderung etablierter Gesprächsmuster durch die Eigengesetzlichkeiten einer Privatsprache ist der Grundimpuls in Valentins Überlagerung von Regel und Regellosem, samt den daraus resultierenden Eigenwilligkeiten seiner Weltdeutung. Davon hat der Film Die Orchesterprobe einiges zu bieten. So etwa die entgleitende Logik eines Sprachspiels, das in der Auseinandersetzung über die «hinunterzu stehende» Krawatte des Dirigenten das Personalpronomen «Ihnen» blitzartig mit dem Adverb «innen» verwechselt und auf die absurde Assoziationsbahn von «innen» und «außen» schickt. Bspl. 7: Karl Valentin, Die Orchesterprobe [CD 8, Tr. 1, 2´28–2´52] [0´24] A Schwindelerregend auch der Disput darüber, ob die Abwesenheit eines Musikers im Probenraum tatsächlich wahrzunehmen sei. Ein hintergründiger Exkurs zur Paradoxie von Aussage und Vorstellung. Bspl. 8: Karl Valentin, Die Orchesterprobe [CD 8, Tr. 1, 9´18– 10´10] [0´52] A Bleibt schließlich noch Valentins eigensinnige Auslegung des Zufallsprinzips durch dessen Umkehrung ins Trivial-Profane zu erwähnen – eine Auslegung, die jeder überkommenen Lesart von Unberechenbarkeit und Notwendigkeit Hohn spricht. Bspl. 9: Karl Valentin, Die Orchesterprobe [CD 8, Tr. 1, 11´28–14´18] [2´50] A Hat nicht Ludwig Wittgenstein oft genug betont, dass sich die «Grammatik (...) nicht rechtfertigen lässt», dass ihre «Regeln (...) willkürlich» sind? B «Können wir eine Beschreibung anführen, die die Regeln der Grammatik rechtfertigen wird? Können wir sagen, weshalb wir diese Regeln verwenden müssen? Die einzige Form, die unsere Rechtfertigung annehmen könnte, wäre: ‹Da die Wirklichkeit soundso beschaffen ist, müssen wir diese und jene Regeln haben.› Damit ist jedoch vorausgesetzt, dass man sagen könnte: ‹Wenn die Realität anders wäre, dann wären auch die Regeln der Grammatik anders.› Doch um eine Realität mit andersartiger Grammatik zu beschreiben, müsste ich eben jene Kombinationen verwenden, die die Grammatik verbietet. Die Regeln der Grammatik unterscheiden Sinn und Unsinn, und wenn ich die verbotenen Kombinationen verwende, rede ich Unsinn.» A Ludwig Wittgenstein und Karl Valentin: Verbündete im Aufdecken der Vorgänge, wie Sprache, Sinn und Moral über die Agentur der Grammatik einander zuarbeiten. War es nicht Nietzsche, der bereits 1888 geargwöhnt hatte: B «Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben»? A Wenn aber Satzstrukturen kollektive Sinn- und demzufolge Machtinstanzen der Interpretation repräsentieren, dann verunsichern Valentins verbale Attentate stets auch das berechnende Sprachkalkül einer effizienzverrückten Welt. Den eingefahrenen, disziplinierenden Diskurs der Kommunikation ständig durch Leerstellen des Vergessens zu unterbrechen oder mit der Gedankenflucht von Abschweifungen zu durchsetzen, opponiert als eine Kunst der Verhinderung der Lückenlosigkeit des Funktionierens und der Betriebsamkeit. Bspl. 10: Karl Valentin, Die Uhr von Loewe [CD 1, Tr. 11(ganz)] [3´29] A Was der vermeintlichen Präzision klarer Sätze an Unnötigem, an rhetorischen Wucherungen in die Quere kommt, gilt dem Sprachgebot des Schlüssigen und Knappen als Abfall oder Marotte. Für den Verwirrungskünstler Valentin noch lange kein Grund, seine Ankündigung im Alpenrosen-Duett: «Wir beginnen mit dem Anfang», am stilistischen Verbot des Überflüssigen zu messen. Bringen solche Ausfransungen der Sprachökonomie nicht die von vornherein in Kauf genommene Blindheit der gewöhnlichen Rede an den Tag? Mag nun das Fazit bedrohlich wirken, dass die Bündigkeit der Sprache alles andere als bündig ist, und mag deshalb für viele als ausgemacht gelten, wie Franz Blei notiert, B dass Valentin «die Welt verkehrt sieht und dass sie ihm dadurch so unverständlich und sinnlos vorkommt». Ebenso möglich ist es, «dass wir sie verkehrt sehen und Valentin sie richtig sieht. (...) Man kann sich darüber nicht einigen. Und so lacht man über die Diskrepanz. Aber es ist ein seltsames Lachen, das da ausgelöst wird». A Ein Lachen jedenfalls, dessen Timbre von den Ausbruchsversuchen aus dem Sprachgefängnis mit seinen Wort- und Satzgittern gefärbt ist. Ausbruchsversuche also. Das Gebot der unentwegten Zirkulation von Worten und Sätzen und mit ihm das Schaltwerk des normierten Denkens sabotieren; Sprache freisetzen; die Überredungs- und Eingemeindungsarbeit ihres Sinngenerators auf halbe Touren bringen, um das Bewusstsein an die Grenzen seiner Sicherheit zu führen; Worte für sich stehen lassen, sie wörtlich nehmen; sie gerade in ihrer Beschädigung zum Ereignis entbinden, und damit ins Innere der Sprache hören: So oder so ähnlich könnten Valentins verbale und grammatikalische Rückungen und Verrückungen umschrieben werden. Dass man freilich – selbst durch Verweigerung – aus dem Universum der Sprache ebenso wenig herausfallen kann wie aus dem Weltgetriebe, grundiert Valentins Leidenschaft am Anarchischen mit einer Spur der Verzweiflung. Versuchen wir also zu lachen. Vielleicht so, wie Valentin selbst es versucht hat. Mag einem dabei das Lachen auch zuweilen im Hals steckenbleiben. Im «Anrennen an die Grenzen der Sprache» deren Grund grundlos werden lassen und den Zufall in ihr begreifen: verspricht dies nicht eine Ahnung vom Unbekannten einer anderen Grammatik, einer anderen Sprache, einer anderen Welterfahrung? Hören wir also hinter die Konventionsmasken und lachen wir dabei – oder auch nicht. Bspl. 11: Karl Valentin, Karl Valentin singt und lacht selbst dazu [CD 1, Tr. 7(ganz)] [3´07]
- Johannes Bauer, Figuren einer pneumatischen Musik
METAspracheATEM Figuren einer pneumatischen Musik DeutschlandRadio Berlin (2000) Bspl. 1: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « [Tr. 10: ganz] (0´30´´) Atemzüge, Atemstöße, gepresst und »stimmlos«, dicht am Geräusch - das Ende eines Streichquartetts. »’Àñð` ãû ~ «, »Von hier«, überschreibt Mathias Spahlinger eine Komposition, die ihre Titelworte dem Poem Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen von Jannis Ritsos entlehnt. Einer Dichtung des Widerstands aus der Zeit der NS-Okkupation Griechenlands. Dreimal taucht dieses leitmotivische »Von hier« im Gedicht auf: in Form des zukunftsvisionären Kürzels »Von hier zur Sonne«. Ein Kürzel, auf das Spahlinger mit dem Melodie-Fragment »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« anspielt. Im Bereich des kaum Hörbaren allerdings. Freilich handelt es sich bei dieser Anspielung nur um die vordergründigste Analogie zwischen Text und Musik. Spahlinger geht es um strukturelle Parallelen, nicht um Illustration. Sicher: es gibt in diesem Quartett Stellen, die möglicherweise den Widerhall von Sirenen, von Schüssen assoziieren lassen, ohne in solcher Bildhaftigkeit aufzugehen. Den Ausdruck allgegenwärtiger Beklemmung wie bei Ritsos erreicht die Musik, indem sie jede programmmusikalische Identifikation verweigert. Bspl. 2: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « [Tr. 9: 1´23´´ - 3´05´´] (1´42´´) Und die komponierten Atemgeräusche? In einer Musik des politischen und ästhetischen Ausnahmezustands, in der sich der Ton oft genug als Tonus, als Spannung eben, zur Detonation schärft: in solcher Musik skizzieren die Atemsequenzen zunächst ein Stenogramm der Gefahr. Ein Protokoll objektivierter Angst und ihrer Abfuhr. Aber ist das alles? Gewiss: die fiebrige Nervosität, die den Irrlauf der Metaphern bei Ritsos in Gang hält, legt auch bei Spahlinger die Saiten der Instrumente wie Nervenstränge bloß. Musik wird zum verminten Gelände, das harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt. Der Körper der Instrumente wird selbst zum Territorium, besetzt von den Griff- und Bogentechniken der Interpreten, die das Grauen des Besatzungsterrors zur Topografie jeglicher repressiven Enteignung des Bewusstseins weiten. Bis hinein in die Gestaltung des Bogendrucks, der von der Drucklosigkeit bis zu starker Überhöhung reicht, mit dem Effekt der geräuschhaften Auflösung erkennbarer Tonhöhen: Pressionen, die die Besonderheit des Individuellen auslöschen. Dennoch: bedeutet die Sprache des Atmens in Spahlingers zwölfminütiger Tour de force nichts als ein Zeichen der Angst in einer Musik des Widerstands? Bspl. 3: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « [Tr. 9: 0´00´´ - 0´40´´] (0´40´´) Auch wenn Spahlinger eine Atempartie im letzten Satz als »seufzend hecheln« charakterisiert, lädt sich der Gestus des Seufzens, das Suspirium, über den Wechsel von Ein- und Ausatmen im Verlauf des extrem kurzen Satzes mit einem Moment der Suspension auf; mit dem Kontext von Atmen und Hoffen: dum spiro, spero. Atmen als Einspruch von Leben und Überleben gegen die Präsenz des Todes lässt die Atemgeräusche des Quartetts zwischen Angst und Rettung, Bedrohung und Entronnensein changieren. Eines Quartetts, das den geschundenen Ton mit einem Luxus an interpretatorischen Mitteln realisiert und damit zum Ton des Widerstands und der Zeugenschaft schärft, deren griechischer Name bekanntlich Martyrion lautet. Kann auch die Dreiteiligkeit der Komposition auf die dreimalige Hoffnungschiffre »Von hier zur Sonne« nur anspielen, indem die Teile immer kürzer, immer ton- und sprachloser werden; mag das Werk auch »wie abgebrochen« enden: im »senza fine« des Schlusses, in der Offenheit des Fragments konturiert sich zugleich die Imagination der Überschreitung. Die Grundfigur des Atmens am Ende des Quartetts, die Folge von Ein- und Ausatmen als einer Urform der Parataxe, wird noch in seiner angespannten Form zum Sinnbild eines antihierarchischen Neben- und Nacheinander: gegen die versteinerten Hierarchien von Macht und Gewalt. Und wenn die »arco zarge« gespielten Atemgeräusche der Instrumente und das Atmen der Interpreten miteinander verschmelzen, verschwindet für Augenblicke selbst noch die instrumentelle Kluft zwischen Ding und Bewusstsein. Eine Kritik an der Herrschaftsattitüde des Geistes, deren technische Eskalation Individualität auslöscht und zum bloßen Material erniedrigt: zum Objekt von Krieg, Folter und Tod. Bspl. 4: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « [Tr. 10: ganz] (0´30´´) Wie Ritsos war auch Jannis Xenakis aktiv am Widerstand gegen die deutschen, später englischen Besatzungstruppen beteiligt. Schwer verwundet und ins Exil nach Frankreich entkommen, wurde Xenakis von einem Militärtribunal in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 1967, in dem Jahr also, als Griechenland unter die Gewalt einer Militärdiktatur geriet, schrieb Xenakis ein Stück für gemischten Chor a cappella, das folgendermaßen endet: Bspl. 5: Xenakis, Nuits [Tr. 5: 10´00´´(aufbl.) bis zum Ende] (1´40´´) Am Schluss des Stücks ein Atemlaut, der einzige der Komposition: ein kurzes, stimmloses Husten im »Sforzato fortissimo«. Isoliert gehört muss dieser »short cough« unverständlich bleiben. Entschlüsselbar wird er erst vom Kontext der Musik her. Nuits hat Xenakis den politischen Häftlingen des griechischen Bürgerkriegs gewidmet. Aber an Stelle einer zu erwartenden bedeutungsgeladenen, wenn nicht gar programmatischen Vorlage basiert der textlose Text der Komposition ausschließlich auf sumerischen und altpersischen Silben. Nun kennt man rein phonemische Texte hauptsächlich in Form magischer Ritualgesänge. Heiliger Formeln etwa, die den Beistand der Götter erzwingen sollten und konnten, wie in der hinduistischen Veden-Rezitation, in der die Worte oft unter Einsprengung leerer Silben wie »ha« oder »ho« buchstäblich zermahlen und grammatikalisch entregelt werden, bis der Sinn völlig aufgelöst im Gesang aufgeht. Bspl. 6: Sama Veda, Hymne an Indra [Seite A, Tr. 4: 0´00´´ - 0´40´´(ausbl.)](0´40´´) Ein anderes Beispiel solch machtvoller Geheimsprachen wären die mystischen Laute schamanistischer Gesänge und ihrer Austreibungspraktiken. Einer Sprache jenseits der kommunikativen Profanität also. Wie bei Xenakis äußerst durchstrukturiert und überwiegend aus Phonemen bestehend, um mitunter auch vereinzelte Anklänge an Wortreste zuzulassen. Solche Aspekte des Rituellen nun lassen uns das stimmlose Husten am Ende von Nuits besser verstehen. Wie das Rezitieren und Singen der heiligen Sprache vor Gefahren erretten kann, so schwingt auch im Klagegestus der ebenso geheimen wie getarnten Vokalisen von Nuits Beschwörung und Abwehr mit: gegen die Gewalt der Unterdrückung und ihre Dämonie des scheinbar Unabwendbaren. Und wie das Einatmen und Einsaugen des Krankheitsdämons und dessen Ausatmen und Ausstoßen durch den Schamanen zur Heilung führen soll, so wirkt auch der »short cough« im letzten Takt von Nuits wie ein Unheil abwehrendes, rituelles Ausstoßen der Luft. Verachtung und Schutz zugleich. Nicht umsonst erinnert dieser Schluss an jenes »eigentümliche Zeremoniell« in Freuds Geschichte einer infantilen Neurose , das der »Wolfsmann« einsetzt, wenn er »Leuten« begegnet, mit denen er nichts gemein haben wollte. »Er musste geräuschvoll ausatmen, um nicht so zu werden wie sie«. Eine Form der Objektausstoßung und Verachtung, die noch in der Wendung »jemandem etwas husten« mitschwingt. Bspl. 7: Xenakis, Nuits [Tr. 5: 11´17´´(aufbl.) bis zum Ende] (0´16´´) Natürlich spielt für die musikalische Dekomposition der Sprache bei Xenakis auch deren Krise und Kritik eine Rolle. Vor allem seit Nietzsche und Hofmannsthal schärft sich die Sensibilität für das Gewalt- und Moralregime der urteilenden Sprache, für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Die Sensibilität zumal für die Prostitution kommerziell verschlissener Wortmünzen, die sich mit allem gemein machen, nur nicht mit dem Besonderen. »Nur der asyntaktische Dichter« ist deshalb für die »ausdrucksvollen Schreie des heftigen Lebens« empfänglich, »das uns umkreist«, wie Marinettis Futuristisches Manifest 1909 verkündet. Und nach Isidore Isou ist es Zeit, das ›Alphabet aufzuschlitzen‹, das »seit Jahrhunderten in seinen verkalkten vierundzwanzig Buchstaben hockte«, um »in seinen Bauch« endlich ›neue Buchstaben hineinzustecken‹: »Lispeln, Röcheln, Grunzen, Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, Husten, Niesen, Schmatzen, Pfeifen«, aber eben auch »Einatmen und Ausatmen«. All das lässt selbstverständlich auch den Sprachcharakter der Musik nicht unangetastet. Nach der Aufhebung der Semantik ist ein pulverisierter Text wie der in Nuits jedenfalls kein Bedeutungsträger mehr, der von der kompositorischen Struktur zu lösen wäre. Nuits wird zur entfesselten Klage und Anklage, gerade weil das Werk die Sprachfesseln sprengt. Gängige Worte und Satzmuster wären nur Verrat; Kollaboration mit einer sprachlichen Organisationsform, die syntaktisch auch die Sprache der Unterdrückung regelt, das Bewusstsein okkupiert und den politischen Widerstand der Freiheit der Rede beraubt. Hier nun wird der Zusammenhang zwischen dekomponierter Sprache und komponierten Atemgeräuschen offenkundig. Gegen ihre Bindung an die Banalität der Verkettung muss die Sprache von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können und auf ihren materialen Grund, das Atmen hin durchlässig zu werden. Der Ausbruch aus den Wort- und Satzgittern des Sprachgefängnisses kulminiert im Aufstand der Lunge: im virtuos komponierten Schreien und Atmen. Ohne dass die Bedeutungssprache jedoch gänzlich preisgegeben werden müsste. An manchen Stellen der Xenakis-Komposition Serment , die die Worte des hippokratischen Eids zeitweise in Vokalisen auflöst, scheint der Sturm des Atems die Asche der Logos-Sprache zum Glühen bringen zu wollen, um aus ihr eine neue zu entfachen: befreit von der Besatzungskraft des Satzes und der Gerichtsfunktion des Urteils. Eine Sprache, die nicht zum Gift des Lebens wird, um die hippokratische Eidesformel einmal linguistisch zu deuten. Bspl. 8: Xenakis, Serment [Tr. 3: 4´30´´(aufbl.) - 5´00´´(ausbl.)] [0´30´´] In Xenakis' Werk N'Shima , dessen hebräischer Titel bereits auf den Atem anspielt, taucht das Hebräische selbst nur in vereinzelten Wort- und Textsplittern aus dem Gestöber der Lautelemente auf: eine assoziative Fluktuation der Bedeutung zwischen versprengten Wortkonstellationen; eine wie durch einen Schleier abgedämpfte Semantik. So wie Xenakis stets den archaischen Grund der Zivilisation in seine Kompositionen einbindet und vor dem Horizont moderner Kriegs- und Angsterfahrung reflektiert, so legt hier seine Musik den Triebgrund der Sprache bis auf ihr pneumatisches Fundament hin frei: über dem sie aufgeht und in das sie zurücksinkt. Bspl. 9: Xenakis, N’Shima [Tr. 6: 9´11´´(aufbl.) bis 10´46´´(ausbl.)] (1´35´´) Ritsos, Spahlinger und Xenakis wissen um die Ohnmacht und um den Verrat, den es bedeuten würde, die Schreie der Gefolterten ästhetisch aufzubereiten. Sie wissen, dass das Politische der Kunst nicht in vordergründigen Absichtserklärungen und inhaltsästhetischen Schilderungen liegt, sondern darin, die Vernetzung der meist lautlosen Gewalt hier und jetzt in den Strukturen des Bewusstseins lesbar, hörbar zu machen. Eine Vernetzung, in der das Politische so alltäglich ist wie das Alltägliche politisch. So wie in Annette Schmuckis Komposition Am Fenster für hohe Stimme und Akkordeon nach einem Gedicht von Robert Walser. Einer Musik des Grenzbereichs, einer Musik am Rande der Musik, die Walsers Text mit einem durchweg strukturalistischen Kompositionsverfahren antwortet. Zum Fenster sehe ich hinaus, es ist so schön, hinaus, es ist nicht viel. Es ist ein wenig Schnee, auf den es regnet jetzt. Es ist ein schleichend Grün, das in ein Dunkel schleicht. Das Dunkel ist die Nacht, die bald in aller Welt auf allem Schnee wird sein, auf allem Grün wird sein. Hin schleicht sich freundlich Grün ins Dunkel, ach wie schön. Am Fenster sehe ich’s. Walsers Augenblick von Wahrnehmung im Moment des Entzugs von Wahrnehmung durchquert Schmuckis Komposition mit einer äußerst kontrollierten Gestik des Atmens. Einer Gestik, die gerade auf Grund ihrer Distanz zur Signatur eines Daseins wird, das nach Luft ringt. Schon die Bindung des Wortes »hinaus« an einen keuchenden Atemstoß zu Beginn der Komposition spricht vom Verlangen, den Normen- und Funktionspanzer zu durchstoßen, der den Zauber der Imagination erstickt. Schmucki macht auf beklemmende Weise bewusst, wie Atmen in der engen Zeit des homo oeconomicus zum Souffleur des versäumten Augenblicks wird. Und sie macht bewusst, dass noch die ästhetische Wahrnehmung des Geringen, weil Gewöhnlichen, eben deshalb den Atem verschlägt, weil das flüchtige Aufleuchten von Welt und Dingen kurz vor deren Verdämmern zur Lust am Verschwinden wird: als einer womöglich paradoxen Form ihrer Rettung. Bspl. 10: Schmucki, Am Fenster [Von Beginn an bis zum Einsatz der Gedichtrezitation] (3´33´´) Schmuckis Am Fenster wirkt wie eine Sektion. »Dunkel« und »Nacht« werden darin zur Lichtregie einer Kunst der Verweigerung, die die »verabredeten Grenzen« der Sprache in die Fragilität der Stimme und die flüchtige Grammatik des Atmens auflöst. In eine Luftsprache, die die Worte nicht selten dem Flatus vocis, dem puren Hauch und dem Verstummen anverwandelt: als Entlarvung einer Welt der vollmundigen Sprachlosigkeit. Schmucki weiß, dass es naiv wäre zu glauben, die Verwertung des Werts würde vor der Sprache Halt machen. Das Informationsdiktat des angeblich Faktischen oder das Biedermeiertum einer auf das Dogma des Erzählens fixierten so genannten zeitgenössischen Literatur beweisen das Gegenteil. Solchem Konkretismus gegenüber sprengt Schmuckis subtile Metasprache des Atmens die syntaktischen Sperrbügel und logischen Blockaden der Sprachmaschine mitsamt ihrem identifikatorischen Getriebe. Schmuckis Komposition Am Fenster ist keine Kunst des Gegenstands, sondern eine des Widerstands: unversöhnlich gegen die Übermacht des Greifens im Begreifen, die das Wort zum Definitionsprojektil mit möglichst eindeutigen Trefferquoten schärfen will. Angesichts solcher Kontroll- und Instrumentalisierungssüchte treibt Schmucki den Schluss ihrer Komposition in eine radikale Konsequenz. In eine Verstörung jedenfalls, die im folgenden Mitschnitt auch eine Person aus dem Publikum gespürt haben mag, sofern deren Hustenattacken Spannungsabfuhr signalisieren sollen. Hält nämlich der Atem des Luftinstruments Akkordeon den Schlusston über fast eineinhalb Minuten aus, im Gegensatz zur weit atembegrenzteren menschlichen Stimme, dann wirkt diese Endlosigkeit wie ein Schock: als könnte Bewusstsein in einer Welt der besessenen Archivierung und Vergegenständlichung bei gleichzeitiger Zersetzung von Erfahrung womöglich einzig noch in den Dingen überleben. Bspl. 11: Schmucki, Am Fenster [Die letzten 110 Sekunden] (1´50´´) Denkbar ist, dass im Kult der Fassade und des vordergründig Eingängigen einer der Gründe dafür liegt, warum die pneumatische Sprache der Neuen Musik oft genug Assoziationshöfe von einer präzisen, um nicht zu sagen: eindeutigen Vieldeutigkeit eröffnet. Zumal was die Koordinaten von Leben und Tod betrifft. Es ist, als beschlüge das Atmen den ästhetischen Spiegel, in dem das narzisstische Ego seine Unsterblichkeit genießen will. Mit den Atemsequenzen dringt ein Stück Empirie in die Werke ein, das den ästhetischen Schein auf die Existenz hin durchschlägt: gnadenlos oft und jenseits aller begrifflichen Moral von Wahr und Falsch. »Einatmen«, »ausatmen«, »den atem gespannt anhalten«, wie »erlöst ausatmen«: was den entlarvenden Blick auf das moderne Dasein als einer bloßen Frist anbelangt, lässt Gerhard Rühms atemgedicht an diagnostischen Qualitäten nichts zu wünschen übrig. Bspl. 12: Rühm, atemgedicht [Seite 1, Tr. 2: ganz] (0´45´´) Zudem wurde der ästhetische Schein im Bewusstsein der Kunst von der technischen Gewalt der Dinge, Geräusche und Reize durchlöchert; einer Gewalt, die Gedächtnis wie Erfahrung attackiert und schon 1950 Pierre Schaeffer fragen ließ: »Wie soll man antworten auf das Lärmen der Menge? Mit Violinen? Mit Oboen? Und welches Orchester könnte sich rühmen, jenen anderen Schrei auszugleichen, den unterdrückten Schrei des Menschen in seiner Einsamkeit? Verzichten wir also auf die Eigenart des Cellos, das zu träge ist für seine kollektive Angst. Schritte, Stimmen, alltägliche Geräusche mögen genügen (...). Schritte bedrängen ihn, Stimmen durchdringen ihn, Laute, die Liebe oder Krieg bedeuten, das Zischen der Bomben oder die Melodie eines Liedes.« Und wie im »stahlharten Gehäuse« der industriell beschleunigten Massengesellschaft noch das vermeintlich Intime zum Fremden wird, Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz – davon zeugen die Atemsplitter der frühen Musique concrète: Bspl. 13: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul, Erotica [Tr. 4: 0´48´´ b. z. Ende] (0´29´´) Grund genug zum Ekel an einer in Angst und Atemlosigkeit verstrickten Existenz wie in Sartres Nausée : »Er geht weiter er hat Angst große Angst (...) der Ekel er sagt dass er angeekelt ist zu existieren ist er angeekelt? (...) Er rennt (...) das Herz existiert die Beine existieren der Atem existiert sie existieren rennend atmend schlagend ganz schwach ganz sanft ist außer Atem bin außer Atem, er sagt, dass er außer Atem ist (...) er ist bleich im Spiegel wie ein Toter«. Bspl. 14: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul, Eroica [Tr. 8: 0´00´´ - 1´15´´] (1´15´´) Was aber nimmt uns den Atem? Was macht uns atemlos? Geld, Worte, Bilder: sie zirkulieren mit einer Schnelligkeit, als sollten im Geschwindigkeitsrausch Altern und Tod samt der Unumkehrbarkeit der Zeit überwunden werden: in einer Art Relativitätstheorie der Gesellschaft mit dem Fluchtpunkt Unsterblichkeit. Der Tauschwert des Neuesten wird zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gesellschaftlicher Ressorts. Gewinn und Sensation resultieren aus der konkurrenzüberlegenen Zugriffsrasanz. Nichts katastrophaler als verpasste Nachrichten oder versäumte Preisschwankungen. Bspl. 15: Bauckholt, Treibstoff [Tr. 1: 1´00´´(aufbl.) – 1´23´´(ausbl.)] (0´23´´) In dieser Arena braucht man einen langen Atem. Wer hat einen längeren, wer den längsten? Wer kann ihn anhalten? Am besten »so lange wie möglich«. Bspl. 16: Rühm, so lange wie möglich [Seite 1, Tr. 6: ganz] (0´35´´) Ob Atmen erst dann bewusst wird, wenn es das Problem des Erstickens gibt? Wenn die Gehetztheit normal und der Körper dressiert genug ist? - Und was heißt es, wenn in einer Gesellschaft der gefesselten Alltäglichkeit die Askese für einen Augenblick errötet? Mit einer rührend bemühten Mini-Peepshow im Ohr? Bspl. 17: Gainsbourg, Je t’aime [Tr. 9: 3´56´´(aufbl.) bis zum Ende] (0´23´) Ist es möglich, das Korsett des disziplinierten Körpers wenn nicht aufzuschnüren, so doch zumindest zu lockern, Atem zu schöpfen? Bspl. 18: Holliger, Streichquartett [Tr. 1: ~21´50´´(aufbl.) bis zum Ende] [5´00´´] Wenn in Holligers Streichquartett nach dem viermaligen Herabstimmen der Instrumente die reduzierte Saitenspannung am Ende nur mehr die Geräusche des Bogens und das Atmen der Interpreten freigibt: ist dies dann eine Wirkung der Erschöpfung nach ungeheuren Anstrengungen? Eine Parabel der Befreiung vom Joch des Fetischs Funktionalität? Oder ein Gleiten in die Erstarrung, wie die Partituranweisungen von ›völliger Regungslosigkeit und Atemstille‹ das nahe legen? Oder alles zusammen? Vielleicht gewinnt das komponierte Atmen seine Aura nicht zuletzt inmitten der zahlreichen sinnverzweifelten Reanimationsversuche einer entzauberten Welt, der die vielfältige Einheit von Atem, Seele und Geist längst zerfallen ist. Einer Welt, die unter Atmung zunächst einmal einen Gasaustausch versteht und die Verbrennung von Nahrung mittels Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxyd. Schon lange hatte die abendländische Kultur eine Tradition aus den Augen verloren, wie sie etwa noch in manchen hinduistischen oder islamischen Atem-Liturgien und deren Verbindung zum belebenden Schöpfungsprinzip zu finden ist. So lange jedenfalls, dass das Wehen des Geistes schließlich der Natur zum todbringenden Atem werden konnte. Hegel zufolge verschwand die frühe Kultur Amerikas, weil sie eine »ganz natürliche« war. »Physisch und geistig ohnmächtig« musste sie »untergehen, sowie der Geist sich ihr näherte«, untergehen an dem »Hauche der europäischen Tätigkeit«. Dieser tödliche Atem der Geschichte und ihres Fortschritts ist es, den Giacinto Scelsis Chorwerk Uaxuctum in die Aura eines Mementos verwandelt. Im Gedenken an die Legende jener Maya-Stadt, die sich im 9. Jahrhundert aus religiösen Gründen selbst zerstört haben soll. Der Widerhall der atmenden Stimmen wird bei Scelsi zur klagenden und zugleich utopischen Schattensprache der Geschichte: zum Wehen eines Windes, den der Komponist selbst einmal in einem Gedicht als jenen »einsamen Wind aus der Tiefe« charakterisiert hat, der die »Ordnung der unentwegten Hindernisse zerstört«. Die Ordnung der naturwüchsigen Vorgeschichte der Menschheit, möchte man sagen. Geschichte wird in Scelsis Musik zum Palimpsest, dessen atmende Schichten auf Erinnerung, auf Eingedenken hin durchlässig werden; gegen das Vergessen und im Sinne jenes anderen Fortschritts, von dem Walter Benjamin im Unterschied zum katastrophischen sagt, dass er »nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause« ist. Bspl. 19: Scelsi, Uaxuctum [Tr. 6: 0´00´´ - 1´52´´] (1´52´´) Sollte Benjamin aber darin Recht haben, dass der gängige »Begriff des Fortschritts« in der »Idee der Katastrophe« gründet, dann wird Benjamins »Engel der Geschichte« zu einem Sinnbild auch der Neuen Musik und ihrer Atemsprache. Dieser Engel »hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm«. Und doch wendet sich der Engel der Neuen Musik - um im Bild zu bleiben - der Zukunft zu. Ein wenig zumindest. Indem er nämlich am Bewusstsein des Verfemten und Widersetzlichen festhält, dessen Ausdruck umso dringlicher wurde, je mehr sich die technische Vernunft als System etablierte. Kurzgeschlossen zwischen Produzieren und Konsumieren wird Gesellschaft zum Vampir ihrer selbst. Sie saugt Leben aus und übt sich darin, möglichst keine Schatten zu werfen. Was der Produktivitätsverweigerung und Marktresistenz verfällt, wird schnell auf Kurs gebracht oder erledigt. Wollte man deshalb die Neue Musik charakterisieren, dann wohl am ehesten anhand ihrer Merkmale von Irritation und Obsession. Einer Obsession wie die ihrer Atempartien, die vom Hunger nach Leben in einer Ökonomie der Beschneidung zeugen. Wie heißt es doch bei Benjamin über den Sturm des katastrophischen Fortschritts und den Engel der Geschichte? »Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« Diesem Sturm suchen die Atem-Figuren der Neuen Musik zwar nichts von seiner pneumatischen Vehemenz, wohl aber etwas von seiner zerstörerischen Gewalt zu nehmen. Ob daraus ein Sturm, zumindest ein Wind der Erneuerung werden kann? Mit der Hoffnung auf eine Versöhnung von Natur und Geschichte? Bspl. 20: Holliger, Pneuma [Tr. 7: 0´00´´ - 2´20´´] (2´20´´) Musik- und Tonbeispiele Bspl. 1: Mathias Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « (Auvidis Montaigne 782036) Bspl. 2: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « Bspl. 3: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû « Bspl. 4: Spahlinger, Streichquartett »’Àñð` ãû « Bspl. 5: Jannis Xenakis, Nuits (col legno WWE 20030) Bspl. 6: Sama Veda, Hymne an Indra (Bärenreiter BM L 2006) Bspl. 7: Xenakis, Nuits Bspl. 8: Xenakis, Serment (hyperion CDA 66980) Bspl. 9: Xenakis, N’Shima (mode records 53) Bspl. 10: Annette Schmucki, Am Fenster Bspl. 11: Schmucki, Am Fenster Bspl. 12: Gerhard Rühm, atemgedicht (Rowohlt) Bspl. 13: Pierre Schaeffer/Pierre Henry, Symphonie pour un Homme Seul (Musidisc 292572) Bspl. 14: Schaeffer/Henry, Symphonie pour un Homme Seul Bspl. 15: Carola Bauckholt, Treibstoff (Wergo 286 538-2) Bspl. 16: Gerhard Rühm, so lange wie möglich (Rowohlt) Bspl. 17: Serge Gainsbourg, Je t’aime (Universal 832 231-2) Bspl. 18: Heinz Holliger, Streichquartett (Wergo 286 084-2) Bspl. 19: Giacinto Scelsi, Uaxuctum (Accord 200 612) Bspl. 20: Holliger, Pneuma (RCA 74321 73510 2)
- Johannes Bauer, John Cages "4´33"
Johannes Bauer Die Stille und das Weiße John Cages 4´33´´ Not one sound fears the silence that extinguishes it. And no silence exists that is not pregnant with sound. John Cage Woodstock, 29. August 1952, Maverick Concert Hall. Die Tastatur eines Flügels wird geschlossen, ein Instrument mit Stille versiegelt: der Beginn von John Cages 4´33´´ . Das Weiß und Schwarz der Tasten: kaum mehr als eine Möglichkeit von Klängen. Das Klavier selbst eine Blackbox. Und der Pianist, fern allen gängigen Interpretations- und Konzertritualen: Ähnelt er nicht dem Schreiber Bartleby aus Melvilles gleichnamiger Erzählung, dessen ständiges »I would prefer not to« gewohnte Erwartungs- und Handlungsmuster außer Kraft setzt? Die Tastatur eines Flügels wird geschlossen. Und dies zu Beginn einer Interpretation, einer Komposition, falls man bei einer solchen Umkehrung tradierter Werk- und Hörkriterien überhaupt von Komposition, von Interpretation sprechen kann. Gleichwohl wäre es fatal, Cages 4´33´´ der Entscheidungsfalle Musik oder Nicht-Musik auszusetzen und damit jener kanonischen Widerspruchslogik, die noch die Idee vom Paradoxen an die krude Zweiwertigkeit des Ja/Nein bindet. Im Eingemeindungs- und Ausschlusszwang des Entweder/Oder liegt schließlich einer der Gründe, weshalb Cages »silent piece« von zenbuddhistisch inspirierten Deutungen umstellt ist, die den Sinnzwang ins Leere laufen lassen; vergleichbar den Koan-Meditationen, die die urteilsgenaue Erkenntnis dem Schwindelgefühl des Absurden aussetzen: »Hört den Klang einer klatschenden Hand!«. 4´33´´ – ein Stück zwischen Zen und Exerzitium?(1) Auch wenn es Korrespondenzen zwischen der Idee der Stille bei Cage und der expressiven Qualität des Nicht-Ausdrucks in der Lyrik des Haiku, der Abwesenheit der Körperbewegung im No-Drama oder der Leere in der Malerei des »hakushi-san« gibt: Cages Demontage der westlichen Tradition steht nicht außerhalb der Tradition. Seine Dekompositionen und Transformationen bis hin zur Entzauberung des geschlossenen Werks lassen sich ebenso schlüssig von Mallarmé, Nietzsche oder Artaud her verstehen. Etwa was das Bewusstsein von Zeit und Tod gegen den ästhetischen Schein, was die Delinearisierung des Gedächtnisses oder den Wirkungssog des Zufalls anbelangt: Spuren der Moderne, die Cages Musik bis hinein in ihre zenbuddhistischen Intentionen als eine Spiegelschrift eben dieser Moderne lesbar werden lassen. Gerade von der ästhetischen und philosophischen Normen- und Urteilsskepsis des späten 19. Jahrhunderts her wirkt Cages »stilles Stück« wie ein Akt des Bleichens, der das unentwegte Senden sinneffizienter Signale und ihren Empfang durch ein stets sendebereites, sinnerzeugendes Bewusstsein wie ein leichter Schnitt durch die Zeit unterbricht. 4´33´´ – eine Technique du blanc für die sinnbegierige Instanz des Verständlichmachens und Logisierens, die gemeinhin Subjekt heißt. Was bewirkt nun diese Technique du blanc ? Oder, anders gefragt, ist 4´33´´ deswegen bereits ein leeres Stück? Dass es das Hörbewusstsein ins Leere laufen lässt, hängt vorrangig mit der Abwertung des passiven, unwillkürlichen Gedächtnisses zum identitätsgefährdenden Kontrollverlust zusammen, folglich mit der Allianz zwischen Synthesis, Gedächtnis und Identität. Dieser Allianz will Cage unter dem Einfluss des Zen sämtliche Projektions- und Spiegelflächen entziehen, um damit zugleich die Ästhetik des narzisstisch blockierten Ichs zu hinterfragen. Wie wird dem Unbekannten begegnet, ist eine dieser Fragen. Wie wird Stille wahrgenommen, ertragen? Mit Gleichgültigkeit, mit Gelassenheit, mit einer Lust am offenen Hören? Oder mit Aggression, mit jener emotionalen Maske also, die Angst sich am häufigsten zulegt? Angstgrund und Arbeitsethos Die vom Takt befreite Stille war bis zu Cage eine unbekannte musikalische Größe. Ein Umstand, der etwas über das Wesen überkommener Zeitvorstellungen aussagt. Zumal was die christliche Verstrickung von Zeit, Angst und Tod betrifft. Erst mit dem Sündenfall beginnt Geschichte. Zeit und Leben stehen unter dem Urteil des Gerichts. Die vom Tod begrenzte Lebenszeit wird zum Maß der Nutzung nach göttlichen Heilskriterien. Schließlich dann, im Namen protestantischer Ethik, die Kreuzung religiöser und ökonomischer Belange und Interessen. Eine sakral überhöhte Eingewöhnung in praktische Weltbelange, bei der die ästhetische Aufhebung der Zeit allmählich Erlösungscharakter annahm. Vor allem der Musik fiel im Regelkreis bürgerlicher Kultur die Funktion zu, Zeit von der Zeit zu erlösen, um die Askese des Lebens wenigstens für Momente im Elysium der Kunst aufzuheben. Fast scheint es, als ob der Angstgrund, der in der realen Existenz nur allzu präsent blieb, vom Kontinuum der Musik umso obsessiver eingebunden und übertönt wurde. Auf diese Fusion von Angst und Zeit reagiert Cages Gegenentwurf. Stille angstlos auszuhalten, ist ein Stück realisierter Utopie. Im Unterschied zu einer Reaktion wie unter Entzugserscheinungen, sollte das Ostinato unablässigen Geschehens und Tönens auch nur kurzfristig abreißen. Darum wendet Cage die offene Zeit, den Zufall, wie ein Therapeutikum gegen die Anästhesie- und Harmonisierungspraktiken einer zur Substanz verklärten Ich-Regie. Ein an Nietzsches heroisches Ja erinnernder Habitus mit dem Ziel, »keine Angst« zu haben, sondern zu »akzeptieren, was auch kommen mag, ungeachtet der Konsequenzen«. Cage demontiert die Selektionsfilter der subjektdramatischen Zeit, weil sie der Sinnagentur des Verstandes suggerieren, den Zufall als sinnlos abblenden zu können. Für Cage hingegen ist die Unberechenbarkeit des Zufalls weit mehr das Phänomen einer bewusstseinsbrüskierenden Überdeterminierung als ein imperfekter, defizitärer Zustand. Daher erfüllt 4´33´´ nicht mehr die Funktion eines Generators subjektzentrierter Sinnspuren. Als offenes System sensibilisiert es für plurale Zeiträume und für die Tiefenschärfe einer plissierten, polyakustischen Zeit. Mit diesem Räumlichwerden der Zeit öffnet sich Musik einer Überlagerung unterschiedlicher Eigenzeiten und mit ihr dem Zufall als dem komplexen Ausdruck dafür, dass heute »alles gleichzeitig geschieht«.(3) Cage will angstfreie Spuren des Todes in eine Musik einlassen, die in ihrer Unberechenbarkeit offen ist für die Anfälligkeiten und Störungen einer kaum gefilterten Welthaltigkeit.(4) Gegen die Stilisierung der Kunst und die Kunst der Stilisierung kann schließlich in 4´33´´ »alles (...) allem folgen«(5). Nichts soll über Nichts Gewalt haben. Ein Gedanke, der an Meister Eckharts Satz erinnert, für die »Seele in ihrem natürlichen Tag« sei kein Ding »fern oder nah«, vielmehr seien ihr »alle Dinge gleich edel«.(6) Provokant indes dürfte Cages »stilles Stück« nach wie vor durch einen Affront sein, der sich am ehesten im Blick auf die Zero-Partitur von 4´33´´ nachvollziehen lässt. Im Blick auf eine weiße Seite mit nichts als dem Notat »I TACET / II TACET / III TACET«. Auf diese Provokation hat Boulez reagiert, als er in Richtung Cage von »kompletter Faulheit« sprach, was die »Ausarbeitung«, die »Reflexion« und den »Einsatz der eigenen Kräfte« in der Durchorganisation des Werks anbelangt.(7) Der calvinistisch gefärbten Ökonomie der Neuzeit, allen voran der Heiligsprechung der Erwerbsarbeit und ihrer Rechtfertigungsexerzitien für Sinn und Leben, wird 4´33´´ zum Verstoß gegen eine Funktions- und Arbeitsmoral, die mit Beginn der industriellen Revolution sämtliche Lebensbereiche durchdringt und »immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite (bekommt)«.(8) 4´33´´ – ein weiterer Skandal in der Reiz- und Verfemungsgeschichte von Muße und Müßiggang, vergleichbar Lafargues Pamphlet Le droit à la paresse . Hat nicht auch Cage im Geiste Thoreaus immer wieder den Kopf geschüttelt über den häufig genug Zweck und Mittel verkehrenden Arbeitswahn? Über den Profitzwang des Immer-Mehr und Immer-Weiter und seiner für ganze Weltteile einkalkulierten Mangelwirtschaft inklusive Ausbeutung und Verelendung? Der Einwand, der Arbeitsgesellschaft dürfe auch musikalisch nur mit gleichen Mitteln begegnet werden, ist eher das Relikt einer Zwangslogik unter Verkennung ästhetischer Ressourcen. Einer am puritanischen Leistungsprinzip orientierten Gesellschaft freilich müssen kompromisslose Bündnisse mit dem Zufall selbst noch auf künstlerischem Gebiet als Umsturz sämtlicher Wert- und Sinnkategorien gelten. Gegen Cage steht deshalb Boulez' Verteidigung des redlich arbeitenden Komponisten und seines guten Gewissens im Namen von Konstruktion und Perfektion: »L’Artisanat furieux«. Dass wie in 4´33´´ ästhetisches Niveau quasi spielerisch erreicht werden kann, grenzt für den seriösen Künstler an Scharlatanerie. Als müsste sich die Qualität von Kunst und Reflexion immer noch ausschließlich am geleisteten Arbeitsaufwand messen lassen. Eine Ansicht, über die sich wiederum schon Nietzsche lustig gemacht hatte. »Die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Wert der Wahrheit entscheiden! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die ›Wahrheiten‹ eigentlich nichts weiter seien als Turngerätschaften, an denen wir uns wacker müde zu turnen hätten,– eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.«(9) Intensität des Zeros 4´33´´ – eine Abrüstung der Struktur, eine semantische Fraktur. Gegen die Autorität der Form und die Vermarktungsstrategie des Sinns, ja gegen den Sinn als Vermarktungsstrategie setzt Cage auf ein breites Maß an Kontrollverzicht, nachdem bereits der Zusammenbruch der theologischen und metaphysischen Sinnbühne die Umwertung und Verabschiedung zahlreicher Hierarchieprinzipien zur Folge hatte. Eine dieser Umwertungen betrifft die Enthierarchisierung des Signals, seien es Worte, Töne oder Strukturen. Inmitten der digitalisierten Kommunikationsgesellschaft, der alles kommunizierbar, weil kommerzialisierbar scheint, schärfen sich Störung und Bruch zum Einspruch nichtsignifikanter Zustände gegen die Übermacht einer codierten Welt. Risse in der Textur der Zeichen, Leerstellen im Netz des Sinns setzen die Ordnung der Signale punktuell aus oder lassen sie in ein anonymes Pulsieren fallen: Symptome der Abstinenz inmitten einer Norm- und Sinnpräsenz, die spätestens seit Hofmannsthal virulent bleiben. Seit seiner Kritik an der Prostitution und am Vampirismus der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt« haben, indes das »Hörensagen die Welt verschluckt hat«.(10) Und die Musik? Sie wird wie in 4´33´´ zur Zäsur, zum Zero und zum Sensor leicht überhörbarer und überhörter Intensitäten. Vergleichbar Rauschenbergs White paintings und Kleins monochromer Malerei oder der Qualität des Weißen und der Stille bei Mallarmé und Cage. Macht doch der Vergleich eines »leeren Blatts Papier - Mallarmés weißer Seite - mit der Stille« bewusst, dass »der kleinste Fleck, das kleinste Zeichen, das unscheinbarste Loch, der kleinste Fehler oder der kleinste Klecks die Gewissheit (geben), dass es keine Stille gibt«(11). Und wie in Nam June Paiks ›Film ohne Bilder‹ der Staub auf der Filmrolle zum Ereignis wird, so werden aus Rauschenbergs weißer Leinwand »Landebahnen für Staubpartikel und das, was in ihrer Umgebung Schatten wirft«(12): Kunst weniger in der Funktion eines Reflektors als in der eines Detektors. Proust hat die Nullzeit in Flauberts Education sentimentale und deren zeitlicher Sprung- und Rhythmisierungstechnik bewundert, um sie später selbst zur Strukturierung der Diskontinuität des Ich einzusetzen. Zudem verflüchtigt sich die Erzählregie der Recherche in den zufallsbedingten Abschweifungen und Absichtslosigkeiten der »mémoire involontaire« bis an die Grenze ihrer Auktorialität. Und Proust ist es auch, der die Fülle des Schweigens, die »plénitude du silence«, als Substanz der Zeit deutet. So bilden mémoire involontaire, blanc und silence einen Sub- und Gegentext zur Textur des abendländischen Geistes und seinen von der kategorialen Einigungsmacht des Gedächtnisses gebündelten Sinnbahnen. Seit Proust jedenfalls bedeutet Vergessen eher eine Bedingung von Erinnerung als eine Blindstelle des Bewusstseins. Entsprechend kann erst einer vom dichten Konstruktionsideal befreiten Musik das »blanc« zum Ereignis werden – als Lücke, als Zero, als Rauschen. Mit einer Intensität, mit der etwa Peter Pfister Cages 0´00´´ , die 1962 entstandene zweite Version von 4´33´´ , als eine Singularität am Rand des weißen Rauschens realisiert.(13) Eine »disziplinierte Aktion« im Spannungsfeld zwischen Ordnung und Chaos und – in der Mischung aller Klangfarben und Tonhöhen – ein Potenzial des Unbekannten. Der Sog des »blanc« und die Streuungen des Zufalls entbinden Zeit vom Kalkül einer strategischen Technik. Sobald unkoordinierte Progressionsreihen und Zielpunkte ins «blanc» fallen, wird Zeit zu einer ebenso losen wie perforierten Folge und Schichtung akausaler Ereignismannigfaltigkeiten. Umgekehrt vermögen sich erst von der Attraktion des Weißen und von den zufallsbestimmten Rändern des Sinns her Stille und Leere vom Status des Minderen zu emanzipieren. Erst das Ausfransen der einen, wahren und absoluten Zeit newtonscher Fasson erzeugt den Pluralismus der Zeitmodelle und die Offenheit von Formverläufen, lässt Peripheres eindringen, Zufälliges, Empirie, Welt. Paramusik Gängige Zeitvorstellungen moniert Cage als Produkt einer ideellen Hypnotisierung. Gerade weil die Denkmuster von »kontinuierlich – diskontinuierlich, beständig – unbeständig« oder die von der Summierung von Augenblicken es »angeblich ermöglichen«, »Zeit zu denken«.(14) Dabei könnte sich Cages Veto gegen die grammatischen und logischen Gewöhnungen auf Wittgensteins Analyse jener sprachbedingten »Verwirrungen« berufen, »die sich aus dem Ausdruck ›die Zeit fließt‹ ergeben«. Darauf auch, dass Wittgenstein, um solche Blockaden »aus dem Weg zu räumen«, »Kleinholz aus der gewöhnlichen Grammatik« macht. Und wenn der Philosoph den »Grund der Sprache« freilegt, um die »Luftgebäude« zu »zerstören«, die die »grammatischen Täuschungen« und die »Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel der Sprache« produzieren, dann zerstört der Künstler in 4´33´´ den Glauben, Musik sei einzig das, was bisher als Musik gegolten habe(15). Wie für Wittgenstein eine »ganze Wolke von Philosophie zu einem Tröpfchen Sprachlehre« kondensiert, so für Cage eine ganze Wolke von Musik zu einem Tröpfchen Kompositionslehre, genauer: zu einem methodischen Arsenal, um Zeit strategisch aufzuladen. Hat »man sich aber vom Maß der Zeit befreit, kann man nicht länger die Struktur vollkommen ernst nehmen«.(16) Cage bringt die Form als Zeitnetz der Organisation zum Verschwinden, um den Mythos der Herrschaft und der Beherrschung von Zeit auszusetzen. Wenn jedoch »ein Ton durch seine Höhe, seine Lautstärke, seine Farbe und seine Dauer charakterisiert wird«, und wenn »Stille, welche das Gegenteil und deshalb der notwendige Partner des Tons ist, nur durch ihre Dauer charakterisiert wird«, dann ist »die Dauer, das heißt die Zeitlänge, die fundamentalste der vier Charakteristiken des musikalischen Materials«. »Stille kann nicht als Tonhöhe oder Harmonik gehört werden; sie wird als Zeitlänge gehört«(17). Cages Abwertung der Struktur und sein Credo der Unwiederholbarkeit korrespondieren miteinander, vermittelt über die Kritik des Aufschubs zwischen dem Notierten und seiner Bewältigung im Vollzug des Komponierens, Interpretierens und Rezipierens. Diese Verzögerungs-, weil Doppelungsspur des Symbols will Cage durch immer weniger Anweisungen mit immer größerer Wirkung zum Verschwinden bringen. In Form einer Musik, bei der wie in 4´33´´ alles zu jeder Zeit eintreten kann. Unterschiedlich zu einer solchen Fülle der Simultaneität begreift Cage deshalb auch die Logik der Linearität als eine Variante des Aufschubs, nämlich als eine der selektiven Verweigerung, gebunden an den Imperativ des Nacheinander. Diese Verwerfung des Aufschubs ist es, die Cage veranlasst, Töne nicht mehr zur Repräsentation eines ihnen vorausliegenden Sinns zu funktionalisieren. »Kein Ding braucht im Leben ein Symbol, da es deutlich das ist, was es ist«(18). 4´33´´ kennt keine am Leitbild des personalen Charakters geschulte, wiederholbare Werkidentität mehr. Gegen die tonalitätsverwöhnte Garantie hoher Wiedererkennungswerte suspendiert Cage den Propheten im Hörer zugunsten eines Akteurs der Wahrnehmung. Und zwar mit einer Parataxe gleichberechtigter Elemente, deren wechselseitiges Sich-Durchdringen schwer vereinbar ist mit der Wertung nach Haupt- und Nebensachen und all den ziel- und systemfixierten Strecken der Entwicklung, der Über- und Unterordnung, wie sie für die herrschende Tradition der Hypotaxe und ihr Sinnmonopol charakteristisch sind. Parataxe dagegen heißt Offenheit für jenes Zufällige, Beiläufige, Mittelpunktslose, das schon Mallarmés Coup de dés ins Bild zu setzen begann. Sprache bricht strahlenförmig auf; der Satzspiegel, dessen »Leere« und »Lücken« die typographische Konstella tion vom Sujet des Siebengestirns her rhythmisieren, lässt die Worte sternbildhaft im unendlichen Weiß der Seite aufleuchten, gruppiert zwar, und doch mit der Vielfalt freier Bezüge. 4´33´´ ist kein Beispiel vollendeter Exhaustion, sofern Exhaustion nach abendländischen Vorstellungen als Mangel und Leere auf den gottanalogen Begriff der Fülle bezogen bleibt und damit auf eine Metaphysik hierarchischen Zuschnitts. Ebenso wenig ist 4´33´´ das Beispiel einer Semantik der Entsemantisierung. Auch dies wäre wieder nur eine Rückbindung an die Idee des Sinns, der noch der Nicht-Sinn als sinnvoll zufällt. Cage ist kein Meister der Innerlichkeit, der die Ökonomie der Synthesis zugunsten einfühlungsästhetischer Belange enteignet. Sein Aufheben der Grenzen zwischen Kunst und Empirie verweigert in 4´33´´ die Trennung von Methode und Material mit der Frage, ob Nichtkomponieren als ein Verfahren der Entstrukturierung dem Akt des Komponierens in einer Welt des Konkretismus nicht zumindest ebenbürtig ist. Darin ist 4´33´´ eine Paramusik, gegenläufig zum okzidentalen Hauptstrom der Musik und ihrem Werkbegriff; ein akustischer Wunderblock, dessen Stille-Grund potenziell alle Töne und Geräusche aufnimmt; eine Musik entlang der Musik, die »zu denken geben« will, »ohne dass das Geringste voraussehbar ist«. Die Absage ans hermetisch abgedichtete Werk praktiziert 4´33´´ in doppelter Hinsicht: als Abkehr vom ästhetischen Ideal des kompositorischen Handwerks und als Befreiung der verfemten Bereiche von Geräusch und Stille, die dem Gebot des reinen Tons und dem der Kontinuität lange genug als eine Art Partisanentum des Chaos und der Redundanz galten. Freilich entgeht sogar Cages »silent piece« nicht dem Dilemma, dass Komponieren selbst noch als Dekomponieren Zeit in Beschlag nimmt. Will 4´33´´ auch die Verwechslung von Zeit und Ökonomie aufheben: die Arbeit mit dem Zufall bleibt Formung und Verfügung, sofern sie Töne innerhalb eines Zeitrahmens zu akustischer Präsenz oder Nichtpräsenz zwingt. Aber wie heißt es doch bei Cage gegen jedes Establishment von Sinn und Dogma, gegen jede Form von »cage«? »In welchem Käfig man sich auch befindet, man sollte ihn verlassen.«(19) Anmerkungen 1 Vgl. dazu die detaillierte Studie von Thomas M. Maier, Ausdruck der Zeit. Ein Weg zu John Cages stillem Stück 4´33´´, Saarbrücken 2001. 2 Cage, Silence, übs. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 39 u. 60. 3 Richard Kostelanetz, John Cage, Köln 1973, S. 231. 4 Vgl. z. B. Cage, Silence, S. 47 f. 5 John Cage, Anarchic harmony, hg. v. Stefan Schädler und Walter Zimmermann, Mainz 1992, S. 41. 6 Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint, Zürich 1979, S. 205 f. 7 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 96. 8 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (KSA, Bd. 3), München 1980, S. 557. 9 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Bd. 2), S. 540 f. 10 Hugo von Hofmannsthal, Eine Monographie (Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, hg. v. Bernd Schoeller), Frankfurt am Main 1979, S. 479. 11 John Cage, Für die Vögel. Gespräche mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 40 ff. 12 John Cage im Gespräch, hg. v. Richard Kostelanetz, Köln 1989, S. 139. 13 Cage, 0´00´´: hat ART CD 2-6070. 14 Cage, Für die Vögel, S. 96. 15 Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen 1930-1935, Frankfurt am Main 1984, S. 185 f. 16 Cage, Für die Vögel, S. 38. 17 Richard Kostelanetz, John Cage, S. 111 f. 18 Cage, Silence, S. 50. 19 John Cage im Gespräch, S. 217.
- Johannes Bauer, Wo bleibt das Gefühl? Fragen an die Musik heute
Wo bleibt das Gefühl? Fragen an die Musik der Gegenwart Musik und Gefühl, wie wäre das zu trennen? Gilt Musik nicht ihrer Natur nach als eine Kunst der Affekte? Und doch ist diese Wesensbestimmung samt ihrer Orientierung an der dur-moll-tonalen Empfindungswelt durch und durch historisch. Umso erstaunlicher, dass Neue Musik trotz einer solchen Relativierung vom breiten Publikum weiterhin rigoros abgelehnt wird: nach Art einer geschichtlich beispiellosen Singularität, deren unmenschliche Konstruktionen auf bislang unerhörte Weise die Vertreibung aus dem Paradies des gefühlvollen Wohllauts besiegeln. Abgesehen davon, dass sich zeitgenössisches Komponieren längst schon mit dem Formenkreis des Melos auseinandersetzt: Weshalb sollte die Musik der Gegenwart den Funktionalismus des modernen Lebens konsumfreundlich abfedern, anstatt darauf zu reagieren, was der Kult des Gefühls und seine Vermarktung mittlerweile an ästhetischer Erkenntnis blockieren? Wenn aber Neue Musik das Ich-Monopol der Emotionen auflöst, worauf zielt dann das Neue, Andere ihrer Kompositionen? Wo bleibt das Gefühl? Fragen an die Musik der Gegenwart Bayerischer Rundfunk, 2008 Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra, 2. Satz [Tr. 2, 0´00-2´47] [2´47] Ein Konzert; ein Violinkonzert; komponiert 1987. Neue Musik also! Oder doch nicht? Diese gefühlvollen Takte aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra: Berühren sie, irritieren sie, verärgern sie? Womöglich sollte man mit Kompositionen solcher Fasson kurzen Prozess machen und sie umstandslos zum Kitsch erklären. Zu einer kommerziellen Wellnessmusik, regressiv in jeder Note. Gemessen am Wahrheitsideal der radikalen Neuen Musik wäre man damit immerhin mit sich im Reinen. Oder macht es sich ein solches Urteil zu leicht? Wäre nicht auch eine Einschätzung möglich, die das Komponierte ernster nimmt? Eine Einschätzung, die in Glass’ Violinkonzert eine Musik des „Als-ob“ mithört? Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleichsam eine in Anführungszeichen? Eine Musik somit, die selbstverliebt in sich kreist und mit der kulinarischen Aufbereitung alltäglicher Sequenzen und Kadenzen etwas vom einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart zelebriert? Raffiniert zehrt die Komposition vom Kult des Gefühls, um diesen Kult und seine melodischen Relikte sofort wieder durch tonale Versatzstücke zu unterlaufen. Eine cool gestylte Softmusic, fast ohne Eigenschaften. Beschreibt diese tönende Hohlraumversiegelung einer diffusen und leeren Innerlichkeit nicht einen Grundzustand heutigen Lebens? Hat demnach eine gewisse Dosis an Gefühl auch noch in der sogenannten Ernsten Musik unserer Zeit eine Zukunft? Oder ist Philip Glass’ kühl melodisches Violinkonzert eher ein Dokument und weniger ein Kunstwerk, sofern das Kunstwerk dem fortgeschrittensten Stand der ästhetischen Produktivkräfte verpflichtet ist und damit dem Vorrang des „Formgesetzes“ vor der Tendenz zur Schilderung? Als Kunstwerk hätte sich gegenwärtiges Komponieren mithin anders anzuhören. Etwa so: Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00-2´13] [2´13] So kennt man sie, die Neue Musik, gefühlsabstinent bis zum Äußersten. Während das Violinkonzert von Philip Glass die melodisch fundierte Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt Helmut Lachenmanns Ausklang für „Klavier mit Orchester“ eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Die historische Dimension dieses Sprachgrunds auszuloten, sein Werden und Vergehen, und zwar über die Andeutung und den Entzug musikalischer Sinneffekte, darum geht es in Lachenmanns Komposition. Lachenmann interessiert nicht das melodiös gefühlvolle Wechselspiel des Konzertanten, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Zielt Glass aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Ermöglicht somit erst die Demontage jeder Gefühlsdramaturgie eine neue, ereignishafte Präsenz der Klänge? Hat folglich zeitgenössische Musik, die ihren Namen verdient, etwas mit dem Unberechenbaren zu tun, fern von allen sentimentalen Ichlegenden? Seit dem 19. Jahrhundert bahnt das Gesanglich-Melodische am zuverlässigsten den Königsweg in die Innerlichkeit des Gefühls. Schon 1837 präzisiert Heinrich Heine am Beispiel Rossinis jene Drift ins Private, in der sich das „Gefühl eines Einzelnen“ und das „Vorwalten der Melodie“ im „Ausdruck eines isolierten Empfindens“ miteinander verbinden. Kein Wunder, dass Rossini der „Zeit der Restauration“ zum musikalischen Kronzeugen werden konnte, einer Zeit, in der die „Gefühle der Ichheit wieder in ihre legitimen Rechte eintreten“. Was aber heißt überhaupt Gefühl? Und was kritisiert und vermisst das breite Publikum an Neuer Musik und deren angeblich so seelenlosen Konstruktionsexzessen? Vorrangig bedeutet Gefühl in dieser Kritik den Wunsch sich zu fühlen. Deshalb soll Musik die weite Bühne der Projektionen aufschlagen, eine Bühne all jener Fantasien und Sehnsüchte, die eine hyperaktive Leistungsgesellschaft reguliert und stranguliert. Bspl. 3: Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Intermezzo (Atto 3) [Tr. 10, 0´00 - 5´20] [5´20] Ist es nicht grandios, dieses Panorama der Passionen, dieses Kraftwerk der Emotionen? Was wäre daran problematisch? Nichts, außer dass Puccinis Drama von Liebe und Tod die Ekstase des Augenblicks mit der Aura der Ewigkeit auflädt. Als Protest gegen die Askese der Realität blendet der Traum vom großen Passionato den Aufbruch zu neuen Ufern aus. Ergriffenheit ist nur schwer zum Abschied zu bewegen. Und schließlich wäre da noch das Vorurteil, die Abkehr vom Gefühlsprivileg des Ich ziehe den Verrat am Menschen, gar eine menschenverachtende Kunst nach sich. Nochmals: Nichts gegen den Zaubersog der Affekte, aber alles gegen seine Ausschließlichkeit. Verschanzt sich doch hinter dieser Ausschließlichkeit der zeitlos überspannte Anspruch des Ich-Regiments mit seinem Gebot: Musik muss ein Spiegel sein, Musik muss mein Spiegel sein, in dem ich mich wiedererkennen, in dem ich mich bespiegeln kann. Die Welt der Töne: ein einziger Resonanzkörper meiner selbst. Es ist dieses alte Spiel von Echo und Narziss, das alles Fremde abwehrt. Tabu ist, was verstört. In der unstillbaren Sehnsucht, immer nur sich selbst zu begegnen, verkümmert freilich die ästhetische Urteilskraft. Angstbesetzte Abwehr wird zur kläglichsten aller Musen, ja sie wird amusisch, wo es zuzulassen gilt, was nicht sofort von den eintrainierten Filterverfahren und Sinngebungsagenturen auf Bekanntes hin entschärft werden kann. Deshalb gerät Neue Musik mit ihrer Abkehr von der bestätigenden Spiegelfunktion so rasch zur Kränkung des narzisstischen Ich. Gewiss, unter dem ökonomischen Druck von Konkurrenz und Rendite und dem ständigen Zwang zur Selbstoptimierung werden Praktiken der Verwöhnung lebens-, ja überlebensnotwendig. Dazuzugehören, sich nicht einsam fühlen, sich belohnen - was wäre verständlicher? Wer oder was sollte in einer Welt der gnadenlosen Immanenz und der Frist des Nur-einmal-Lebens noch verlangen können, unnötig Schmerz zu ertragen? Oder Sinne und Verstand auf Verluste und Versagungen hin zu schärfen, die kaum noch als Verlust oder Versagung erfahren werden? Um sich den Dissonanz- und Geräuschhöllen einer Musik auszuliefern, die einem Eissturm gleich in die Wärme privater Wunschlandschaften einbricht? Keine moralisierenden Klagen und Anklagen also, mag auch die globalisierte Wohlfühlkultur ihren Tribut fordern, um die Erschöpfungs- und Depressionsfallen einer Welt im pausenlosen Stress aufzuhellen. Den Tribut etwa, dass musikalische Erfahrung unter der Schockstarre des lädierten und nostalgisch veranlagten Ich zu ertauben beginnt. Entgegen aller Werbung werden Abenteuer außer Kraft gesetzt, zumindest ästhetisch, falls Abenteuer etwas mit Wagnis und Ereignis zu tun haben, mit aventure und adventura und dem Advent des Unverfügbaren. Doch um diesen Verlust zu spüren, müsste erst einmal vermisst werden, was nicht vermisst wird, solange das Credo des Publikums lautet: Nur keine Erschütterung, die das tonal-codierte Hör- und Gefühlsrecycling sprengen könnte! Wie im Märchen Vom Hasen und vom Igel ist das narzisstische Igel-Ich immer schon zur Stelle, um die Klangwelt blitzschnell nach dem Maß von Lust und Unlust zu sondern. Musik als Selbstbestätigungsdroge - warum nicht? Selbst dann noch, wenn dadurch jedes Geheimnis, jede Entdeckung ausgetrieben wird. Und was gäbe es nicht alles zu entdecken! Allem voran das Phänomen, dass Neue Musik längst nicht mehr unerbittlich in Waffen steht, die Rede von ihrer durchweg aggressiven Panzerung demnach endgültig zum Klischee geworden ist. Bspl. 4: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 5´35 - 7´51] [2´16] Was hätte dieser 1997 komponierte interkulturelle Dialog der Australierin Liza Lim noch mit inhumanen Klang-Attacken zu tun? Trotzdem geht die Komposition The Heart's Ear, in der sich die Musik aus einem orientalischen Melodie-Fragment heraus auffächert, nicht in einer der üblichen Crossover-Mixturen mit ihren gefällig-gefühligen Exotismen auf. Im Gegenteil: die Materialbasis des Werks, ein arabisch-türkisch gefärbtes Sufi-Melisma, wird bei Lim gleichsam zur Hefe eines vielfältig sich verzweigenden Organismus, durch den der melodische Triebgrund nur schattenhaft hindurchtönt. Lims Musik verästelt sich unentwegt in einer Verwandlung der Basismelodie, wuchernd bis hinein in die feinsten Faserungen des vierteltönigen Mikrogeflechts: Ein Gewebe, mittelpunktslos mit wildwüchsigem Eigenleben, das trotz seiner melodischen Grundtextur die Orientierung entzieht. Solches Komponieren verlangt ein Hören, das sich auf die Dezentrierung der Komposition einlässt; ein Hören, das sich öffnet, frei vom Zwang der Ich-Kontrolle und der Zentralregie des Gedächtnisses. Ist diese Musik nun eine ohne Gefühl? Oder anders gefragt, was wäre in dieser Musik Gefühl und was nicht? Bspl. 5: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 8´51 - 10´57] [2´06] „Musik ist Gefühl!“. Gilt dieser konsumfreundliche Glaubenssatz nicht zu Recht? Ist Musik nicht ihrer Natur nach die Kunst der Leidenschaften? Und doch trägt diese Wesensbestimmung nur - und auch dies lediglich vergröbernd -, solange wir uns auf die romantische Tradition der dur-moll-tonalen Empfindungswelt fixieren. Erst als der Druck der technisch-rationalen Weltbemeisterung zunahm, gewann das Reservat der Gefühle an Gewicht, getrennt von dem, was einst von Verstand und Vernunft nicht zu trennen war. Aufgrund dieser durch und durch geschichtlichen Gleichsetzung von Klang und Gefühl handelt es sich im Fall der Neuen Musik also keineswegs um jene Singularität, als die sie weithin abgewehrt wird: Als wäre Neue Musik der Sündenfall der Musikgeschichte, der das Ich aus dem Paradies des Wohlklangs und der Sinnlichkeit vertreibt. Nach einem halben Jahrtausend europäischer Subjektpräsenz mit ihren philosophischen, naturwissenschaftlichen, industriellen und wirtschaftlichen Emanzipations- und Expansionsschüben hat sich die Geschichtlichkeit des Subjekts zum Glauben an seine Übergeschichtlichkeit verhärtet, mag es mit dieser Absolutheit auch kaum noch zum Besten stehen. Allzu hohl klingt allein schon die Rede von der Einzigartigkeit des Individuums innerhalb funktional komplexer und extrem arbeitsteiliger Gesellschaftssysteme. Seitdem Leben die Bewältigung widersprüchlichster Denk- und Handlungsweisen verlangt und zwischen Abhängigkeit und Beliebigkeit zu zerrinnen droht, fällt es schwer, das Patchwork der Rollenmuster unter dem Begriff der Autonomie zu verbuchen. Zudem ist die Geschichtlichkeit des subjektivierten Ich am Wandel der Musikepochen und ihrer Stilvarianten ablesbar. Melodie und Melodisches sind ebenso wenig fixe Gegebenheiten wie der Fundus an Emotionen und Affekten. Auch wenn wir unter dem Gefühlsbogen einer Melodie eine eingängige, durchhörbare, auf Spannung und Entspannung angelegte Relation von Tönen verstehen, deren Steigen und Fallen sich ich-rhetorisch auflädt: Die Melismen des Hochmittelalters, die nicht Einzeltöne, sondern Formeln kombinieren, bezeugen ein anderes Melodiekonzept, falls hier überhaupt von Melodie zu sprechen wäre. Nicht anders die „Prosamelodik“ der Renaissance-Polyphonie mit ihrer Vermeidung von Ton- oder Tongruppen-Wiederholungen. So hat denn auch Johannes Ockeghems Requiem aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit den Erlebnisfolien heutiger Ich-Qualitäten nicht das Geringste zu tun. Und doch wäre es aberwitzig, diesem Werk aufgrund solcher Gefühlsabstinenz den Rang eines Kunstwerks abzusprechen. Bspl. 6: Johannes Ockeghem, Requiem, Tractus [Tr. 4, 6´07 - 8´13] [2´06] Umbauprozesse gehören auf der Großbaustelle der Musik zum Alltag. Solche Umbauprozesse aber schulen das Ohr, historisch zu hören, historisch zu denken. Lange Zeit waren Melodie und Melodisches die grandiosen Gefühlsverstärker und Ich-Multiplikatoren. Aber eben nur für lange, nicht zu jeder und keineswegs für alle Zeit. Selbst wenn sich unsere Kultur der Musikdrogen kaum noch einen Klang ohne nachhaltige Gefühlsresonanz vorstellen kann: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde Musik erneut resistent gegen markante Melodieprofile und ihren Effekt der Einfühlung. Es war insbesondere die Ausfaltung der zwölftönigen Skala in gleichrangige Akkordwertigkeiten, die der Spannung zwischen Konsonanz und Dissonanz und damit der Sprache des Gefühls den Boden entzog. Dass innermusikalische und außermusikalische Entwicklungen freilich in Wechselwirkung stehen, liegt auf der Hand. So absurd es daher wäre, von reinen Gefühlen auszugehen - Gefühle sind stets historisch gefärbt und gebrochen -, so absurd wäre es, Emotionen und Affekte seit den Zeiten der industriellen Revolution nur noch als kommerzialisiert und marktkonform zu begreifen. Schmerz, Wut, Verzweiflung sind bislang immer noch nicht wegsediert, mag die pharmakologische Steuerung der Stimmungen und Befindlichkeiten auch zunehmen. Dennoch ist nicht zu unterschätzen, wie sehr die Pflicht zu Aktivität und Effizienz eine rasche Beseitigung emotionaler Dysfunktionalität verlangt. Und dass in der Ära der Bilder und Internetwelten und in einem Klima der Anonymisierung die sogenannten weichen Gefühle bis hinein in den Bereich von Liebe und Sexualität konsumstrategisch und klischeeorientiert besetzt werden - nicht zuletzt auch musikalisch - ist eine Binsenweisheit. Genau diese affektive Gängelung aber ist es, auf die ein Teil der Neuen Musik kritisch antwortet. Wird auf dem Bazar der Massenmedien noch das vermeintlich Intime öffentlich inszeniert und zum Fremden, werden somit Empfindungen nicht selten zu manipulierbaren Versatzstücken, dann finden solche Zurichtungen ihren adäquaten musikalischen Ausdruck in Gestaltmodellen der Stereotypie. Entsprechend reagiert der Automatismus der Wiederholung in Michael Reudenbachs (Bruch)Stück(en) auf die Wiedererkennbarkeit des Melodischen und die Verhärtung dieser Wiedererkennbarkeit zur Gefühlsroutine. Reudenbachs (Bruch)Stück(e) entlarven eine Ökonomie der Emotionen, in der sich das Ich an die Stimulationsmaschine Musik anschließt, um mit den Zumutungen des Daseins auch jede Bedrohung der Selbstsicherheit im Bekannten abzudämpfen. Bspl. 7: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 4´26] [1´29] Keineswegs geht es Reudenbach um eine Herabsetzung des Gefühls, wohl aber darum, was aus den Gefühlen unter der Dominanz der Märkte und Medien geworden ist. Die eingefrorenen Gesten in Reudenbachs (Bruch)Stück(en) werden zu einem Reflex des mechanisierten Lebens, der existenziell gemeint und zugleich von slapstickartiger Wirkung ist. Die vom subjektiven Zeitsinn getragene Repräsentanz des Melodischen und Affektiven läuft leer und schärft sich in den Rupturen dieses Leerlaufs schockhaft zu einer Entstandardisierung des Gewohnten. Bspl. 8: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 6´02] [3´05] Zeitgenössisches Komponieren verabschiedet sich von jenen Spiegelwänden, die Ich und Selbst seit gut dreihundert Jahren ihrer eigenen Idealisierung wegen aufgezogen hatten. Während sich gängige Rezeptionsgewohnheiten an der tonalen Immunisierung mit hohen Wiedererkennungswerten ausrichten, beharrt Neue Musik auf der Entwöhnung vom Fetisch des Erlebnisses und des leicht Konsumierbaren. Musik, die mehr sein will als eine Möblierung von Stimmungsnischen, reagiert auf das Monopol, mit dem die Rituale des Gefühls und ihre Vermarktung mittlerweile Sinne und Erfahrung blockieren. Anders als die emotionalen Massagen, bei denen sich die allgegenwärtige Pop-Musik und eine zurechtgehörte Klassik ergänzen, hält Neue Musik am Experiment von Grenzgängen fest - und dies nicht selten auf eine verführerische Weise. Bspl. 9: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 4´50] [1´37] Es sind namentlich die späten Kompositionen Morton Feldmans, die beinahe rätselhaft hörbar machen, wie Neue Musik das Melos einlassen kann, ohne dem Affektsog des Melodischen zu erliegen. Das Spiegel-Ich scheint bei Feldman nur noch wie eine Fata Morgana am fernen Horizont auf. Zwar schickt auch Feldmans Musik Wellen der Irritation über das Gelände der wohltemperierten und normierten Gestimmtheiten, nur eben keine der Eruption, sondern unmerkliche, in ihrer Wirkung aber nicht weniger intensiv. Man könnte dabei an Brechts Laotse-Gedicht denken: „Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.” So wird Feldmans Pianissimo zum Einspruch gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt und ihren Sensationsamok. Mehr noch aber ist seine Musik eine der Verführung, sofern Zeit-Haben und Sich-Zeit-Lassen, sofern Geduld und Gelassenheit oder das Senken der Ich-Schranken ohne ständige Rückversicherung Eigenschaften des Eros sind. Mit ihrem subtilen, nicht mehr durchhörbaren Veränderungs- und Verwirrspiel von Mikrovarianten und Motivmodulationen, ihren Scheinwiederholungen und Unschärfen erzeugt Feldmans irisierende Musik eine Spur ins Offene, eine Spur, die die linear-kausale Ordnung und mit ihr die erkennungsdienstliche Ortung des Gedächtnisses zum Vibrieren bringt und zwischen Erwartung und Erinnerung in unablässiger Schwebe hält. Bspl. 10: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 4´51 -7´08] [2´07] Obwohl von einer geradezu mediterranen Leichtigkeit verweigern sich Feldmans späte Kompositionen dem Pathos so mancher Alibi-Moderne. Feldman entdramatisiert die melodische Überwältigung der Musik, indem sich der „große Maßstab“ seines zeitgedehnten Spätwerks vom Echoraum der Innerlichkeit distanziert. Wäre deshalb von einer Musik ohne menschliche Proportionen zu sprechen? Anstatt das Komponierte ständig auf das Einheitsverlangen des Bewusstseins hin zu hören, ja zu verhören, nähert Feldman die Wahrnehmung einem ungedeckten Geschehenlassen an. Mehr noch: Indem er das traditionell auf wenige Takte konzentrierte Gefühlssiegel der Melodie zu einer Art ziellosem Melos weitet, mischt sich Feldman in das Selbstgespräch der Neuen Musik ein; in das Gespräch darüber, wie denn in Zeiten der Entsubjektivierung noch zu komponieren sei, ohne in den Ton der Ichlastigkeit mit einzustimmen und ohne sich zwischen der Zerstörung oder der Verklärung des Affektrepertoires dieser Ichlastigkeit entscheiden zu müssen. Feldmans Spätwerk entgrenzt sich zu einer transsubjektiven Musik „between categories“, wie der Komponist selbst einmal einen seiner Essays betitelt hat: zu einer Musik zwischen den Kategorien. Weder unerbittlich noch anbiedernd, weder ich-denunzierend noch ich-hörig, weder gefühlsresistent noch gefühlsselig, weder katastrophisch noch nostalgisch, ist dieser Musik mit den Rastern der Zweiwertigkeit nicht mehr beizukommen. Auch nicht mit dem Raster von Zusammenhang und Nicht-Zusammenhang. Bspl. 11: Morton Feldman, Triadic Memories [CD 1, Tr. 1, 11´44 - 14´25] [2´41] Dass wir aus einer immer rastloseren Moderne mit ihren An- und Überforderungen nicht einfach aussteigen können, ist kein Argument gegen ästhetische Sensibilisierung. Das heißt gegen eine Sensibilisierung, die die Aufrüstung der Geschwindigkeit durch eine Entrüstung der Sinne entschleunigt; eine Sensibilisierung aber auch, die spürt, was die Bändigungsarmatur des subjektivierten Ich inzwischen an Zumutungen produziert. Das Herr-seiner-selbst-Sein und die Maximierung des Willens waren Schubkräfte der ökonomisch-technischen Expansion abendländischen Zuschnitts, bis sich das Projekt vom Subjekt in den von ihm in Gang gesetzten Prozessen aufzureiben begann. Nicht nur musikalisch wurde der heroische Charakter substanzlos, weil sein Entwurf und seine Praxis zu sehr belastet waren. Was musste die Herrschaft der Selbstbeherrschung in ihrem Namen nicht alles ausschließen, sobald das Rationale und das Rationelle zum Wesen des Subjekts stilisiert worden waren und die künstlich abgespaltenen Gefühle dem Verinnerlichungsressort zumal der Kunst zufielen - oft genug mit den Zügen einer Ersatzreligion. Als Arthur Rimbaud vor gut 130 Jahren vom Wagnis des Dichters sprach, „durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen“, band er dieses Wagnis an die Entzauberung vom Bann der Identität. „JE est un autre“ - „ICH ist ein Anderer“. Rimbaud wusste nur zu gut, dass erst mit der Abrüstung der egozentrischen Panzerung und ihrer affektiven Spiegelwände fühlbar wird, was anders wäre als das Kontrollsubjekt in der Unerschütterlichkeit seiner Selbstbehauptung. Lassen sich aber von dieser Überschreitung her, an der die Neue Musik unbeirrbar festhält, nicht auch die Träume vom großen Passionato der Gefühle mit anderen Ohren wahrnehmen? Keineswegs weniger intensiv, aber bei weitem nicht so nostalgisch, so absolut? Und liegt nicht gerade in dieser milden Entzauberung durch die Geschichte eine neue Freiheit: die nämlich, feiner, offener, hellhöriger hören zu können? Bspl. 12: Morton Feldman, Flute and Orchestra [Tr. 1, 22´06 - 23´33] [1´27] Bspl. 12 ab 23´30 Kreuzblende mit Bspl. 13! Bspl. 13: Giacomo Puccini, Edgar, Preludio (Atto 3) [Tr. 6, 2´42 - 3´45] [1´03] Musikbeispiele Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra 2. Satz [Tr. 2, 0´00 - 2´47] [2´47] Gidon Kremer, Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi (Deutsche Grammophon 437 091-2) Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00 - 2´13] [2´13] Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini (col legno 31862) Bspl. 3: Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Intermezzo (Atto 3) [Tr. 10, 0´00 - 5´20] [5´20] Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Riccardo Chailly (DECCA 444 154-2) Bspl. 4: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 5´35 - 7´51] [2´16] Ensemble für Neue Musik Zürich (hat[now]ART 148) Bspl. 5: Liza Lim, The Heart's Ear [Tr. 4, 8´51 - 10´57] [2´06] Ensemble für Neue Musik Zürich (hat[now]ART 148) Bspl. 6: Johannes Ockeghem, Requiem, Tractus [Tr. 4, 6´07 - 8´13] [2´06] The Hilliard Ensemble (Veritas Edition 7243 5 61219 28) Bspl. 7: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 4´26] [1´29] ensemble recherche (RCA RED SEAL 74321 73595 2) Bspl. 8: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) [Tr. 9, 2´57 - 6´02] [3´05] ensemble recherche (RCA RED SEAL 74321 73595 2) Bspl. 9: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 4´50] [1´37] Ives Ensemble (hat[now]ART 4-144) Bspl. 10: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 4´51 - 7´08] [2´07] Ives Ensemble (hat[now]ART 4-144) Bspl. 11: Morton Feldman, Triadic Memories [CD 1, Tr. 1, 11´44 - 14´25] [2´41] Markus Hinterhäuser (col legno WWE 31873) Bspl. 12: Morton Feldman, Flute and Orchestra [Tr. 1, 22´06 - 23´33] [1´27] Roswitha Staege, Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken, Hans Zender (cpo 999 483-2) Bspl. 12 ab 23´30 Kreuzblende mit Bspl. 13! Bspl. 13: Giacomo Puccini, Edgar, Preludio (Atto 3) [Tr. 6, 2´42 - 3´45] [1´03] Radio-Symphonie-Orchester Berlin, Riccardo Chailly (DECCA 444 154-2)
- Johannes Bauer: Peter Gülke, Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld
Peter Gülke »Triumph der neuen Tonkunst« Mozarts späte Sinfonien und ihr Umfeld (Bärenreiter/Metzler 1998) „Wenn irgend etwas dem Verfasser beim Schreiben immer neu bestätigt wurde, dann dessen asymptotischer Charakter, hier angeschlossen der Zwang, zunächst erfolgversprechende Erklärungsmodelle später zurückzunehmen auf die Funktion heuristischer Hilfskonstruktionen.“ Gülkes methodische Rechenschaft im Vorwort seines Buchs ist kennzeichnend für einen Autor, dem sich die Analyse der drei letzten Mozart-Symphonien weder auf philologische Selbstgenügsamkeit beschränkt noch in der Deutungsschwärmerei der Abstraktion verliert. Gülke nähert sich seinem Gegenstand stattdessen in einer fein abgestimmten Bewegung zwischen Material und Gedanke. Weder macht er sich das Argument zu Eigen, Musik vom Rang Mozarts erübrige „alles spekulative Drumherum“, noch nimmt er das Körperhafte in Mozarts „musique maternelle“ zu leicht, um es einer philosophischen oder musikalischen Idee zu opfern. Selbst das Aufspüren möglicher Motiv-Kassiber in Mozarts Werk muss sich bei Gülke nicht ständig vor dem Gerichtshof übergreifender Kompositionsgesetze rechtfertigen. Darin ist seine Untersuchung das Gegenteil von Johann Nepomuk Davids Versuch, die Jupiter-Symphonie in das Schema eines zehntönigen Cantus firmus zu pressen. Gülke weiß, wie schnell subsumierende Raster bei Mozart in die Irre führen; ja dass erst jenseits solcher Raster Mozarts Aktualität zum Vorschein kommt: sein antisystematischer Zug. Ihn arbeitet Gülke am Offenen, Ungedeckten, Irregulären der späten symphonischen Werke heraus. Nachdrücklich an den Ausbrüchen der langsamen Sätze der Es-Dur- und g-Moll-Symphonie oder am dritten Thema des ersten Satzes der C-Dur-Symphonie. Ein Thema, das den hehren Tonfall in die Niederungen des Buffonesken gleiten lässt, ohne dass das Buffoneske für Mozart auch nur annähernd etwas mit Niederung oder Ranggefälle zu tun hätte. Überhaupt liegt ein Schwerpunkt des Buchs darin, bewusst zu machen, was nach Mozart bis in die jüngste Moderne hinein verloren gegangen war: die Sensibilität für die Gewalt der Vermittlung und des Systems. Indem Gülke das durch keine Oberbegriffe zu Glättende in Mozarts Musik umkreist, macht er unter der Hand klar, dass es vor allem der Eros in Mozarts Musik ist, der uns überfordert, weil er weder nach hohen und niederen Ressorts trennt noch ausschließt, was dem ethischen Vernunftideal und dem Monopol vermeintlicher Ich-Stärke zuwiderläuft. Natürlich wusste man schon vor Gülkes Buch von Mozarts Verzauberung des Formelhaften, seinen Grenzsituationen komplexer Affektschichtung, seiner spirituell aufgehellten Welthaltigkeit oder von der traumwandlerischen Sicherheit seines Komponierens. Gülke aber materialisiert solche thesenhaften Leitgedanken in der Struktur der Werke und bringt sie dadurch erst zum Sprechen. Und mit ihnen die Unterscheidung der tonsprachlichen Ebenen, die Spannung des „Galanten“ und „Gelehrten“, die innermusikalische Reflexion des „impliziten Autors“ oder Mozarts „donjuaneskes Verhältnis zu den musikalischen Objekten“. Müßig zu erwähnen, dass das Kapitel „Zeit- und Lebensbezüge“ Kurzschlüsse zwischen Leben und Werk vermeidet. Wenn Gülke auf Mozarts Vater-Trauma zu sprechen kommt, entfaltet er den Konflikt anhand einer detailliert recherchierten Motiv-Rhetorik, um den „Dialog zwischen Vater und Sohn“ werkanalytisch in der Musik zu enttarnen. Anlässlich Mozarts schon von zahlreichen Zeitgenossen missverstandener „Stillosigkeit“ der Mischungen geht es Gülke um das Flüssige in Mozarts Kompositionen: um die Vielfalt ihrer Charaktere. Dem wird Gülke auf überzeugende Weise gerecht. Und damit der Modernität des 18. Jahrhunderts, das den Verstand noch in seiner fließenden und bewegten Rasanz der Eindrücke und Vorstellungen begreifen konnte. Gülke zeigt anlässlich der späten Symphonien, wie sehr der Äther von Mozarts Klangwelt in einer Logik des Subkutanen liegt; in einer dichten Konstruktion zwar, die gleichwohl nie strategisch ausgestellt wird, weil ihr die affektiv-gestischen Einzelmomente der Klangrede gleichrangig und in Freiheit korrespondieren. Zusammenhang aber stiften die Momente, indem sie sich wechselseitig beleben, ohne durch eine vorgeordnete Idee von oben herab dirigiert zu werden. Das ist Mozarts „Vertrauen in die Struktur“, von der Gülke spricht, eine Struktur, die von unten her ansetzt - im Bund mit den so genannten niederen Erkenntnisvermögen und ihrer Sensibilität für die Logik der Passion und des Unbewussten. Form ohne die Gewalt der Formung zu realisieren: dieses Paradox hat Mozart wie kein anderer gelöst. Ihm ist der maternale Grund des Materials präsent geblieben, den Gülke insbesondere für den Beginn der g-Moll-Symphonie ausleuchtet. Anlass genug, dass in Gülkes Arbeit Autoren wie Hamann, Herder oder Rousseau eine zentrale Rolle spielen. Selbstverständlich muss sich Gülke dem Hof der Deutungen um die symbolgeladene Zahl 3 stellen, die für Mozarts Trias von 1788 zu einer Art Glaubensbekenntnis der Auslegung geworden ist. Mit der Ideengeschichte der Aufklärung bestens vertraut, versteht auch Gülke die drei Symphonien als „freimaurerischen Dreischritt“, wenngleich mit „aller gebotenen Vorsicht“: „die Es-Dur-Sinfonie als überwiegend ‚anonyme’, überkommene Institution, die g-Moll-Sinfonie das auf sich gestellte, sich selbst suchende Subjekt, die Jupiter-Sinfonie in der Licht-Tonart C-Dur als lnitiation“. Wobei „die Freimaurer-Symbolik als spezieller (...) Regelkreis (erscheint)“, „insofern der Dreischritt der Sinfonien zu Bezugnahmen auch auf die philosophische Triade These-Antithese-Synthese oder die Dreiheit Bewußtsein-Selbstbewußtsein-Vernunft im Verständnis Hegels einlädt“. Auch wenn, wie Gülke schreibt, die Jupiter-Symphonie , speziell deren Finale, unverkennbar summenhafte Züge aufweist: ob Mozart, was zielorientierte Entwicklungen anbelangt, nicht doch eher Kant nahe steht als Hegels geistverbrieften Stufungen und Steigerungen, namentlich der kampfgegründeten Entwicklung des Selbstbewusstseins aus der Phänomenologie des Geistes? Kants „Als ob“-Regulativen also und seiner Skepsis gegenüber selbstgewissen Zweck- und Vollendungssicherheiten. Der hinterfragende Tonfall gegen Ende des Jupiter-Finales jedenfalls ist unüberhörbar. Außerdem machen Gülkes Analysen selbst immer wieder klar, dass Mozarts von absolutistischer Bevormundung freie, selbstbewusste Individualität noch nicht auf die Behauptungstaktik einer geistfixierten Subjektmacht setzen muss; sein antitragischer Weltentwurf noch nicht auf den Fluchtpunkt des Ideals oder auf die Rendite sittlicher Läuterung. Mozarts Musik kennt keine sehnsüchtige Erinnerung an Vergangenes auf Kosten des Gegenwärtigen und keine Vertröstung auf Zukünftiges. Wohl aber die Ungeduld der Phantasie und das geschichtlich zündende Feuer des Augenblicks am Vorabend der Französischen Revolution, wie Gülke dies bis in den Schaffensprozess hinein nachweist. Als „Historie ohne Historizität“ charakterisiert seine Studie deshalb zu Recht das Jupiter -Finale, in dem Vergangenes weder zum Überwundenen noch neu zu Belebenden wird. An manchen Stellen dieses geistreichen, weil antidogmatischen Mozart-Buchs wünscht man sich die Diskussion mit dem Autor allein schon aus purer intellektueller Neugier. Etwa um zu erfahren, wie Gülke einen anderen Aspekt an Mozarts symphonischer Trias reflektieren würde, den Widerhall des Ständestaats nämlich. Zumal vor dem sozialkritischen Hintergrund des Figaro und der drei ständischen Tanzidiome im Don Giovanni . Eine Reflexion vielleicht unter Engführung zweier Argumentationsstränge des Autors, als da wären: das Pöbel- und das Freimaurermotiv. Nicht nur dass Kant, Schiller oder Fichte das Wort vom „Pöbelhaften“ allzu schnell von den Lippen geht, sobald sie auf den geistprovozierenden Widerstand des Sinnlichen zu sprechen kommen, und worauf Gülke hinweist. Mozarts philosophische Zeitgenossen verbinden darüberhinaus den plebejischen Triebgrund des Sinnlichen auch noch oft genug mit der „Triebcanaille“ der „unteren Klassen“. Rumort aber deren Stoßkraft nicht in zahlreichen Takten von Mozarts spätem symphonischen Zyklus? Als eine Facette seiner leidenschaftlichen Physiognomie? Damit würde sich die finale Gewichtung des Zyklus mit dem Jetzt eines parataktischen, gleichgeordneten, geschichtlich brisanten Tableaus aufladen, in sich bewegt und politische Beweglichkeit signalisierend, ja zu ihr drängend. Wobei jene gleich offene wie geheime Viertonfigur, die Mozarts letzte Symphonien durchzieht, zum Subtext einer humanitären Formel wird, in der sich freimaurerische Philanthropie und aufklärerisches Menschheitspathos kreuzen. Bleibt abschließend nur zu sagen, dass Gülkes Buch zum Besten gehört, was es derzeit über Mozart zu lesen gibt. Und was wäre von einem Mozart-Buch Besseres zu erwarten, als durch seine Lektüre Mozart „kompetenter und genauer bewundern“ zu können als zuvor? Johannes Bauer
- Johannes Bauer, Neue Musik und das Phantom der Postmoderne
Musik der Postmoderne Ein Phantom? Kafkas Satz "Zum letztenmal Psychologie!" findet seine Varianten bei Artaud: "Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen"; bei Cage, dem es auf "Kompositionen" ankommt, "deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinnerung (Psychologie)"; bei Marinetti: "Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie", und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als eine Machenschaft des seinsvergessenen Subjekts, als ein Abweg des "vorstellenden Denkens", seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt. Und hatte nicht schon Stavrogin in Dostojewskis Dämonen seine Abneigung gegen die "Psychologen" zum Ausdruck gebracht, "die mir in die Seele dringen", und demgegenüber auf Selbstbestimmung bestanden, darauf, "dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietzsche und dem Problem ihrer Überschreitung? "Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!" Johannes Bauer, Vorbemerkung zu einigen Thesen über das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne in der Musik Mehr als ein Schattendiskurs? Neue Musik und das Phantom der Postmoderne Ringvorlesung am Salzburger Mozarteum (2007) Postmoderne Musik Ein Essay Paris-Lodron-Universität Salzburg / Universität Mozarteum Ringvorlesung Postmoderne (Wintersemester 2007/2008 Mehr als ein Schattendiskurs? Neue Musik und das Phantom der Postmoderne Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, Sie kennen es alle: das Problem des Beginns, den Anspruch erster Sätze, die Zumutung einer leeren Seite. Und als würden die Bürde des initialen Akts und sein Dilemma zwischen Sog und Tabu nicht schon genügen, wird einem Vortrag zum Themenkreis der Postmoderne der Anfang zudem noch wegen des zu Recht oder zu Unrecht verkündeten Endes der Großen Erzählungen fraglich. Und dass es mittlerweile zum guten Ton dekonstruktivistischer Schulung gehört, die Schwierigkeit des Anfangs als Schwierigkeit zu benennen: wer wüsste es nicht? Wie also wäre im endlosen Reigen der Diskurse, der jeden Anfang immer schon zu spät kommen lässt, so etwas wie eine Zäsur zu setzen? Um jedoch, entmutigt von solchen Malaisen des Beginnens, nicht sofort wieder das Podium zu verlassen, empfiehlt sich vielleicht zunächst eine Art Selbstversuch. Ein Versuch, der möglichst unverfänglich „Ich“ sagt und auf Werturteile verzichtet - vorerst wenigstens. Gestatten Sie mir deshalb den Anfang mit einer persönlichen Erfahrung, die rund fünfzehn Jahre zurückliegt. Mit einer Erfahrung, die etwas anschaulicher werden mag, wenn ich Sie bitte, sich folgende Szenerie vorzustellen: Griechenland, Rhodos, das Meer, kurz: einen Sonnentag von mediterraner Fülle. Und inmitten solcher Sommerwunder einen Zeitgenossen, der zum ersten Mal diese Musik hört: Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra , (2) [Tr. 2, 0´00–2´55] [2´55] (Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi, Gidon Kremer) Natürlich weiß ich nicht, was der soeben gehörte Ausschnitt aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra bei Ihnen ausgelöst hat. Ich zumindest war von diesen einfachen, ja simplen Takten berührt. Genauer: berührt und irritiert. Wie war dieses Abweichen von der Thora der Neuen Musik - der strengen, einzig wahren - überhaupt möglich? Dieser Kontrollverlust? War es der Wunsch nach Regression, gefördert durch die emotionalisierende Dienstleistungsfunktion der Klänge? Hatte sich gar das Mirakel einer sirenenhaften Lockung ereignet - damals, unter dem blauen Himmel der Ägäis? Trainiert, wenigstens argumentativ mit sich ins Reine zu kommen, verweist der Katechismus intellektueller Gewissenserforschung inmitten solcher Anfechtungen auf einen seiner investigativen Grundsatzartikel, auf den nämlich, ob Glass’ Violinkonzert nicht schlicht purer Kitsch sei. Falls aber nicht, worin liegt dann die Hintergründigkeit des so belanglos Komponierten? Um Sie nun nicht weiter mit den Details von reflexiver Einkehr und ästhetischer Absolution zu langweilen, nur so viel: Für mich - und bitte beachten Sie, dass ich noch immer im Namen einer privaten Einzelerfahrung spreche - für mich bedeutet Glass’ Violinkonzert eine Musik des Als-ob. Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleichsam einer in Anführungszeichen. Konfliktfrei, routiniert und kulinarisch aufbereitet zelebriert und diagnostiziert diese Musik, wenn auch unfreiwillig, den einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart. Mit ihrer Verliebtheit in die Alltäglichkeit von Sequenzen und Kadenzen, dabei ebenso wiederholungssicher wie selbstgenügsam in eingängigen Patterns in-sich kreisend, animiert, verführt und täuscht sie mit Raffinesse. Zehrt sie vom Kult der Stimmungen doch nur, um diesen Kult über tonale Versatzstücke sofort wieder auf formelhafte Gefühlsrelikte hin abzudämpfen: eine cool gestylte Soft music moderner Großstadtwüsten, fast ohne Eigenschaften. Glass’ Violinkonzert : die musikalische Hohlraumversiegelung einer diffusen und leeren Innerlichkeit und einer ebenso diffusen Trauer über diese Leere. Ist dies die Musik einer reflektierten Zustandsbeschreibung, die der Kunst nicht aufbürdet, was Sache der Ethik ist? Eine Musik der Gewaltenteilung, ein Komponieren ohne Häme und ohne das Ecce-Homo-Pathos so vieler - vermeintlich standhafter - zeitgenössischer Solokonzerte? Was aber machen wir - durch die Schule Adornos gegangen - mit der provokant simplen Faktur dieses Konzerts? Zeigt diese Faktur nicht dadurch Wirkung, schärfer formuliert: rächt sie sich nicht dadurch, dass sie die Komposition in das Genre der Beschreibung verweist? In das der Schilderung? In den Bereich des Dokuments also, den Walter Benjamin dem des Kunstwerks kontrastiert, sofern aufseiten des Dokuments die ‚Herrschaft des Stoffs’ und des „Stofflichen“ dominiere, im Kunstwerk aber das „Formgesetz“?(1) Denkt man Benjamin zufolge das Formgesetz und mit ihm das Kunstwerk im Pakt mit dem aktuell komplexen Entwicklungsstand der ästhetischen Produktivkräfte, dann setzt Benjamins analytischer Kanon nicht nur eine Differenz der Sphären - die des Dokuments und die des Kunstwerks -, sondern einen Rangunterschied. Glass´ Violinkonzert : nicht mehr und nicht weniger als ein Dokument? Als Kunstwerk hätte sich ein Solokonzert heutigen Komponierens demnach anders anzuhören. Etwa so: Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang, Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00-2´27] [2´27] (Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini) Während das Violinkonzert von Phil Glass die Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt das soeben angespielte Beispiel aus Helmut Lachenmanns Ausklang eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Lachenmanns Komposition für „Klavier mit Orchester“ lotet über die Andeutung und den gleichzeitigen Entzug musikalischer Sinneffekte, über deren Genese und Herstellbarkeit also, die historische Dimension dieses Sprachgrunds aus: sein Werden und sein Vergehen. Zielt Glass aufs Vertraute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Lachenmann interessiert nicht das konzertante Wechselspiel, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Musik wird hier nicht zum Generator einer Sinnspur. Im Gegenteil: Erst das Aussetzen der subjektdramatischen Zeit ermöglicht eine neue Präsenz der Klänge, ihrer geschichtlichen Ladung und ihrer materialen Basis. Erst mit dem Sprengen der narrativ gefestigten Einheit der Subjektmonade differenzieren sich die Mittel, um durch die Demontage überkommener Affektklischees und durch die Beseitigung sämtlicher Aufschubsbarrieren zwischen kompositorischen Haupt- und Nebensachen dem Ohr eine ungewohnte Tiefenschärfe zu geben. Die simultane Entstehungszeit der Kompositionen Lachenmanns und Glass´ - 1985 und 1987 -, lässt fragen, ob es sich auch hier um zwei Kulturen handelt, um zwei Kulturen von Musik. Um eine authentische und eine weniger authentische, um eine wahre und eine falsche. Oder geht es hier einfach nur um zwei gleichwertige Optionen in einem Katalog mannigfacher Angebote? Womit wir im Zentrum unseres Themas wären: Wie sehr hat sich eine Analyse postmodernen Komponierens an dem zu orientieren, was - versuchsweise - radikale Neue Musik heißen könnte? Das heißt an einer Musik, die tief schneidet, die ihren Sprachgrund freilegt, sich über komplexe Texturen wie über strukturelle Abrüstungen am Unberechenbaren und Unverfügbaren versucht, ohne der Kompression einer medial überverdichteten Welt mit der Depression nostalgischer Ich-Legenden zu antworten; an einer Musik folglich, die sich von der Einheit des Subjekts, vom Humanismus und mithin von ihrem metaphysischen Erbe verabschiedet? Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zunächst daran erinnern, dass die Bestimmung postmoderner Kunst eine begriffsverwirrte ist. Schwierig werden Diskussionen zum Thema Postmoderne meist, weil Definitionen gegeneinander ausgespielt und abgewertet werden, sich außerdem ständig vermischen, ohne hinreichend präzisiert worden zu sein. Etwa die Auffassung von einer Postmoderne des „Anything goes“, die übrigens weniger trivial ist als es ihr Schlagwortdasein vermuten lässt. Oder die Auffassung von einer Postmoderne im Anschluss an Jean-François Lyotard, der die Postmoderne als eine kontrastreiche Feinbestimmung der Moderne versteht. Oder, eine dritte Spielart, die Auffassung von einer Postmoderne, in der es zwar Qualitätskriterien geben soll, aber bitte keine allzu rigorosen. Und inmitten all dieser Varianten der Zweifel, ob der hektische Wechsel der Periodisierungen und Etikettierungen – Prämoderne, Moderne, Anti-Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne – nicht in erster Linie Ordnungsfallen kultiviere, die sich an einer Sinngebung der Unübersichtlichkeit des allzu Nahen versuchen. Womöglich gilt auch für die Musik, was Niklas Luhmann nach immerhin fast 1200 Seiten am Ende seiner Theorie der Gesellschaft resümiert: „Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es rechtfertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten. [...] Nach wie vor werden all die Errungenschaften der Moderne [...] beibehalten; nur ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Architektur vielleicht ausgenommen) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen moderner und postmoderner Kunst.“(2) Ich möchte hier vor allem auf Lyotard verweisen. Seine Ablehnung der Beliebigkeit des „Alles ist erlaubt“ verpflichtet die Kunst der Postmoderne auf die der Moderne. Auf eine Kunst des Experiments, die mit der Naturwissenschaft ihrer Epoche den Abschied von intuitiven Wahrnehmungsprozessen teilt und für die Energien des Unkalkulierbaren und Undarstellbaren im Namen des Erhabenen sensibilisiert. Kompositorisch gesprochen weist dies in die Richtung einer Musik der Mikro- und Zwischenbereiche, der mit der zweiwertigen Logik von Kohärenz und Inkohärenz, von Askese und Sinnlichkeit, von Wahrheit und Lüge nicht mehr beizukommen ist. Einer Musik aber auch - und das wäre die Differenz zwischen Lyotard und Adorno - die nicht mehr am Werkorganismus - auch nicht dem der Zerrüttung - und keineswegs mehr am „Ausdruck des Entsetzens“ eichbar ist. Kurz, einer Musik, die sich einer normativen Ästhetik metaphysischen Zuschnitts entzieht - und das ohne Bedauern. Dass ein Komponist wie Cage dabei zur philosophischen Schranke zwischen Adorno und Lyotard wird, ist nur konsequent. Auch hier wieder das Thema Metaphysik und Neue Musik. War es nicht Adorno, dem zufolge die Kunst der Moderne um einen „metaphysischen Sinnverlust“ kreist?(3) Womöglich wären es die Reaktionsweisen auf den Zerfall der metaphysischen Episteme, die eine Grenze zwischen Moderne und Postmoderne ziehen. Hier ist wohl die beste Gelegenheit, Ihnen, meine Damen und Herren, genau diesen Gedanken als die grundlegende These meiner Überlegungen vorzustellen. Eine These, die seit Nietzsche alles andere als neu ist, bei der es allerdings darauf ankommt, wie sie entfaltet wird. Es soll also um die Lesart gehen, die die Kunst der Moderne von der Auflösung ihrer metaphysischen Konditionen her zu entziffern sucht. Eingebettet in den gesamtgesellschaftlichen Prozess entpuppt sich von diesem ästhetischen Großereignis her die Postmoderne als eine strikte Konsequenz der Moderne oder, wenn Sie so wollen, als eine mehr oder weniger belanglose Periodenmarkierung. Zu einer mehr oder weniger belanglosen Periodenmarkierung wird nun freilich auch der Begriff der Moderne selbst, der sich überstrapaziert, weil die Epochenstrecke, die er abzudecken hat, immer länger wird. Mein Vorschlag zur Güte oder zur Ungüte wäre deshalb, mit dem Begriff der Postmoderne auch den der Moderne zeitweise auszusetzen und stattdessen - im Anschluss an Nietzsche - von den Grabenkämpfen, den Zerstörungs- und Verteidigungsgefechten auszugehen, die das Ende der abendländischen Metaphysik martialisch aufladen. Konzentrieren wir uns daher wie Heidegger, Adorno, Derrida oder Lyotard auf die Arena dieser Auflösung. Nun soll dieser Vortrag nicht primär von Philosophie handeln, sondern davon, wie der metaphysische Zerfallsprozess das musikalische Terrain verändert und auf ein postmodernes Komponieren hin auflockert. Dennoch bleibt zunächst die Frage: Metaphysik und Musik, Metaphysik in der Musik - was kann das überhaupt bedeuten? Am nachdrücklichsten zeigt sich das metaphysische Fluidum von Musik an Kompositionen der dur-moll-harmonischen Epoche. Und zwar als transzendierendes Moment, als eine gewisse Levitationstendenz, das Schwergewicht der Welt über den ästhetischen Widerhall dieser Welt vorübergehend aufzuheben, zumindest zu erleichtern. Widerhall von Welt verstanden nicht als deren harmoniesüchtige Zurichtung, wohl aber als Ausschluss aller nicht im reinen Ton sublimierbaren Expressionen, ihrer Nacktheit und ihrer existenziellen Abgründe. In dieser Epoche von einem Platonismus des geistsublimierten Körpers zugunsten der musikalischen Idee zu sprechen, ist sicher nicht falsch. Zudem legiert sich in der tonalen Ära der reine Ton mit der Reinheit des Werks, das heißt, mit dem Entwurf des Werks als Organismus. Wobei die organische Einheit und Geschlossenheit des Werks der Einheit und der Geschlossenheit des hörenden Subjekts aufs Engste korrespondieren, ja sie erzeugen. Diese Wechselwirkung zwischen Werk und Subjekt ist so dicht, dass sich die empirisch irreversible Zeit beim Hören mitunter in der ästhetischen Zeit kondensiert: und zwar mit einem Gefühl der Unsterblichkeit. Es ist diese nunmehr überwiegend narzisstische Selbstvermittlung, die den meisten Ohren nach wie vor als die einzige und universale Sprache der Musik gilt. Massenwirksam trivialisiert in den Ressorts Klassik und Pop. Metaphysisch-humanistische Rest-Energien aus dem Fundus des Homo divinus aktivieren sich hier zu einer Praxis der Selbstaffirmation. Im Mittelpunkt steht das zum Subjekt - oder eine Etage tiefer - das zum konsistenten Ich verklärte Individuum, dem wenigstens die Musik etwas von seiner säkularen Gottesimago zu retten erlaubt. Gravierend ist nun, dass Neue Musik solche metaphysischen Modalitäten auflöst. Und mit ihnen den Schein der Transzendenz. Neue Musik begreift sich primär als eine der Immanenz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig nach dem Reglement eines athletischen, ja schwerathletischen Komponierens - angemessen dem Schwergewicht der Welt, ihrer Gewalt- und Terrorgeschichte. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts dann mit einer Tendenz zur Steigerung des Immanenzgebots. Jetzt nämlich reflektiert Musik das Bewusstsein und die Spur des Todes nicht mehr nur als ein ästhetisch gelindertes Sujet: die Struktur selbst wird zum Ort der Kontingenz als einer Erfahrung von Endlichkeit ohne Transzendenzbonus.(4) Zum einen infolge der Leerstellen und Lecks, die das Rauschen und die Stille im Kosmos der Werke aufbrechen lassen; zum anderen infolge der Überdeterminierung durch Zufall und rhizomatische Komplexität, die jedes prophetische, jedes voraus- und zurückhörende Hören außer Kraft setzen und mit ihm die Suggestion ästhetisch gewährter Unsterblichkeit. Die gottererbten Allmachtsfantasien des Subjekts, auch die des hörenden, jederzeit Herr der Lage zu sein, jederzeit über das Wo und Wie und Wann Bescheid zu wissen, scheitern an der Überforderung, jenes Unberechenbare sinnvoll aufzulösen, das der Formenkreis des Zufalls zumutet. Nietzsche schon hat diese Unberechenbarkeit zum traumatischen Faszinosum der Moderne erklärt und Cage wird mit der Relevanz des Zufalls eine massiv metaphysikzersetzende Variante in die Musik nach 1945 einschleusen. Diese metaphysikzersetzende Variante wird noch klarer, wenn ich Sie daran erinnere, dass die Aufhebung des Zufalls noch in Hegels philosophischer Agenda an oberster Stelle stand. Dass Neue Musik inzwischen das Gebot strenger Immanenz wieder gemildert hat, resultiert meines Erachtens aus einer Überschreitung, die den Abschied vom Ethos der Metaphysik und seinem Sinnpotenzial nicht mehr als Tragödie, nicht mehr als Verlust begreift. Ich werde auf diese Figur der Überschreitung und was sie mit postmodernem Bewusstsein zu tun haben könnte, später noch zurückkommen. Ich habe, meine Damen und Herren, von einem Komponieren gesprochen - sollen wir es probeweise „postmodern“ nennen? -, das sich vom Subjekt und seiner idealisierten Herrschaftsperspektive, dem Humanismus, verabschiedet. Von einem Komponieren, das stattdessen auf die Erosion individueller Autonomie im Vermittlungsgetriebe der Massengesellschaft reagiert. Sprach Nietzsche bereits vom „Dividuum“, muss, wer heute das Wort Individuum, gar das vom Subjekt in den Mund nimmt, einer Verspannung in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen Rechnung tragen, die einander durchdringen und polyphrene Bewältigungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Zu rechnen ist mit multiplen Psychen, die gelernt haben, widersprüchliche Denk- und Handlungsweisen unter einen Hut zu bringen und deshalb im Privaten den harten Kern des Ego umso zäher konservieren. Um diesem Zustand musikalisch zu begegnen, gibt es etwa für die Gattung des Solokonzerts auf postmodernem Terrain mindestens zwei Möglichkeiten: Entweder die einer Einsicht in den zwingenden, gar befreienden Konkurs des Subjektmonopols oder diejenige, die sich mit einer Verteidigung der Ich-Rhetorik dagegen sperrt. Glass und Lachenmann wären dafür Beispiele. Zieht demnach das Ende der Großen Erzählung vom Subjekt - vom Entwurf des Menschen in seiner Einheit als Selbstbewusstsein und von dem des Kunstwerks in seiner Einheit als Organismus - eine zusätzliche Grenze zwischen Moderne und Postmoderne? Wäre postmoderne Musik demzufolge mit dem Abschied vom Fundamentalismus der Werkkonsistenz, vom Subjektcharakter des Kunstwerks anzusetzen? Da doch erst ein Komponieren, das mit dem geplanten Zufall, mit variablen Formen und einer bislang unbekannten Freiheit der Interpreten arbeitet - mit dem Aufbrechen der unveränderlich geschlossenen Einheitszeit also -, eine Fülle neuer Verfahren und Genres freigibt? Vor allem die einer Verflüssigung der Werkästhetik? Und damit performative Strukturen, besser: Nicht-Strukturen samt der Möglichkeit ungeahnter Synapsenbildungen; zusammen mit einem Repertoire an „Übermalungen, Inskriptionen und Kontrafakturen“, um Wolfgang Rihm zu zitieren; einem Repertoire an Transfer und Recycling, an Mischungen und Kreuzungen jenseits des Unterschieds von Rohem und Gekochtem? Wobei der Begriff des Rohen und Gekochten auf den Grad der Konstruktion anspielt. Und all dies im Wuchern promisker, hybrider Formen. Würde somit eine Postmoderne der Musik erst dann manifest, wenn das Bündnis aus Notation, Struktur und qualitativ artikulierter Zeit zerfällt und das Ausbleichen des Formgedächtnisses vormals tabuisierte Zonen einlässt? Die des Geräuschs etwa - einem Fading von Kunst und Empirie vergleichbar? Wenn sich also der von Hegel überlieferte Kontext zwischen Sprache, Subjekt und (Welt-)Geist zersetzt und mit ihm der Wahrheitsbegriff nicht nur des Kunstwerks? Indes die Übermacht des Energetischen über das Semantische Verwerfungen des ästhetischen Sinns produziert, die auf die philosophische Hermeneutik dieses Sinns zurückwirken? Wie Sie hören, meine Damen und Herren, bin ich nicht darauf aus, Sie mit Antworten zu beruhigen, sondern darauf, Sie mit Fragen zu beunruhigen. Mit Fragen, bei denen es ein Leichtes wäre, sie als überzeugungssichere Behauptungssätze zu präsentieren. Was anlässlich einer akademischen Veranstaltung zudem noch den Vorteil des Seriösen hätte. In meinem Fall allerdings auch unredlicher wäre: ratlos wie ich bin auf dem Gebiet postmoderner Musik. Was können demnach die metaphysik- und subjektkritischen Impulse Neuer Musik zum Begriff einer musikalischen Postmoderne beitragen? Bekanntlich war es der Perfektionsgedanke als Garant des Schönen und Wahren, der das Kunstwerk in seiner Ausformung zum Organismus in den metaphysischen Rang des Vollkommenen als des absolut Notwendigen erhob. In den Rang einer Vollkommenheit, zu deren Suggestionskraft es gehört, frei von allen Schlacken des Gemachten zu sein. Bis der Genealoge Nietzsche in einem grandiosen Inthronisierungsakt der Moderne das Dogma vom „Vollkommenen“, das „nicht geworden sein [soll]“, zum „mythologischen“ Relikt genialischer Schöpfungsfantasien erklärt.(5) Und als wäre ihr Nietzsches Appell zum Programm geworden, zeigt sich Metaphysikkritik in der Neuen Musik nicht selten an einer Offenlegung der Genese als einer Fühlungnahme mit dem Herstellungsprozess des Komponierten. Lachenmanns Autopsie des Tons etwa schärft das Ohr für die Einheit zwischen der Physis des Klangs, seiner Stoff- und Energiebasis, und dem musikalischen Diskurs. Jede Verschleierung dieser Untrennbarkeit wäre für den Komponisten Lachenmann im Bereich Neuer Musik harmonistisch, gewissermaßen philharmonisch. Sinn ist von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu lösen wie die Botschaft von ihrem Medium. Gegen die Ausgrenzungsdirektiven des Zivilisationsprozesses interpretiert Lachenmanns Musik den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs. Eine „Umwertung der Werte“, die wieder an Nietzsche denken lässt. Das Verfahren, die mechanischen Bedingungen der Klangerzeugung ohne Reinheitsfilter in die Komposition einzubeziehen, verabschiedet ein platonisches Ideal der Läuterung. Und damit ein Ideal, das sich über Epochen hinter reinen Tönen und wohlproportionierten Konstruktionen verschanzt und eine Art musikalischer Ideenhimmel konsolidiert hatte. Klang verstanden als „Nachricht seiner Hervorbringung“(6) hebt die Hierarchie zwischen Geist und Materie auf und mit ihr das Gefälle zwischen der Idee und dem Botenstoff des Sinnlichen. Musikalische Metaphysikkritik par excellence!(7) Nicht zufällig blitzt in Lachenmanns Begriff eines aufbrechenden „Freiraums von Nicht-Musik“(8) die Spur einer Dekomposition der abendländischen Musikgeschichte auf - in Parallele zu Heideggers ›anderem Anfang‹ einer Nicht-Metaphysik des Denkens und einer „Destruktion“ der abendländischen Metaphysikgeschichte. Haben Sie noch ein wenig Geduld, meine Damen und Herren, ein wenig Geduld auch mit mir, und lassen Sie uns den Strang einer kompositorischen Metaphysikkritik mit Blick auf die Schlüssigkeit des Periodenbegriffs „Postmoderne Musik“ noch ein wenig weiterverfolgen. Von Beginn an steht Neue Musik - gleichzeitigen philosophischen Tendenzen analog - in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Dessen Gründungs- und Begründungsmacht - „nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich musikalisch am nachhaltigsten in der austarierten Werkeinheit zur Zeit der tonalen Epoche. Das heißt in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und - ich erinnere an Mozarts abgründigen Musikalischen Spaß - in den dieser kompositorischen Logik zufolge erst möglichen Regelverstößen. Auch wenn für Schopenhauer Musik den „Satz vom Grund“ ausdrücklich entmächtigt, bleibt dessen Schatten gleichwohl im Innern jener Kompositionen Mozarts und Rossinis präsent, die dem Philosophen um 1820 das Erlebnis solcher Enthebung vermitteln. „Nichts ist ohne Grund“. Orientiert an diesem anthropologisch fundierten Grundgesetz abendländischer Metaphysik und Praxis - einem Gesetz von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit -, kultiviert auch Musik einen Sinnfundus an Wahrheit. So korrespondieren - Sie sehen, dieses Motiv lässt mich nicht los - die organisch durchgeformten Werke der sogenannten Tonalität und ihre symbolisch-gestische Syntax aufs Engste mit der Identität des Selbstbewusstseins. Mit dem also, was die Philosophie seit Descartes mit der Einheit des Subjekts als einer Einheit von Begründungen zu fassen sucht. Auch wenn sich dieser Sinn- und Begründungsfundus im musikalischen Metier stets musikspezifisch, das heißt mimetisch und logiksubversiv verschattet: in begründeten Ordnungen selbst begründet zu sein, im Grund der Werke sich selbst zu finden, wird zum ästhetischen Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Dezentrierungen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ metaphysikkritisch ins Innere der Struktur.(9) Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der mnemonischen Souveränität des Subjekts gegründete Allianz auf. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion serieller Musik ihrer Produktion nach zum letzten Mal und bis in den letzten musikalischen Parameter hinein eine extreme Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten, ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich jeder ihrer komponierten Begründungszusammenhänge ins Grundlose auf. Darin repräsentiert die Serialität und ihr Bruch zwischen Konstruktion und sinnlicher Erfahrung, zwischen Produktion und Rezeption, den Übergang von einer metaphysisch bestimmten zu einer nachmetaphysischen Moderne. Vom Grund zum Grundlosen, vom Begründeten zum Unbegründeten, zum Abgründigen.(10) - Wäre dergestalt schon die serielle Musik, so eng sie ihrer Kontinuität nach an die Moderne, an Schönberg gebunden bleibt, unter die Rubrik „postmodern“ zu rechnen? Mit der Serialität forciert Neue Musik die Selbstreferenz des Komponierten. Und es ist diese Selbstreferenz, die das Repräsentationsverlangen des vorstellenden Subjekts und seine mit dem Humanismus in Gang gesetzte „Eroberung der Welt als Bild“(11) radikal enttäuscht. Verbünden sich im bildgebenden Subjekt seit der Renaissance Metaphysik und Humanismus zu einer Art Weltbeherrschungsemphase(12), dann ist eben, wie ich eingangs sagte, die Metaphysikkritik der Neuen Musik immer auch Subjekt- und Humanismuskritik. Das heißt, Kritik an der Deutungs- und Praxishoheit des animal rationale und seiner in die Welt projizierten Spaltungsontologie des Animalen und Rationalen, zentriert um den weltsetzenden Absolutismus der humanitas des homo humanus. Indem jedoch Neue Musik ihre äußere und innere Abbildlichkeit aufhebt, wird sie dem tradierten Erkenntnis- und Empfindungssensorium zum tönenden Schreckbild des Inhumanen. Der Spiegel des Narziss verwandelt sich in das Haupt der Medusa, um vom Visuellen her zu sprechen. Erinnern Sie sich noch, meine Damen und Herren, an Adornos Reflexion zum Thema des Humanen und Inhumanen in der Kunst? „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kündigt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.“(13) „Um des Menschlichen willen“ muss die „Unmenschlichkeit der Kunst [...] die der Welt überbieten“.(14) Was an Neuer Musik im Unterschied zur symbolisch-gestischen Musik der tonalen Epoche, ja noch der Wiener Schule, als ein Verlöschen der Expressivität und der mimetischen Impulse charakterisiert und kritisiert wurde, kennzeichnet ein Komponieren, das dem Erlebnis das Ereignis entgegensetzt. Musik drückt nicht mehr etwas aus. Ihre „nichtsubjektive Sprache“(15) zieht die Summe aus der Tilgung der vorhin als äußere und innere Abbildlichkeit bezeichneten Repräsentationsspur. Dieser Ikonoklasmus, den Morton Feldman das „Abstrakte“ nennt(16), verweist auf keinen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Die Bühne der Projektion als eines ständigen Wiederfindens seiner selbst ist bis auf die letzte Kulisse hin abgetragen. Und um noch bei Feldman zu bleiben: Wäre sein Spätwerk postmodern zu nennen? Aufgrund seines Metadiskurses zur Anatomie des musikalischen Gedächtnisses und seiner Bindungsarbeit, seiner Engramme, Leerstellen und Zeitfenster, seiner Verknüpfungsstandards und symbolischen Routinen - und deren Brechung? Während Musik doch sonst zumeist eine Hohe Schule des Gedächtnisses war? Postmodern also seiner wahrnehmungsästhetischen wie seiner strukturellen Sensibilisierungseffekte wegen, integriert einer gegen Innerlichkeit versiegelten Musik, die das Gedächtnis sich selbst fremd werden lässt? Oder wäre die Behauptung zutreffender, Feldmans Musik sei modern und postmodern: modern in ihrer Absage an Einfühlung und Verinnerlichung, postmodern aber in ihrer Entbürdung vom Gewicht des Unversöhnlichen und vom Ethikmandat des „J’accuse“? Vielleicht zeigt sich hier doch ein Weg in Richtung Postmoderne, sofern sich Feldmans Spätwerk der Hegel-Adornoschen Alternative von der Kunst als einem „bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk“ oder einer „Entfaltung der Wahrheit“(17) entzieht, ohne deshalb belanglos zu werden. Es dürfte maßgeblich das Phänomen des „Between“(18) als eines Zustands „zwischen den Kategorien“ sein, das ein Charakteristikum postmoderner Musik ausmacht und die musikhermeneutische, dialektisch akzentuierte Allianz Adornos aus Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik mit ihren philosophischen und soziologischen Vorentscheidungen kraftlos werden lässt. Allerdings wird sich erst von einer Feinbestimmung des „Between“ her entscheiden, von welcher Art Postmoderne die Rede ist. Doch dazu gleich mehr. Sollten sich indes die an Feldman skizzierten Momente aus dem metaphysikkritischen Movens der Moderne heraus verstehen lassen, wieso wären sie dann postmodern?(19) Postmodern, wenn nicht aus dem Grund, dass nach einer - mit Adorno gehört - dem Grauen der Geschichte geschuldeten Neuen Musik ein Komponieren möglich wurde, das auf höchstem ästhetischen Niveau die Zeugenschaft von Klage und Anklage hinter sich lassen kann. Das aber würde besagen, dass die modern-postmoderne, besser: die postmodern-moderne Neue Musik das Stigma des „metaphysischen Sinnverlusts“ auf einen nahezu transmetaphysischen Ort des Freien hin überschreitet; philosophisch vergleichbar Heideggers Unternehmen der „Destruktion“ oder dem der „Dekonstruktion“ Derridas. Musikalisch verweist diese Überschreitung zunächst auf die Galionsfigur Cage, der für Lyotard zum ersten herausragenden Komponisten der Postmoderne wird. Und doch bleiben die Arbeiten Cages, des Vaters so vieler postmoderner Lizenzen, ohne analytische Zwangsdeutung im symbol- und metaphysikkritischen Tableau der Moderne lesbar, nicht moderner oder postmoderner als jedes andere Komponieren, für das die immanenten Forderungen und Möglichkeiten der Musik seit der Wende zum 20. Jahrhundert obligatorisch sind. Einzig die Schärfe der ästhetischen Metaphysikkritik im kompositorischen Extremismus Cages erlaubt es Lyotard, ihn der Postmoderne zuzurechnen. Eine Schärfe etwa wie die der Abrüstung der kompositorischen Willenspräsenz im Komponierten mit ihrer fast schon antimetaphysisch östlichen Praxis von Gelassenheit und Lassen und ihrer zeitlichen Nähe zu Heideggers Philosophie nach der Kehre. Ob sich Musik allerdings jeder metaphysischen Spur entledigen kann, wäre eine andere Frage. Vielleicht können wir uns darauf einigen, eine Musik postmodern im Zeichen der Moderne zu nennen - vorerst und wenn es denn sein muss -, die weder unter das Katastrophische noch das Regressive zu subsumieren ist. Von der Schnittmenge eines Dritten her ist sie gleicherweise immun gegen die Dialektik von Positivismus und Metaphysik wie gegen die auf Daseinsapotheosen oder Leidensapologien zugeschnittenen Rollenfächer. Befreit vom Souveränitätszwang und vom Souveränitätsmissverständnis des Subjekts und dessen affektiver Sinnbühne schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen, die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel mit Kurs auf viele Ithakas.(20) Was ich nun mit diesem Dritten, diesem „Between“ meine, mit diesem Freisein von Daseinsapotheosen und Leidensapologien und mit dem Motiv der Immanenz, möchte ich erneut an einem zeitgenössischen Solokonzert demonstrieren. An einer Musik, die meines Erachtens eine Facette postmodernen Komponierens repräsentiert: nämlich an Elliott Carters Klarinettenkonzert aus dem Jahr 1996, genauer, an dessen zweiminütigem Finale. Hören wir uns also zunächst einmal diesen „Agitato“-Satz an: Bspl. 3: Elliott Carter, Clarinet Concerto , 7 (Agitato) [Tr. 7 (ganz)] [2´00] (London Sinfonietta, Oliver Knussen, Michael Collins) Vorab fällt an der Solopartie dieses Satzes etwas unentwegt Sprechendes und doch Sprachloses auf: formelhafte Arabesken, ein deliranter Zug der Betriebsamkeit, enorm selbstbezogen; eine Fasson des Beliebigen, ja Geschwätzigen. Obwohl nichts wiederholt wird, wirkt die Rastlosigkeit der Klarinette wie in einem repetitiven Zirkel gefangen. Anders dagegen der äußerst variabel durchgebildete Orchestersatz, genauer: der eines Kammerensembles aus fünf Streichern, dreizehn Blas- und Schlaginstrumenten inklusive Harfe und Klavier. Ein Orchestersatz der Schnitte, mit einer Vielfalt an Farben, unruhig, mobil, unkalkulierbar in seiner Plötzlichkeit, ein Kaleidoskop von hoher Ereignisdichte. Entscheidend ist nun, dass Carter das traditionelle Prinzip des Instrumentalkonzerts, den Dialog, in einen Paralog umformt. Diese veränderte Topik zwischen Solostimme und Orchesterensemble verwandelt die konzertanten Muster des Mit- und Gegeneinander in ein Nebeneinander, parallel getrennten Bühnen ähnlich. Trotz eines engmaschigen Konstruktionsgewebes finden sich im paralogischen Geflecht der Musik nur selten dialogische Momente, flüchtige Berührungspunkte einer nervösen Interferenzzone zwischen Solo- und Orchesterpart. Weit mehr als um Drama und Tragik, weit mehr als um Kollision und Kulmination, weit mehr auch als um den Phantomschmerz an den Leerstellen eines dezentrierten Subjekts geht es Carter im Nebeneinander eines freien und differenzierten Ensembles und einer wie in rhetorischen Leerläufen befangenen Einzelstimme um das Paradox einer spannungslosen Spannung ohne Aufschwünge und Abstürze. Carters Klarinettenkonzert boykottiert den Kult des Gefühls, das Sich-Einhausen in schal gewordene Emotionen, und verweigert sich doch aufgrund seiner Aktions- und Überraschungsfülle jeder Verweigerungsaskese. Und sosehr in diesem Klarinettenkonzert Schockhaftes rumort - in Reaktion auf die Beschleunigungstechniken und Geschwindigkeitsschichtungen der Moderne und deren Wahrnehmungsveränderung -, sosehr löst sich dieses Schockhafte fast schon spielerisch in den präzis konstruierten Eruptionen eines Orchestersatzes auf, dessen Rupturen subkutan gebunden werden. Subkutan deshalb, weil die Motive und Motivsplitter der Faktur alles andere als erkennungsdienstlich behandelt werden. Im Unterschied zur Mono-Akustik des Violinkonzerts von Phil Glass und seiner Ich-Rhetorik komponiert Carter vom Ensemblesatz des Klarinettenkonzerts her eine ebenso kalkulierte wie absichtslose Musik der Poly-Akustik. Setzt die Mono-Akustik des Neo-Expressionismus auf das Ohr als Diskursmitte, um von hier aus den Verlauf auf den Hörer als Erlebnisfokus hin zu spiegeln, dann rechnet die Poly-Akustik mit der Wandlungsfähigkeit eines Ohrs, das umgehend verschiedene Positionen einnehmen kann und muss und zusammen mit der audiozentrischen Position die Hierarchie zwischen Mittelpunkt und Peripherie aufhebt. Poly-Akustik begibt sich aus der Mitte, die überall und nirgends ist, um anders und anderes zu hören. Dennoch zähmt, ja unterminiert in Carters Klarinettenkonzert die Konsistenz der Solostimme mit ihren seltsam an- und abwesenden Ich-Spuren die polyakustische Intention. Die plurale, rhapsodische Offenheit des Ensembles wirkt durch die monotone Solidität der Solostimme wie versiegelt. Auch wenn die Musik kein solistisch-dialogisches Zelebrieren mehr in Szene setzt, bleibt die Klarinettenstimme gleichwohl so autark, dass sie die Diskursformation von Solo und Tutti trotz der Umformung zum Paralog konserviert. Mehr noch: aufgrund dieser Dualität wird das paralogische Modell lediglich zu einer Variante des dialogischen. Es ist diese duale Konstante, die dafür sensibilisiert, wie viel historisches Gespür Neue Musik in ihrer Auseinandersetzung mit der Tradition wohl braucht. Kann sich das musikalische Denken der Gegenwart wirklich noch und trotz aller Metamorphosen in einer Gattung finden, deren Reflexions- und Ausdruckscharaktere auf das 18. und 19. Jahrhundert verweisen? Seiner Anlage nach ist Carters Clarinet Concerto jedenfalls weit entfernt von der Dekonstruktion der Gattung „Solokonzert“ in Lachenmanns Ausklang . Ihrer Genese und ihrer dualen Essenz nach bleiben Instrumentalkonzerte mit ihrem variablen Solo-Orchester-Dialog zunächst dem Vernunftideal der Aufklärung verpflichtet: dem Mündigwerden des bürgerlichen Subjekts im Diskurs von Streit, Diskussion und Kritik. Später antworten sie der Souveränität eines Subjekts, das sich um 1800 aus Gründen seiner Autonomie noch eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit der „Prosa der Welt“ zuschreiben konnte. Antagonistisch verschärft und der dialektischen Philosophie des Deutschen Idealismus nahe, orientiert am Politikum der „Entzweiung“ und am Drama von Freiheit und Notwendigkeit, konnten Beethovens Solokonzerte noch von einem Einheitsbegriff der Person ausgehen, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Dieser Einheitsbegriff ermöglichte es, die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloinstrument und Orchester auszutragen und auszutarieren. Wo aber wären gegenwärtig noch Relationen, auf die das duale Prinzip von Solo und Orchester adäquat reagieren und ein wie immer konsistentes solistisches Subjekt inmitten klarer Fronten, Konflikte und Postulate rechtfertigen könnte? Untergegangen mit dem Pathos und der Personalisierbarkeit von Widersprüchen verlängern die dualen Muster eine Ideensphäre, die in ihrer Überschaubarkeit hinter dem zurückbleibt, was ich vorhin mit der Thematik des „Dividuums“ und der multiplen Psychen angesprochen habe. In Carters Konzert wird deshalb gerade die duale Infrastruktur zu einer Blindstelle. Mehr noch: sie wird zu einem soziologischen Fingerzeig wider Willen. Das aber bedeutet, dass die Parallelsphären des Klarinettenkonzerts , die von Einzel-Stimme und Orchester-Kollektiv, sich nicht nur soziologisch einfärben lassen, sondern gleichsam dazu auffordern. Und dies nicht nur von Carters Schriften her, die die gesellschaftliche Realität immer wieder auf deren verstellte Möglichkeiten hin überdenken. Dass im Klarinettenkonzert der Instrumentalkörper des Ensemble-Satzes, sein Corps de son, wie eine Choreografie des Corps social wirkt, der in den Vibrationen und Stößen des Orchesters zum Beben gebracht wird; dass die Fluktuationen der musikalischen Struktur in Richtung eines Gesamttableaus differenzierter Einzelstimmen auf eine modellhaft demokratische Ausdifferenzierung der Gesellschaft anspielen; dass schließlich der Tonfall der Solostimme an die normierten Sprachfertigkeiten der Kommunikationsgesellschaft erinnert: All dies muss zwar nicht mitgehört werden; dass es jedoch überhaupt mitgehört werden kann - anders als etwa im Spätwerk Feldmans - liegt an Carters dualem Modell, das immer noch „abbildet“. Zu wenig ikonoklastisch, zu wenig „abstrakt“, wird es in seiner Klarheit reduktiv - zu einer Art sozialem Lehrstück. Abbildend, bildgebend aber wird die Musik, weil sie eine substanzlos gewordene Traditionsbürde mit sich führt, die nicht von einem seismographisches Bewusstsein für die Verwerfungen und das komplexe, ins Undarstellbare driftende Szenarium der Gegenwart umgeformt oder aufgelöst wird. Selbst die Argumentation, das Verhältnis von Ensemble und Solostimme diagnostiziere doch gerade die Paradoxie eines dynamisch erstarrten fait social, hat für die ästhetische Qualität nicht die geringste Bedeutung. Dass Musik nicht konsequent, nicht radikal genug ist, bleibt ihr nicht äußerlich. Ist solcher Defizite wegen auch Carters Klarinettenkonzert eher ein postmodernes Dokument? Sicher, auch Carters Musik ist eine der Zwischenbereiche. Weder hat sie etwas mit Stockhausens „Momentform“ noch etwas mit narrativen Modellen zu tun. Eine Musik des „Between“ hört sie weder subjektemphatisch noch subjektzynisch, weder nostalgisch noch katastrophisch, weder utopistisch noch defätistisch auf das, was ist. Eine Musik der Immanenz, transzendenzlos, beinahe sachlich. Und doch: Mag Carters Klarinettenkonzert auch ein ästhetisches Exerzitium gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt bieten, mit dem „Between“ Morton Feldmans und seiner „disorientation of memory“ hat es wenig zu tun. Was Carters Stück postmodern einfärbt, ist die Kreuzung, die die Klitterung zweier Idiome - mono-akustisch und neoklassizistisch das der Solostimme, poly-akustisch und mit dem Sprachrepertoire Neuer Musik komponiert das des Ensembles. Diese Zwitterhaftigkeit lässt Carters Stück modern und alt zugleich erscheinen, fast schon konventionell. Während Feldman im Kraftfeld der Moderne die Probe auf Kants Begriff der „ästhetischen Idee“ leistet, „die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“(21), entzieht Carters Klarinettenkonzert die Idee dem „Between“, der Offenheit des Schwebens, und verspannt sie mit postmoderner Deutlichkeit in ein duales Raster. Doch lassen Sie uns nach diesem Versuch mit Worten nochmals die Musik selbst hören: Bspl. 4: Wiederholung von Bspl. 3 Meine sehr geehrten Damen und Herren, verständlicherweise werden Sie jetzt einwenden, ich hätte die Metaphysikkritik zum Leitmotiv einer Musik der Postmoderne als der einer strikten Moderne gemacht, um gleichzeitig die Vielfalt jener Lizenzen zu vernachlässigen, die doch in den meisten Köpfen immer noch und gerade das Phänomen Postmoderne ausmachen. Eben weil die Überwindung der katastrophisch und heroisch fundierten Moderne eine Explosion unterschiedlichster ästhetischer Möglichkeiten und Formationen ausgelöst habe. Wenden wir uns deshalb in einem zweiten, kürzeren Teil meines Vortrags dieser Vielheit zu, wenn auch stets kontrapunktiert vom Kanon einer Neuen Musik, die ich radikal genannt habe. Vielheit ohne Einheit, ohne die ethisch bindende Richtkraft der Metaphysik: wäre das eine mögliche Konturierung des postmodernen Pluralismus? Ohne die Richtkraft der Metaphysik, aber mit der Richtkraft des Marktes? Von der Kunst her gesprochen ist der Slogan „Alles ist erlaubt, alles ist möglich“ eine Parole im Namen der Konsumenten, eine im Namen der Übermacht der Rezeption über die Produktion und die autonomieästhetischen Postulate von Werk und Autor. Und damit eine genaue Umkehrung des vorhin erwähnten Vorrangs der Produktion vor der Rezeption im Fall seriellen Komponierens. Im postmodernen Stadium der Moderne verlangt die marktorientierte Zivilgesellschaft, die unentwegt realökonomische Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse erzeugt, zumindest auf ästhetischem Gebiet Egalität. Das kann nur gelingen, wenn mit der Konsum- und Ranggleichheit von Kunstkunden und Kunstwerken das Gespür für den Wahrheitsgehalt der Kunst der Konkursmasse des Relativen zufällt. Den Dispens vom Anspruch der hohen Qualität erteilen die Usancen und persönlichen Vorlieben der Rezeption, denen zufolge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft dem arbeitsteiligen Individuum auch ein arbeitsteiliges Hören in vielen gleichwertigen Genres möglich sein soll. Der Markt spielt dabei die Rolle des Gleichmachers schlechthin, jenseits von gut und böse. Er stellt alles, solange es Rendite bringt, ins Belieben. Warum nicht auch die Renditen des Gefühls? Warum sollte das Musikhören multipler Individuen nicht eine mit Vitaminen, Kohlehydraten und Mineralstoffen ausgewogene Ernährung psychosensorisch-mental ergänzen und vom auditiven Fitnessprogramm einer rigorosen Entsubjektivierung bis zur Wellnesstour diverser Ego-Kuren reichen? Warum sollte die Psyche, bis ins Private hinein auf Affektcontainer und Rollenspiele verwiesen, nicht auch musikalisch im wahrsten Sinn des Wortes auf ihre Bedürfnisse hören? Die Kompensationsressource Kunst - postmodern eine Wahlfreiheit von Optionen. Was wäre daran problematisch? Zumal doch, so könnte eingewendet werden, der Singularitätsanspruch Neuer Musik, ihrer Metaphysikkritik zum Trotz, selbst metaphysisch sei. Im Übrigen vertrage sich die Ausschließlichkeit des großen Kunstwerks doch wesentlich besser mit der elitären Attitüde der klassischen Moderne als mit einer multikulturalen Kommunikationsgesellschaft und deren basisdemokratisch verstandenen Individualbedürfnissen. Dass in diesem basisdemokratisch - oder sollten wir besser sagen: formaldemokratisch - verstandenen Freiheitskontinuum die Sucht nach Spiegeln zum Hauptinventar von Belohnungssystemen gehört, ist eine Reaktion auf Überforderung. Auf die Überforderung der vereinzelten Individualagenten im Zwangskontinuum des Funktionierens und der Funktionalität. Unter dem Druck eines Lebens, das das Arbeitsethos bibeltreuer, universaler, sinnstiftender und existenzieller verinnerlicht hat als je eine Gesellschaft zuvor, mögen angstexorzistische Klang-Mutterhöhlen und Sound-Glocken einiges lindern. Was könnte einem Ego, das - verspannt zwischen Produzieren und Konsumieren - seiner Lebenskraft nach entmächtigt und seiner Kaufkraft nach überreizt wird, das Ethos von Schaffensprozess und Werk bedeuten? Ein Ethos übrigens, das schlagartig deutlich wird, wenn Sie sich einen Komponisten wie Mathias Spahlinger vorstellen, um besonders drastisch zu werden, der je nach Gusto und Gewinn, ebenso arbeitsteilig wie marktkonform, die verschiedensten Sparten bedienen würde. Hier haben Sie den Unterschied zwischen Produktion und Rezeption und mit ihm die postmoderne Dominanz der Rezeption über die Produktion als einer - wie ich meine - Absentierung des Ethischen vom Ästhetischen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Damen und Herren: Ich will hier keineswegs zu einem Ankläger hinter der Maske des Einfühlsamen werden. Und vielleicht sollten wir uns zwischendurch daran erinnern, dass wir zwar immerhin von Musik, aber immerhin doch auch nur von Musik sprechen. Niemand, der Feldman oder Lachenmann hört, ist dadurch bereits ein besserer Mensch. Was also spräche gegen den Pool postmoderner Lizenzen? Oder anders gefragt: Muss Neue Musik so unerbittlich sein, nur sich selbst verpflichtet, unbekümmert um jedwedes Publikum? Oder darf sie, ja muss sie - eine gemilderte Thora – Zugeständnisse machen? Etwa so, wie Friedrich Schiller dies dem Religionsstifter Moses zugestand? „Den wahren Gott kann er den Hebräern nicht verkündigen, weil sie unfähig sind, ihn zu fassen; einen fabelhaften will er nicht verkündigen, weil er diese widrige Rolle verachtet. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihnen seinen wahren Gott auf eine fabelhafte Art zu verkündigen .“(22) Wäre dies nicht eine geniale Einladung zum niveauvollen Laissez faire postmoderner Vielfalt? „Den wahren Gott“! Seine säkulare Epiphanie offenbart sich im Formenkreis einer Neuen Musik jenseits falscher Zugeständnisse immer noch als jene ikonoklastische Aura, die, um mich zu wiederholen, sämtliche bildgebenden Verfahren von Innerlichkeit und Projektion blind werden lässt und die Spiegel narzisstischer Selbstfindung zum Bersten bringt. Dagegen regt sich Widerstand. Gehören zur Essenz von Musik nicht seit je Trost und Tröstung? Und begründet nicht auch dieses Verlangen ein postmodern arbeitsteiliges Hören? Aber lässt denn die globalisierte Kunst- und Kulturindustrie überhaupt eine Differenz zu dem aufkommen, was anders wäre als sie selbst? Pausenlos verkündet sie, was man zu lieben hat, pausenlos suggeriert sie, „gut ist, was mir gut tut“. Die Freigabe der Welt zum konsumtiven Akt opponiert den Autoritätsgeboten nur vordergründig. In Wahrheit hat sie den Imperativ zu Trott und Trend längst verinnerlicht. Insofern wäre der omnipräsenten Konsum- und Zerstreuungsmusik nach wohl von einem musikalischen Analphabetismus der Weltgesellschaft insgesamt zu sprechen. Doch lassen wir das. Dazuzugehören, sich nicht einsam fühlen, sich belohnen - was wäre verständlicher? Wer oder was sollte in einer durchökonomisierten Welt des Rechnens und Messens, in einer Welt der gnadenlosen Immanenz und der Frist des Nur-einmal-Lebens noch verlangen oder erzwingen können, unnötig Schmerz zu ertragen? Oder Sinne und Verstand auf Verluste und Versagungen hin zu schärfen, die weder als Verlust noch als Versagung erfahren werden? Um sich der Ortlosigkeit in der Dissonanz- und Geräuschhölle Helmut Lachenmanns auszusetzen? Auch wenn der nicht müde wird, auf eine schon verdächtige Weise immer wieder von der „Heiterkeit“ seiner Musik zu sprechen? Was vermöchte Adornos „Glück der Erkenntnis“ inmitten der Angst, nicht zu leben? Einer Angst, die ja gerade als sozialer Triebgrund das Entertainmentfieber und den Sensationsamok schürt und Unterhaltung zu einer Wunderwaffe der Zeitüberlistung aufrüstet? Ist es überlebensstrategisch nicht klug, inmitten der Weltkonformität des protestantischen Ethos die verstörende, womöglich existenzgefährdende Offenheit von Experimenten abzuwehren - und seien es solche der Musik? Erfahrungsverweigerung zahlt sich aus. „Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher“ - Brechts Anti-Verführungs-Appell: kulturindustriell zumindest wird er tagtäglich umgesetzt, wenn auch nicht im Sinn seines Erfinders. Neue Musik, die kompromisslos-radikale, weiß von all dem mehr als genug. Was sollte sie anderes tun, als angesichts einer solchen Realität stoisch mit den Schultern zu zucken, falls sie denn welche hat? Hier moralisch zu argumentieren wäre moralistisch. Je mehr das grundlose Individuum ohne den Traum der Transzendenz seine Zufälligkeit ahnt, umso mehr verlangt es nach den Zerstreuungsmustern des Vertrauten. Wie sollten in einer Mangel- und Belastungsökonomie, die bei Marx „Vorgeschichte“ heißt und alle als Geiseln nimmt, die Ohren auf universale Weise angstfrei werden, um komplexe Klänge, polyvalente Strukturen, irritierende Schönheiten des Fremden zuzulassen? Die Nobilitierungsrendite, die die tonale Musik den Einzelnen bietet, liefert im Weltasyl der Flexibilität zumindest ein Habitat der Gewohnheit, eine flüchtige Illusion des Wohnens. Warum sollte sich diese Verwöhnung der Entwöhnung durch eine Musik aussetzen, die einem Eissturm gleich in die Wärme privater Wunschlandschaften einbricht? Aber das alles ist ja zur Genüge bekannt. Und dass die Erschütterungsvehemenz Neuer Musik auch aus dem Widerstand gegen die massenmedial postmoderne Verwöhnung zu begreifen ist, steht außer Frage. Als Musica negativa mahnt Neue Musik den Exodus aus einer harmoniesüchtigen Unmündigkeit an, die ihr als eine Verstocktheit gegen das Offene, Freie gilt. Diese Absage an den akustischen Spiegel des Sich-Wiederfindens gilt in postmodernen Milieus als sadistisches Unwesen. Kann es nicht sein, so wird gefragt - und ich bitte Sie, meine Damen und Herren, während der nächsten Sätze das Beispiel aus Phil Glass Violinkonzert in Ihrem inneren Ohr wie einen Kontrapunkt zum Gesagten mitzuhören -, kann es nicht sein, so wird gefragt, dass kompromisslos Neue Musik immer noch und trotz ihrer Varianten mit einer verinnerlichten Schock-Blockade das Trauma der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts unzeitgemäß konserviert? Kann es nicht sein, dass diese Musik unmenschlich ist nicht um des Menschlichen willen, sondern unmenschlich um des Unmenschlichen willen? Eine Musik möglicherweise, die den subtilen, aber sukzessiven Umbau des hinfälligen Homo sapiens zum kalkulierbaren, gefühlsresistenten Androiden begleitet. Mit dieser Registrierung spielt übrigens auch Paul Virilio seine neuerdings etwas platt aufgelegte These von der Grausamkeit zeitgenössischer Kunst durch: einer „Kunst des Schreckens“, deren terrormimetisches Potenzial selbst zum Terror werde.(23) Und doch, meine Damen und Herren: Natürlich wissen aufgeklärte und mit einem gewissen Repertoire an Angstfreiheit begabte Zeitgenossen, dass das von den postmodernen Lizenzen her kritisierte, vermeintlich Inhumane Neuer Musik eines der verzerrten Perspektive ist. Dass somit das, was an Neuer Musik subjektferne Kälte sein soll, keine Menschenverachtung der Musik selbst ist, sondern ein Erfahrungsdefizit des rezipierenden Bewusstseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte ausschließlich um seiner Selbstbestätigung willen da zu sein. Sobald hingegen Musik - der Postmoderne des Marktes zufolge - zum Mittel der Einfühlung degradiert wird, kann sie immer nur innerhalb des Echoraums von Erleben und Erlebnis antworten, nicht aber selbst, das heißt autonom sprechen. Das genießende, kundenhofierte Ich verkennt, dass es das, was es ständig für sich einfordert - nämlich es selbst zu sein - dem Kunstwerk abschlägt. Enteignet aber die Egomanie des Individuellen das, was anders ist als sie selbst, muss sie selbst enteignet werden. Mit einem zwischen Heidegger und Adorno changierenden Tonfall könnte man auch so formulieren: Neue Musik tilgt in sich das Menschliche als das ausnahmslos Subjektzentrierte, um sich dem herrschaftsblind und daher gesichtslos gewordenen Subjekt ohne vermeintlich menschliches Angesicht zu zeigen - und dadurch eben mit Antlitz. Dass das menschliche Gesicht in der Malerei der Moderne dekomponiert wird, verschwindet oder sich als Wunde zeigt, wäre eine Parallele dazu. Erst indem Neue Musik die Legierung von Formgedächtnis, Subjektspur und Ausdrucksgestus hinter sich lässt, bleibt sie inmitten postmoderner Lizenzen eine Musik der konsequenten Moderne. Dass die der Moderne verantwortliche Neue Musik unsinnlich sei, ist ein Widerspruch in sich. Abgesehen davon, dass sie die Vielfalt der Schwere und des Leichten kennt. Es gibt in ihr heiße und kalte Zonen, das Athletische und das Schwebende; das Immunisierende und das Öffnende und dazwischen Nuancen die Fülle. Neue Musik ist keine mehr, die pausenlos in Waffen steht. Ihr ununterbrochener Selbstversuch mit sich selbst lässt auch innerhalb ihres Spektrums etwas vom postmodernen Farbenbogen aufleuchten. Darin liegt ihr Tribut an die Verabschiedung der Geschichte vom Absoluten - mit der Avantgarde als einer Sparte unter vielen. Wie gesagt: Die Physiognomie Neuer Musik ist längst nicht mehr ausschließlich die von Tremendum und Schrecken. Seit Adorno hat der Monotheismus von der unversöhnlichen und einzig wahren Musik des Entsetzens an Überzeugungskraft verloren. Mittlerweile - und darauf reagiert die Rede von der Postmoderne zu Recht - mittlerweile nuancieren die Neue Musik längst polytheistische Züge. Allerdings halten auch hier ihre kompromisslosen Varianten an der Tradition des Bilderverbots und somit am ikonoklastischen Gebot fest. An einem Gebot des Unverfügbaren, Nutzlosen, gleichsam Heiligen, unzugänglich jeder Rechtfertigung ob seiner Tauglichkeit für das Goldene Kalb des Marktes. Früher war diese Nutzlosigkeit einmal ein Charakteristikum des Schönen. Heute ist sie eher das Bundeszeichen des Widerstands im neuen Babylon der Zerstreuung und inmitten einer Diaspora der Selbstvergessenen. Wobei ich mich hüten werde, um die alttestamentarischen Assoziationen zu komplettieren, von einem Bundeszeichen für Auserwählte zu sprechen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, sicher haben Sie schon lange die Hoffnung aufgegeben, von mir eine Antwort, geschweige denn eine Generalantwort zum Fragenkomplex unseres Themas zu bekommen. Eine solche Antwort machte sich unbestritten der Unredlichkeit und der Hochstapelei verdächtig. Lassen Sie mich daher, damit sich der Kreis zum Beginn des Vortrags schließen möge, erneut vom Reservat des Subjektiven aus zum Ende kommen. Ist die kulturelle Sphäre heute eine Marginalie des ökonomischen Dominiums, dann ist die marktresistente Neue Musik ein Skandalon, das sich nicht zurechthören lässt. Für den Markt der Postmoderne ist sie ein Sektor unter anderen, ein Ghetto eher, eine Alibi- und Subventionslast. Für einige wenige aber wird sie zum Ohr der Welt. Wahrscheinlich gehöre ich zu einer aussterbenden Spezies von Zeitgenossen, die von den letzten Distanzrefugien und deren Rand- und Rangqualitäten nicht ablassen wollen. Auch nicht vom Ethos einer Musik, die gegen die Konsumpflicht an einem Erkenntnischarakter festhält, der mehr ist als pure Selbstaffirmation: nämlich etwas Indisponibles, Anderes als das verordnet Gegebene. Auch wenn ich ahne, dass die Welt erst bis in den letzten Winkel durchkapitalisiert werden muss, bis ihre Zwangssysteme vielleicht auf die großen Weiten des Aufatmens und des Freien hin aufbrechen können. Auch dies ist eine Lesart der Globalisierung. Dass Globalisierung und Postmoderne viel miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand. Beide verweisen auf den zeiteffizient beschleunigten Markt als einer Expansion im Raum und auf die Raumhaftigkeit des Bestandes, der Verfügbarkeit, des Sich-bedienen-Könnens. Bis hin zu den Auswüchsen eines postmodernen Historismus und einem Weltarchiv, ja einer Archivwelt der Zitate und Plagiate und deren Mixturen. Dem Bestand, seiner Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, entspricht in letzter Konsequenz der globalisierte Blick von oben, der vom All auf den Planeten Erde.(24) Kunst aber partizipiert an den Zeitpressionen des Marktes, indem sie das parasitäre Vernutzen angesammelter Materialvorräte in den Rang des ehemals Schöpferischen erhebt. Innovationsrasanz und ein Kult des Neuen um jeden Preis sind Marktroutinen des organisierten Vergessens. Ethos als Marktresistenz hat demnach auch immer etwas mit Eingedenken zu tun. Und sei es als Einsicht in das verschwiegene Bündnis von Material und Geschichte: Rückbesinnung auf Vergangenes, verstanden als eine Erinnerung nach vorn. Nicht umsonst ist Mnemosyne die Mutter der Musen und der Künste, die nicht vergessen können.(25) Träfe somit nicht doch - wie an Phil Glass Violinkonzert erörtert - für eine Reihe postmoderner Kompositionen der Status des Dokuments zu? Für solche Kompositionen, die das Verdunsten der metaphysischen Aura mit der Fetischisierung des Materials und dessen Ausstellungscharakter verschleiern - unter Zurücknahme der reflexiv-mimetischen Annäherung an die Stoffressorts? Eine Annäherung, die selbst Cage niemals aufgegeben hat. Ästhetisch entspricht diese materiale Akkumulationsrasanz lediglich der konsumhysterischen Verdampfung des Gebrauchswerts in einer profitüberhitzten Weltmaschine des Tauschwerts. Im Zug einer digitalisierten Weltverfügbarkeit, die auch musikalisch maximale Effekte mit minimalem Aufwand garantiert; im Zug einer Kultur des Sampling; im Zug auch einer zum Basar der Stile vernetzten Welt-Musik stellen sich alte Fragen neu: Was ist ein Autor? Was ist ein Werk? Was ist ein Interpret? Und schließlich: Wie viel Postmoderne verträgt die Postmoderne? Das Gestöber des Aktuellen verdunkelt den Horizont des Potenziellen. Als Dauergravur des Kurzzeitgedächtnisses hat die Allgegenwart von Kalkül und Information die Zäsur der Stille nahezu vollständig eliminiert. Kein Wunder, dass ihre Leerstellen seit Cage für die Neue Musik so wichtig werden. Eben weil die Maxime des effizienzdressierten Bewusstseins lautet, sich pausenlos als Unternehmer seiner selbst zu schulen und den Rohstoff Welt zu verwerten, müsste ein Komponieren der Besinnung und des präzis geschärften Eigensinns der Sinne nicht nur auf das „Dass“ der Materialressourcen reagieren, sondern sich vor allem auf das „Wie“ der Arbeit mit ihnen konzentrieren. Je größer die Versuchung postmoderner Materialekstasen wird, die Ressourcen selbst mit Kunst zu verwechseln - Ressourcen, die doch ihren technischen Möglichkeiten und Zwängen nach zunächst unaufgeregt als Material zu begreifen wären -, umso mehr kommt es darauf an, wie klug und sensibel sich Komponistinnen und Komponisten in den Stoffmagazinen bewegen. Dass die ästhetische Qualität trotz postmoderner Entlastungseuphorien immer noch von einer Musik bestimmt wird, die tief schneidet - mögen diese Schnitte wie bei Feldman noch so weich geführt scheinen -, verweist das kompositorische Metier auf die Fühlungnahme mit der Problem-Agenda des Zeit- und Weltgeistes. Nichts anderes als diese Fühlungnahme meint der Begriff des Ethos in meinem Vortrag. Unverzichtbar bleibt eine gewisse Alarmbereitschaft für die Belange des Jetzt und dafür, was aufgrund dieser Belange vom Bewusstsein des Materials als einer Matrix und eines Resonanzraums von Geschichte her noch möglich ist und was nicht. Darin gab auch Lyotards Postmoderne-Begriff in nichts nach. Wird demnach das Signum Postmoderne auch für Kompositorisches jenseits der Einsicht in obsolet gewordene Sinninstanzen reserviert; für ein Komponieren also, das das vermeintlich Anti- und Inhumane wieder auf menschliche Proportionen zurückbringen will, dann wäre in solchen Fällen zwar von postmoderner Musik zu reden, aber doch wohl von einer des abgesenkten Niveaus. Dass die plurale Version der Postmoderne die Koexistenz des Vielen ohne hierarchische Abstufung zulässt, liegt weniger an einer Unschärfe der Terminologie als daran, dass das Einzelwerk zum Supplement des Ichs im Spiel gleichgültiger Idiome vergleichgültigt wird. Eine letzte Konsequenz postmoderner Beliebigkeit. Sowenig es um eine Pauschalkritik des postmodernen Stilpluralismus zu tun ist, sowenig ein Diktat der einzig wahren Rezeption zu lancieren wäre, sowenig dürfte es angehen, dass postmodern flottierende Rezeptionsmuster die künstlerische Produktion bis ins Letzte reglementieren. Müsste, dürfte, sollte! Sie merken, meine Damen und Herren, wie die Coda meiner Rede ethisch beschwingt wird. Also doch eine Jeremiade zugunsten der Thora der einzig wahren Musik? Und dies in einem Vortrag zum Thema Postmoderne! Mit dem untergründigen Kommentar womöglich, erst eine Neue Musik, die diesen Namen verdient, eröffne mit ihrer Entsetzung von egomanen Selbstbeschränkungsmanövern und Selbstbeschränktheitsblockaden neue Horizonte des Freien und Offenen. Ach, das Ethos, wie harmlos und ohnmächtig, wie ärgerlich es doch geworden ist! Fragen wir deshalb am Ende nochmals - ohne jedes Prophetenpathos und geradezu menschenfreundlich - das Publikum, die Hörer, deretwegen, wie es heißt, die Musik doch da sein soll. Die aber zucken nun ihrerseits als postmoderne Konsumenten mit den Schultern und hören - das, was sie wollen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihre Geduld. Anmerkungen 1 Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. IV, 1, Frankfurt am Main 1972, S. 107f. 2 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, Zweiter Teilband, S. 043. 3 Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild, in: GS 10,1, S. 449f. 4 Zur Spur des Todes in den Arbeiten von John Cage, vgl. Johannes Bauer, Cage und die Tradition, in Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Mythos Cage, Hofheim 1999, sowie Johannes Bauer, «Ständig gleich gegenwärtig». Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 50 (II 2002) 5 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 2, S. 141. 6 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 402. 7 Vgl. dazu Johannes Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 64 (IX 2005). 8 Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, S. 199. 9 Für den Zusammenhang zwischen Moderne, Metaphysik- und Subjektkritik und gewissen Zeitdauern nach dem „Tod Gottes“ ist die Abwehr des Psychologischen besonders aufschlussreich. So findet Kafkas Satz „Zum letztenmal Psychologie!“ seine Varianten bei Artaud „Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen“; bei Marinetti: „Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie“; bei Cage, dem es auf „Kompositionen“ ankommt, „deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinnerung (Psychologie)" und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als ein Abweg des „vorstellenden Denkens“, seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt. Und hatte nicht schon Stavrogin in den Dämonen Dostojewskis gegenüber den verhassten „Psychologen“, „die mir in die Seele dringen“, auf dem Recht der Selbstbestimmung bestanden und darauf, „dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietzsche? „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. - Und wir - wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ 10 Vgl. dazu Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik. 11 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1980, S. 92ff. 12 Vgl. dazu Heidegger, Brief über den „Humanismus“, in: Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, S. 153. 13 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 125. 14 Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 293. - Die Nachdrücklichkeit, mit der auf dem - vom Humanismus her - Inhumanen und Antihumanen insistiert wird, kann sich seit Nietzsche auf eine Reihe prominenter Vertreter berufen, etwa auf Apollinaire, Dubuffet, Heidegger, Henry Miller, Lévi Strauss, Foucault oder Lyotard. 15 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: GS 16, S S. 635. 16 Morton Feldman, After Modernism, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 74. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 15, S. 573. 18 Nach Feldmans programmatischem Aufsatz Between Categories, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 83ff. 19 Vgl. ausführlicher zu Feldman: Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik, in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33). 20 Vgl. dazu Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik. 21 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, Bd. 10, S. 249f. 22 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980, Bd. 4, S. 799. 23 Vgl. dazu Paul Virilio, Die Kunst des Schreckens, Berlin 2001. 24 Wie sehr der Blick von oben der Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und einer Erfahrung des Bestandes korreliert, zeigt die „Sechste Fahrt“ aus Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, einer Gründungsurkunde globaler Weltsicht. „Viertehalbtausend Fuß tief rannte die weite Erde [...] unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Holzungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen [...] Auf der Fläche, die auf allen Seiten ins Unendliche hinausfloss, spielten alle verschiedenen Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen zugleich - einer wird hier unter mir Landes verwiesen - drüben desertiert einer, und Glocken läuten herauf zum fürstlichen Empfang desselben - hier in den brennend-farbigen Wiesen wird gemähet - dort werden die Feuersprützen probiert - englische Reuter ziehen mit goldnen Fahnen und Schabaracken aus - Gräber in neun Dorfschaften werden gehauen - Weiber knien am Wege vor Kapellen - ein Wagen mit weimarschen Komödianten kommt - viele Kammerwagen von Bräuten mit besoffnen Brautführern - Paradeplätze mit Parolen und Musiken - hinter dem Gebüsche ersäuft sich einer in einem tiefen Perlenbach [...].“ (Jean Pauls Werke in zwölf Bänden, hg. v. Norbert Miller, München/Wien 1975, Bd. 6, S. 559f.) 25 Vgl. dazu Johannes Bauer, Und Troja brennt noch immer. Arbeit am Mythos in Liza Lims ›The Oresteia‹, in: Dissonanz Nr. 97 (III 2007).