top of page

78 Ergebnisse gefunden mit einer leeren Suche

  • Johannes Bauer, Neue Musik und das Phantom der Postmoderne

    Musik der Postmoderne Ein Phantom? Kafkas Satz "Zum letztenmal Psychologie!" findet seine Varianten bei Artaud: "Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen"; bei Cage, dem es auf "Kompositionen" ankommt, "deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinne­rung (Psychologie)"; bei Marinetti: "Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie", und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als eine Machen­schaft des seinsvergessenen Subjekts, als ein Abweg des "vorstellenden Denkens", seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt. Und hatte nicht schon Stavrogin in Dostojewskis Dämonen seine Abneigung gegen die "Psychologen" zum Ausdruck gebracht, "die mir in die Seele dringen", und dem­gegenüber auf Selbstbestimmung bestanden, darauf, "dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietz­sche und dem Problem ihrer Überschreitung? "Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!" Johannes Bauer, Vorbemerkung zu einigen Thesen über das Verhältnis zwischen Moderne und Postmoderne in der Musik Mehr als ein Schattendiskurs? Neue Musik und das Phantom der Postmoderne Ringvorlesung am Salzburger Mozarteum (2007) Postmoderne Musik Ein Essay Paris-Lodron-Universität Salzburg / Universität Mozarteum Ringvorlesung Postmoderne (Wintersemester 2007/2008 ​ ​ ​ ​ ​ ​ ​ ​ ​ Mehr als ein Schattendiskurs? ​ Neue Musik und das Phantom der Postmoderne ​ ​ Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, Sie kennen es alle: das Problem des Beginns, den Anspruch erster Sätze, die Zumutung einer leeren Seite. Und als würden die Bürde des initialen Akts und sein Di­lemma zwischen Sog und Tabu nicht schon genügen, wird einem Vortrag zum Themen­kreis der Postmoderne der Anfang zudem noch wegen des zu Recht oder zu Unrecht ver­kündeten Endes der Großen Erzählungen fraglich. Und dass es mittlerweile zum guten Ton dekonstruktivistischer Schulung gehört, die Schwierigkeit des Anfangs als Schwierigkeit zu benennen: wer wüsste es nicht? Wie also wäre im endlosen Reigen der Diskurse, der je­den Anfang immer schon zu spät kommen lässt, so etwas wie eine Zäsur zu setzen? Um jedoch, entmutigt von solchen Malaisen des Beginnens, nicht sofort wieder das Podium zu verlassen, empfiehlt sich vielleicht zunächst eine Art Selbstversuch. Ein Versuch, der möglichst unverfänglich „Ich“ sagt und auf Werturteile verzichtet - vorerst wenigstens. Gestatten Sie mir deshalb den Anfang mit einer persönlichen Erfahrung, die rund fünfzehn Jahre zurückliegt. Mit einer Erfahrung, die etwas anschaulicher werden mag, wenn ich Sie bitte, sich folgende Szenerie vorzustellen: Griechenland, Rhodos, das Meer, kurz: einen Sonnentag von mediterraner Fülle. Und inmitten solcher Sommerwunder einen Zeitgenossen, der zum ersten Mal diese Musik hört: Bspl. 1: Philip Glass, Concerto for Violin and Orchestra , (2) [Tr. 2, 0´00–2´55] [2´55] (Wiener Philharmoniker, Christoph von Dohnányi, Gidon Kremer) Natürlich weiß ich nicht, was der soeben gehörte Ausschnitt aus Philip Glass’ Concerto for Violin and Orchestra bei Ihnen ausgelöst hat. Ich zumindest war von diesen einfachen, ja simplen Takten berührt. Genauer: berührt und irritiert. Wie war dieses Abweichen von der Thora der Neuen Musik - der strengen, einzig wahren - überhaupt möglich? Dieser Kon­trollverlust? War es der Wunsch nach Regression, gefördert durch die emotionalisierende Dienstleistungsfunktion der Klänge? Hatte sich gar das Mirakel einer sirenenhaften Lo­ckung ereignet - damals, unter dem blauen Himmel der Ägäis? Trainiert, wenigstens argumentativ mit sich ins Reine zu kommen, verweist der Katechismus intellektueller Gewissenserforschung inmitten solcher Anfechtungen auf ei­nen seiner investigativen Grundsatzartikel, auf den nämlich, ob Glass’ Violinkonzert nicht schlicht purer Kitsch sei. Falls aber nicht, worin liegt dann die Hintergründigkeit des so belanglos Komponierten? Um Sie nun nicht weiter mit den Details von reflexiver Einkehr und ästhetischer Absolution zu langweilen, nur so viel: Für mich - und bitte beachten Sie, dass ich noch immer im Namen einer privaten Einzelerfahrung spreche - für mich bedeutet Glass’ Vio­linkonzert eine Musik des Als-ob. Eine Musik der Melancholie aus zweiter Hand, gleich­sam einer in Anführungszeichen. Konfliktfrei, routiniert und kulinarisch aufbereitet zele­briert und diagnostiziert diese Musik, wenn auch unfreiwillig, den einsamkeitsgespeisten Narzissmus der Gegenwart. Mit ihrer Verliebtheit in die Alltäglichkeit von Sequenzen und Kadenzen, dabei ebenso wiederholungssicher wie selbstgenügsam in eingängigen Patterns in-sich kreisend, animiert, verführt und täuscht sie mit Raffinesse. Zehrt sie vom Kult der Stimmungen doch nur, um diesen Kult über tonale Versatzstücke sofort wieder auf formel­hafte Gefühlsrelikte hin abzudämpfen: eine cool gestylte Soft music moderner Großstadt­wüsten, fast ohne Eigenschaften. Glass’ Violinkonzert : die musikalische Hohlraumversiegelung einer diffusen und leeren Innerlichkeit und einer ebenso diffusen Trauer über diese Leere. Ist dies die Musik einer reflektierten Zustandsbeschreibung, die der Kunst nicht aufbürdet, was Sache der Ethik ist? Eine Musik der Gewaltenteilung, ein Komponieren ohne Häme und ohne das Ecce-Homo-Pathos so vieler - vermeintlich standhafter - zeitgenössischer Solokonzerte? Was aber machen wir - durch die Schule Adornos gegangen - mit der provokant simplen Faktur dieses Konzerts? Zeigt diese Faktur nicht dadurch Wirkung, schärfer for­muliert: rächt sie sich nicht dadurch, dass sie die Komposition in das Genre der Beschrei­bung verweist? In das der Schilderung? In den Bereich des Dokuments also, den Walter Benjamin dem des Kunstwerks kontrastiert, sofern aufseiten des Dokuments die ‚Herr­schaft des Stoffs’ und des „Stofflichen“ dominiere, im Kunstwerk aber das „Formgesetz“?(1) Denkt man Benjamin zufolge das Formgesetz und mit ihm das Kunstwerk im Pakt mit dem aktuell komplexen Entwicklungsstand der ästhetischen Produktivkräfte, dann setzt Benja­mins analytischer Kanon nicht nur eine Differenz der Sphären - die des Dokuments und die des Kunstwerks -, sondern einen Rangunterschied. Glass´ Violinkonzert : nicht mehr und nicht weniger als ein Dokument? Als Kunstwerk hätte sich ein Solokonzert heutigen Kom­ponierens demnach anders anzuhören. Etwa so: Bspl. 2: Helmut Lachenmann, Ausklang, Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00-2´27] [2´27] (Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini) Während das Violinkonzert von Phil Glass die Ich-Rhetorik als Sprache, als die Sprache voraussetzt, unternimmt das soeben angespielte Beispiel aus Helmut Lachenmanns Aus­klang eine Art Probebohrung in den Sprachgrund der Musik selbst. Lachenmanns Kompo­sition für „Klavier mit Orchester“ lotet über die Andeutung und den gleichzeitigen Entzug musikalischer Sinneffekte, über deren Genese und Herstellbarkeit also, die historische Di­mension dieses Sprachgrunds aus: sein Werden und sein Vergehen. Zielt Glass aufs Ver­traute, dann Lachenmann aufs Unbekannte. Lachenmann interessiert nicht das konzertante Wechselspiel, ihn interessiert die Analyse der „Abbau- und Umbau-Prozesse“ zwischen Soloinstrument und Orchester. Musik wird hier nicht zum Generator einer Sinnspur. Im Gegenteil: Erst das Aussetzen der subjektdramatischen Zeit ermöglicht eine neue Präsenz der Klänge, ihrer geschichtlichen Ladung und ihrer materialen Basis. Erst mit dem Spren­gen der narrativ gefestigten Einheit der Subjektmonade differenzieren sich die Mittel, um durch die Demontage überkommener Affektklischees und durch die Beseitigung sämtli­cher Aufschubsbarrieren zwischen kompositorischen Haupt- und Nebensachen dem Ohr eine ungewohnte Tiefenschärfe zu geben. Die simultane Entstehungszeit der Kompositionen Lachenmanns und Glass´ - 1985 und 1987 -, lässt fragen, ob es sich auch hier um zwei Kulturen handelt, um zwei Kulturen von Musik. Um eine authentische und eine weniger authentische, um eine wahre und eine falsche. Oder geht es hier einfach nur um zwei gleichwertige Optionen in einem Katalog mannigfacher Angebote? Womit wir im Zentrum unseres Themas wären: Wie sehr hat sich eine Analyse postmodernen Komponierens an dem zu orientieren, was - versuchsweise - radikale Neue Musik heißen könnte? Das heißt an einer Musik, die tief schneidet, die ihren Sprachgrund freilegt, sich über komplexe Texturen wie über strukturelle Abrüstungen am Unberechen­baren und Unverfügbaren versucht, ohne der Kompression einer medial überverdichteten Welt mit der Depression nostalgischer Ich-Legenden zu antworten; an einer Musik folg­lich, die sich von der Einheit des Subjekts, vom Humanismus und mithin von ihrem meta­physischen Erbe verabschiedet? Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zunächst daran erinnern, dass die Be­stimmung postmoderner Kunst eine begriffsverwirrte ist. Schwierig werden Diskussionen zum Thema Postmoderne meist, weil Definitionen gegeneinander ausgespielt und abge­wertet werden, sich außerdem ständig vermischen, ohne hinreichend präzisiert worden zu sein. Etwa die Auffassung von einer Postmoderne des „Anything goes“, die übrigens we­niger trivial ist als es ihr Schlagwortdasein vermuten lässt. Oder die Auffassung von einer Postmoderne im Anschluss an Jean-François Lyotard, der die Postmoderne als eine kon­trastreiche Feinbestimmung der Moderne versteht. Oder, eine dritte Spielart, die Auffas­sung von einer Postmoderne, in der es zwar Qualitätskriterien geben soll, aber bitte keine allzu rigorosen. Und inmitten all dieser Varianten der Zweifel, ob der hektische Wechsel der Periodisierungen und Etikettierungen – Prämoderne, Moderne, Anti-Moderne, Post­moderne, Zweite Moderne – nicht in erster Linie Ordnungsfallen kultiviere, die sich an ei­ner Sinngebung der Unübersichtlichkeit des allzu Nahen versuchen. Womöglich gilt auch für die Musik, was Niklas Luhmann nach immerhin fast 1200 Seiten am Ende seiner Theo­rie der Gesellschaft resümiert: „Unsere Analysen haben keinerlei Anhaltspunkte dafür ge­geben, dass irgendwann in diesem Jahrhundert, vermutlich in dessen zweiter Hälfte, eine Epochenzäsur zu beobachten wäre, die das Gesellschaftssystem selbst betrifft und es recht­fertigen könnte, einen Übergang von der modernen zu einer postmodernen Gesellschaft zu behaupten. [...] Nach wie vor werden all die Errungenschaften der Moderne [...] beibehal­ten; nur ihre Konsequenzen findet man schärfer ausgeprägt. Selbst im Kunstsystem (Ar­chitektur vielleicht ausgenommen) gibt es keine scharfen Epochengrenzen zwischen mo­derner und postmoderner Kunst.“(2) Ich möchte hier vor allem auf Lyotard verweisen. Seine Ablehnung der Beliebig­keit des „Alles ist erlaubt“ verpflichtet die Kunst der Postmoderne auf die der Moderne. Auf eine Kunst des Experiments, die mit der Naturwissenschaft ihrer Epoche den Abschied von intuitiven Wahrnehmungsprozessen teilt und für die Energien des Unkalkulierbaren und Undarstellbaren im Namen des Erhabenen sensibilisiert. Kompositorisch gesprochen weist dies in die Richtung einer Musik der Mikro- und Zwischenbereiche, der mit der zweiwertigen Logik von Kohärenz und Inkohärenz, von Askese und Sinnlichkeit, von Wahrheit und Lüge nicht mehr beizukommen ist. Einer Musik aber auch - und das wäre die Differenz zwischen Lyotard und Adorno - die nicht mehr am Werkorganismus - auch nicht dem der Zerrüttung - und keineswegs mehr am „Ausdruck des Entsetzens“ eichbar ist. Kurz, einer Musik, die sich einer normativen Ästhetik metaphysischen Zuschnitts entzieht - und das ohne Bedauern. Dass ein Komponist wie Cage dabei zur philosophischen Schranke zwischen Adorno und Lyotard wird, ist nur konsequent. Auch hier wieder das Thema Metaphysik und Neue Musik. War es nicht Adorno, dem zufolge die Kunst der Moderne um einen „metaphysischen Sinnverlust“ kreist?(3) Wo­möglich wären es die Reaktionsweisen auf den Zerfall der metaphysischen Episteme, die eine Grenze zwischen Moderne und Postmoderne ziehen. Hier ist wohl die beste Gelegenheit, Ihnen, meine Damen und Herren, genau diesen Gedanken als die grundlegende These meiner Überlegungen vorzustellen. Eine These, die seit Nietzsche alles andere als neu ist, bei der es allerdings darauf ankommt, wie sie ent­faltet wird. Es soll also um die Lesart gehen, die die Kunst der Moderne von der Auflösung ihrer metaphysischen Konditionen her zu entziffern sucht. Eingebettet in den gesamtgesell­schaftlichen Prozess entpuppt sich von diesem ästhetischen Großereignis her die Postmo­derne als eine strikte Konsequenz der Moderne oder, wenn Sie so wollen, als eine mehr oder weniger belanglose Periodenmarkierung. Zu einer mehr oder weniger belanglosen Pe­riodenmarkierung wird nun freilich auch der Begriff der Moderne selbst, der sich überstra­paziert, weil die Epochenstrecke, die er abzudecken hat, immer länger wird. Mein Vor­schlag zur Güte oder zur Ungüte wäre deshalb, mit dem Begriff der Postmoderne auch den der Moderne zeitweise auszusetzen und stattdessen - im Anschluss an Nietzsche - von den Grabenkämpfen, den Zerstörungs- und Verteidigungsgefechten auszugehen, die das Ende der abendländischen Metaphysik martialisch aufladen. Konzentrieren wir uns daher wie Heidegger, Adorno, Derrida oder Lyotard auf die Arena dieser Auflösung. Nun soll dieser Vortrag nicht primär von Philosophie handeln, sondern davon, wie der metaphysische Zerfallsprozess das musikalische Terrain verändert und auf ein postmo­dernes Komponieren hin auflockert. Dennoch bleibt zunächst die Frage: Metaphysik und Musik, Metaphysik in der Musik - was kann das überhaupt bedeuten? Am nachdrücklichsten zeigt sich das metaphysische Fluidum von Musik an Kom­positionen der dur-moll-harmonischen Epoche. Und zwar als transzendierendes Moment, als eine gewisse Levitationstendenz, das Schwergewicht der Welt über den ästhetischen Widerhall dieser Welt vorübergehend aufzuheben, zumindest zu erleichtern. Widerhall von Welt verstanden nicht als deren harmoniesüchtige Zurichtung, wohl aber als Ausschluss aller nicht im reinen Ton sublimierbaren Expressionen, ihrer Nacktheit und ihrer existen­ziellen Abgründe. In dieser Epoche von einem Platonismus des geistsublimierten Körpers zugunsten der musikalischen Idee zu sprechen, ist sicher nicht falsch. Zudem legiert sich in der tonalen Ära der reine Ton mit der Reinheit des Werks, das heißt, mit dem Entwurf des Werks als Organismus. Wobei die organische Einheit und Geschlossenheit des Werks der Einheit und der Geschlossenheit des hörenden Subjekts aufs Engste korrespondieren, ja sie erzeugen. Diese Wechselwirkung zwischen Werk und Subjekt ist so dicht, dass sich die empirisch irreversible Zeit beim Hören mitunter in der ästhetischen Zeit kondensiert: und zwar mit einem Gefühl der Unsterblichkeit. Es ist diese nunmehr überwiegend narzissti­sche Selbstvermittlung, die den meisten Ohren nach wie vor als die einzige und universale Sprache der Musik gilt. Massenwirksam trivialisiert in den Ressorts Klassik und Pop. Me­taphysisch-humanistische Rest-Energien aus dem Fundus des Homo divinus aktivieren sich hier zu einer Praxis der Selbstaffirmation. Im Mittelpunkt steht das zum Subjekt - oder eine Etage tiefer - das zum konsistenten Ich verklärte Individuum, dem wenigstens die Mu­sik etwas von seiner säkularen Gottesimago zu retten erlaubt. Gravierend ist nun, dass Neue Musik solche metaphysischen Modalitäten auflöst. Und mit ihnen den Schein der Transzendenz. Neue Musik begreift sich primär als eine der Immanenz. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorrangig nach dem Reglement eines athletischen, ja schwerathletischen Komponierens - angemessen dem Schwergewicht der Welt, ihrer Gewalt- und Terrorgeschichte. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts dann mit einer Tendenz zur Steigerung des Immanenzgebots. Jetzt nämlich reflektiert Musik das Bewusstsein und die Spur des Todes nicht mehr nur als ein ästhetisch gelindertes Sujet: die Struktur selbst wird zum Ort der Kontingenz als einer Erfahrung von Endlichkeit ohne Transzendenzbonus.(4) Zum einen infolge der Leerstellen und Lecks, die das Rauschen und die Stille im Kosmos der Werke aufbrechen lassen; zum anderen infolge der Überdetermi­nierung durch Zufall und rhizomatische Komplexität, die jedes prophetische, jedes voraus- und zurückhörende Hören außer Kraft setzen und mit ihm die Suggestion ästhetisch gewährter Unsterblichkeit. Die gottererbten Allmachtsfantasien des Subjekts, auch die des hörenden, jederzeit Herr der Lage zu sein, jederzeit über das Wo und Wie und Wann Be­scheid zu wissen, scheitern an der Überforderung, jenes Unberechenbare sinnvoll aufzulö­sen, das der Formenkreis des Zufalls zumutet. Nietzsche schon hat diese Unberechenbar­keit zum traumatischen Faszinosum der Moderne erklärt und Cage wird mit der Relevanz des Zufalls eine massiv metaphysikzersetzende Variante in die Musik nach 1945 ein­schleusen. Diese metaphysikzersetzende Variante wird noch klarer, wenn ich Sie daran erinnere, dass die Aufhebung des Zufalls noch in Hegels philosophischer Agenda an oberster Stelle stand. Dass Neue Musik inzwischen das Gebot strenger Immanenz wieder gemildert hat, resultiert meines Erachtens aus einer Überschreitung, die den Abschied vom Ethos der Metaphysik und seinem Sinnpotenzial nicht mehr als Tragödie, nicht mehr als Verlust be­greift. Ich werde auf diese Figur der Überschreitung und was sie mit postmodernem Be­wusstsein zu tun haben könnte, später noch zurückkommen. Ich habe, meine Damen und Herren, von einem Komponieren gesprochen - sollen wir es probeweise „postmodern“ nennen? -, das sich vom Subjekt und seiner idealisierten Herrschaftsperspektive, dem Humanismus, verabschiedet. Von einem Komponieren, das stattdessen auf die Erosion individueller Autonomie im Vermittlungsgetriebe der Massen­gesellschaft reagiert. Sprach Nietzsche bereits vom „Dividuum“, muss, wer heute das Wort Individuum, gar das vom Subjekt in den Mund nimmt, einer Verspannung in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen Rechnung tragen, die einander durchdrin­gen und polyphrene Bewältigungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Zu rechnen ist mit multiplen Psychen, die gelernt haben, widersprüchliche Denk- und Handlungswei­sen unter einen Hut zu bringen und deshalb im Privaten den harten Kern des Ego umso zä­her konservieren. Um diesem Zustand musikalisch zu begegnen, gibt es etwa für die Gat­tung des Solokonzerts auf postmodernem Terrain mindestens zwei Möglichkeiten: Entwe­der die einer Einsicht in den zwingenden, gar befreienden Konkurs des Subjektmonopols oder diejenige, die sich mit einer Verteidigung der Ich-Rhetorik dagegen sperrt. Glass und Lachenmann wären dafür Beispiele. Zieht demnach das Ende der Großen Erzählung vom Subjekt - vom Entwurf des Menschen in seiner Einheit als Selbstbewusstsein und von dem des Kunstwerks in seiner Einheit als Organismus - eine zusätzliche Grenze zwischen Moderne und Postmoderne? Wäre postmoderne Musik demzufolge mit dem Abschied vom Fundamentalismus der Werkkonsistenz, vom Subjektcharakter des Kunstwerks anzusetzen? Da doch erst ein Komponieren, das mit dem geplanten Zufall, mit variablen Formen und einer bislang un­bekannten Freiheit der Interpreten arbeitet - mit dem Aufbrechen der unveränderlich ge­schlossenen Einheitszeit also -, eine Fülle neuer Verfahren und Genres freigibt? Vor allem die einer Verflüssigung der Werkästhetik? Und damit performative Strukturen, besser: Nicht-Strukturen samt der Möglichkeit ungeahnter Synapsenbildungen; zusammen mit ei­nem Repertoire an „Übermalungen, Inskriptionen und Kontrafakturen“, um Wolfgang Rihm zu zitieren; einem Repertoire an Transfer und Recycling, an Mischungen und Kreu­zungen jenseits des Unterschieds von Rohem und Gekochtem? Wobei der Begriff des Ro­hen und Gekochten auf den Grad der Konstruktion anspielt. Und all dies im Wuchern pro­misker, hybrider Formen. Würde somit eine Postmoderne der Musik erst dann manifest, wenn das Bündnis aus Notation, Struktur und qualitativ artikulierter Zeit zerfällt und das Ausbleichen des Formgedächtnisses vormals tabuisierte Zonen einlässt? Die des Geräuschs etwa - einem Fading von Kunst und Empirie vergleichbar? Wenn sich also der von Hegel überlieferte Kontext zwischen Sprache, Subjekt und (Welt-)Geist zersetzt und mit ihm der Wahrheitsbegriff nicht nur des Kunstwerks? Indes die Übermacht des Energetischen über das Semantische Verwerfungen des ästhetischen Sinns produziert, die auf die philosophi­sche Hermeneutik dieses Sinns zurückwirken? Wie Sie hören, meine Damen und Herren, bin ich nicht darauf aus, Sie mit Ant­worten zu beruhigen, sondern darauf, Sie mit Fragen zu beunruhigen. Mit Fragen, bei de­nen es ein Leichtes wäre, sie als überzeugungssichere Behauptungssätze zu präsentieren. Was anlässlich einer akademischen Veranstaltung zudem noch den Vorteil des Seriösen hätte. In meinem Fall allerdings auch unredlicher wäre: ratlos wie ich bin auf dem Gebiet postmoderner Musik. Was können demnach die metaphysik- und subjektkritischen Impulse Neuer Musik zum Begriff einer musikalischen Postmoderne beitragen? Bekanntlich war es der Perfekti­onsgedanke als Garant des Schönen und Wahren, der das Kunstwerk in seiner Ausformung zum Organismus in den metaphysischen Rang des Vollkommenen als des absolut Notwen­digen erhob. In den Rang einer Vollkommenheit, zu deren Suggestionskraft es gehört, frei von allen Schlacken des Gemachten zu sein. Bis der Genealoge Nietzsche in einem grandi­osen Inthronisierungsakt der Moderne das Dogma vom „Vollkommenen“, das „nicht ge­worden sein [soll]“, zum „mythologischen“ Relikt genialischer Schöpfungsfantasien er­klärt.(5) Und als wäre ihr Nietzsches Appell zum Programm geworden, zeigt sich Metaphysik­kritik in der Neuen Musik nicht selten an einer Offenlegung der Genese als ei­ner Fühlungnahme mit dem Herstellungsprozess des Komponierten. Lachenmanns Autopsie des Tons etwa schärft das Ohr für die Einheit zwischen der Physis des Klangs, seiner Stoff- und Energiebasis, und dem musikalischen Diskurs. Jede Verschleierung dieser Untrennbarkeit wäre für den Komponisten Lachenmann im Bereich Neuer Musik harmonistisch, gewissermaßen philharmonisch. Sinn ist von seinen materia­len Trägern ebenso wenig zu lösen wie die Botschaft von ihrem Medium. Gegen die Aus­grenzungsdirektiven des Zivilisationsprozesses interpretiert Lachenmanns Musik den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs. Eine „Umwertung der Werte“, die wieder an Nietzsche denken lässt. Das Verfahren, die mechanischen Bedingungen der Klangerzeugung ohne Reinheitsfilter in die Komposition einzubeziehen, verabschiedet ein platonisches Ideal der Läuterung. Und damit ein Ideal, das sich über Epochen hinter reinen Tönen und wohlpro­portionierten Konstruktionen verschanzt und eine Art musikalischer Ideenhimmel konsoli­diert hatte. Klang verstanden als „Nachricht seiner Hervorbringung“(6) hebt die Hierarchie zwi­schen Geist und Materie auf und mit ihr das Gefälle zwischen der Idee und dem Boten­stoff des Sinnlichen. Musikalische Metaphysikkritik par excellence!(7) Nicht zufällig blitzt in Lachenmanns Begriff eines aufbrechenden „Freiraums von Nicht-Musik“(8) die Spur ei­ner Dekomposition der abendländischen Musikgeschichte auf - in Parallele zu Heideggers ›anderem Anfang‹ einer Nicht-Metaphysik des Denkens und einer „Destruktion“ der abendländischen Metaphysikgeschichte. Haben Sie noch ein wenig Geduld, meine Damen und Herren, ein wenig Geduld auch mit mir, und lassen Sie uns den Strang einer kompositorischen Metaphysikkritik mit Blick auf die Schlüssigkeit des Periodenbegriffs „Postmoderne Musik“ noch ein wenig weiterverfolgen. Von Beginn an steht Neue Musik - gleichzeitigen philosophischen Tendenzen ana­log - in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Des­sen Gründungs- und Begründungsmacht - „nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich musi­kalisch am nachhaltigsten in der austarierten Werkeinheit zur Zeit der tonalen Epoche. Das heißt in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und - ich erinnere an Mozarts abgründigen Musikalischen Spaß - in den dieser kompositorischen Logik zufolge erst möglichen Regel­verstößen. Auch wenn für Schopenhauer Musik den „Satz vom Grund“ ausdrücklich ent­mächtigt, bleibt dessen Schatten gleichwohl im Innern jener Kompositionen Mozarts und Rossinis präsent, die dem Philosophen um 1820 das Erlebnis solcher Enthebung vermit­teln. „Nichts ist ohne Grund“. Orientiert an diesem anthropologisch fundierten Grundge­setz abendländischer Metaphysik und Praxis - einem Gesetz von Folgerichtigkeit, Zusam­menhang und Notwendigkeit -, kultiviert auch Musik einen Sinnfundus an Wahrheit. So korrespondieren - Sie sehen, dieses Motiv lässt mich nicht los - die organisch durchge­formten Werke der sogenannten Tonalität und ihre symbolisch-gestische Syntax aufs Engste mit der Identität des Selbstbewusstseins. Mit dem also, was die Philosophie seit Descartes mit der Einheit des Subjekts als einer Einheit von Begründungen zu fassen sucht. Auch wenn sich dieser Sinn- und Begründungsfundus im musikalischen Metier stets mu­sikspezifisch, das heißt mimetisch und logiksubversiv verschattet: in begründeten Ordnun­gen selbst begründet zu sein, im Grund der Werke sich selbst zu finden, wird zum ästheti­schen Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Dezentrierungen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ metaphysik­kritisch ins Innere der Struktur.(9) Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der mnemoni­schen Souveränität des Subjekts gegründete Allianz auf. Mag auch die hochge­rüstete Konstruktion serieller Musik ihrer Produktion nach zum letzten Mal und bis in den letzten musikalischen Parameter hinein eine extreme Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten, ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich jeder ihrer komponierten Begrün­dungszusammenhänge ins Grundlose auf. Darin repräsentiert die Serialität und ihr Bruch zwischen Konstruktion und sinnlicher Erfahrung, zwischen Produktion und Rezeption, den Übergang von einer metaphysisch bestimmten zu einer nachmetaphysischen Moderne. Vom Grund zum Grundlosen, vom Begründeten zum Unbegründeten, zum Abgründigen.(10) - Wäre dergestalt schon die serielle Musik, so eng sie ihrer Kontinuität nach an die Mo­derne, an Schönberg gebunden bleibt, unter die Rubrik „postmodern“ zu rechnen? Mit der Serialität forciert Neue Musik die Selbstreferenz des Komponierten. Und es ist diese Selbstreferenz, die das Repräsentationsverlangen des vorstellenden Subjekts und seine mit dem Humanismus in Gang gesetzte „Eroberung der Welt als Bild“(11) radikal ent­täuscht. Verbünden sich im bildgebenden Subjekt seit der Renaissance Metaphysik und Humanismus zu einer Art Weltbeherrschungsemphase(12), dann ist eben, wie ich eingangs sagte, die Metaphysikkritik der Neuen Musik immer auch Subjekt- und Humanismuskritik. Das heißt, Kritik an der Deutungs- und Praxishoheit des animal rationale und seiner in die Welt projizierten Spaltungsontologie des Animalen und Rationalen, zentriert um den welt­setzenden Absolutismus der humanitas des homo humanus. Indem jedoch Neue Musik ihre äußere und innere Abbildlichkeit aufhebt, wird sie dem tradierten Erkenntnis- und Empfin­dungssensorium zum tönenden Schreckbild des Inhumanen. Der Spiegel des Narziss ver­wandelt sich in das Haupt der Medusa, um vom Visuellen her zu sprechen. Erinnern Sie sich noch, meine Damen und Herren, an Adornos Reflexion zum Thema des Humanen und Inhumanen in der Kunst? „Kunst wird human in dem Augenblick, da sie den Dienst kün­digt. Unvereinbar ist ihre Humanität mit jeglicher Ideologie des Dienstes am Menschen. Treue hält sie den Menschen allein durch Inhumanität gegen sie.“(13) „Um des Menschlichen willen“ muss die „Unmenschlichkeit der Kunst [...] die der Welt überbieten“.(14) Was an Neuer Musik im Unterschied zur symbolisch-gestischen Musik der tonalen Epoche, ja noch der Wiener Schule, als ein Verlöschen der Expressivität und der mimeti­schen Impulse charakterisiert und kritisiert wurde, kennzeichnet ein Komponieren, das dem Erlebnis das Ereignis entgegensetzt. Musik drückt nicht mehr etwas aus. Ihre „nicht­subjektive Sprache“(15) zieht die Summe aus der Tilgung der vorhin als äußere und innere Ab­bildlichkeit bezeichneten Repräsentationsspur. Dieser Ikonoklasmus, den Morton Feld­man das „Abstrakte“ nennt(16), verweist auf keinen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Ab­wesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Die Bühne der Projektion als eines ständigen Wiederfindens seiner selbst ist bis auf die letzte Kulisse hin abgetragen. Und um noch bei Feldman zu bleiben: Wäre sein Spätwerk postmodern zu nennen? Aufgrund seines Metadiskurses zur Anatomie des musikalischen Gedächtnisses und seiner Bindungsarbeit, seiner Engramme, Leerstellen und Zeitfenster, seiner Verknüpfungsstan­dards und symbolischen Routinen - und deren Brechung? Während Musik doch sonst zu­meist eine Hohe Schule des Gedächtnisses war? Postmodern also seiner wahrnehmungs­ästhetischen wie seiner strukturellen Sensibilisierungseffekte wegen, integriert einer gegen Innerlichkeit versiegelten Musik, die das Gedächtnis sich selbst fremd werden lässt? Oder wäre die Behauptung zutreffender, Feldmans Musik sei modern und postmodern: modern in ihrer Absage an Einfühlung und Verinnerlichung, postmodern aber in ihrer Entbürdung vom Gewicht des Unversöhnlichen und vom Ethikmandat des „J’accuse“? Vielleicht zeigt sich hier doch ein Weg in Richtung Postmoderne, sofern sich Feldmans Spätwerk der Hegel-Adornoschen Alternative von der Kunst als einem „bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk“ oder einer „Entfaltung der Wahrheit“(17) entzieht, ohne deshalb belanglos zu werden. Es dürfte maßgeblich das Phänomen des „Between“(18) als eines Zustands „zwischen den Kategorien“ sein, das ein Charakteristikum postmoder­ner Musik ausmacht und die musikhermeneutische, dialektisch akzentuierte Allianz Ador­nos aus Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik mit ihren philosophischen und soziologi­schen Vorentscheidungen kraftlos werden lässt. Allerdings wird sich erst von einer Feinbe­stimmung des „Between“ her entscheiden, von welcher Art Postmoderne die Rede ist. Doch dazu gleich mehr. Sollten sich indes die an Feldman skizzierten Momente aus dem metaphysikkritischen Movens der Moderne heraus verstehen lassen, wieso wären sie dann postmodern?(19) Postmodern, wenn nicht aus dem Grund, dass nach einer - mit Adorno ge­hört - dem Grauen der Geschichte geschuldeten Neuen Musik ein Komponieren möglich wurde, das auf höchstem ästhetischen Niveau die Zeugenschaft von Klage und Anklage hinter sich lassen kann. Das aber würde besagen, dass die modern-postmoderne, besser: die postmodern-moderne Neue Musik das Stigma des „metaphysischen Sinnverlusts“ auf ei­nen nahezu transmetaphysischen Ort des Freien hin überschreitet; philosophisch vergleich­bar Heideggers Unternehmen der „Destruktion“ oder dem der „Dekonstruktion“ Derridas. Musikalisch verweist diese Überschreitung zunächst auf die Galionsfigur Cage, der für Lyotard zum ersten herausragenden Komponisten der Postmoderne wird. Und doch blei­ben die Arbeiten Cages, des Vaters so vieler postmoderner Lizenzen, ohne analytische Zwangsdeutung im symbol- und metaphysikkritischen Tableau der Moderne lesbar, nicht moderner oder postmoderner als jedes andere Komponieren, für das die immanenten For­derungen und Möglichkeiten der Musik seit der Wende zum 20. Jahrhundert obligatorisch sind. Einzig die Schärfe der ästhetischen Metaphysikkritik im kompositorischen Extre­mismus Cages erlaubt es Lyotard, ihn der Postmoderne zuzurechnen. Eine Schärfe etwa wie die der Abrüstung der kompositorischen Willenspräsenz im Komponierten mit ihrer fast schon antimetaphysisch östlichen Praxis von Gelassenheit und Lassen und ihrer zeitli­chen Nähe zu Heideggers Philosophie nach der Kehre. Ob sich Musik allerdings jeder me­taphysischen Spur entledigen kann, wäre eine andere Frage. Vielleicht können wir uns darauf einigen, eine Musik postmodern im Zeichen der Moderne zu nennen - vorerst und wenn es denn sein muss -, die weder unter das Ka­tastrophische noch das Regressive zu subsumieren ist. Von der Schnittmenge eines Dritten her ist sie gleicherweise immun gegen die Dialektik von Positivismus und Metaphysik wie gegen die auf Daseinsapotheosen oder Leidensapologien zugeschnittenen Rollenfächer. Befreit vom Souveränitätszwang und vom Souveränitätsmissverständnis des Subjekts und dessen affektiver Sinnbühne schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee dieser Musik die Sirenen, die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel mit Kurs auf viele Ithakas.(20) Was ich nun mit diesem Dritten, diesem „Between“ meine, mit diesem Freisein von Daseinsapotheosen und Leidensapologien und mit dem Motiv der Immanenz, möchte ich erneut an einem zeitgenössischen Solokonzert demonstrieren. An einer Musik, die meines Erachtens eine Facette postmodernen Komponierens repräsentiert: nämlich an Elliott Carters Klarinettenkonzert aus dem Jahr 1996, genauer, an dessen zweiminütigem Finale. Hören wir uns also zunächst einmal diesen „Agitato“-Satz an: Bspl. 3: Elliott Carter, Clarinet Concerto , 7 (Agitato) [Tr. 7 (ganz)] [2´00] (London Sinfonietta, Oliver Knussen, Michael Collins) Vorab fällt an der Solopartie dieses Satzes etwas unentwegt Sprechendes und doch Sprachloses auf: formelhafte Arabesken, ein deliranter Zug der Betriebsamkeit, enorm selbstbezogen; eine Fasson des Beliebigen, ja Geschwätzigen. Obwohl nichts wiederholt wird, wirkt die Rastlosigkeit der Klarinette wie in einem repetitiven Zirkel gefangen. Anders dagegen der äußerst variabel durchgebildete Orchestersatz, genauer: der ei­nes Kammerensembles aus fünf Streichern, dreizehn Blas- und Schlaginstrumenten inklu­sive Harfe und Klavier. Ein Orchestersatz der Schnitte, mit einer Vielfalt an Farben, unru­hig, mobil, unkalkulierbar in seiner Plötzlichkeit, ein Kaleidoskop von hoher Ereignis­dichte. Entscheidend ist nun, dass Carter das traditionelle Prinzip des Instrumentalkonzerts, den Dialog, in einen Paralog umformt. Diese veränderte Topik zwischen Solostimme und Orchesterensemble verwandelt die konzertanten Muster des Mit- und Gegeneinander in ein Nebeneinander, parallel getrennten Bühnen ähnlich. Trotz eines engmaschigen Konstrukti­onsgewebes finden sich im paralogischen Geflecht der Musik nur selten dialogische Mo­mente, flüchtige Berührungspunkte einer nervösen Interferenzzone zwischen Solo- und Orchesterpart. Weit mehr als um Drama und Tragik, weit mehr als um Kollision und Kul­mination, weit mehr auch als um den Phantomschmerz an den Leerstellen eines de­zentrierten Subjekts geht es Carter im Nebeneinander eines freien und differenzierten En­sembles und einer wie in rhetorischen Leerläufen befangenen Einzelstimme um das Para­dox einer spannungslosen Spannung ohne Aufschwünge und Abstürze. Carters Klarinet­tenkonzert boykottiert den Kult des Gefühls, das Sich-Einhausen in schal gewordene Emo­tionen, und verweigert sich doch aufgrund seiner Aktions- und Überraschungsfülle jeder Verweigerungsaskese. Und sosehr in diesem Klarinettenkonzert Schockhaftes rumort - in Reaktion auf die Beschleunigungstechniken und Geschwindigkeitsschichtungen der Mo­derne und deren Wahrnehmungsveränderung -, sosehr löst sich dieses Schockhafte fast schon spielerisch in den präzis konstruierten Eruptionen eines Orchestersatzes auf, dessen Rupturen subkutan gebunden werden. Subkutan deshalb, weil die Motive und Motivsplitter der Faktur alles andere als erkennungsdienstlich behandelt werden. Im Unterschied zur Mono-Akustik des Violinkonzerts von Phil Glass und seiner Ich-Rhetorik komponiert Carter vom Ensemblesatz des Klarinettenkonzerts her eine ebenso kalkulierte wie absichtslose Musik der Poly-Akustik. Setzt die Mono-Akustik des Neo-Expressionismus auf das Ohr als Diskursmitte, um von hier aus den Verlauf auf den Hörer als Erlebnisfokus hin zu spiegeln, dann rechnet die Poly-Akustik mit der Wand­lungsfähigkeit eines Ohrs, das umgehend verschiedene Positionen einnehmen kann und muss und zusammen mit der audiozentrischen Position die Hierarchie zwischen Mittel­punkt und Peripherie aufhebt. Poly-Akustik begibt sich aus der Mitte, die überall und nir­gends ist, um anders und anderes zu hören. Dennoch zähmt, ja unterminiert in Carters Kla­rinettenkonzert die Konsistenz der Solostimme mit ihren seltsam an- und abwesenden Ich-Spuren die polyakustische Intention. Die plurale, rhapsodische Offenheit des Ensembles wirkt durch die monotone Solidität der Solostimme wie versiegelt. Auch wenn die Musik kein solistisch-dialogisches Zelebrieren mehr in Szene setzt, bleibt die Klarinettenstimme gleichwohl so autark, dass sie die Diskursformation von Solo und Tutti trotz der Umfor­mung zum Paralog konserviert. Mehr noch: aufgrund dieser Dualität wird das paralogische Modell lediglich zu einer Variante des dialogischen. Es ist diese duale Konstante, die dafür sensibilisiert, wie viel historisches Gespür Neue Musik in ihrer Auseinandersetzung mit der Tradition wohl braucht. Kann sich das musikalische Denken der Gegenwart wirklich noch und trotz aller Metamorphosen in einer Gattung finden, deren Reflexions- und Aus­druckscharaktere auf das 18. und 19. Jahrhundert verweisen? Seiner Anlage nach ist Carters Clarinet Concerto jedenfalls weit entfernt von der Dekonstruktion der Gattung „Solokonzert“ in Lachenmanns Ausklang . Ihrer Genese und ihrer dualen Essenz nach bleiben Instrumentalkonzerte mit ihrem variablen Solo-Orchester-Dialog zunächst dem Vernunftideal der Aufklärung verpflichtet: dem Mündigwerden des bürgerlichen Subjekts im Diskurs von Streit, Diskussion und Kri­tik. Später antworten sie der Souveränität eines Subjekts, das sich um 1800 aus Gründen seiner Autonomie noch eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit der „Prosa der Welt“ zuschreiben konnte. Antagonistisch verschärft und der dialektischen Philosophie des Deut­schen Idealismus nahe, orientiert am Politikum der „Entzweiung“ und am Drama von Frei­heit und Notwendigkeit, konnten Beethovens Solokonzerte noch von einem Einheitsbegriff der Person ausgehen, der das vernunftbestimmte Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Dieser Einheitsbegriff ermöglichte es, die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloin­strument und Orchester auszutragen und auszutarieren. Wo aber wären gegenwärtig noch Relationen, auf die das duale Prinzip von Solo und Orchester adäquat reagieren und ein wie immer konsistentes solistisches Subjekt in­mitten klarer Fronten, Konflikte und Postulate rechtfertigen könnte? Untergegangen mit dem Pathos und der Personalisierbarkeit von Widersprüchen verlängern die dualen Muster eine Ideensphäre, die in ihrer Überschaubarkeit hinter dem zurückbleibt, was ich vorhin mit der Thematik des „Dividuums“ und der multiplen Psychen angesprochen habe. In Carters Konzert wird deshalb gerade die duale Infrastruktur zu einer Blindstelle. Mehr noch: sie wird zu einem soziologischen Fingerzeig wider Willen. Das aber bedeutet, dass die Parallelsphären des Klarinettenkonzerts , die von Einzel-Stimme und Orchester-Kollektiv, sich nicht nur soziologisch einfärben lassen, sondern gleichsam dazu auffordern. Und dies nicht nur von Carters Schriften her, die die gesell­schaftliche Realität immer wieder auf deren verstellte Möglichkeiten hin überdenken. Dass im Klarinettenkonzert der Instrumentalkörper des Ensemble-Satzes, sein Corps de son, wie eine Choreografie des Corps social wirkt, der in den Vibrationen und Stößen des Orches­ters zum Beben gebracht wird; dass die Fluktuationen der musikalischen Struktur in Rich­tung eines Gesamttableaus differenzierter Einzelstimmen auf eine modellhaft demokrati­sche Ausdifferenzierung der Gesellschaft anspielen; dass schließlich der Tonfall der Solo­stimme an die normierten Sprachfertigkeiten der Kommunikationsgesellschaft erinnert: All dies muss zwar nicht mitgehört werden; dass es jedoch überhaupt mitgehört werden kann - anders als etwa im Spätwerk Feldmans - liegt an Carters dualem Modell, das immer noch „abbildet“. Zu wenig ikonoklastisch, zu wenig „abstrakt“, wird es in seiner Klarheit reduk­tiv - zu einer Art sozialem Lehrstück. Abbildend, bildgebend aber wird die Musik, weil sie eine substanzlos gewordene Traditionsbürde mit sich führt, die nicht von einem seismo­graphisches Bewusstsein für die Verwerfungen und das komplexe, ins Undarstellbare driftende Szenarium der Gegenwart umgeformt oder aufgelöst wird. Selbst die Argumen­tation, das Verhältnis von Ensemble und Solostimme diagnostiziere doch gerade die Para­doxie eines dynamisch erstarrten fait social, hat für die ästhetische Qualität nicht die ge­ringste Bedeutung. Dass Musik nicht konsequent, nicht radikal genug ist, bleibt ihr nicht äußerlich. Ist solcher Defizite wegen auch Carters Klarinettenkonzert eher ein postmoder­nes Dokument? Sicher, auch Carters Musik ist eine der Zwischenbereiche. Weder hat sie etwas mit Stockhausens „Momentform“ noch etwas mit narrativen Modellen zu tun. Eine Musik des „Between“ hört sie weder subjektemphatisch noch subjektzynisch, weder nostalgisch noch katastrophisch, weder utopistisch noch defätistisch auf das, was ist. Eine Musik der Imma­nenz, transzendenzlos, beinahe sachlich. Und doch: Mag Carters Klarinettenkonzert auch ein ästhetisches Exerzitium gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt bieten, mit dem „Between“ Morton Feldmans und seiner „disorientation of memory“ hat es wenig zu tun. Was Carters Stück postmodern einfärbt, ist die Kreuzung, die die Klitterung zweier Idiome - mono-akustisch und neoklassizistisch das der Solostimme, poly-akustisch und mit dem Sprachrepertoire Neuer Musik komponiert das des Ensembles. Diese Zwitterhaftigkeit lässt Carters Stück modern und alt zugleich erscheinen, fast schon konventionell. Während Feldman im Kraftfeld der Moderne die Probe auf Kants Begriff der „ästhetischen Idee“ leistet, „die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“(21), entzieht Carters Klarinettenkonzert die Idee dem „Between“, der Offen­heit des Schwebens, und verspannt sie mit postmoderner Deutlichkeit in ein duales Raster. Doch lassen Sie uns nach diesem Versuch mit Worten nochmals die Musik selbst hören: Bspl. 4: Wiederholung von Bspl. 3 Meine sehr geehrten Damen und Herren, verständlicherweise werden Sie jetzt einwenden, ich hätte die Metaphysikkritik zum Leitmotiv einer Musik der Postmoderne als der einer strikten Moderne gemacht, um gleichzeitig die Vielfalt jener Lizenzen zu vernachlässigen, die doch in den meisten Köpfen immer noch und gerade das Phänomen Postmoderne aus­machen. Eben weil die Überwindung der katastrophisch und heroisch fundierten Moderne eine Explosion unterschiedlichster ästhetischer Möglichkeiten und Formationen ausgelöst habe. Wenden wir uns deshalb in einem zweiten, kürzeren Teil meines Vortrags dieser Vielheit zu, wenn auch stets kontrapunktiert vom Kanon einer Neuen Musik, die ich radi­kal genannt habe. Vielheit ohne Einheit, ohne die ethisch bindende Richtkraft der Metaphysik: wäre das eine mögliche Konturierung des postmodernen Pluralismus? Ohne die Richtkraft der Metaphysik, aber mit der Richtkraft des Marktes? Von der Kunst her gesprochen ist der Slogan „Alles ist erlaubt, alles ist möglich“ eine Parole im Namen der Konsumenten, eine im Namen der Übermacht der Rezeption über die Produktion und die autonomieästheti­schen Postulate von Werk und Autor. Und damit eine genaue Umkehrung des vorhin er­wähnten Vorrangs der Produktion vor der Rezeption im Fall seriellen Komponierens. Im postmodernen Stadium der Moderne verlangt die marktorientierte Zivilgesell­schaft, die unentwegt realökonomische Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse erzeugt, zumindest auf ästhetischem Gebiet Egalität. Das kann nur gelingen, wenn mit der Konsum- und Ranggleichheit von Kunstkunden und Kunstwerken das Gespür für den Wahrheitsge­halt der Kunst der Konkursmasse des Relativen zufällt. Den Dispens vom Anspruch der hohen Qualität erteilen die Usancen und persönlichen Vorlieben der Rezeption, denen zu­folge in einer arbeitsteiligen Gesellschaft dem arbeitsteiligen Individuum auch ein arbeits­teiliges Hören in vielen gleichwertigen Genres möglich sein soll. Der Markt spielt dabei die Rolle des Gleichmachers schlechthin, jenseits von gut und böse. Er stellt alles, solange es Rendite bringt, ins Belieben. Warum nicht auch die Renditen des Gefühls? Warum sollte das Musikhören multipler Individuen nicht eine mit Vitaminen, Kohlehydraten und Mineralstoffen ausgewogene Ernährung psychosensorisch-mental ergänzen und vom audi­tiven Fitnessprogramm einer rigorosen Entsubjektivierung bis zur Wellnesstour diverser Ego-Kuren reichen? Warum sollte die Psyche, bis ins Private hinein auf Affektcontainer und Rollenspiele verwiesen, nicht auch musikalisch im wahrsten Sinn des Wortes auf ihre Bedürfnisse hören? Die Kompensationsressource Kunst - postmodern eine Wahlfreiheit von Optionen. Was wäre daran problematisch? Zumal doch, so könnte eingewendet werden, der Singularitätsanspruch Neuer Musik, ihrer Metaphysikkritik zum Trotz, selbst metaphysisch sei. Im Übrigen vertrage sich die Ausschließlichkeit des großen Kunstwerks doch wesent­lich besser mit der elitären Attitüde der klassischen Moderne als mit einer multikulturalen Kommunikationsgesellschaft und deren basisdemokratisch verstandenen Individualbedürf­nissen. Dass in diesem basisdemokratisch - oder sollten wir besser sagen: formaldemokra­tisch - verstandenen Freiheitskontinuum die Sucht nach Spiegeln zum Hauptinventar von Belohnungssystemen gehört, ist eine Reaktion auf Überforderung. Auf die Überforderung der vereinzelten Individualagenten im Zwangskontinuum des Funktionierens und der Funktionalität. Unter dem Druck eines Lebens, das das Arbeitsethos bibeltreuer, universa­ler, sinnstiftender und existenzieller verinnerlicht hat als je eine Gesellschaft zuvor, mögen angstexorzistische Klang-Mutterhöhlen und Sound-Glocken einiges lindern. Was könnte einem Ego, das - verspannt zwischen Produzieren und Konsumieren - seiner Lebenskraft nach entmächtigt und seiner Kaufkraft nach überreizt wird, das Ethos von Schaffenspro­zess und Werk bedeuten? Ein Ethos übrigens, das schlagartig deutlich wird, wenn Sie sich einen Komponisten wie Mathias Spahlinger vorstellen, um besonders drastisch zu werden, der je nach Gusto und Gewinn, ebenso arbeitsteilig wie marktkonform, die verschiedensten Sparten bedienen würde. Hier haben Sie den Unterschied zwischen Produktion und Rezep­tion und mit ihm die postmoderne Dominanz der Rezeption über die Produktion als einer - wie ich meine - Absentierung des Ethischen vom Ästhetischen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, meine Damen und Herren: Ich will hier kei­neswegs zu einem Ankläger hinter der Maske des Einfühlsamen werden. Und vielleicht sollten wir uns zwischendurch daran erinnern, dass wir zwar immerhin von Musik, aber immerhin doch auch nur von Musik sprechen. Niemand, der Feldman oder Lachenmann hört, ist dadurch bereits ein besserer Mensch. Was also spräche gegen den Pool postmoderner Lizenzen? Oder anders gefragt: Muss Neue Musik so unerbittlich sein, nur sich selbst verpflichtet, unbekümmert um jed­wedes Publikum? Oder darf sie, ja muss sie - eine gemilderte Thora – Zugeständnisse ma­chen? Etwa so, wie Friedrich Schiller dies dem Religionsstifter Moses zugestand? „Den wahren Gott kann er den Hebräern nicht verkündigen, weil sie unfähig sind, ihn zu fassen; einen fabelhaften will er nicht verkündigen, weil er diese widrige Rolle verachtet. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihnen seinen wahren Gott auf eine fabelhafte Art zu verkündigen .“(22) Wäre dies nicht eine geniale Einladung zum niveauvollen Laissez faire postmoderner Vielfalt? „Den wahren Gott“! Seine säkulare Epiphanie offenbart sich im Formenkreis einer Neuen Musik jenseits falscher Zugeständnisse immer noch als jene ikonoklastische Aura, die, um mich zu wiederholen, sämtliche bildgebenden Verfahren von Innerlichkeit und Projektion blind werden lässt und die Spiegel narzisstischer Selbstfindung zum Bersten bringt. Dagegen regt sich Widerstand. Gehören zur Essenz von Musik nicht seit je Trost und Tröstung? Und begründet nicht auch dieses Verlangen ein postmodern arbeitsteiliges Hören? Aber lässt denn die globalisierte Kunst- und Kulturindustrie überhaupt eine Diffe­renz zu dem aufkommen, was anders wäre als sie selbst? Pausenlos verkündet sie, was man zu lieben hat, pausenlos suggeriert sie, „gut ist, was mir gut tut“. Die Freigabe der Welt zum konsumtiven Akt opponiert den Autoritätsgeboten nur vordergründig. In Wahrheit hat sie den Imperativ zu Trott und Trend längst verinnerlicht. Insofern wäre der omnipräsenten Konsum- und Zerstreuungsmusik nach wohl von einem musikalischen Analphabetismus der Weltgesellschaft insgesamt zu sprechen. Doch lassen wir das. Dazuzugehören, sich nicht einsam fühlen, sich belohnen - was wäre verständlicher? Wer oder was sollte in einer durchökonomisierten Welt des Rechnens und Messens, in ei­ner Welt der gnadenlosen Immanenz und der Frist des Nur-einmal-Lebens noch verlangen oder erzwingen können, unnötig Schmerz zu ertragen? Oder Sinne und Verstand auf Ver­luste und Versagungen hin zu schärfen, die weder als Verlust noch als Versagung erfahren werden? Um sich der Ortlosigkeit in der Dissonanz- und Geräuschhölle Helmut Lachen­manns auszusetzen? Auch wenn der nicht müde wird, auf eine schon verdächtige Weise immer wieder von der „Heiterkeit“ seiner Musik zu sprechen? Was vermöchte Adornos „Glück der Erkenntnis“ inmitten der Angst, nicht zu leben? Einer Angst, die ja gerade als sozialer Triebgrund das Entertainmentfieber und den Sensationsamok schürt und Unter­haltung zu einer Wunderwaffe der Zeitüberlistung aufrüstet? Ist es überlebensstrategisch nicht klug, inmitten der Weltkonformität des protestantischen Ethos die verstörende, wo­möglich existenzgefährdende Offenheit von Experimenten abzuwehren - und seien es sol­che der Musik? Erfahrungsverweigerung zahlt sich aus. „Ihr sterbt mit allen Tieren / Und es kommt nichts nachher“ - Brechts Anti-Verführungs-Appell: kulturindustriell zumindest wird er tagtäglich umgesetzt, wenn auch nicht im Sinn seines Erfinders. Neue Musik, die kompromisslos-radikale, weiß von all dem mehr als genug. Was sollte sie anderes tun, als angesichts einer solchen Realität stoisch mit den Schultern zu zucken, falls sie denn welche hat? Hier moralisch zu argumentieren wäre moralistisch. Je mehr das grundlose Indivi­duum ohne den Traum der Transzendenz seine Zufälligkeit ahnt, umso mehr verlangt es nach den Zerstreuungsmustern des Vertrauten. Wie sollten in einer Mangel- und Belas­tungsökonomie, die bei Marx „Vorgeschichte“ heißt und alle als Geiseln nimmt, die Ohren auf universale Weise angstfrei werden, um komplexe Klänge, polyvalente Strukturen, irri­tierende Schönheiten des Fremden zuzulassen? Die Nobilitierungsrendite, die die tonale Musik den Einzelnen bietet, liefert im Weltasyl der Flexibilität zumindest ein Habitat der Gewohnheit, eine flüchtige Illusion des Wohnens. Warum sollte sich diese Verwöhnung der Entwöhnung durch eine Musik aussetzen, die einem Eissturm gleich in die Wärme pri­vater Wunschlandschaften einbricht? Aber das alles ist ja zur Genüge bekannt. Und dass die Erschütterungsvehemenz Neuer Musik auch aus dem Widerstand gegen die massenmedial postmoderne Verwöh­nung zu begreifen ist, steht außer Frage. Als Musica negativa mahnt Neue Musik den Exo­dus aus einer harmoniesüchtigen Unmündigkeit an, die ihr als eine Verstocktheit gegen das Offene, Freie gilt. Diese Absage an den akustischen Spiegel des Sich-Wiederfindens gilt in postmodernen Milieus als sadistisches Unwesen. Kann es nicht sein, so wird gefragt - und ich bitte Sie, meine Damen und Herren, während der nächsten Sätze das Beispiel aus Phil Glass Violinkonzert in Ihrem inneren Ohr wie einen Kontrapunkt zum Gesagten mitzuhö­ren -, kann es nicht sein, so wird gefragt, dass kompromisslos Neue Musik immer noch und trotz ihrer Varianten mit einer verinnerlichten Schock-Blockade das Trauma der Katastro­phengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts unzeitgemäß konserviert? Kann es nicht sein, dass diese Musik unmenschlich ist nicht um des Menschlichen willen, sondern un­menschlich um des Unmenschlichen willen? Eine Musik möglicherweise, die den subtilen, aber sukzessiven Umbau des hinfälligen Homo sapiens zum kalkulierbaren, gefühlsresis­tenten Androiden begleitet. Mit dieser Registrierung spielt übrigens auch Paul Virilio seine neuerdings etwas platt aufgelegte These von der Grausamkeit zeitgenössischer Kunst durch: einer „Kunst des Schreckens“, deren terrormimetisches Potenzial selbst zum Terror werde.(23) Und doch, meine Damen und Herren: Natürlich wissen aufgeklärte und mit einem gewissen Repertoire an Angstfreiheit begabte Zeitgenossen, dass das von den postmoder­nen Lizenzen her kritisierte, vermeintlich Inhumane Neuer Musik eines der verzerrten Per­spektive ist. Dass somit das, was an Neuer Musik subjektferne Kälte sein soll, keine Men­schenverachtung der Musik selbst ist, sondern ein Erfahrungsdefizit des rezipierenden Be­wusstseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte ausschließlich um seiner Selbstbestätigung willen da zu sein. Sobald hingegen Musik - der Postmoderne des Mark­tes zufolge - zum Mittel der Einfühlung degradiert wird, kann sie immer nur innerhalb des Echoraums von Erleben und Erlebnis antworten, nicht aber selbst, das heißt autonom spre­chen. Das genießende, kundenhofierte Ich verkennt, dass es das, was es ständig für sich einfordert - nämlich es selbst zu sein - dem Kunstwerk abschlägt. Enteignet aber die Ego­manie des Individuellen das, was anders ist als sie selbst, muss sie selbst enteignet werden. Mit einem zwischen Heidegger und Adorno changierenden Tonfall könnte man auch so formulieren: Neue Musik tilgt in sich das Menschliche als das ausnahmslos Subjektzent­rierte, um sich dem herrschaftsblind und daher gesichtslos gewordenen Subjekt ohne ver­meintlich menschliches Angesicht zu zeigen - und dadurch eben mit Antlitz. Dass das menschliche Gesicht in der Malerei der Moderne dekomponiert wird, verschwindet oder sich als Wunde zeigt, wäre eine Parallele dazu. Erst indem Neue Musik die Legierung von Formgedächtnis, Subjektspur und Ausdrucksgestus hinter sich lässt, bleibt sie inmitten postmoderner Lizenzen eine Musik der konsequenten Moderne. Dass die der Moderne verantwortliche Neue Musik unsinnlich sei, ist ein Wider­spruch in sich. Abgesehen davon, dass sie die Vielfalt der Schwere und des Leichten kennt. Es gibt in ihr heiße und kalte Zonen, das Athletische und das Schwebende; das Immunisie­rende und das Öffnende und dazwischen Nuancen die Fülle. Neue Musik ist keine mehr, die pausenlos in Waffen steht. Ihr ununterbrochener Selbstversuch mit sich selbst lässt auch innerhalb ihres Spektrums etwas vom postmodernen Farbenbogen aufleuchten. Darin liegt ihr Tribut an die Verabschiedung der Geschichte vom Absoluten - mit der Avantgarde als einer Sparte unter vielen. Wie gesagt: Die Physiognomie Neuer Musik ist längst nicht mehr ausschließlich die von Tremendum und Schrecken. Seit Adorno hat der Monotheismus von der unver­söhnlichen und einzig wahren Musik des Entsetzens an Überzeugungskraft verloren. Mitt­lerweile - und darauf reagiert die Rede von der Postmoderne zu Recht - mittlerweile nuan­cieren die Neue Musik längst polytheistische Züge. Allerdings halten auch hier ihre kom­promisslosen Varianten an der Tradition des Bilderverbots und somit am ikonoklastischen Gebot fest. An einem Gebot des Unverfügbaren, Nutzlosen, gleichsam Heiligen, unzu­gänglich jeder Rechtfertigung ob seiner Tauglichkeit für das Goldene Kalb des Marktes. Früher war diese Nutzlosigkeit einmal ein Charakteristikum des Schönen. Heute ist sie eher das Bundeszeichen des Widerstands im neuen Babylon der Zerstreuung und inmitten einer Diaspora der Selbstvergessenen. Wobei ich mich hüten werde, um die alttestamenta­rischen Assoziationen zu komplettieren, von einem Bundeszeichen für Auserwählte zu sprechen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, sicher haben Sie schon lange die Hoffnung auf­gegeben, von mir eine Antwort, geschweige denn eine Generalantwort zum Fragenkom­plex unseres Themas zu bekommen. Eine solche Antwort machte sich unbestritten der Un­redlichkeit und der Hochstapelei verdächtig. Lassen Sie mich daher, damit sich der Kreis zum Beginn des Vortrags schließen möge, erneut vom Reservat des Subjektiven aus zum Ende kommen. Ist die kulturelle Sphäre heute eine Marginalie des ökonomischen Dominiums, dann ist die marktresistente Neue Musik ein Skandalon, das sich nicht zurechthören lässt. Für den Markt der Postmoderne ist sie ein Sektor unter anderen, ein Ghetto eher, eine Alibi- und Subventionslast. Für einige wenige aber wird sie zum Ohr der Welt. Wahr­scheinlich gehöre ich zu einer aussterbenden Spezies von Zeitgenossen, die von den letzten Distanzrefugien und deren Rand- und Rangqualitäten nicht ablassen wollen. Auch nicht vom Ethos einer Musik, die gegen die Konsumpflicht an einem Erkenntnischarakter fest­hält, der mehr ist als pure Selbstaffirmation: nämlich etwas Indisponibles, Anderes als das verordnet Gegebene. Auch wenn ich ahne, dass die Welt erst bis in den letzten Winkel durchkapitalisiert werden muss, bis ihre Zwangssysteme vielleicht auf die großen Weiten des Aufatmens und des Freien hin aufbrechen können. Auch dies ist eine Lesart der Globalisierung. Dass Globalisierung und Postmoderne viel miteinander zu tun haben, liegt auf der Hand. Beide verweisen auf den zeiteffizient be­schleunigten Markt als einer Expansion im Raum und auf die Raumhaftigkeit des Bestan­des, der Verfügbarkeit, des Sich-bedienen-Könnens. Bis hin zu den Auswüchsen eines postmodernen Historismus und einem Weltarchiv, ja einer Archivwelt der Zitate und Pla­giate und deren Mixturen. Dem Bestand, seiner Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ent­spricht in letzter Konsequenz der globalisierte Blick von oben, der vom All auf den Plane­ten Erde.(24) Kunst aber partizipiert an den Zeitpressionen des Marktes, indem sie das parasi­täre Vernutzen angesammelter Materialvorräte in den Rang des ehemals Schöpferischen erhebt. Innovationsrasanz und ein Kult des Neuen um jeden Preis sind Marktroutinen des organisierten Vergessens. Ethos als Marktresistenz hat demnach auch immer etwas mit Eingedenken zu tun. Und sei es als Einsicht in das verschwiegene Bündnis von Material und Geschichte: Rückbesinnung auf Vergangenes, verstanden als eine Erinnerung nach vorn. Nicht umsonst ist Mnemosyne die Mutter der Musen und der Künste, die nicht ver­gessen können.(25) Träfe somit nicht doch - wie an Phil Glass Violinkonzert erörtert - für eine Reihe postmoderner Kompositionen der Status des Dokuments zu? Für solche Kompositionen, die das Verdunsten der metaphysischen Aura mit der Fetischisierung des Materials und dessen Ausstellungscharakter verschleiern - unter Zurücknahme der reflexiv-mimetischen Annäherung an die Stoffressorts? Eine Annäherung, die selbst Cage niemals aufgegeben hat. Ästhetisch entspricht diese materiale Akkumulationsrasanz lediglich der konsumhyste­rischen Verdampfung des Gebrauchswerts in einer profitüberhitzten Weltmaschine des Tauschwerts. Im Zug einer digitalisierten Weltverfügbarkeit, die auch musikalisch maximale Ef­fekte mit minimalem Aufwand garantiert; im Zug einer Kultur des Sampling; im Zug auch einer zum Basar der Stile vernetzten Welt-Musik stellen sich alte Fragen neu: Was ist ein Autor? Was ist ein Werk? Was ist ein Interpret? Und schließlich: Wie viel Postmoderne verträgt die Postmoderne? Das Gestöber des Aktuellen verdunkelt den Horizont des Potenziellen. Als Dauer­gravur des Kurzzeitgedächtnisses hat die Allgegenwart von Kalkül und Information die Zäsur der Stille nahezu vollständig eliminiert. Kein Wunder, dass ihre Leerstellen seit Cage für die Neue Musik so wichtig werden. Eben weil die Maxime des effizienzdressier­ten Bewusstseins lautet, sich pausenlos als Unternehmer seiner selbst zu schulen und den Rohstoff Welt zu verwerten, müsste ein Komponieren der Besinnung und des präzis ge­schärften Eigensinns der Sinne nicht nur auf das „Dass“ der Materialressourcen reagieren, sondern sich vor allem auf das „Wie“ der Arbeit mit ihnen konzentrieren. Je größer die Versuchung postmoderner Materialekstasen wird, die Ressourcen selbst mit Kunst zu ver­wechseln - Ressourcen, die doch ihren technischen Möglichkeiten und Zwängen nach zu­nächst unaufgeregt als Material zu begreifen wären -, umso mehr kommt es darauf an, wie klug und sensibel sich Komponistinnen und Komponisten in den Stoffmagazinen bewegen. Dass die ästhetische Qualität trotz postmoderner Entlastungseuphorien immer noch von einer Musik bestimmt wird, die tief schneidet - mögen diese Schnitte wie bei Feldman noch so weich geführt scheinen -, verweist das kompositorische Metier auf die Fühlung­nahme mit der Problem-Agenda des Zeit- und Weltgeistes. Nichts anderes als diese Füh­lungnahme meint der Begriff des Ethos in meinem Vortrag. Unverzichtbar bleibt eine ge­wisse Alarmbereitschaft für die Belange des Jetzt und dafür, was aufgrund dieser Belange vom Bewusstsein des Materials als einer Matrix und eines Resonanzraums von Geschichte her noch möglich ist und was nicht. Darin gab auch Lyotards Postmoderne-Begriff in nichts nach. Wird demnach das Signum Postmoderne auch für Kompositorisches jenseits der Einsicht in obsolet gewordene Sinninstanzen reserviert; für ein Komponieren also, das das vermeintlich Anti- und Inhumane wieder auf menschliche Proportionen zurückbringen will, dann wäre in solchen Fällen zwar von postmoderner Musik zu reden, aber doch wohl von einer des abgesenkten Niveaus. Dass die plurale Version der Postmoderne die Ko­existenz des Vielen ohne hierarchische Abstufung zulässt, liegt weniger an einer Unschärfe der Terminologie als daran, dass das Einzelwerk zum Supplement des Ichs im Spiel gleichgültiger Idiome vergleichgültigt wird. Eine letzte Konsequenz postmoderner Belie­bigkeit. Sowenig es um eine Pauschalkritik des postmodernen Stilpluralismus zu tun ist, sowenig ein Diktat der einzig wahren Rezeption zu lancieren wäre, sowenig dürfte es an­gehen, dass postmodern flottierende Rezeptionsmuster die künstlerische Produktion bis ins Letzte reglementieren. Müsste, dürfte, sollte! Sie merken, meine Damen und Herren, wie die Coda meiner Rede ethisch beschwingt wird. Also doch eine Jeremiade zugunsten der Thora der einzig wahren Musik? Und dies in einem Vortrag zum Thema Postmoderne! Mit dem untergründigen Kommentar womöglich, erst eine Neue Musik, die diesen Namen verdient, eröffne mit ih­rer Entsetzung von egomanen Selbstbeschränkungsmanövern und Selbstbeschränktheits­blockaden neue Horizonte des Freien und Offenen. Ach, das Ethos, wie harmlos und ohnmächtig, wie ärgerlich es doch geworden ist! Fragen wir deshalb am Ende nochmals - ohne jedes Prophetenpathos und geradezu men­schenfreundlich - das Publikum, die Hörer, deretwegen, wie es heißt, die Musik doch da sein soll. Die aber zucken nun ihrerseits als postmoderne Konsumenten mit den Schultern und hören - das, was sie wollen. ​ ​ Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihre Geduld. ​ ​ ​ Anmerkungen 1 Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: Benjamin, Gesammelte Schriften Bd. IV, 1, Frankfurt am Main 1972, S. 107f. 2 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, Zweiter Teilband, S. 043. 3 Theodor W. Adorno, Ohne Leitbild, in: GS 10,1, S. 449f. 4 Zur Spur des Todes in den Arbeiten von John Cage, vgl. Johannes Bauer, Cage und die Tradition, in Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), My­thos Cage, Hofheim 1999, sowie Johannes Bauer, «Ständig gleich gegenwärtig». Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Mu­sik, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Heft 50 (II 2002) 5 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Monti­nari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 2, S. 141. 6 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 402. 7 Vgl. dazu Johannes Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik, in: Positionen. Bei­träge zur Neuen Musik, Heft 64 (IX 2005). 8 Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, S. 199. 9 Für den Zusammenhang zwischen Moderne, Metaphysik- und Subjektkritik und gewissen Zeitdauern nach dem „Tod Gottes“ ist die Ab­wehr des Psychologischen besonders aufschlussreich. So findet Kafkas Satz „Zum letztenmal Psychologie!“ seine Varianten bei Artaud „Wir [...] sollten mit der Psychologie Schluss machen“; bei Marinetti: „Man muss das ‚Ich’ in der Literatur zerstören, das heißt alle Psychologie“; bei Cage, dem es auf „Kompositionen“ ankommt, „deren Zusammenhang frei ist von individuellem Ge­schmack und Erinnerung (Psychologie)" und bei Heidegger, dem die Psychoanalyse als ein Abweg des „vorstellenden Denkens“, seiner Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit gilt. Und hatte nicht schon Stavrogin in den Dämonen Dostojewskis gegenüber den verhassten „Psychologen“, „die mir in die Seele dringen“, auf dem Recht der Selbstbestimmung bestanden und dar­auf, „dass es ein Gut und Böse überhaupt nicht gibt"? Darin verwandt den Aporien einer gottlosen Sprache bei Nietzsche? „Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. - Und wir - wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ 10 Vgl. dazu Bauer, Zauber der Entzauberung. Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik. 11 Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt am Main 1980, S. 92ff. 12 Vgl. dazu Heidegger, Brief über den „Humanismus“, in: Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, S. 153. 13 Adorno, Philosophie der neuen Musik, GS 12, S. 125. 14 Adorno, Ästhetische Theorie, GS 7, S. 293. - Die Nachdrücklichkeit, mit der auf dem - vom Humanismus her - Inhumanen und Antihu­manen insistiert wird, kann sich seit Nietzsche auf eine Reihe prominenter Vertreter berufen, etwa auf Apollinaire, Dubuffet, Heidegger, Henry Miller, Lévi Strauss, Foucault oder Lyotard. 15 Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, in: GS 16, S S. 635. 16 Morton Feldman, After Modernism, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 74. 17 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Mar­kus Michel, Frankfurt am Main 1970ff., Bd. 15, S. 573. 18 Nach Feldmans programmatischem Aufsatz Between Categories, in: Give My Regards to Eighth Street, S. 83ff. 19 Vgl. ausführlicher zu Feldman: Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik, in: Adolf Nowak und Markus Fahlbusch (Hg.), Musikalische Analyse und Kritische Theorie zu Adornos Philosophie der Musik, Tutzing 2007 (=Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft. Hg. v. Adolf Nowak; Bd. 33). 20 Vgl. dazu Johannes Bauer, Das Schweigen der Sirenen. Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik. 21 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke in zwölf Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968, Bd. 10, S. 249f. 22 Friedrich Schiller, Die Sendung Moses, Sämtliche Werke in fünf Bänden, hg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980, Bd. 4, S. 799. 23 Vgl. dazu Paul Virilio, Die Kunst des Schreckens, Berlin 2001. 24 Wie sehr der Blick von oben der Erfahrung einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und einer Erfahrung des Bestandes korreliert, zeigt die „Sechste Fahrt“ aus Jean Pauls Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch, einer Gründungsurkunde globaler Weltsicht. „Vierte­halbtausend Fuß tief rannte die weite Erde [...] unter mir dahin, und ihr breiter Teller lief mir entgegen, worauf sich Berge und Hol­zungen und Klöster, Marktschiffe und Türme und künstliche Ruinen und wahre von Römern und Raubadel, Straßen, Jägerhäuser, Pulvertürme, Rathäuser, Gebeinhäuser so wild und eng durcheinander herwarfen [...] Auf der Fläche, die auf allen Seiten ins Unend­liche hinausfloss, spielten alle verschiedenen Theater des Lebens mit aufgezogenen Vorhängen zugleich - einer wird hier unter mir Landes verwiesen - drüben desertiert einer, und Glocken läuten herauf zum fürstlichen Empfang desselben - hier in den brennend-farbigen Wiesen wird gemähet - dort werden die Feuersprützen probiert - englische Reuter ziehen mit goldnen Fahnen und Schabara­cken aus - Gräber in neun Dorfschaften werden gehauen - Weiber knien am Wege vor Kapellen - ein Wagen mit weimarschen Ko­mödianten kommt - viele Kammerwagen von Bräuten mit besoffnen Brautführern - Paradeplätze mit Parolen und Musiken - hinter dem Gebüsche ersäuft sich einer in einem tiefen Perlenbach [...].“ (Jean Pauls Werke in zwölf Bänden, hg. v. Norbert Miller, Mün­chen/Wien 1975, Bd. 6, S. 559f.) 25 Vgl. dazu Johannes Bauer, Und Troja brennt noch immer. Arbeit am Mythos in Liza Lims ›The Oresteia‹, in: Dissonanz Nr. 97 (III 2007). ​ ​

  • Johannes Bauer, Fragment/Torso. Modelle des Offenen in der Neuen Musik

    Fragment Torso Bruchstück Neue Musik - Modelle des Offenen DeutschlandRadio Berlin (2004) Bspl. 1: Luigi Nono, Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (LaSalle Quartett) A «Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.» B In der Götzen-Dämmerung hat Nietzsche formuliert, was rund 90 Jahre zuvor mit der frühromantischen Kritik an Vermittlung und Mitte, an Zentrum und Zen­tralismus die Geschlossenheit von Sinn und Form auch im Bereich der Ästhe­tik zu brechen begann. System und Organismus wurden als Totalitätsfantasien auf ihre Abwehrmanöver dem gegenüber durchschaut, was anders war als die Synthese einer runden Einheit, nachdem Hegel zum letzten Mal und gleich­sam ex cathedra das Ideal des Ganzen gegenüber der Vereinzelung der Teile zum Vollkommenen aufgewertet hatte. Auch Hegel konnte die Emanzipa­tionstendenzen des Einzelnen gegenüber dem lückenlosen Diskurs der Ver­mittlung nur als Putsch des Partikularen und mit Symptomen des Verfalls und der Krankheit diagnostizieren. Doch rügt bereits Friedrich Schlegel an der «schlechthin verwerflichen [...] systematischen Form», sie halte zu unnachgiebig am «fixierten ð¢í » fest, an der «beharrenden Endlichkeit» also, und verhindere damit die Verflüssigung zum Offenen. Und Hölderlin, von dem sich Luigi Nonos Streichquartett Frag­mente – Stille. An Diotima inspirieren ließ, greift zur gleichen Zeit den Starrheits- und Herrschaftsvorwurf gegenüber monistischen und monotheisti­schen Hierarchiemodellen auf, wenn er fordert: A Es ist die «erste Bedingung alles Lebens und aller Organisation, dass keine Kraft monarchisch sei im Himmel und auf Erden». Bspl. 2: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima B Wann und warum aber wird der Gedanke des Fragments virulent? Und vor al­lem: was war zerbrochen und was sollte gebrochen werden? Es ist kaum verwunderlich, dass die Begriffe vom «Bruchstück» und vom «Fragmentarischen» zentral in einem Initialtext der frühen Moderne aufschei­nen, nämlich in Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Men­schen von 1795. In einem Text also, der darauf reagiert, wie sich inmitten zu­nehmend unberechenbarer Konkurrenz- und Marktdiktate die Ideen von hu­manem Fortschritt und mündiger Gesellschaft zu entzaubern beginnen. Dass mit dem Konkurs jener transhistorischen Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln konnten, Kontinuität in die isolierten Eigenzeiten des Ichs, seine Fantasien und Gegenwelten, und in die Zeit des funktionalistischen Weltgetriebes zerbricht, sieht Schiller mit illusionsloser Schärfe. Er vergleicht den modernen Staat mit einem «kunstreichen Uhrwerk», A «wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein me­chanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung ge­schieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben [...], sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrie­ben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält.» B Natürlich schreibt sich Schillers Diagnose im Zeichen des Verlusts vom Organis­musgedanken der griechischen Antike her. Wie groß deshalb die Diffe­renz seines Urteils zu Fragmentreflexionen des zwanzigsten Jahrhunderts ist, verdeutlicht George Batailles nietzscheanisches Credo in L´Expérience inté­rieure : A «Sich nicht mehr als ganzen wollen ist für den Menschen das höchste Ziel (...), befreit (...) vom Bedürfnis, nach dem Vollkommenen zu schielen». B Endgültig verdächtig geworden waren inzwischen die Totalisierungs- und Run­dungsgesten mit ihren Sicherheitsrenditen und Risikoverweigerungen – hieß das Risiko nun Zufall, Verausgabung, Chaos oder Subversion. Und es ist ge­rade die Kunst der Moderne, die diese Desillusionierungsarbeit forcieren wird. Bspl. 3: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima B Frangere: brechen, zerbrechen, aufbrechen – aus dem Ganzen ausbrechen. In Luigi Nonos Streichquartett bedeutet Fragmentierung die Sprengung eines die Jahrhunderte hindurch geschlossenen, durch und durch vermittelten musi­kalischen Diskurses und bezieht sich darin auf Hölderlins Unterhöhlung der hypotaktischen Syntax und ihrer Folge-Hierarchie von Haupt- und Nebensät­zen. A «Man hat Inversionen der Worte in der Periode. Größer und wirksamer muss aber dann auch die Inversion der Perioden selbst sein. Die logische Stellung der Perioden, wo dem Grunde (der Grundperiode) das Werden, dem Werden das Ziel, dem Ziele der Zweck folgt, und die Nebensätze immer nur hinten an­gehängt sind an die Hauptsätze, worauf sie sich zunächst beziehen, – ist dem Dichter gewiss nur höchst selten brauchbar.» B Hölderlin thematisiert hier den Wendekreis der Sprache in Richtung einer Locke­rung und Dekonturierung von Vermittlung und Synthesis. Denn erst wenn der Kitt der diskursiven Logik porös wird, kann sich das Werk dem öff­nen, was nicht in der Idee der Geschlossenheit aufgeht. Dem also, was das Werk ausschließen muss, um die Idee der Geschlossenheit etablieren zu kön­nen. Seitdem die Einheit des cartesianischen Subjekts im «Cogito, ergo sum» vom Einbruch des Unbewussten gespalten wurde, gab es genügend Desillusionie­rungen organischer Ganzheitskonstruktionen – bis hin zum mathematisch strengen Beweis Kurt Gödels von der Unmöglichkeit lückenloser Systeme. Und auch ästhetisch nahmen die Verfahren zu, die homogenen Deutungs- und Organisationsfilter der Totalität um des Heterogenen willen zu demontieren. Einst hatte der Organismusgedanke in seiner Dreifaltigkeit von Natürlichkeit, Schönheit und Wahrheit, gerichtet gegen die Künstlichkeit der Kunst und ge­gen die Aufdeckung der Genese der Werke, Kunst und Metaphysik vereint: über die Aura eines Kults des Geistes als eines Kults des Vollkommenen. Dass freilich «das Vollkommene [...] nicht geworden sein [soll]», konnotiert der Genealoge Nietzsche im Bereich des Ästhetischen mit «mythologischen» Re­likten: mit Schöpfungsfantasien und mit der «Illusion» des Kunstwerks als Schein. Solchen Phantasmagorien A hat die «Wissenschaft der Kunst [...] auf das bestimmteste zu widersprechen», um «die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft». B Nietzsches Plädoyer für die «wissenschaftliche Hingebung an das Wahre» ge­gen eine Künstlerpsychologie des «Fantastischen», «Mythischen» und des «Symbolischen» samt der «Überschätzung der Person» und des «Glaubens an etwas Wunderartiges im Genius» nimmt Tendenzen vorweg, die in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts eine entscheidende Rolle spielen: zumal in der Brechung von Totalisierungs- und Ganzheitssehnsüchten. Von der fragmentarischen Struktur als einer Subversion des Ganzen und einer Figur der Öffnung und des Offenen her aber spannt sich der Bogen zurück zu Hölderlin, dessen Korrespondenzen zwischen einer ihrem Bild nach zersplit­terten Antike und der Entzauberung des Abendlands und seiner Mythen sich als reihende Fügung in die Form seiner Lyrik hinein verlängern. Deshalb nahm Nono in seinem Streichquartett auf Hölderlins Verfahren Bezug, die Syntax zu fragmentieren und zu zerrütten: mit Methoden jener Parataxe, die Hegel noch abwertend dem Neben-, Nach- und Außereinander der Natur zuwies. Die Vermittlungsarbeit und ihre diskursive Logik zu stören, geschieht indes vorran­gig in der Absicht, gegen den Ausschluss des Naturhaften die naturhafte Basis des Geistes zu restituieren. Bei Nono in der Emanzipation der Stille und damit des Unhörbaren gegen das Hörbare, bei Lachenmann dann in der Emanzipa­tion des Materials als des unreinen, geräuschhaften Tons aus seiner knechti­schen Funktion, schließlich in Reudenbachs (Bruch)stück(en) als der dritten Komposition dieser Sendung in der Befreiung des musikalischen Diskurses zum Antidiskurs der Momente. Bspl. 4: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima B Nonos Streichquartett Fragmente - Stille, An Diotima , komponiert zwischen Juli 1979 und Januar 1980, zelebriert keinen Kult der Verinnerlichung im Sinn von Rilkes «Nirgends wird Welt sein als innen», auch wenn die Musik aufgrund ihrer hauptsächlich zwischen einfachem und fünffachem Piano angesiedelten Dynamik immer wieder mystisch eingefärbt scheint. Am ehesten lässt sich der Formenkreis der Empfindung in Nonos Streichquartett wohl an der Charakteri­sierung der Fermaten durch den Komponisten zu Beginn der Partitur ablesen: A «Die Fermaten sind immer verschiedenartig zu empfinden mit offener Fantasie für träumende Räume, für plötzliche Ekstasen, für unaussprechliche Gedan­ken, für ruhige Atemzüge und für die Stille des ‹zeitlosen› ‹Singens›.» B Wenn Nono die Musik immer wieder auf langen Fermaten Atem schöpfen lässt, wird klar, wie sehr es seiner Komposition der «plötzlichen Ekstasen» auch um Suspension geht. Um den ‹ruhigen Atem› der Suspension und um den befreiten Augenblick. So als könnte die atmende Verschwendung der Zeit die atemlose Vernichtung des Jetzt im ökonomischen Furor wie in einem Spiegel entlarven. Während das herkömmliche Meisterwerk auf Geschlossen­heit zielt, interessiert sich Nonos Musik für Spuren ins Offene – entlang einer Bahn minimaler Abweichungen, Wandlungen und Zwischentöne, die gehört werden wollen: im Sinn einer sensiblen Aufmerksamkeit gegen den Funktiona­lismus präformierter Hörnormen und im Sinn eines Umbruchs von innen her, den Kant in der Maxime des «Revolutioniere dich selbst!» fasst. Bspl. 5: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima B Eine andere Facette in Nonos Kunst der Andeutung und leisen Überredung zeigt sich darin, dass sein Streichquartett Zitate und damit selbst wiederum Fragmente aus Hölderlin-Gedichten als Subtext in die Partitur einlässt und über ihre Unhörbarkeit ein subtiles Spiel der Abwesenheit in der Anwesenheit entfaltet. Eine hintersinnige Metapher für die verkannten Möglichkeiten des Jetzt und Hier einer Zeit, in der sich Wirklichkeitsterror und Weltverlust ergän­zen. Gleichwohl illustriert die Musik die Zitatfragmente Hölderlins nicht. Sie repräsentieren vielmehr, so Nono, A «schweigende ‹Gesänge› aus anderen Räumen, aus anderen Himmeln», ge­gen die Intention, «‹entschieden der Hoffnung das Lebewohl›» zu sagen. «Die Ausführenden mögen sie ‹singen› ganz nach [...] dem Selbstverständnis von Klängen, die auf ‹die zarten Töne des innersten Lebens› hinstreben.» B So wird Nonos Musik der Stille selbst zum offenen Ohr für leiseste Resonan­zen und Echos – und zum Resonanzboden für Unhörbares, Überhörtes, Uner­hörtes; im Vertrauen auf die Imaginationskraft des Gehörs und auf die «Exterio­risierung eines Maximums von Interiorisierung», wie Nono das 1983 in seinem Genfer Vortrag zum Streichquartett formuliert hat. Nono weiß um den Sog des Sinns und versucht deshalb anstelle seiner ab­strakten Negation eine Art obsessiver Erosion von Bindungs- und Verbin­dungsstrategien. Indem die Partien der Stille denen des Klangs gleichberech­tigt sind, steigern sie das Eigenleben der gereihten Momente in einem diskon­tinuierlichen Kontinuum, das eher auf Assonanzen und Korrespondenzen setzt als auf stringente Vermittlung, eher auf prälogische Gedankenflucht als auf strenge Entwicklung und damit weniger auf die Unterwerfung der Zeit als auf ihren losen Gang. Der gleitende Diskurs in Nonos Streichquartett entgleitet und lässt entgleiten; auch wenn die Absicht, die Direktive des Ganzen frag­mentarisch zu brechen, fraktale Brechungen erzeugt, die sich schließlich zur Selbstähnlichkeit der Struktur als einer unentwegten Wiederkehr von Stille, Haltetönen und expressiv-gestischen Figuren entäußern – inmitten des Wech­sels, um mit Hölderlin zu sprechen, zwischen einer «reißenden» und «bleier­nen» Zeit. Bspl. 6: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima B Stabilisierte die Organismusidee des traditionellen Werks als geschlossenes System die Omnipotenz des Formgedächtnisses, dann bricht die fragmentari­sche Struktur diese Omnipotenz, indem sie die Grenzen des Sinns auslotet. Wie weit kann, ja muss man gehen, bis der Sinn des Ganzen und der Teile zerfällt? Schon Aristoteles definierte ja den Begriff des Organismus unter der Prämisse äußerster Notwendigkeit: A «Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil um­gestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.» B Von solchen Konstruktionsidealen, denen zufolge jedes Detail unverrückbar durch die «Idee des Ganzen» bestimmt ist, hat sich die Neue Musik weitge­hend verabschiedet. In ihren variablen Formen können Teile wegbrechen, ver­schwinden oder umgruppiert werden, sie können unhörbar, unspielbar bleiben, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten müsste. Das Offene zumal musikalischer Fragmentstrukturen liegt darin, dass die frakturhafte Reihung ihrer Momente nicht begrenzt scheint. Sie läuft auf den Horizont des Approximativen zu – ohne Anfang, ohne Ende, ausschnitthaft und nachdrücklich in jedem Augenblick. Musikalische Fragmentstrukturen nei­gen zu Formen, A «die immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weiter gehen könn­ten». B Diese Kennzeichnung Karlheinz Stockhausens verweist auf die Nähe zwi­schen komponierten Torsi und dem, was Stockhausen schon 1960 als «Mo­mentform» charakterisiert hat. Das Momenthafte und Jetztzentrierte der musi­kalischen Fragmentform treffen sich mit einer Musik, die A «sofort intensiv» ist «und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetz­ter ‹Hauptsachen› bis zum Schluss durchzuhalten» sucht. B Auch fragmentarische Formationen tendieren dazu, jeden ihrer Momente zum Mittelpunkt zu machen, um den Augenblick als Augenblick gegen dessen funktionale Verspannung in die Folgerichtigkeit der Folge ernst zu nehmen. Darin gleichen sie Strukturen, in denen A «nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird, sondern als ein Persönliches, Selbständiges, Zentriertes, das für sich bestehen kann». B Erst eine Musik aber, die sich nicht mehr dafür interessiert, «ob Fortsetzungen ‹zwingend›, Konklusionen ‹schlüssig›, Anschlüsse ‹logisch›, Kontraste ‹stark›, Spannungen ‹aufregend› und Schlüsse ‹endgültig› genug komponiert» seien, kann den Gang ins Innere der Zeit vollziehen. Einen Gang, den Nonos Streichquartett mit Hölderlin zu einer Korrektur des formdogmatischen «Tri­umphs der Zeit» umdeutet: im Namen einer Freiheit, die mit der Abkehr von der entwicklungspsychologischen Bühne der Affekte eine zeitliche Dichte er­zeugt, in der alle Momente ein gleichbleibendes Höchstmaß an Ausdruck ge­winnen. So sucht auch Nonos Streichquartett mit der Aussetzung der Vermitt­lungshierarchien des musikalischen Diskurses und mit der Tilgung entwick­lungsträchtiger und finaler Schemata jenes befreite Jetzt zu gewinnen, das den Begriff der Dauer überwindet: Gegen die Dramaturgie von Erwartung und Erinnerung und im Zeichen einer «Ewigkeit, die [...] in jedem Moment erreich­bar ist». Bspl. 7: Nono, Fragmente – Stille, An Diotima ​ B Zwar erbt sich bei Nono wie in vielen Fragmentkompositionen die Zeit des ge­schlossenen Werks, dessen Kontinuität jede andere ausschließt, an die Orga­nisation der Momente fort. Dennoch wird die Totalität als Einheit des Sinns von innen her auf eine Weise zerklüftet, die der Musik erst jetzt ermöglicht, sich dem vormals Kunstfremden von Material- und Geräuschhaftem zu öffnen. Etwa bei Helmut Lachenmann. Lachenmanns Destruktion ästhetischer Normen, seine verfremdeten Spiel- und Artikulationstechniken wollen als kompositorische Gedankenarbeit das Hören auf eine «Schönheit» hin hellhörig machen, «die sich nicht abfindet». Seine Musik der unablässig komponierten Unvorhersehbarkeiten und des Verfemten treibt die Bedeutung aus dem materialen Inneren des Klangs her­vor. Erst solche Brechungen des reinen Tons aber entlarven das gängige Reinheits- und Schönheitsideal als Verarmung und geben Leerstellen und nicht-signifikanten Zuständen Bedeutung für einen freien und befreiten Dis­kurs. So in Lachenmanns Gran Torso von 1971, wo A ein «großes Ritardando [...] in Etappen – über das mechanische Sägen, das ner­vöse Hin- und Herfahren, das weit gedehnte Quasi-Aus- und Einatmen – gespreizt und zelebriert wird bis zum Stillstand. Als Resultat [...] bewirkt dieser Vorgang [...] einen magischen Zustand, der [...] völlig offen ist zur nackten Rea­lität der Zeit». «Hier in der Bratschenstelle von Gran Torso» wird dieser «Zustand der Schutzlosigkeit» von der «‹kaum noch atmenden› Stille magisch bewacht». «Mir liegt bei dieser Stelle vor allem an der Deutlichkeit der Abstu­fung von ‹Stille› und ‹Leere›. Der Stillstand ist kein ‹morendo›, sondern be­deutet einen weiteren qualitativen Sprung. Er ist mehr als die gefärbte Stille zuvor: er ist Leere. Hier sind wir endlich im Zentrum einer unberührten Wüste. Die emotionale Wirkung [...] habe ich nicht inszeniert, sondern sie ist ‹gelun­gen› bei der Absicht [...] die Musik ‹auf Null zu bringen›»; «hier praktiziert gleichsam im heiteren Spiel: es ist eine glückliche Musik». «Heiter, wie sie sich versteht, macht sie Ernst»; «das Stück geht weiter, endlich Nicht-Musik ge­worden. Fast möchte ich denken, bis dahin war die Komposition nur ein einzi­ger Exorzismus, um endlich befreite Musik schreiben zu können.» Bspl. 8: Helmut Lachenmann, Gran Torso. Musik für Streichquartett (Berner Streichquartett) ​ B Lachenmanns Ausführungen erinnern an jene Fülle und Freiheit der Leere und des Leeren, wie sie seit Nietzsche und Hofmannsthal zumal für eine von der Gewalt des Urteils befreite Sprache ersehnt werden. Sprache als Nicht-Spra­che; Musik als Nicht-Musik, um gegen die kulturellen Konventionsmuster zum materialen Grund als der Matrix von Sprache vorzudringen und damit zu einer Region jenseits der Herrschaft der Codes als einer Region der Erschöpfung des Sinns. Lachenmanns lange, dicht am Geräusch und am Tonlosen lie­gende Partien wirken deshalb wie das Rauschen einer unbekannten Sprache, deren Zeichen von semantischer Bedeutung frei, aber mit Materialität und sinnlicher Präsenz geladen sind. Vor allem aber markiert Lachenmanns musikalische Fragmenttechnik, wie lange die europäische Musik des reinen Tons selbst Fragment war, indem sie das Körperhafte und Stoffliche um der Reinheit willen ausgeschieden hatte. Aus Nietzsches Satz «Das Vollkommene soll nicht geworden sein», zieht Mu­sik erst spät ihre Konsequenzen. Der auf seine materiale Seite hin befreite Ton jedoch erzeugt über die Transformation gängiger Schönheits- und Natürlich­keitsbegriffe eine andere Dimension von Wahrheit: Wahrheit nun nicht mehr gedacht als eine metaphysisch unbefleckte Idee, sondern gedacht über einen Geist, der sich als sublimierte Natur erkennt. B Fragmentieren als Aufbrechen von Grenzen und als Aufbruch ins Offene bedeu­tet im Fall von Lachenmanns «musique concrète instrumentale», die Ausgrenzungs- und Eingemeindungsdirektiven des Zivilisationsprozesses zu­rückzunehmen, um einzulassen, was dem Tabu seiner Totalisierungsgewalt zum Opfer fiel. Als Bedeutungsträger aber emanzipiert sich das Material von seinem Status als bloßes Material. Wie Cage den Ton als einen Sonderfall der Stille denotiert, so denotiert Lachenmann den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs. Erfahrbar wird der Zusammenhang zwischen der Materialbasis des Klangs und dem musikalischen Diskurs: Ein Stück ästhetischer Metaphysikkritik, so­fern Sinn von seinem stofflichen Träger ebenso wenig zu trennen ist wie die ‹Botschaft› von ihrem ‹Medium›. Dass Musik die Physis des Klangs zu einer strukturellen Kraft emanzipiert, verabschiedet den Platonismus der Reinheit des Tons und der reinen Idee. Klang verstanden als «Nachricht seiner Hervor­bringung und der dabei mitwirkenden mechanisch-physikalischen Bedingun­gen» hebt die Hierarchie zwischen Geist und Stoff auf. Gran Torso aber heißt das Stück, A «weil all die strukturellen Bereiche, die [darin] berührt werden, deutlich die Mög­lichkeit in sich tragen, selbständig in sich weiter fortentwickelt zu werden». B Die Idee einer in sich autarken Logik des musikalischen Werks, das seine Not­wendigkeit aus Freiheit erzeugt – mit Beethoven als Höhepunkt –, wird in fragmenthaften Formen von der Differenz der Risse als scheinhaft entlarvt. Dass indes die Offenheit der musikalischen Form auch den Prozess des Hö­rens umwertet, liegt auf der Hand. Steht die organische Totalität des Werk­kosmos in Wechselwirkung mit dem Modell der Einheit des Subjekts, das sei­nen Gesetzen gemäß ausklammert, umformt oder eingemeindet, dann zer­bricht in den Frakturen fragmenthafter Organisationen die Affekt- und Gedan­kenbühne personaler Identität ebenso wie die Erfahrung des Weltkontinuums. Die Spiegelwände, die das musikalische Subjekt zwischen 1600 und 1900 sei­ner eigenen emotionalen Ortung wegen aufgezogen hatte, werden in dem Au­genblick blind und rissig, als die Idee der Teleologie insgesamt porös wird. Als Habitus einer Ordnung von Investition und Rendite wird der Gedanke perso­naler Einheit ästhetisch unhaltbar. Und mit ihm Zeitkoordinaten wie die von Notwendigkeit und Zufall, von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von Kausali­tät und Abweichung oder die der Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungs­horizonten. Zeit als ein in den Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Ver­gessens und Erinnerns entfaltetes Bewusstsein weicht in fragmenthaften Strukturen einem Zeitfeld der Risse. Mit der Abkehr von zielgerichteten For­mationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln, schärft sich Musik zu einer ausschnitthaften Textur, die den Synthesis­anspruch und die zentrale Sinnmacht des ästhetischen Subjekts absurd und vermessen erscheinen lässt: in der Abkehr von einem Fundamentalismus des Zeitbewusstseins, der eng mit dem Identitäts- und Eigentumsprinzip ver­schwistert ist, dem des Identifizierens und Verbuchens. In der Abkehr aber auch von einem Sinngebot des Linearen und jenen Instanzen des Früher und Später, des Ersten und Folgenden, die Nietzsche als Regulative einer Ver­schwisterung von Zeit und Moral entlarvt hat. Ein Hörbewusstsein, das ständig kausalorientierte Sinnbezüge setzen will, gleitet an der akausalen Energetik einer Musik der offenen Zeitstrukturen ab. Die herkömmliche Präsenz struktu­reller musikalischer Wahrnehmung im retentionalen Bewahren des unmittelbar Vergangenen und im protentionalen Vorgriff auf ein perzeptiv schon Erahnba­res verschwindet im organisierten Fragment immer wieder in den Wüsten des Sinns. In dieser Offenheit liegt zugleich eine Unabhängigkeit von der Schick­salsmacht Zeit und der Verwechslung von Zeit und Ökonomie. Musik definiert sich nicht mehr darüber, Zeit triumphal in Regie zu nehmen, sondern öffnet sich der Zeit – etwa in weiten Stille-Partien mit dem plötzlichen Auftauchen und spurlosen Verschwinden von Momenten. Damit wird die fragmentarische Konzeption zu einem Transfer ins Offene. Und zu einer Rebellion gegen die Zeit als Aufschub im Sinn von Stockhausens «Momentform». In jedem Augenblick angekommen zu sein, ist eine der Inten­tionen musikalischer Fragmentstrukturen. Daher auch die Nähe des Frag­ments zum Moment, dessen Begriff für Michael Reudenbachs Komposition (Bruch)Stück(e) aus dem Jahr 1999 eine entscheidende Rolle spielt: A «- - - eine Folge musikalischer Momente - - - mich meiner Aufgabe stellend, ein Stück(?) / viele Bruchstücke(?) zu schreiben, dabei Bezug- und Zusam­menhangstiftendes befragen - - - den Spalt zwischen dem einen und dem an­deren Moment als gegeben hinnehmen (eben als eine zufällige Folge von Bruchstücken) - - - einer Folge von Momenten einen Zusammenhang zu ver­leihen (ein Stück!) hieße, den Spalt zwischen dem einen oder anderen Mo­ment mit Ahnungen, Vermutungen und Erfindungen auszufüllen - - - fixierte Momente, nachträglich zusammengefügt = ein ‹Ganzes›? - - - Zielgerichtetheit musikalischer Prozesse?». Bspl. 9: Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello (ensemble recherche) B RCA RED SEAL 74321 73595 2RCA RED SEAL 74321 73595 2Dass Reudenbach die «Zielgerichtetheit musikalischer Prozesse» problemati­siert, berührt eine Leitidee des Fragmentarischen, das mit der Aushöhlung des linearen Zeitstroms den finalen Typus der Musik radikal umwertet und sich der Möglichkeit öffnet, Zeit gleichsam von außen zu denken: in einer Musik, die die Kontroll- und Wachsamkeitsgebote lockert. Fragmentarische Strukturen tendieren mit ihrer unvermittelten Reihung von Momenten zum Prinzip der Montage und damit zu einer veränderbaren Kom­binatorik dieser Momente. Das macht die Nähe zwischen fragmentarischen und variablen Formen aus: Anfang und Ende der Musik werden als strukturelle Akzente nahezu bedeutungslos. Musik kann aufhören, wo sie will, und sie kann beginnen, womit sie will. Form entwirft sich als Kombinatorik freier, ver­tauschbarer Momente. Deshalb kreisen die Fragen Reudenbachs anlässlich der Konzeption seiner (Bruch)Stück(e) untergründig um das Problem des Sinns als den Effekt diskur­siver Vermittlung und um das Problem, was gegenwärtigem Komponieren der Begriff des Ganzen überhaupt noch bedeuten könne. A «Meine Arbeit habe ich mit dem Schreiben von Ansätzen begonnen». «Nach ei­ner gewissen Zeit hatte ich viele ‹Anfänge›, unvollendete ‹Mittendrin›-Passa­gen und ‹Schluss›-Fragmente. Keines dieser Stücke schien mit irgendeinem der anderen Stücke in Verbindung zu stehen. Ich habe dann eine Auswahl daraus getroffen und sie in unterschiedliche Zusammenhänge gesetzt. Dabei stellte sich die Frage nach dem Ganzen und nach dem Fragmentierten. Habe ich es mit einem Stück zu tun? Oder habe ich es mit mehreren kleinen, in sich abgeschlossenen Stücken zu tun, die wiederum ein Ganzes ergeben? Oder mit einer losen Folge von kleinen Stücken? Oder sogar nur mit vielen Bruchstücken?» B Momente reihen, ohne sie nach Maßgabe einer diskursiven Logik zu glätten, heißt für Reudenbachs fünftes Bruchstück und seine maschinenhafte Stereo­typie ein Dekomponieren organischen Komponierens. Und dies bei einer un­gemildert forcierten Artikulation des Wiederholungsprinzips. Damit erzeugt die Reflexionskraft von Reudenbachs (Bruch)Stück(en) , die zeitweise an die Leerläufe der kinetischen Plastiken Tinguelys mit ihren Schrottmontagen und Objets trouvés erinnern, ein Oszillieren zwischen Mechanismus und Organis­mus und die Freisetzung brüchiger Einzelelemente vom Vermittlungsdiktat des Kontinuums. Bspl. 10: Reudenbach, (Bruch)Stück(e) B Wird in der industriell beschleunigten Massengesellschaft noch das vermeint­lich Vertraute zum Fremden, werden Gefühle zu Versatzstücken, angedreht und wiederholbar, leer und ohne Antlitz, dann liegt ein adäquater Ausdruck solcher Entfremdung in der Formation mechanischer Rudimente. Indem sich jedoch die Wiederholung eingefrorener Gesten einer fragmentarischen Physio­gnomie einschreibt, läuft der subjektive Zeitsinn leer und wird zum Reflex einer Mechanisierung des Lebens, der im Innersten existenzialistisch gemeint und doch von einer slapstickartigen Wirkung nicht zu trennen ist. Schon 1993 hatte Reudenbach deshalb sein Stück duo pianism an der Filmsequenz der außer Kontrolle geratenden Maiskolbenmaschine aus Chaplins Modern Times orien­tiert. In Reudenbachs (Bruch)Stück(en) hingegen thematisieren die mechani­schen Signaturen ein Wesensmerkmal der fragmentarischen Form: das des zurückgenommenen, ja verweigerten Eingriffs. Bspl. 11: Reudenbach, (Bruch)Stück(e) B Bei Nono, Lachenmann und Reudenbach bleibt die auskomponierte Direktive der Zeit ebenso gewahrt wie die konstruktive Ausformung der Musik. Wenn je­doch das Notwendigkeitsgebot der linearen Zeit maßgebend ist, das jedes Detail im Namen des Ganzen an seinen Ort bannt, somit die diskursive Ab­folge unverrückbar festlegt und bei wiederholtem Hören prophetisches Hören erzeugt: wie wäre dann der Fragmentcharakter innerhalb solcher an der Logik des Werkorganismus orientierter Kompositionen zu hören? Bedeutet der Auf­stand des Teils gegen die Herrschaft der Totalität nicht die unlösbare Abhän­gigkeit des Teils vom Ganzen, solange die dramaturgische Aktrice der Zeit ihre Zuweisungsregie gegenüber den einzelnen Momenten behauptet? Und wirkt der Sog des Werkhaften nicht generell als eine Sinnstiftung der Geschlossen­heit, zumal in einer Musik, die ihren einstmals an der verbalen Sprache orien­tierten syntaktischen Charakter aufgegeben hat? Inwiefern kann man bei Nono, Lachenmann und Reudenbach also von Mo­dellen des Offenen sprechen? Sicher nicht im Sinn einer Manifestation des Offenen und Unwiederholbaren wie bei Cage oder bei der Konzeption variab­ler Formen. Eher ist bei allen drei Stücken ausschlaggebend, was die Litera­tur- und Sprachwissenschaft «inneres Fragment» nennt. Indem sie das Orga­nismus-Modell, in dem «alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist», intern fragmentieren, brechen Nono, Lachenmann und Reudenbach durch harte Fü­gung und parataktische Reihung das Vermittlungssoll der Werktotalität und damit deren oberstes Prinzip: «Alles, was sich ereignet, soll sich aus dem Vor­angegangenen entwickeln». Überschritten wird der Zusammenhang einer quasi kausalen Progression, bestimmt vom Typus des in sich geschlossenen, durch Beziehungsreichtum ausgezeichneten und in seiner Entwicklung strin­genten Werks, das wie etwas organisch Gewachsenes wirkt. Fragmentum: Bruch, Brechung, Gebrochenes – damit lässt sich in der Neuen Musik auch jene Zermürbungsarbeit assoziieren, die einer Logik zweiter Ord­nung zuläuft: einer Konstellation von Augenblicken gleich einer Wirkung ohne Ursache – im Unterschied zum kausalen Vermittlungssog einer Logik erster Ordnung. Von hier aus wird Rilkes Gedicht an den Archaischen Torso Apollos von 1908 zu einem künstlerischen Leitbild des 20. Jahrhunderts. In ihm spricht Rilke den ästhetischen Sternenhimmel der Beseelung, den die Ästhetik des Deutschen Idealismus nur von der Ganzheit des Kunstwerks her denken konnte, dem Bruchstück, dem Fragment, dem Torso selbst zu: nämlich jedem Punkt an ihm als einer Intensität des «Omnia ubique», des «Alles ist überall». Und dies in ethischer Wechselwirkung mit dem fragmentierten Ich des Be­trachters: A «Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.» Bspl. 12: Lachenmann, Gran Torso ​ ​ Musikbeispiele Luigi Nono, Fragmente – Stille, An Diotima für Streichquartett (Deutsche Grammophon 437 720-2) ​ Helmut Lachenmann, Gran Torso. Musik für Streichquartett (col legno AU 31804 CD) ​ Michael Reudenbach, (Bruch)Stück(e) für Flöte, Oboe, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello (RCA RED SEAL 74321 73595 2) ​

  • Johannes Bauer, Orlando di Lasso – Wolfgang Amadeus Mozart

    Orlando di Lasso – Mozart Sprachen und Masken (SWR 2002) ​ Vom Wilden und Krummen und von der großen Schwermut ​»Bis Sonntag wird Feiertag sein und die Scheißkomödie zieht sich in München hin über die Zeit, in der Spaß mit der Dummheit der verrückten Einwohner getrieben wird. Horatio Brevis studiert und lernt auf der Viola kratzen; ich würde eher ein hübsches kleines Mädchen fiedeln. Wenn der Garten von Euer Gnaden grün wird, so wird meiner auch nicht grau eben – ich möchte nicht als Kapuziner leben. Dass der Reichstag in Augsburg stattfinden soll, gefällt mir toll. Habt Ihr standhaft scharmützelt mit Geschick, dann war es auch ein schöner Fick. Ist es weit von hier bis Milano - weiter ist es noch von jetzt bis in mille anno. Regnets heut wie aus einem Fass, wird wer unbedeckt platschnass. Die sechste Stund ists noch nicht einmal - wenns war wär, wär es auch egal. Euer Gnaden würden mich gern im Städtchen Lanzfud sehen, und ich möchte nicht sterben, ohne Euer Gnaden unmönchisch in München getroffen, gesehen, betrachtet, umarmt und geküsst zu haben.« Erinnert dieser Brief, den Orlando di Lasso 1575 an Herzog Wilhelm V., seinen Gönner und Brotherrn, schrieb, nicht auffällig an eine andere Korrespondenz der Musikgeschichte, an diejenige Mozarts nämlich? Angefangen vom prüderiefrei ungetrübten Sinn fürs Sinnliche und Sexuelle bis hinein in die Organisation der Sprachstruktur selbst? In Form eines Reimverfahrens, das im silbisch vertrauten Anklang blitzartig und unerwartet ebenso launische wie sinnbedrohende Assoziationsbereiche aufreißt? Bei Mozart jedenfalls hört sich das zweihundert Jahre später so an: »Allerliebstes Bäsle Häsle! Ich habe dero mir so werthes Schreiben richtig erhalten stalten, und daraus ersehen drehen, daß der Herr Vetter Retter, die Frau Bas Has, und sie wie recht wohl auf sind, Kind; wir sind auch Gott Lob und Dank recht gesund Hund. ich habe heute den Brief schief von meinem Papa haha, auch richtig in meine Klauen bekommen strommen. Ich hoffe Sie werden auch meinen Brief Trief, welchen ich ihnen aus Mannheim geschrieben erhalten haben, schaben. (...) jetzt wünsch ich eine gute Nacht, scheissen sie ins Bett daß es kracht; schlafens gesund, reckens den Arsch zum Mund; (...) Nun muß ich schließen und das thut mich verdrießen.« Und doch finden sich in den Briefen beider Komponisten auch Stellen mit folgender Diktion: »Ich bin gern fröhlich, heiter, und verrückt, einmal im Jahr, das doch nur zwölf Monate dauert, damit die große Schwermut mir nicht in den Kopf steigt.« So Lasso im Juli 1576. Und Mozart? Er schreibt 1790 an seine Frau Konstanze: »Wenn die leute in mein herz sehen könnten, so müsste ich mich fast schämen. – es ist alles kalt für mich – eiskalt – Ja, wenn du bey mir wärest, da würde ich vielleicht an dem artigen betragen der leute gegen mich mehr vergnügen finden, – so ist es aber leer«. Lasso und Mozart: nach außen hin zur Pose gezwungen, zum gesellschaftlichen Rollenspiel, zu dem also, was Lasso einmal charakterisiert als das »im Schweiße seines Angesichts den Springer und Gaukler (...) spielen«? Im Innern jedoch, hinter der Narren- und Konventionsmaske, grüblerisch und depressiv? Und was sagt die Musik beider Komponisten? Lassen sich ihr die emotionalen Extreme gleichfalls anhören? Bspl. 1: Lasso, Lucia, celu (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 9) (1´17) Mozart, Freundin! Ich komm´ mit der Zither (Peter Schreier, Hermann Prey, Walter Berry, Convivium Musicum München, Erich Keller) (Tr. 1) (1´19) Ausgelassenes, Derbes, Spielerisches also auch in beider Musik. Und wie steht es mit den dunklen Affekten? Bspl. 2: Lasso, Le tems peult bien (Laute solo) (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 14) (1´26) Mozart, Adagio h-Moll KV 540 (Alfred Brendel) (Tr. 4) (1´27) Bleibt nur die Frage, ob es sich bei dieser Affektpolarisierung in Lassos und Mozarts Musik auch um physiognomische Charaktere ihrer Autoren handelt oder eher um gattungs- und werkspezifisch eingesetzte Affekt- und Stimmungsmuster. Dass es jedenfalls um mehr geht als um Zoten und Noten, macht ein Brief Lassos vom 23. Januar 1576 deutlich. In ihm meditiert der Komponist über das Wesen menschlicher Existenz: »Meister Diogenes schwatzt in Gleichnissen über die großen Dinge, die es auf Erden gibt: dass ihm, wenn er Geist, Fleiß und Wert des Menschen bedenke und bewundernd betrachte, der Mensch als das bedeutendste Tier oder das größte Lebewesen, will sagen: das weiseste, das sich in Gottes Schöpfung findet, vorkommt. Aber wende das Blatt und betrachte und beobachte sorgfältig seine Vorhaben, die mit so mannigfachen Gedanken verknüpft sind: jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Daraus will der Philosoph schließen, dass es auf der Welt nichts Verrückteres gibt als den Menschen – aber auch nichts Weiseres; von mir rede ich nicht«. Könnten diese Zeilen nicht auch bei Lassos Zeitgenossen Michel de Montaigne stehen? Vor allem was den Gedanken von der unsteten Reihung menschlicher Affekte und Zustände anbelangt? Affekte und Zustände, alle gleichwertig, alle gleich gültig, weil von keinem naturdistanziert sich aufspreizenden Geist und Geistesdünkel von oben herab gewertet und hierarchisiert? Wird nicht auch für Montaigne das Flüssige und Wechselhafte des Individuums zum einzig Verlässlichen und der »Zufall« zum Regulativ der Existenz? »Ich habe keinen anderen Feldwebel, um meine Stücke in Reih und Glied zu stellen, als den Zufall. (...) Überdies schwanke ich und verwirre mich selber, weil ich so unsicher auf meinen Füßen stehe; und wer sich nur recht beobachtet, wird sich kaum zweimal in der gleichen Verfassung finden. (...) Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen«, heißt es in Montaignes Essais . Bei Montaigne wie bei Lasso löst sich die Idee der Konsistenz im Rapport der Einfälle, Eindrücke und Situationen in die unstillbare Bewegung von Übergängen auf. Im Spiel der unterschiedlichen Empfindungen zeigt sich der Sonde der Selbsterkundung das Unbeständige als Gesetz. Im Perspektivenwechsel des ruhelosen Geistes das Vergängliche, an den Augenblick Gebundene als alleinige fragile Sicherheit. Wahrheit wird zur Chimäre. Sicher: auch wenn sich Welt und Dinge in wandelhafter Flüchtigkeit dem Ich entziehen und nur fragmentarisch erfahrbar sind; auch wenn das Ich von sich »nichts Ganzes, Einheitliches und Festes ohne Verworrenheit (...) auszusagen« vermag: in der Meisterschaft von Philosophieren und Komponieren ist stets auch das Selbstbewusstsein des Subjekts der Spätrenaissance zu spüren. Darin also, dass Montaigne den Zufall virtuos als Stilisierungsmittel der Selbsterkenntnis einsetzen und Lasso die gleitende Logik der Musik dem Ausdruck der Affekte dienstbar machen kann. Machen wir dennoch im Namen von Montaignes rhapsodischer Verfasstheit des menschlichen Geistes und seiner Perspektivenwechsel das Motiv der Parataxe zum Leitgedanken dieser Sendung. Das Motiv somit von der bei- und nebenordnenden Reihung gleichberechtigter Elemente, die sich schwer verträgt mit einer Wertung nach Haupt- und Nebensachen und mit all den ziel- und systemfixierten Strecken der Entwicklung und des Ergebnisses, wie sie für die Hypotaxe charakteristisch sind. Der Geist der Parataxe aber ist es, der Lasso und Mozart zu Wahlverwandten macht – gegen die herrschende hypotaktische Tradition des abendländischen Denkens. Gegen die Tradition einer auf Über- und Unterordnung von Behauptungen, Folgerungen und Schlüssen basierenden Art der kausalen Verkettung, die für sich das Sinnmonopol reklamiert; gebunden an ein hierarchisches Sprachgefüge aus Haupt- und Nebensätzen. Lasso und Mozart: zwei frühe und herausragende Protagonisten der Parataxe mit ihrer Offenheit für Zufälliges, Beiläufiges, Mittelpunktsloses, für Streuung und Konstellation. Genau diese Offenheit aber war es, die die Philosophie zumal des deutschen Idealismus dazu brachte, Parataxe und Wahnsinn in einen engen Zusammenhang zu setzen. Und wäre man im Zeichen der hypotaktischen Tradition genügend abergläubisch, könnte man Orlando di Lasso selbst für ein Musterbeispiel dieses Zusammenhangs halten. Berichtet doch Lassos Ehefrau Regina, dass der Komponist im Alter unter »fandasey« litt, unter Wahnvorstellungen, unter parataktischer Gedankenflucht. Dann konnte er nicht mehr schlafen und die »Melancholei« überkam ihn. Bspl. 3: Lasso, Prophetiae Sibyllarum (Hilliard Ensemble) (Tr. 10) (1´35) Der Prolog zu Lassos Prophetiae Sibyllarum . Eine für die Zeit um 1550 ungewöhnliche Musik. Ein Gleiten der Klänge im Satz Note gegen Note, frei von verwickelter polyphoner Arbeit. Konzentriert auf chromatische Rückungen und schwebende Klangflächen. Klangflächen, die parataktisch und wie alogisch gegen die kompositorische Logik gesetzt wirken, auch wenn die klanglichen Überraschungseffekte immer wieder dem harmonischen Regelkodex eingebunden werden. Die verstärkte Verwendung von Halbtonschritten ist dabei das entscheidende Mittel, um die Rückungen, Entrückungen und Verrückungen in rätselhafte Klangregionen zum Klingen zu bringen; modulatorisch flexibel und angemessen der prophetischen Ekstase sibyllinischer Weissagung. Bereits zu Beginn des Prologs der Prophetiae Sibyllarum weitet Lasso die Musik auf einen exotisch neuen Klangbezirk aus: anlässlich der Worte »Carmina Chromatico«, »Lieder aus fremdem Bezirk«. Steht »carmina« noch im traditionellen C-dur-, G-dur-Klangbereich, komponiert Lasso auf »Chromatico« unvermittelt eine Entrückung nach H-dur: plötzliches Aufblitzen einer unbekannten und doch so verlockenden Sphäre. Ein irreguläres, inkalkulables Aufsprengen der kompositorischen Folgelogik als Augenblick einer verzauberten Ordnung. Bspl. 4: Lasso, Prophetiae Sibyllarum (Tr. 10) (1´35) Und so wie Lasso in den Prophetiae Sibyllarum weite Affekt- und Reflexionshorizonte assoziiert, so weiten und entregeln auch seine Briefe die hypotaktische Bedeutungs- und Urteilsmacht der Sprache. Dass Lassos Briefe überdies oft mehrsprachig abgefasst sind, steigert ihre Sprachvirtuosität zusätzlich, macht sie zum Teil unübersetzbar. Zumal was die Libertinage der Worte im Verstoß gegen die Gebote der Sprachökonomie angeht. Eine Libertinage, die nicht nur den Inhalt, sondern die Sprachstruktur selbst sexualisiert. Worte beginnen sich im Satzbett in regelwidriger Promiskuität zu begatten: unbekümmert um syntaktische Verwandtschafts- und Legalitätsverhältnisse. »Wie dumm wärest du eigentlich, Orlando, wenn du den denkbaren Gedanken denkst, dein guter Herr und Gebieter Wilhelm denkt, wenn dich solches Denken dünkt, es wird dir belohnt werden? Aber wo sind meine Gedanken hingeraten zu denken, was ich denke – das Denken lohnt den Aufwand nicht. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt, so denken jedenfalls die Engländer – ich meine den Hosenbandorden. (...) Aus München, den 18. Mai, ein Tag buntfarbig wie ein Papagei, vor dem Abendessen, nach dem man spazieren gehen soll.« Hier geht es nicht mehr nur um die Lust der Verwandlung, um die Maskerade von Wortspielen. Hier wird Sprache fast schon zerkaut, bis ihre Sinnfasern sich aufzulösen beginnen. Von den Rändern des Sinns her wird der konventionelle Kode der Sprachzeichen überdehnt. Grammatische Gewohnheiten und Gewöhnungen fransen zur Irrfahrt einer Sprache aus, die im Aufbrechen der logischen Folge für Momente kollabiert. Wo ist Innen, wo ist Außen? Sprache, umgestülpt wie ein Handschuh, um mit Shakespeare zu reden. Nicht anders treffen Mozarts Abweichungs- und Assoziationstechniken den Organismus der Sprache: Sinndetonationen der besonderen Art. »Ich kan gescheut nichts heuts schreiben, denn ich heis völlig aus den biel. der hapa üble es mir nicht Müssen Paben, ich so halt einmahl heut bin, ich helf mir nicht können.« Und doch emanzipiert das syntaktisch entregelte Spiel, das den Körper der Sprache aus seinen syntaktischen Gelenken dreht, zu einer neuen Freiheit des Ausdrucks. Satzbastionen und Wortgitter werden gesprengt, die silbische Semantik aus ihrem Gleichgewicht gebracht. So zeigt sich in Lassos und Mozarts Briefen eine andere Art Logik, eine des assoziativen Gleitens, die insofern etwas mit Musik zu tun hat, als Musik sich ihrerseits von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden. Eine Verflüssigung der Sprache durch die Entlastung vom argumentativen Sinnzwang. Der Reiz von Lassos und Mozarts Briefen liegt vor allem darin, dass der kommunikative Gebrauchswert der Sprache zwar verunsichert, aber nicht vollends aufgekündigt wird. Dadurch decken Lassos und Mozarts verbale coups das Unverständliche im Verständlichen der Sprache auf. Sie lassen das Verabredete sprachlicher Konvention erfahrbar werden, indem sie das funktionale »Als ob« der kommunikativen Konvention zur Erscheinung bringen. Was ist Sinn, wenn mit dem syntaktischen Regelwerk das Ökonomiegesetz der Sprache aus den Angeln gehoben wird und der Sprachfluss die Dämme der Logik überschwemmt? Wenn mit dem Schein sprachlicher Konsistenz der Absolutheitsanspruch der Sprache in Frage gestellt wird, Welt zu repräsentieren? Und schließlich: Was ist Sinn, wenn am Grund der Sprache nichts als das Rauschen von Silben erahnbar wird? »dreck!-dreck!-o dreck! - o süsses wort! - dreck!-schmeck! - auch schön! - dreck, schmeck!-dreck!-leck - o charmante! - dreck, leck! - das freuet mich! -dreck, schmeck und leck! - schmeck dreck, und leck dreck!-«. Die Silbe gegen ihren Bedeutungswert als Lautwert, als Ton zum Klingen zu bringen – darum geht es in dieser Briefstelle Mozarts. Silben als eine Art klanglicher Hefe, die den Teig der Sprache aufquellen lassen, bis das Moralregime des Sinns sich aufzulösen beginnt; bis im Vakuum der Bedeutung das Gravitationsfeld der Logik zusammenbricht, das die Urteilsinstanz der Sprache funktionieren lässt; bis Sprache auf ihren Abgrund hin durchlässig wird: auf ihr Rauschen, auf ihre Musik. Vergleichbar der Lust am Parlando sinnlos leerer Silbenketten in Orlando di Lassos Neapolitaner Villanesken: ​ Bspl. 5: Lasso, Lucia, celu (Tr. 9) (1´09) Was schrieb doch Lasso über die menschliche Existenz? »Betrachte und beobachte sorgfältig (die) Vorhaben (des Menschen), die mit so mannigfachen Gedanken verknüpft sind: jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.« Eine Revue der Affekte und Aktivitäten: gleichrangig und wie zufällig nebeneinander gesetzt. In ähnlicher Weise treiben Mozarts Briefe unbekümmert um die Fallhöhe Hohes und Niederes ineinander, mischen derbe Komödie und Opera seria, den Fäkalwitz und die Pathosformel des »o ihr götter!«. »Ach Mein arsch brennt mich wie feuer! was muß das nicht bedeuten! - - vielleicht will dreck heraus? - ja ja, dreck, ich kenne dich, sehe dich, und schmecke dich - - und - - was ist das? - - ists möglich! - - ihr götter! - - Mein ohr, betrügst du mich nicht? - - Nein, es ist schon so - - welch langer, trauriger ton!« Lasso und Mozart lassen in ihren Briefen im bunten Schwarm der Motive eine Zwanglosigkeit des Vielen zu, die die Identität in der verschwenderisch losen Folge von Gedanken und Einfällen liquide hält. Eine Kontinuität zweiter Ordnung, in Gang gesetzt von einer Reihung gleichrangiger Elemente, die dem Zufall weit näher steht als die hierarchisch organisierte Hypotaxe. Und wie sich das Rhapsodische der Verwandlungen in den Wort- und Satzgirlanden der Briefe findet, so zeigt sich das reihende Aufbrechen eines herrischen Formganzen auch in der Musik. Bspl. 6: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Daniel Barenboim, English Chamber Orchestra) (Tr. 9)(1´05) Das Finale von Mozarts C-Dur-Klavierkonzert KV 415 mit seiner Vielfalt an Episoden und Affekten gibt einen Eindruck von Mozarts spielerischer, burladorhafter Meisterschaft. Die Kunst der Variation und der Geist der Surprisen ist darin – nicht anders wie in Mozarts Briefen – Ausdruck einer luxuriösen Kombinatorik, äußerster Gegensatz einer zentralistisch gesteuerten Totalität. Die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, um sie doch immer wieder blitzartig mit anderen zu kreuzen oder alternieren zu lassen: dieses organisatorische Laisser-faire steigert die rasche Revue der Charaktere fast zum Capriccio, wäre da nicht die planvoll gewaltlose Konstruktion, die den komplexen Bau des Satzes untergründig steuert. Konstruktion als Konfiguration, als Fest der Parataxe: adäquater Ausdruck des menschlichen Gemüts, dieses wunderlichen Chamäleons der Stimmungen und Seelenlagen. Bspl. 7: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (3´37) Und doch ist das nur ein Aspekt dieses Finales. Mozart komprimiert hier nämlich neben einer Summe komplexer Affektmischungen buffoneske und melancholische Stimmungskontraste in harter Fügung, indem er abrupt und ohne jede Vorwarnung das spielerische 6/8-Allegro und seine papagenohaften Sechsachtelmotive durch zwei Adagio-Einschübe im 2/4-Takt und in c-Moll unterbricht. Ein scharfer, erschütternder Umschlag der Stimmung. Bspl. 8: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (1´38) Zwei kontrastierende Affekte. Womöglich auch zwei kontrastierende Schreibweisen? »Sie sehen also daß ich schreiben kann, wie ich will, schön und wild, grad und krumm. Neulich war ich übels Humors, da schrieb ich schön, gerade und ernsthaft; heute bin ich gut aufgereimt, da schreib ich wild, krumm und lustig«. So Mozart in einem Brief vom 3. Dezember 1777. Natürlich gibt es historisch bedingte Unterschiede in den parataktischen Modellen Lassos und Mozarts. Anders als in ihren Briefen zeigt sich die Differenz im kompositorischen Bereich weit deutlicher. Während Lasso dem Gattungsprimat der Spätrenaissance zufolge die Ausdrucks- und Stimmungsressorts nach Werkgattungen und Einzelwerken differenziert, treibt Mozart den Umschlag der Affekte bis in einzelne Themen hinein. Bei Lasso ergeben sich kontrastierende Grundaffekte also primär aus der Gegenüberstellung von Einzelwerken, etwa aus der Gegenüberstellung der beiden Chansons Fuyons tous d´amour le jeu und Un triste cœur . Erregtheit und Leidenschaft in der ersten Chanson, Trauer und Melancholie in der zweiten. Bspl. 9: Lasso, Fuyons tous d´amour le jeu (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 7) (0´28) Bspl. 10: Lasso, Un triste cœur (Ensemble Clément Janequin) (Tr. 8) (2´24) Gleichwohl findet sich auch bei Lasso das Helldunkel der Stimmung auf engstem Raum, innerhalb ein und desselben Werks also. Allerdings nicht in Form subjektexpressiver Stimmungsgegensätze, sondern in Form einer objektivierten Reflexion zur Spannung von Ich und Weltlauf. Verbunden mit der bei Lasso immer noch dominanten horizontalen Stimmbewegung, der eine Psychogrammatik der Affekte, wie sie die funktionsharmonische Tonalität entwickelt hat, fremd ist. Eine solche Konfrontation von Ich und Weltlauf findet sich in Lassos fünfstimmigem Madrigal Al dolce suon von 1569 auf einen Text Antonio Minturnos. ​ Al dolce suon´ del mormorar del´ onde, Al nov´ odor de le fiorite piaggie A l´arene del´ oro ai ricchi scogli Al bel cantar delle sirene al porto, Delle fatiche miei mi scors´ un lume Ch´ in fin qua giù m´ardea dal terzo cielo. ​ Beim süßen Klang der murmelnden Wellen, im neuen Duft der blühenden Gestade, im goldenen Sand bei den mächtigen Felsen, beim schönen Gesang der Sirenen am Hafen führt mich ein Licht aus meiner Mühsal, das mir endlich hier unten leuchtet vom dritten Himmel. ​ Das Madrigal entfaltet zu Beginn eine antikisierende Naturszene: mit einer auratischen Auffächerung des Klangs in weich gleitenden Sekundschritten und einer bildhaften Begriffsdeutung durch die Musik. Ihren ersten Zielpunkt erreicht die Komposition bei den Worten »al porto«: »am Hafen«. Einen Zielpunkt, der wie ein Aus- und Aufatmen zugleich wirkt, verstärkt noch durch die spätere Stelle »delle fatiche miei«, die von der Last und Mühsal des Lebens spricht. Lasso kontrastiert hier mit einer kleinteiligen, imitatorisch zerfaserten und rascheren Bewegung der Stimmen das Aufreibende, Ermüdende, In-sich-Kreisende des Weltlaufs der Idylle des Anfangs mit ihrer eher ruhig geführten, homophonen Klangarchitektur. Und wie um den Unterschied zu den arkadischen Eingangszeilen noch zu verstärken, wiederholt sich die zerstückte Polyphonie erneut bei den Worten »Ch´ in fin qua giù«: »endlich hier unten«. Eine Faktur, die selbst noch den zweiten Zielpunkt des Madrigals, den himmlisch utopischen Fluchtpunkt des »cielo« zu überwuchern droht. Dass aber Lasso das »al porto« wie ein sehnsüchtiges Verlangen nach Ruhe und Heimkehr, nach dem Enthobensein vom irdischen Getriebe komponiert, ohne dass das Gedicht diese Deutung vorgeben würde, wird zur melancholischen Spur der Musik. Bspl. 11: Lasso, Al dolce suon (Alsfelder Vokalensemble, Wolfgang Helbich) (Tr. 1) (3´02) Erzeugt also das Flüchtige, sich Wandelnde, Instabile der parataktischen Weltsicht neben dem Spielerischen, Heiteren, Ironischen, Diesseitigen nicht doch fast zwangsläufig den Formenkreis der Melancholie? Melancholie aufgrund des Ungewissen, Flüchtigen, Vergänglichen der Bilder, Gedanken und Dinge? Entscheidender ist wohl, dass der Parataxe gewisse überzeitlich ideelle Sinninstanzen nicht zu Gebote stehen. Die Sinninstanzen einer absoluten Wahrheit und Moral etwa, die die Einsicht ins tragikomische Spiel der Welt mildern könnten. Auch bei Mozart zeigt sich die Sensibilität für das Flüssige von Ich und Charakter, für das Rapide und Diskontinuierliche der Bewusstseins- und Seelenzustände auf eine Weise, die das ›Pathos nicht mit den Mitteln des Ethos reden lassen‹ will. Mozarts ästhetischer Eros löst Vernunft affektiv in einen Verstand auf, der sich zu einer Folge von Eindrücken und Vorstellungen entbindet. Zu einer Reihe von Eindrücken, die dem Philosophen Hume zufolge »einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind«. Oder, um mit Diderot zu sprechen: »Ich hatte im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter, je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert«. Womit wir wieder bei Orlando di Lasso und seiner Revue des menschlichen Daseins wären: »Jetzt heiter, jetzt sanft, jetzt jäh, jetzt traurig, jetzt voll von Verstellung und jetzt doppelzüngig; jetzt lachend, jetzt weinend, jetzt kackend, jetzt essend – so dass es nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.« Lasso und Mozart: Parataktiker beide. Verweigerer einer Ankunft im Prinzi­piellen. Sind sie deshalb auch Melancholiker? Nimmt das Menschlich-Allzu­menschliche in Lassos und Mozarts Fahrten durch den Aufruhr der Affekte und in die Nacht des Geistes nicht oft genug den Glanz epikureischer Hei­terkeit an? Gewiss. Und doch ist es der Glanz eines Heiteren, von dem es bei Goethe heißt: »Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön«. Bspl. 12: Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415, Finale (Tr. 9) (2´44) Lasso, Al dolce suon (Tr. 1) (3´02) ​ ​ ​ Beiträge demnächst verfügbar Bleibe dran...

  • Johannes Bauer, Wie abstrakt ist abstrakte Malerei?

    © Johannes Bauer, Prometheus V (2012), 48 x 36 cm, Acryl auf Papier ​ Wie abstrakt ist abstrakte Malerei? Anmerkungen zu einer verwirrenden Begrifflichkeit ​ ​ Eröffnungsrede zur Ausstellung "Johannes Bauer, Spuren - Chiffren " , Berlin 2017 ​ ​ Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Magdalena, lieber Roland Pohl, ​ natürlich freue ich mich sehr, Ihnen hier in den wunderbaren Räumen der Muthesius-Villa meine Bilder zeigen zu können. Ich möchte mich deshalb nochmals ganz herzlich bei Magdalena Behn, der Tochter meiner Freundin Martina, bedanken und bei Roland Pohl von der Berlinischen Galerie, dem Kurator der Ausstellung. Beiden gilt mein Dank dafür, dass sie diese Bilderschau initiiert und möglich gemacht haben. Und schließlich ein großes Dankeschön auch an Dich, liebe Martina, die Du mich in allem unterstützt hast. ​ Ich möchte Ihnen nun ein paar Worte zu meinen Bildern sagen und dabei, wie im Titel meiner Eröffnungsrede angekündigt, den Gegensatz "real" und "abstrakt" etwas genauer unter die begriffliche Lupe nehmen. Bis auf wenige Ausnahmen - meist im Kontext archaischer oder mythologischer Themen - weicht meine Malerei von so genannter gegenständlicher Malerei ab, von einer Malerei also, bei der das Dargestellte relativ schnell erkennbar ist. Diese Abweichung basiert zunächst auf dem Lauf der Kunstgeschichte selbst. Seit der Renaissance versteht sich Malerei als Spiegel einer virtuosen Inszenierung von Welt und Natur und deren tiefsinniger Auslotung. Bis mit den Möglichkeiten der Fotografie die Spiegel-, sprich Abbildfunktion auf malerischem und skulpturalen Gebiet Konkurrenz bekommt. Für den Großteil der westlichen Malerei bedeutet diese Konstellation um 1900 das Ende einer Tradition und den Beginn eines neuen, anderen Darstellungsmodus. Der unscharfe Begriff "abstrakt" besagt nun das Abziehen der Darstellung im Sinn des lateinischen "abstrahere" vom wirklichkeitsgeleiteten und realitätsorientierten Abbild als Leitbild. Zum anderen gründet die weit gehende und lang anhaltende, wenngleich immer wieder durchbrochene Abkehr der europäischen Malerei vom Gegenstand in der Tatsache, dass das statische Abbild in einer hochbeschleunigten Welt der dynamischen Strukturen und Prozesse immer leicht zurückgeblieben wirkt und an die Grenzen des Sicht- und Darstellbaren stößt. Vielleicht kennen Sie ja Bertolt Brechts Äußerung aus dem Jahr 1931, dass "weniger denn je eine einfache > Wiedergabe der Realität < etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute". Denn die "eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht". Soweit Brecht. Meine eigene Distanz zu abbildhafter Malerei hat darüber hinaus auch mit der philosophischen Reflexion zu tun, dass die Gegenwart für mich weniger, wie oft behauptet, an einer Sinnleere leidet - einmal abgesehen vom fundamentalen Sinnvakuum als Folge eines weltflüchtigen Gottes -, vielmehr mit Sinnangeboten und Sinngeboten regelrecht überfrachtet ist - gebunden an schnelle Fassbarkeit und Wiedererkennung und an die Übermacht einer fotografischen Präsenz, die sich flexibel und stählern zugleich zu einer Realität der Realität verdichtet. Vielleicht haben Sie ja zuweilen ebenfalls das Gefühl, dass wir in einer Flut an Bildern, an Abbildern ersticken, die uns - massenhaft reproduziert - kaum noch etwas sagen. Selbst Bilder von Gewalt und Krieg berühren uns immer seltener, weil sie dokumentieren, ohne an das Grauen heranzureichen. Sie werden eher zu einer Art gutem Gewissen der Berichterstattung. Freilich muss es Bilder, Abbilder geben, aber eben nicht nur, auch wenn wir uns über die Jahrhunderte an folgende Gleichung gewöhnt haben: Ein Bild ist ein Abbild und ein Abbild ist ein Abbild von Dingen und Gegenständen bis hin zur Darstellung des Menschen als Bildgegenstand. Abgesehen davon, dass Erkennbarkeit und Planbarkeit als Realitätskonstanten in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ihre unbestrittene Relevanz haben, erzeugt das Übergewicht des Abbildhaften durchaus bedenkliche Nebenwirkungen. Ein wichtiges Lebenselixier von Kultur kommt schlicht zu kurz, sobald das fotografische Bildmodell als Form und Norm verabsolutiert wird: zu kurz kommen die Fähigkeiten selbstbestimmter kreativer Sensibilität und ästhetischer Urteilskraft. Meine Damen und Herren, von Antonin Artaud stammt ein Satz, der aufhorchen lässt: "Briser le langage pour toucher la vie", "Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren". Für unser Thema könnte man diesen Appell abwandeln und sagen: > Die Bilder, die Abbilder brechen, um das Leben zu berühren. < Und mit Hugo von Hofmannsthal wäre noch eine zusätzliche Variante ins Spiel zu bringen: "Die Worte haben sich vor die Dinge gestellt", beziehungsweise > Die Bilder, die Abbilder haben sich vor die Dinge gestellt. < Diese Diagnose einer zur zweiten Realität gewordenen Mauer aus Worten und Bildern verstört fürs Erste eine klare Scheidung zwischen dem Realen und Abstrakten und lässt uns fragen: Ist real denn nur, was sich als Ding, als Gegenstand identifizieren lässt? Sind, zumal vom Blickwinkel der Kunst her, nicht auch Worte und Fantasien real, auch wenn sie nicht unbedingt gegenständlich zu fixieren sind? Sie sehen hinter mir drei meiner Farbtafeln, die jeweils eine leicht variierte Grundfarbe zum Thema haben, etwa die Farbe Blau, und sonst nichts. ​​Wie steht es nun mit dieser Farbe Blau? Ist die Farbe Blau ein Ding? Ist ein Bild, das lediglich die Farbe Blau zeigt, überhaupt ein Bild? Natürlich ist das Bild selbst aufgrund seines Materials - Keilrahmen, Leinwand, Farbpartikel - ein Ding; aber das nahezu monochrome Blau des Bildes als Bild - ist das ein Ding? Ist, anders formuliert, ein Bild ohne Bild, ohne Abbild, nicht auch ein Bild? Auch wenn sich unsere Begriffe "real" und "Realität" vom lateinischen Wort "res", Ding, Sache, Gegenstand, herleiten: Ist real denn nur, was Dinge, Sachen, Gegenstände einschließlich des Bildgegenstandes Mensch unserem wirklichkeitsgeschulten Blick entsprechend zur Darstellung bringt? Diese Abbildtheorie geht weit zurück - auf das antike Griechenland nämlich, insbesondere auf Aristoteles. Ein Stoff wird durch die Form, durch die prägende Potenz des Geistes ding- und abbildhaft strukturiert. Deshalb auch stand die Farbe (χϱῶμα) lange Zeit als Kolorierung konsequent im Dienst der Form (σχῆμα): als blauer Himmel, als blaue Blume, als blaues Pferd gar. Blau als pure Farbe, als Farbe an sich aber greift auf die nicht gegenständlichen Bereiche von Symbol, von Stimmung, von Psychisch-Ideellem oder - wenn Sie so wollen - Seelischem über: als partieller Entzug des Sichtbaren und als Einfließen des Unsichtbaren in das Sichtbare. Dass indes dieser sinnlich-ideelle Wahrnehmungskreis vorschnell als "abstrakt" eingestuft wird, hat eben mit einer zu eng am Abbild orientierten Ein- und Abstufung zu tun und weniger damit, was das Kunstwerk als Wirkung in uns auslöst. Zurück zu meinen Farbtafeln und zur Emanzipation der Farbe, durch die eine außerordentliche künstlerische Entwicklung in Gang gesetzt wurde. Die Farbe löst sich vom Gegenstand und wird - ja wozu? Sagen wir zunächst zu einer Art Gegenstand des Bildes, entbunden vom Kolorierungs- und Formgebungsdienst an den Dingen. Besser noch: Farbe wird zu einer Art Fluidum, das auf die Einbildungskraft der Betrachter wirkt. Malerei als Farbmalerei repräsentiert also nichts gegenständlich Dingliches mehr, wenngleich sie weit eher als meditativ denn als abstrakt zu charakterisieren wäre. Wie könnten Stimmungen, Gefühle, Assoziationen und dadurch bedingte Denkvorgänge und Ideen abstrakt sein - außer in krud materieller Hinsicht? Zudem liegt in dieser im abbildlosen Kunstwerk verdichteten regellosen Fülle an Stimmungen und Assoziationen eine immense Freiheit für die Betrachter - ein Resonanzbereich, der nicht zu erschöpfen und seiner Wirkung nach überaus real ist. Und doch sind wir zunächst mit der Freiheit solcher abbildlosen Refugien überfordert. Frei von den Bild- und Erklärungsinstanzen, die uns sagen, was und wie wir zu sehen haben. Denn die Frage "Was ist das? Was soll das sein?" - tagtäglich gestellt vor so vielen Werken vermeintlich abstrakter Malerei - verrät nicht nur eine Verunsicherung im Blick auf das Dargestellte, sondern immer auch eine Verunsicherung im Blick auf die Sinn- und Deutungsmuster des Dargestellten. Aber täuschen wir uns nicht: Ähnlich wie die als klassisch gehandelte Musik ein ungemein genaues musikalisches Hören und Denken verlangt, um adäquat rezipiert zu werden, verlangt auch die als eingängig empfundene klassische Abbild-Malerei mit ihrem Symbol- und Anspielungsreichtum viel Wissen, um sie angemessen zu verstehen. Bild und Bildung hängen hier eng zusammen. Anders - und hierin vergleichbar der Neuen Musik - die Malerei der Moderne. Ungebunden und frei vom Gesetz des Abbilds erzeugt sie einen gedanklich-sinnlichen Schwingungsbereich, der die begriffliche Klärung zunächst auflaufen lässt. Abstrakte Malerei, um den gängigen Terminus aufzugreifen, setzt eben, weitgehend befreit vom Bildungskorsett und von jedweder Fachgelehrsamkeit - ich wiederhole mich -, auf die individuelle Kraft des Entwurfs der Betrachter und nimmt sie ernst. Traue Deinen imaginativen Fähigkeiten, lautet demnach ihre Devise. Du darfst frei assoziieren, denn Du kannst beim Betrachten abbildloser Bilder nicht gegen Seh- und Wissensnormen verstoßen, auch wenn "abstrakte" Malerei auf ein eine Wahrnehmung zielt, die nicht ständig wie unter Zwang Abbildhaftes im Abbildlosen zu finden hofft. Zudem kommt es bei meiner Malerei darauf an - insbesondere bei den Farbtafeln, die, wie Sie merken, mir sehr am Herzen liegen -, den Blick zu verlangsamen und zur Ruhe kommen zu lassen, ohne die Einbildungskraft sofort wieder mit Beschlag zu belegen. Mitunter stellt sich dann eine Leere ein, die zur Fülle wird, indem sie abbildlose Freiräume schafft und die zerstreuten und nicht selten malträtierten Sinne wieder zur Besinnung kommen lässt. Vielleicht empfinden Sie ja auch des Öfteren, dass gerade das Vage, das Undeutliche, das Unbestimmte und damit Rätselhafte etwas Neuem und Unbekanntem Kontur geben. Mit diesem Vagen, Unbestimmten und Rätselhaften inmitten all der Abbilder und ihrer Realitätsdoktrin verbindet sich aber noch ein anderer Aspekt. Möglicherweise haben Sie sich selbst schon manchmal bei der Begegnung mit abbildloser Malerei zu Recht gefragt, warum so viele ihrer Bilder fragmentarisch wirken. Auch in etlichen meiner Bilder, beispielsweise in der hier ausgestellten Arbeit Nr. 17 (Ohne Titel) aus dem Jahr 2013, werden Sie solche Züge finden. Was aber heißt das? Nun, nichts anderes, als dass das Unvollendete, das Skizzenhafte, das Unfertige und Ungeformte bewusst oder unbewusst Spuren der Vergänglichkeit durch das Werk ziehen - gegen die gerundete Unsterblichkeit des formenden Geistes in den klassischen Meisterwerken, die den Stoff triumphal und zumal in einer Zeit der religiösen Weltbilder gewissermaßen noch unter göttlicher Schirmherrschaft bändigen. Dieser Triumph spielt in der so genannten Abstraktion keine Rolle mehr. Wie in Neuer Musik wird auch in der Malerei der Gegenwart der Natur- und Triebgrund des Geistes aufgedeckt und freigelegt. Der vormals niedere Stoff wird jetzt nicht mehr als Rohmaterial der Formgebung behandelt, abgeschliffen und geglättet. Formung versteht sich in erster Linie keineswegs mehr als eine Unterwerfung des Stoffs durch die Idee. Bei diesem Ablassen von der Unerbittlichkeit der Formung handelt es sich um die Rücksicht und Achtung auf das Naturhafte in uns, auf Physis und Körperlichkeit und damit auf die Begrenztheit von Ressourcen und Leben. Das Brüchige und Unvollendete lässt in unserer Zeit der Himmels- und Transzendenzferne und damit einer Zeit der größeren Aufmerksamkeit auch auf irdische Belange in das Kunstwerk die Spur des Todes ein: über die Spur des Hinfälligen und Vergänglichen Deshalb werden in moderner Kunst auch die Materialien und das Stoffliche so wichtig. Denken Sie beispielsweise nur an die Arbeiten von Joseph Beuys. Sich diese Tendenz gegenwärtiger Malerei hin zum Fragment bewusst zu machen, um darin auch die eigene Endlichkeit zu erkennen, gnädiger gegenüber der eigenen Schwäche zu werden und ein wenig vom Druck der Machbarkeitsdiktate abzurücken, auch darauf käme es an. Entsprechend geht es auch in meinen Schriftbildern, von denen Sie zwei an der Seitenwand dieses Raums sehen, um Brüchiges, genauer: um Sinnrisse als Störzonen im Grenzbereich zwischen Lesbarem und Unlesbarem, zwischen Konkretem und Abstraktem also, und um unseren allzu geläufigen Umgang mit Schrift und Sprache. Wie steuert etwa unsere Grammatik der Aussagesätze und Urteilsformen unser Denken? Was kann mit dieser Grammatik in Schrift und Sprache gedacht werden und was nicht? Auch hier wollen meine Bilder durch die Unterbrechung des Schreib- und Leseflusses und durch die Irritation der Erkennbarkeit von Schrift auf etwas routiniert Alltägliches und daher kaum noch Bewusstes aufmerksam machen und zum spielerischen Nachdenken anregen: zum Nachdenken über das Verhältnis von Geist und Buchstabe, von Idee und Material sowie deren Fragilität und Anfälligkeit als einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen Form und Stoff. Lassen Sie mich nun abschließend ein knappes Resümee ziehen: Meine Malerei will die je eigene Fantasie- und Entwurfskraft anregen. Sie will - wie moderne Malerei insgesamt - den Blick auf Offenheit hin öffnen, auf ein Sehen ohne Geländer, ohne Abbild und daher oftmals auch ohne Bildtitel. Und sie will - alles andere als abstrakt - zu einer Reise ins Unbekannte animieren, die aufgrund ihrer Fahrt in freies, gleichsam unbesetztes Gelände eventuell und punktuell sogar bewirken kann, etwas vom eigenen Anstrengungsdruck abzulassen und - Sie erinnern sich - endlichkeitsfähiger zu werden: dadurch aber gelassener, selbstbestimmter, weil weniger entfremdet von uns selbst und unserem Lebensgrund. Denn, um es nochmals zu sagen, abseits der überkommenen altbekannten Sinn- und Bildordnungen und ihres Erwartungshorizonts liegt kein Brachland, sondern eine Oase ästhetischer Freiheit und die Verlockung zu neuen Perspektiven. Moderne Malerei offeriert demnach Möglichkeiten und Experimente der Erfahrung, ohne einen verbindlichen Sinn aufzuzwingen. Insofern hat sie es weniger mit einer Realität im Sinn des römisch-europäischen Begriffs der "res", der Dinge und Sachen zu tun als mit einer Wirklichkeit im Sinn von Wirksamkeit und Verwirklichung, mit etwas Aktivem, Lebendigem also, gerade auch, was die Wahrnehmung der Betrachter anbelangt. Moderne Malerei will eher entleeren als belehren. Sie will Schneisen des Unbekannten in das allzu Bekannte treiben, sie will freiräumen. Es geht ihr mehr um die Leere zwischen den Dingen oder - wie bei meinen Schriftbildern - um das Weiße zwischen den Worten, mehr um das, was nicht im Abbild aufgeht, mehr um das In-der-Schwebe-Lassen, um Chiffren und Andeutungen in einem Echoraum des Geheimnisvollen, weil eben nicht sofort Identifizierbaren, das für unser Leben so bedeutsam ist und so oft zu verschwinden droht. Natürlich klingt das alles allzu pastoral und nach einer gehörigen Portion Selbstüberschätzung der Kunst. Was könnte Malerei als ein ästhetisches Ereignis, dem es um das Jetzt des Augenblicks geht, gegenüber unserem Getriebensein ausrichten, gegenüber unserer Rastlosigkeit und unserer Zeitangst etwas zu verpassen? Gegenüber unserem Heroentum des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus, das Welt und Dinge so überaus schwer werden lässt. Oder klingt die These vom Einspruch der Kunst doch nicht nach esoterischem Größenwahn? Am besten, wir lassen dieses Gedankenspiel fürs Erste einfach unwidersprochen. Ich als Maler wünsche mir jedenfalls, dass Sie Freude an den Bildern haben und sie genießen können, ein ästhetisches Verhalten, das lange Zeit im Zug einer Kunst des Protests, der Klage und Anklage verpönt war. Aber, wie Gerhard Richter einmal geschrieben hat, es muss auch wieder möglich sein, "schöne Bilder" fernab der Katastrophen zu malen und zu rezipieren. Nehmen Sie sich also etwas Zeit für meine Malerei. Lassen Sie sich auf sie ein und lassen Sie die ausgestellten Arbeiten in verschiedenen Stimmungen und unter wechselnden Lichtverhältnissen auf sich wirken. Gönnen Sie sich also Muße, auch wenn dies für die schnelligkeitstrainierten Visualisierungsanforderungen unserer Zeit selbst schon wieder eine gewisse Zumutung bedeutet. Und weil ich vorhin von der Vergänglichkeit gesprochen habe und unser aller Lebenszeit eben jetzt, in diesem Augenblick vergeht und allein schon dadurch zum kostbaren Gut wird, möchte ich diese unsere Lebenszeit nicht weiter strapazieren und wünsche uns allen einen unbeschwerten Abend. Und nochmals herzlichen Dank für Ihr Erscheinen und Ihre Aufmerksamkeit. ​ ​

  • Johannes Bauer, Goethe und Beethoven. Wechselseitige Spiegelungen

    »...diese Verflechtung des streng-trockenen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen« Goethe und Beethoven ​ Wechselseitige Spiegelungen im Inkommensurablen Johannes Bauer 27. Mai 2019 Beethoven Johannes Bauer 26. Nov. 2018 Mozart Südwestrundfunk 1999 ​Beethoven, Neunte Symphonie , 1. Satz, T. 1-73. (1'55'') ​ Der Anfang von Beethovens Neunter Symphonie macht bewusst, wie Musik ihre kompositorischen Mittel zu reflektieren beginnt. Die Exposition des Hauptthemas nimmt sich in einer Geste der Revision zurück, um in einem zweiten Versuch den kritischen Punkt des ersten Modells zu überwinden: durch den Einsatz eines he­belartig wiederholten Motivpartikels. Auch wenn der zweite Ansatz trotz des Ein­griffs erneut ins Leere läuft, bedeutet die Reformulierung eine Verwerfung des ersten Entwurfs und die Besinnung auf eine veränderte Strategie. ​ Beethoven, Neunte Symphonie , 1. Satz, T. 1-73. (1'55'') Mit dieser Verwerfung erweckt Beethoven den Eindruck eines komponierten Irr­wegs. Was sonst dem Skizzenbuch anvertraut blieb, geht in die Gestalt des Werks selbst ein und zersetzt dessen Homogenität. Der Tribut, den Kunst der „Prosa der Welt“ zu entrichten hat, nähert Goethes und Beethovens Spätwerk einander an. Zurückgedrängt wird die ästheti­sche Stilisierung; die Macht der Formung, die dem Stoff gönnerhaft den Schein der Freiheit gewährt. Überdeutlich werden die Gesten des Eingriffs und die The­matisierung des Materials. Eine Facette dieser Thematisierung und der damit zusammenhängenden Selbstreflexion des Kunstwerks repräsentiert in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre zu Gunstenkung des im Hintergrund wirkenden allwissenden Autors zugunsten eines Redakteurs, der die Organisation der Stoffmassen aufdeckt. Das liest sich dann folgendermaßen: ​ Unter den Papieren, die uns zur Redaktion vorliegen, finden wir einen Schwank, den wir ohne weitere Vorbereitung hier einschalten, weil (...) wir für dergleichen Unregelmäßigkeiten fernerhin keine Stelle finden möchten.(378) Mag doch der Redakteur dieser Bogen hier selbst gestehen: daß er mit ei­nigem Unwillen diese wunderliche Stelle durchgehen läßt.(258) Hier aber finden wir uns in dem Falle, dem Leser eine Pause und zwar von einigen Jahren anzukündigen, weshalb wir gern, wäre es mit der ty­pographischen Einrichtung zu verknüpfen gewesen, an dieser Stelle einen Band abgeschlossen hätten.(244) ​ Von solchen redaktionellen Eingriffen ist der Weg zur Schnitt- und Blendentech­nik in den Tempo- und Gestaltwechseln der späten Streichquartette Beethovens nicht weit. Auch hier entäußert sich der Eingriff des Autors zur Dehnung und Raffung von Kontinuität und Zeit. ​ Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130 , 1. Satz, bis ca. T. 34 (2'10''). Mozart hat jenes „überhand nehmende Maschinenwesen“ des beginnenden In­dustrialismus nicht mehr erlebt, auf dessen traditions- und bewusstseinsattackie­rende Wucht Goethes und Beethovens Spätwerk reagiert. Zumal durch den enzy­klopädischen Zug einer umfassenden Geschichtspräsenz. Bei Beethoven vom Tanz bis zur Fuge, von Rezitativ und Aria bis zur Sonate reichend; bei Goethe, allein im Rhythmischen, vom Altdeutschen bis zur Antike, vom romanischen Formenkreis bis zu aktuellen Neubildungen. Eine Materialfülle, die oft in ver­schwenderischer Lässlichkeit präsentiert wird. Oder mit einer großzügigen Flexi­bilität der Disposition. Der Austausch ganzer Sätze in Beethovens letzten Streich­quartetten erinnert an Goethes Verfahren, Spruchsammlungen als eine bewegliche Masse der Wanderjahre einzusetzen, um im wahrsten Sinn des Wortes Bände zu füllen. Dieses organisatorische Laisser-faire führt ins Innere der Werke. Sie lassen das Gebot strenger Durchorganisation hinter sich und werten im Abrücken von einer unabänderlichen Folgelogik die autonomen Teile gleichgewichtig auf. Dass die Wortsprache auf ein zeitliches Nacheinander angewiesen ist, das es ihr im Gegensatz zur Musik nicht erlaubt, unterschiedliche Motive und Themen simultan zu überlagern, kann Goethe deshalb in den Wanderjahren auf musiknahe Weise überschreiten. Indem der Roman die Folgelogik aufbricht, lockert er die Vermittlung des Einzelnen in der Zeit und lässt die Motivkreise in räumliche Gleichzeitigkeit zueinander treten. Schließlich greift ja die Musik selbst diese Konstellation auf: in Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli . Auch sie sind auf Verräumlichung hin angelegt: in Form eines Zirkels experimenteller Modellvarianten. Weit entfernt von den gesteigerten Variationen der Neunten Symphonie und mit einem Hang zur Typisierung wie er den Charakteren in Goethes Wanderjahren eignet. So versenkt sich die zwanzigste Variation in ein Themensubjekt am Rand seiner Identität: entindividualisiert und ins Abstrakte gewendet, vor seiner endgültigen Auflösung nur noch durch die Periodik des Ausgangsmodells bewahrt. Wie bei Goethe ist die Unverwechselbarkeit des Helden, die Einzigartigkeit des Subjekts nicht mehr von Belang. Faust wird in der ‘Tragödie zweitem Teil’ nur mehr als eine „Art von durchgehender Schnur“ benutzt, „um darauf die verschiedensten ‘Weltenkreise’ aneinander zu reihen“(Eckermann, 13. 2. 1831), während Wilhelm Meister in den Wanderjahren als Individualität im „funktionellen Figurenspiel der Erzählkreise“ (Borchmeyer, 304) verschwindet. Was könnte mehr vom übermächtigen Weltgetriebe zeugen als das Phänomen, dass sich die heldische Individualität ins Typische auflöst? ​ Beethoven, Diabelli-Variationen (Thema + Variation Nr. 20). (2'32'') Fraglos auch die Gemeinsamkeiten in der Überlagerung von Sprache und Gegen­sprache. Dass die Cavatina aus Beethovens Streichquartett op. 130 über einem met­risch konstanten Puls rhythmisch freischwebende Melodiepartikel wie „be­klemmt“ stocken lässt, erinnert an das Unterlaufen syntaktischer Ordnungen bei Goethe. Etwa im Mittelteil der fünften Strophe der Marienbader Elegie , der etwas atemlos Abgerissenes annimmt. Wie in Beethovens Cavatina die periodische Re­gularität von irregulären Sequenzen mit prosaisch-realistischer Wirkung durchsetzt wird, so beginnt in Goethes Elegie die strenge Stanzenform, die die seelische Erschütterung auffangen soll, im zeitweisen Verlassen der wohlartikulierten Diktion zu beben: durch Überdehnung der grammatischen Bahn im Aufschub klarer Bezüge. ​ Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden Mit jedem Stern des Himmels um die Wette An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden ; Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere Belastens nun in schwüler Atmosphäre. ​ Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130 , Cavatina, T. 33 (3. Viertel) - T. 52 (1. Viertel) (1'52''). ​ Die Cavatina aus dem Streichquartett op. 130 von 1825: sie ist Beethovens große Ele­gie, vergleichbar der berühmten Marienbader Goethes von 1823. Beide Konfessio­nen thematisieren das Motiv des Herzens und seiner Qualen."Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide." Figuren der Enge, der Angst werden akut. „Beklemmt“ steht über dem von Ces-Dur nach as-Moll führenden Mittelteil von Beethovens Cavatina . Vom „wüsten Raum beklommner Herzensleere“ spricht Goethes Elegie . Und immer wieder die Hoffnungssehnsucht, kontrapunktiert der Erfahrung äußerster Einsamkeit. „Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen“. Wird bei Beethoven das rezitativische Stammeln des „Beklemmten“ von kantablen Teilen flankiert, die flüchtig auf Leonores Hoffnungsarie aus dem Fidelio anspielen, „dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle“ auch in Goethes Spätgedicht. Und sei es nur in der Erinnerung. Momente des Aufschwungs und des Sturzes in beiden Monologen. Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130, Cavatina.(7'18'') Entgegen der Überzeugung, dass alles gesagt werden kann, wissen der späte Goethe und der späte Beethoven von der Bedeutung des Ungesprochenen, Nichtkomponierten. Von dem, was sich aus der wechselseitigen Spiegelung der Teile ergibt, wie Goethe dies 1827 formuliert: ​ Da sich manches unserer Erfahrungen nicht rund aussprechen und direkt mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.(Goethe an K. J. L. Iken, 23. 9. 1827.) ​ Diese Rhetorik des Verschweigens und der Andeutung durch wechselseitige Er­hellung hat viel mit dem zu tun, was in der Ornamentik Negativform heißt. Da­mit, dass ein Muster, eine gewebte Textur, ein geschriebener Text das von ihnen Begrenzte und Ausgesparte zu einem zweiten Muster, einer zweiten Textur, einem zweiten Text ausformen. Als eine solche Negativform konturiert sich in den Spätwerken Goethes und Beethovens das Problem, wie denn nach dem Zerfall der Dreifaltigkeit von Gott, Wahrheit und Sprache noch zu schreiben, zu kompo­nieren sei, ohne in Unverbindlichkeit oder romantische Fluchttendenzen ab­zugleiten. Eine Möglichkeit liegt darin, die Sprache für die Härte der Realität und deren poetische Transfiguration geschmeidig zu halten. Es ist, als würde Goethes offene Form dem Roman der Wanderjahre Fenster öffnen, durch die die „Prosa der Welt“ eindringen kann, um das Werk nicht von innen her zu sprengen. Goethe selbst war es ja, der sich anlässlich der Wanderjahre über den Versuch mokiert hatte, „das Ganze systematisch konstruieren und analysieren zu wollen“. Gebe sich doch der Roman „nur für ein Aggregat“ aus, für einen „Verband der disparatesten Einzelheiten“. Dennoch: das Risiko, dem Goethe die Prosa der Wanderjahre im Pakt mit der „Prosa der Welt“ aussetzt, ist enorm. Bekannt sind die Stellen über das We­berhandwerk, die Goethe als ungefilterte Sachprosa in den Roman einlässt: Rechtsgedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, linksgedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleißige Spin­nerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen. Goethe bezeichnet solche Legierungen von Prosa und Poesie als eine „Verflech­tung des streng-trockenen Technischen mit ästhetisch-sentimentalen Ereignissen“. Oder als den Versuch, „einen hinlänglich realen Zettel zu einem poetischen Ein­schlag vorzubereiten“. Ein Gleichnis aus dem Gebiet der Weberei, das für das lose und mit neuen Bindungstechniken arbeitende Alterswerk Goethes an Bedeutung gewinnt - und für dessen Kritiker. Das Ineinandergreifen von „Zettel“, also den längsverlaufenden Kettfäden des Webstuhls, und „Einschlag“, den vom Weberschiffchen quergezogenen Schussfäden, repräsentiert für den Dichter das lebendige Verwobensein von Natur und Geschichte, von Gesetz und Erscheinung, von Dauer und Wechsel. Großar­tig formuliert im Antepirrhema aus Gott und Welt : So schauet mit bescheidnem Blick Der ewigen Weberin Meisterstück, Wie ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein hinüber herüber schießen, Die Fäden sich begegnend fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt! Das hat sie nicht zusammengebettelt, Sie hats von Ewigkeit angezettelt; Damit der ewige Meistermann Getrost den Einschlag werfen kann. ​ Sicher hat die Zeile: „wie ein Tritt tausend Fäden regt“, den bereits von einem Punkt aus gesteuerten Webstuhl vor Augen. Einen Webstuhl, der seine Einzelme­chanismen sinnvoll kombiniert wie die 1805 von Jacquard konstruierte Webma­schine. Bei ihr dirigiert ein System von Lochkarten das Spiel der Schäftestellungen und das Ausheben der Kettfäden, mit dem Resultat einer äußersten Vielfalt und Feinheit an Mustern und Geweben. Natürlich ist die Analogie zwischen Text und Gewebe augenfällig. Sprache als Textur, als Text, als ein Netz, in dem sich die Erfahrung von Welt in mannig­faltigsten Mustern bricht. Dass sich im Gewirr der Worte der gedankliche Faden nicht verlieren darf; dass entsprechend der Verriegelung der Kett- und Schussfä­den die Bindungskräfte des Satzgefüges mobilisiert werden; dass die Sperrung oder die Freigabe der einzelnen Kettfäden das Abweben des Musters bedingt, während die Sprache durch Sperrung oder Freigabe einzelner grammatischer Bah­nen dem Muster von Sinn und Fabel zuarbeitet: die Vergleiche ließen sich beliebig fortsetzen. Brisant werden die Parallelen allerdings im Fall der Faust II -Parodie Fried­rich Theodor Vischers von 1862. Sie stößt sich am Mechanischen in Goethes später Sprache; an ihrer, wie Vischer argwöhnt, industriellen Reproduzierbarkeit. Ausgeworfen vom Selbstläufertum einer Wortmaschine, deren Getriebe es bloß­zulegen gilt. Steht also hinter den Sprachmustern des späten Faust -Dramas der Automatismus eines Kalküls? Ein Goethe'scher Sprachmotor, der eine Art fab­rikmäßiger Poesie-Ware ausstößt? Etwa so wie bei der geistvollen Jacquard-Ma­schine hinter dem Organismus der Gewebemuster der Mechanismus des Ge­stanzten steht? Vischer jedenfalls setzt seine Mechanismus-Schelte in eine virtuose Persiflage um. Er will die Technik, das Künstliche in Goethes Kunstsprache auf­decken, die Machbarkeit des Gemachten. So antworten Goethes ‘Chor der Rosen streuenden Engel’: ​ Rosen, ihr blendenden, Balsam versendenden! Flatternde, schwebende, Heimlich belebende Zweigleinbeflügelte, Knospenentsiegelte, Eilet zu blühn! - ​ die „Geister“ von Vischers Drittem Faust mit dem Hohn maschineller Geläufigkeit und mit der perfekten Anverwandlung einer Sprachmanier des Goethe'schen Zweiten : Selig derjenige, Der die Helenige, Mehr krinolinische Als heroinische, Nicht sehr natürliche, Wächsern figürliche, Klassisch beschwatzende, Mannsgeist befratzende, Dann die euphorische, Hüpfend emporische, Auf und ab purzliche, Springende, sturzliche, Naseweis knabische, Gummiarabische, Sturmdrangpoetische, Wilde, phrenetische, Lordische, britische, Launische, wittische, Zweifelzerbissene, Weltschmerzzerissene, Willen kastrierende, Dasein negierende, Prüfung bestanden! ​ Hat Goethe die selbstauferlegte Prüfung seines in Musik hinüberspielenden Sprachexperiments Faust II also doch nicht bestanden? Sicher hat Vischers geniale Parodie die Gefährdung einer Poesie aufgedeckt, die die prosaische Welt bis in die rapporthafte Schematik des Sprachgewebes einlässt. Aber er hat mit dem Risiko die Widerstandskraft dieser Sprache übersehen. Übersehen also, mit welchem Wagnis Goethes Faust II Extreme eingeht und durch deren Inkommensurabilität an Ausdruck gewinnt. Dass die poetische Sprache abstürzt, wenn sie sich von der „Prosa der Welt“ reinzuhalten sucht, ist das eine. Dass sie abstürzen kann, auch wenn sie sich dem Prosaischen stellt, im Sturz aber wieder in Poesie umzuschlagen vermag, das andere. Und noch etwas hat Vischer übersehen: dass das Einlassen mechanischer Momente zum Bewältigungskanon der Kunst um 1820 gehört. Vischer hätte also auch bei Beethoven fündig werden können. Etwa wenn im zweiten Satz der Neunten Symphonie der orgiastische Rhythmus zerfällt, abbricht und im Stillstand endet: ähnlich der Wirkung auslaufender, abbrechender und er­neut anhebender Rotationen. Mechanisierungen, die den Verlauf auf die Folie lee­rer Zeit hin durchschlagen. Eine Plötzlichkeitserfahrung der frühen Moderne und zugleich eine Entbürdung von formender Regie. Dass sich der Rang eines Komponisten danach bemisst, inwieweit er den tonsprachlichen Fundus von Stereotypie zu entbinden weiß, vergisst Beethoven im Umkreis dieser Abbrüche bewusst. Er inflationiert den Quintenzirkel mit Absicht. Unbekümmert um das Vermittlungssoll kompositorischer Logik nähert sich die Musik der Schablone an. Komponierte Zeit verrinnt in die empirisch leere. ​ Beethoven, Neunte Symphonie , 2. Satz, T. 9 (der Whlg. des ersten Scherzoteils) - T. 176 (1'32''). ​ Beethovens Erschütterung des Kontinuums antwortet auf die Krise der Tradition. Dass der gesellschaftliche Verlust von Tradition und Kontinuität nicht mehr guten Gewissens im Kunstwerk kaschiert werden kann, entmächtigt dessen Anspruch, Zeit ungebrochen zu organisieren. Störungen der Zeitordnung freilich bedeuten Irritation von Sinn. Eine Irritation allerdings, die neue, ungewohnte Assoziations­höfe öffnet. Goethes und Beethovens Spätwerk ordnet sich nicht mehr um ein benennbares, verbindliches Zentrum, das die erloschene göttliche Bindungskraft durch sinnhafte Weltmodelle beerbt. Innerhalb des ästhetischen Kosmos soll zwar alles gleich nah zum Mittelpunkt sein, der Mittelpunkt selbst jedoch entzieht sich ins Leere. Das Zentrum löst sich in die gleichgewichtigen Gravitationsschwer­punkte der Teile auf, die ihren Zusammenhang untergründig stiften. Bei Beetho­ven durch das Symbol eines Viertonmotivs, das die Klammer zumal der Streich­quartette opp. 130, 131 und 132 liefert. Bei Goethe durch das Leitmotiv der „Entsa­gung“ und das des „Kästchens“, das den Roman der Wanderjahre hochsymbolisch und real zugleich durchzieht, unerschlossen und geheimnisvoll wie eine black box, um modern zu sprechen. Auch in den späten Beethovenquartetten wird das ‘Knüpfen’ von „Assoziationen“, die „halblatent bleiben“, „wesentlicher als die manifeste motivische Arbeit“(Carl Dahlhaus). Entscheidend bleibt das Prinzip der Streuung in einer zur Offenheit tendierenden Form und die Anforderung an die Koordinationskraft der Leser und Hörer. Die offene Form weitet sich ins Unendliche, weil die Aufkündigung der Folgelogik die Teile unendlich mobil werden lässt. Wenn sich der Beginn von Beethovens Opus 130 keineswegs wie eine eindeutige Anfangsgeste anhört, son­dern nicht weniger wie die Fortspinnungssequenz innerhalb einer Komposition, oder wenn Goethes Wanderjahre mit einem „Ist fortzusetzen“ enden, dann sind dies frühe Beispiele für eine Destabilisierung des Beginnens und Schließens und damit für eine Entmächtigung der Form selbst, ihres Alphas und Omegas näm­lich. ​ Beethoven, Streichquartett B-Dur op. 130 , 1. Satz, Beginn bis T. 4 (2. Viertel). (0'25'') ​ Ähnliches in der letzten der Bagatellen op. 126 , deren sechs Anfangstakte zugleich wie entschiedene Schlusstakte wirken: ​ Beethoven, Bagatelle op.126, 6, Beginn bis ca. T. 12. (0'25'') ​ Anfangstakte, die das Stück dann tatsächlich unverändert als Schlusstakte einsetzt. ​ Beethoven, Bagatelle op.126, 6 , T. 63 bis Ende.(0'25'') ​ Anfang und Ende sind verwechselbar, austauschbar: wohl eine der radikalsten Arten, Form als Entwicklung zu verabschieden. Wie sich indes mit der Relativie­rung von Anfang und Ende auch die Vermittlung im Innern der Werke lockert, zeigt Goethes und Beethovens Spätwerk durch die bewusst eingelassenen Ausspa­rungen. Durch die Leerstellen des Verschweigens in den Wanderjahren oder in Form der verweigerten Mitte in Beethovens Streichquartetten, etwa ihren zu har­ten Kontrasten gerafften Modulationswegen. Hinter all dem steht eine Idee des Poetischen, die Goethe 1827 so formuliert: ​ je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion desto besser.(RO86) Dass diese Inkommensurabilität den Zufall begünstigt, liegt auf der Hand. In den Wanderjahren sieht Goethe etwas wie im „Leben selbst“ am Werk: ​ Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, bald vereitelt, vereint, wodurch das Buch ​ eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich ins verständige und vernünf­tige Wort nicht durchaus fassen noch einschließen läßt.(an Johann Friedrich Rochlitz, 23. 11. 1829). ​ Ist es deshalb verwunderlich, wenn die Wanderjahre dem Autor des Tristram Shandy ein Denkmal setzen? Laurence Sterne also, der den Zufall als Produktivkraft der Abbrüche, der Um- und Abwege feiert, um zwischen dem Zerstückelten und Entlegensten Funken zu schlagen? Die Aphorismen, die Goethes Wanderjahre Sterne widmen, sind deshalb kommentierende Spiegelungen des eigenen Spät­werks. ​ Auch jetzt im Augenblick sollte jeder Gebildete Sternes Werke wieder zur Hand nehmen, damit auch das neunzehnte Jahrhundert erführe, was wir ihm schuldig sind, und einsähe, was wir ihm schuldig werden können.(482) ​ Aphoristische Verdichtungen formulieren auch Beethovens späte Bagatellen ; wie die Spruchsammlungen in Goethes Wanderjahren entlastet von ausgreifender Ar­gumentations- und Durchführungsarbeit. Eine experimentelle Musik der raschen Anspielungen und Assoziationen und der Anforderung an eine Einbildungskraft, die der komponierten Diskontinuität unterschiedlichster Stimmungen und Gedan­ken gewachsen ist. Diesem, wie Goethe an Sterne rühmt, ​ schnellen Wechsel von Ernst und Scherz, von Anteil und Gleichgültig­keit, von Leid und Freude.(484) Dieser ​ Unmöglichkeit, über einen ernsten Gegenstand zwei Minuten zu denken.(484) ​ Beethoven, Bagatellen op. 119, Nr. 6 und 7 (3'02''). ​ Goethes und Beethovens späte Werke haben es mit einer Realität zu tun, die nach dem Einlösungsdefizit der Französischen Revolution, nach dem Konkurs über­zeitlicher Ideale und inmitten der frühindustriellen „Unrast“ die künstlerische Produktion immer mehr zu einer der Verweigerung schärft: im Widerstand zur tödlichen Mitte der Konvention und gezeichnet vom Trauma der Welt. Von die­sem Trauma her erhellt Goethes und Beethovens enzyklopädischer Anspruch in all seinen Brüchen und Beschwörungen den Blick auf das metaphysisch entzau­berte Asyl der Moderne. Sich der „Prosa der Welt“ zu stellen, lautet das ebenso offene wie geheime Motto. In einer Verwebung mit dem Poetischen, die Unter­scheidungen nicht mehr zulässt, wie in Goethes Wolkengestalt nach Howard : ​ Vor Sonnenaufgang leichte Streifen an dem ganzen Horizont hin, die sich erhoben und verflockten, sobald sie hervortrat. Die Fahne, vollkommen in Nord, stand unbeweglich, mit wachsendem Tag häuften sich die Wol­ken. In Alexandersbad stand das Barometer 28 Zoll weniger anderthalb Linie, welches nach der Höhe des Orts schön Wetter andeutet.(...) Das leichteste Gespinst der Besenstriche des Zirrus stand ruhig am obersten Himmel, ganze Reihen von Kumulus zogen, doppelt und drei­fach übereinander, parallel mit dem Horizonte dahin, einige drängten sich in ungeheure Körper zusammen (...). Wo liegt hier die Grenze zwischen Poesie und Prosa? Zwischen lyrischer Em­phase und wissenschaftlicher Präzision? Zwischen bildhafter Imagination und be­grifflicher Exaktheit? Goethe selbst hat gehofft, dass beide sich „freundlich“, „auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten“. Eine Versöhnung im Unge­trennten, von Kunst und Leben auch, wie sie im fünften Satz von Beethovens Cis-Moll-Quartett Kontur annimmt. Einem Satz, dessen poetische-prosaische Legierung von Trieb und Getriebe auf flüchtige Oasen des „piacevole“ hin durchlässig wird, des „Freundlichen“, um nochmals Goethes Wort aufzugreifen, - und auf Kinder­liedhaftes, befreit von Ernst und Askese. ​ Beethoven, Streichquartett cis-Moll op. 131 , 5. Satz (ca. ab T. 278). (2'30'') ​ ​

  • Johannes Bauer, Komponieren als Kunst des Beginnens und Schließens

    Von der Kunst des Beginnens und Schließens Stationen eines kompositorischen Problems Musik beginnt, Musik schließt. Wo läge hier die Schwierigkeit? Und doch: die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts von der Konvention des Gattungsstils getragene Praxis, Anfänge und Schlüsse zu komponieren, schärft sich seit etwa 1780 zu einer hintersinnigen Kunst des Übergangs. Zu einer Kunst, für die die Anfänge sich in raffinierte Entmischungsprozesse und demonstrative Grenzscheidungen zwischen der empririschen und der ästhetischen Sphäre auffächern, und zu einer Kunst, bei der die Schlüsse nicht mit den Verfahren des Endens, gar mit solchen des Aufhörens zu verwechseln sind. Wie sehr das Einfädeln der ästhetischen Zeit in die empirische und die Wiederkehr der empirischen Zeit am Ende der Musik zu Nervenpunkten der Form werden, lässt sich an einer Reihe experimenteller Anfangs- und Schlussmodelle von Beethoven bis Stockhausen ablesen: Ästhetischer Ausdruck eines Bewusstseins, dem sich der Zusammenhang und die Gleichförmigkeit der Zeit quer durch alle Erfahrungsbereiche aufzulösen beginnen. Und worin berührte das Poröswerden der Einheit von Zeit und Geschichte die musikalische Struktur wohl mehr als in ihrem Anspruch, Zeit in der Zeit aufzuheben? Mit den Schnittstellen von Anfang und Ende als dem Alpha und Omega musikalischer Erscheinung in der Zeit? Johannes Bauer Von der Kunst des Beginnens und Schließens Stationen eines kompositorischen Problems ​ SWR 2, 2003 ​ ​ A Musik beginnt, Musik schließt. Wo liegt die Schwierigkeit? Und sollte es Probleme geben, gibt es wohl auch Mittel, sie zu lösen. Etwa so: Bspl. 1: Johann Strauß, Perpetuum mobile [3´04´´] [Karl Böhm, Wiener Philharmoniker] A Das «Und so weiter» des Dirigenten Karl Böhm beendet von außen einen «musikalischen Scherz», der wie in einer Endlosschleife ewig weiterlaufen könnte. Johann Strauß’ Perpetuum mobile : ein Scherz eben, aber gleich ein kompositorisches Problem? B Und doch ist dies eine Musik, die endet, ohne zu enden: Paradoxe Variante eines Komponierens, dem die vormals vom Gattungsstil getragene Praxis, zu beginnen und zu schließen, seit etwa 1780 eine besondere Kunst des Übergangs abverlangt. A Eine Kunst nämlich, bei der Anfänge sich in subtile Entmischungen oder rigorose Grenzscheidungen zwischen Musik und Realität auffächern und bei der Schlüsse nicht mit Verfahren des Endens, gar mit solchen des Aufhörens zu verwechseln sind. BEine Kunst also, der das Einfädeln der ästhetischen Zeit in die empirische Zeit zu Beginn einer Komposition und die Wiederkehr der empirischen Zeit an ihrem Ende zu Nervenpunkten der musikalischen Form werden. Bspl. 2: Ludwig van Beethoven, Erste Symphonie [Tr. 1, 0´00´´–0´06´´] [0´06´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] A Ein ungewöhnlicher Beginn: mit der unvermittelt und ohne metrisches Fundament einsetzenden Dissonanz eines Septakkords, der sich in die Subdominante auflöst, bevor endlich nach acht Takten die Grundtonart bestätigt wird. Eröffnet man so eine Symphonie? B «Man» sicher nicht, aber eben Beethoven. Was spielt es da für eine Rolle, wo das feierliche Eröffnungsportal bleibt? A Und doch wird noch 1805 genau dieses Eröffnungsportal vermisst, wenn an Beethovens Erster Symphonie ein Beginn kritisiert wird, der «nicht zur Eröffnung eines großen Concerts» passt. Wo bleibt das «prachtvolle Unisono», das eine musikalische Akademie «besser eröffnet» hätte als dieser «unbestimmte, wenngleich genialische Anfang»? Bspl. 3: Ludwig van Beethoven, Erste Symphonie [Tr. 1, 0´00´´–1´16´´] [1´16´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] B Wenn dieser Anfang das zeitgenössische Publikum nicht desorientiert hat! Ein Anfang, den der Gestus der Originalität zum Unerwarteten, zum Ereignis schärft. A Und nicht nur das. Irritationen wie die ersten Takte von Beethovens C-Dur-Symphonie sollen mit der Sprengung ästhetischer Normen für die Verkrustung gesellschaftlicher Konventionen sensibilisieren. So wird das symphonische Unternehmen zur politisch-philosophischen Lektion, das Konzentration und Mitvollzug verlangt: ästhetische Gebote, die die beiden Forte-Schläge zu Beginn der Eroica gebieterisch einfordern. Bspl. 4: Ludwig van Beethoven, Eroica [Tr. 5, 0´00´´–0´02´´] [0´02´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] B Auch wenn die Forte-Schläge zur Eröffnung der Eroica harmonisch nichts weiter sind als reine Es-Dur-Dreiklänge, ein Ereignis sind sie ebenfalls. Ereignis im Sinn eines herrischen Schnitts in die Zeit A und im Sinn einer plötzlichen Entladung des ästhetischen Augenblicks in die empirische Zeit wie zu Beginn von Beethovens Fünfter Symphonie ; einer Entladung, die das Publikum erschüttern soll wie jener «Blitz» in Schillers Abhandlung Über die tragische Kunst, «der alle Herzen entzündet». Bspl. 5: Ludwig van Beethoven, Fünfte Symphonie [Tr. 1, 0´00´´–0´06´´] [0´06´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] A Wie solche kompositorischen Attacken wohl vom Publikum der Ur- und Erstaufführungen aufgenommen wurden? B Jedenfalls belegen zahlreiche Konzertberichte die Provokation des Ungewohnten samt den entsprechenden Abwehr- und Abfuhrreaktionen. Abfuhrreaktionen beispielsweise mit Tumult und Gelächter beim englischen Publikum des Jahres 1811 als Antwort auf den Anfang der Fünften Symphonie . A Es geht beim Anfangen und Schließen also um eine Kunst der Entmischung, um Scheidekünste, deren Thematik um 1800 auch auf anderen Gebieten relevant wird. Etwa wenn Hegel erst der Philosophie seiner Zeit das «Bewusstsein» für die «Schwierigkeit» zuspricht, «einen Anfang in der Philosophie zu finden». Und fortfährt, dieser Anfang müsse der Vorstellung nach «entweder ein Vermitteltes oder ein Unmittelbares sein», ohne doch «weder das eine noch das andere sein» zu können. B Und was die Schwierigkeit des Anfangs seit dem klassisch genannten Höhepunkt der Musik des bürgerlichen Zeitalters betrifft: Anfangen, Beginnen hatte von nun an die Vermittlung zwischen Werk und Publikum auf eine Weise zu leisten, die der Fesselung des Auditoriums und der Selbstbestimmtheit des Komponierten zugleich Rechnung trug. A Denken wir an den Beginn von Haydns Symphonie Nr. 103 mit seiner gewagten, faszinierenden, ja verstörenden Entmischung der ästhetischen und außerästhetischen Sphäre. Einer Entmischung von unten her, dicht am Geräusch. Der Paukenwirbel – ein geniales Kürzel für den rohen Stoff, den es musikalisch zu formen gilt. Die Pauke – das Medium, das die Materie zum Schwingen bringt. Das Material – nichts als Potenz und verkappte Struktur. Bspl. 6: Joseph Haydn, Symphonie Nr. 103 [Tr. 9, 7´02´´–7´10´´] [0´08´´] [Thomas Beecham, Royal Philharmonic Orchestra] B Haydns Paukenwirbel, eine kaum hörbare Interpunktion zwischen Musik und Welt: einen Takt lang aus dem Unhörbaren anschwellend und wieder ins Unhörbare gleitend. Auch wenn aufgrund der fehlenden Dynamik-Angabe seitens des Komponisten ungewiss ist, wie dieser Paukenwirbel auszuführen sei: ob «fortissimo [...] oder fortissimo-diminuendo oder crescendo-diminuendo oder crescendo». Aber geschenkt! Ein unerhörter Beginn ist es allemal. Bspl. 7: Joseph Haydn, Symphonie Nr. 103 [Tr. 9, 7´02´´–7´10´´] [0´08´´] [Thomas Beecham, Royal Philharmonic Orchestra] A Wie gesagt, ein unerhörter Beginn B und einer, der mit dem Kontinuum musikalischer Ordnung kaum vermittelbar scheint. Ein Beginn, der quer zum Kosmos des reinen Tons und des tonalen Organismus steht. A Zumindest handelt es sich bei diesem Beginn um eine Erkundung an den Rändern der Musik. Vorausgesetzt, man lässt den Paukenwirbel im Pianissimo beginnen. Offenkundig ist indes, dass Beethoven einen solchen gegen Null zulaufenden Beginn realisiert hat. ​ Bspl. 8: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie [Tr. 2, 0´00´´–0´04´´] [0´04´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] B Beethovens Neunte Symphonie : ein Beginn oder besser Nicht-Beginn mit dem Schauer der Tongeschlecht und Tonart verschleiernden leeren Quint, pianissimo in den Sechzehnteltriolen der zweiten Violinen und Violoncelli vibrierend. A Beethovens Schwierigkeit lag bei diesen Anfangstakten darin, die Bestimmtheit des tonalen Regelsystems gezielt aufs Unbestimmte hin zu unterlaufen, um dann mit den Mitteln einer effizienten Produktionslogik erneut Bestimmtheit zu erzeugen. Nun aber eine Bestimmtheit aus der Macht des kompositorischen Subjekts heraus. Bspl. 9: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie [Tr. 2, 0´00´´–0´56´´] [0´56´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] B Seiner Tendenz nach eine «Schöpfung aus Nichts» erzeugt sich der Anfang der Neunten Symphonie aufgrund jener impulsiven und spannungsgeladenen Offenheit, die die terzlose Quint mit purer Entwicklungsenergie auflädt. Es ist dieses leere Intervall, das die kompositorische Arbeit der Klärung und damit die Schöpfung eines ästhetischen Universums in Gang setzt. A Das wäre denn auch die Nähe Beethovens zur Philosophie seiner Zeit und ihrer «Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen», mit dem «eine ganze Welt aus dem Nichts hervor[tritt]: Die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts», wie im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus aus dem Umkreis Hegels zu lesen ist. Bspl. 10: Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie [Tr. 2, 0´00´´–0´56´´] [0´56´´] [Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester] B Nicht nur, dass Beethoven mit den ersten Takten der Neunten Symphonie eine neue Ökonomie ins Werk setzt, die sämtliche Konstanten der tonalen Grammatik einem Höchstmaß an Einheit und Kontinuität unterwirft. Beethoven stilisiert sich hier außerdem – das geschieht wohl zum ersten Mal in der Musikgeschichte – zum Mystagogen, zu einem Auserwählten, der in die Mysterien, in die Geheimnisse der ästhetischen Offenbarung einweiht. A Was ja der Pianissimo-Schauer des Tremolos deutlich genug zu Gehör bringt. B Übrigens war es dieser Initiationsritus, der für die Musik des 19. Jahrhunderts insgesamt nicht ohne Einfluss blieb. Etwa für die pianissimo tremolierende Eröffnung der Neunten Symphonie Anton Bruckners. Auch bei Bruckner entfalten die Anfangstakte des «Feierlich, Misterioso» überschriebenen ersten Satzes eine mystisch sakrale «Dämmerungszone», eine Aura der Schöpfung, zurückverlegt in den Bereich eines vorbewussten Hörens: ein Anfang ohne anzufangen. Bspl. 11: Anton Bruckner, Neunte Symphonie [Tr. 1, 0´00´´–1´21´´] [1´21´´] [Günter Wand, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester] B Die Anfänge der Neunten Symphonien Beethovens und Bruckners lassen sich als Eichungen im Grenzbereich zwischen Stille und Ton verstehen. Darüber hinaus liegt in diesen Anfängen eine Art «délire de toucher»: eine Art Ehrfurcht oder Scheu, die ästhetische Sphäre zu berühren, gerade vor dem Hintergrund einer Welt, in der «einen alles um uns nahe her ganz verstummen» macht, wie Beethoven 1817 seine Betroffenheit über die politischen Zustände formuliert. A Und nicht selten gilt der prosaisch-nüchternen Welt jener choralhafte Ton, zu dem sich so viele symphonische Finali des 19. Jahrhunderts aufgipfeln. B Im Schlusssatz von Bruckners Fünfter Symphonie gar zu einer Kombination von Choral und Doppelfuge: Ein athletischer Kraftakt mit dem tektonischen Arsenal vergangener Epochen, um die fortschrittlichste Harmonik der Zeit, Wagners Alterationschromatik, zu bändigen, mit der Bruckner komponiert und von der seine Formarchitektur immer wieder gesprengt zu werden droht. So sehr Bruckners Symphonien Risse und Brüche auch kompromisslos auskomponieren: Das Montierte, ja Getrickste beim letzten Choraleinsatz der Fünften Symphonie ist kaum zu überhören. Bspl. 12: Anton Bruckner, Fünfte Symphonie [Tr. 4, ab 21´57´´aufbl.–24´08´´] [2´11´´] [Günter Wand, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester] A Gegen den Geist der Zeit komponiert und doch aus dem Geist ihrer Mittel, um im Zugriff auf Vergangenes die Überlegenheit der Gegenwart zu demonstrieren: Das ist es, was die Schlusstakte von Bruckners Symphonie wie ein Stück Musik gewordener Ringstraße wirken lässt. Pompöse Stilzitate als Bollwerke wie als Mahnmale in der entfesselten ökonomischen Arena ihrer Epoche. Komponierte Bruckner seine Fünfte Symphonie nicht zu einer Zeit, als mit dem Wiener Börsenkrach die «Große Depression» und ihre Stagnationsphase den Glauben an die Selbststeuerungskräfte der Wirtschaft erschütterten? B Und weil der Bruch zwischen Kunst und Realität vom Autonomieanspruch der Musik her brisant ist, werden letzte Takte zu einer überaus schwierigen Zone: mehr zu Doppelpunkten als zu Punkten, mehr zu Fragen als zu Antworten. A Und sie werden mitunter zu einem begrifflich kaum zu lösenden Siegel der Werke. Oder wie wäre das Ende von Mozarts Maurerischer Trauermusik zu fassen, deren c-Moll sich erst im letzten Takt unerwartet und pianissimo in einen an- und abschwellenden C-Dur-Akkord auflöst? Bspl. 13: Wolfgang Amadeus Mozart, Maurerische Trauermusik [Tr. 14, ab 5´03´´aufbl.–6´13´´] [1´10´´] [Ferenc Fricsay, Radio-Symphonie-Orchester Berlin] B Klare Affektscheidungen dürften für den Schluss dieser Musik ebenso in die Irre gehen, wie der nicht weniger verlegene Verweis auf eine Mischung der Charaktere von Melancholie, Trauer und Hoffnung. Vielleicht überfordert uns der Eros in Mozarts Musik, weil er einem Stärke-Ideal zuwiderläuft, das sich seine Überlegenheit durch ständige Beherrschung von Affekten und Empfindungen beweisen muss. Anders der Schlusstakt in Mozarts Maureri­scher Trauermusik . Er wird zum Augenblick einer spirituell aufgehellten Welthaltigkeit, die den Schmerz nicht mit den Mitteln des Ethos und schon gar nicht mit den Mitteln der Diszi­plinierung reden lässt. A In Mozarts Musik, die von der Naturgeschichte der Seele, von der Leib gewordenen condition humaine herkommt, signalisiert die Rückung von Moll nach Dur kein Über-sich-Hinausweisen im Dienst einer sittlichen Idee, keine Ökonomie des Standhaltens mit finaler Läuterung. Eher schon verweist sie auf Übergang und Verwandlung, wobei die Musik selbst noch auf deren Unverbürgtheit mit Gelassenheit reagiert. Mozart kennt keinen vertröstenden Aufschub auf Kosten der Gegenwart inmitten des Farbenspiels der Seele und der Kreatürlichkeit des Geistes. B Es war Beethoven, der mit den Schlusspartien der Egmont - und der Coriolan-Ouvertüre zwei Final-Modelle formuliert hat, die im 19. Jahrhundert zu musikalischen Leitbildern wurden. Triumph und Scheitern: ihr Formenkreis gibt die Bühne vor, auf der die Spannungen zwischen Ich und Weltlauf in Szene gesetzt werden, oder, wie Hegel das nennt, die Spannungen zwischen «Tugend und Weltlauf». A «Tugend und Weltlauf». Ob das heute noch jemand versteht? Zumal Hegel von einer geschichtlichen Entwicklung ausging, die gesteuert von der Vernunft des Weltgeistes durch, ja gegen das Handeln der vereinzelten Subjekte auf Freiheit zuläuft. B Trotzdem lässt der F-Dur-Schlussjubel der Egmont-Ouvertüre keinen Zweifel daran, dass die Musik aus der Spannung zum Drama des niederländischen Freiheitskampfes und aus der Spannung zu Egmonts Tod emanzipatorisches Feuer schlagen will: in einer tagtraumhaften Vision und mit dem Anspruch eines Postulats. Bspl. 14: Ludwig van Beethoven, Egmont-Ouvertüre [Tr. 3, 7´25´´(«Allegro con brio»)–9´03´´] [1´38´´] [Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra] A Egmont oder das Projekt Zukunft. Und wie steht es mit dem Motivzerfall am Ende der Coriolan-Ouvertüre ? Mit der Todessymbolik ihres sich ausdünnenden Orchestersatzes, in dem die Phrasen sich auflösen und Generalpausen eine affektive Motorik zum Stocken bringen, die pianissimo verlöscht? Nur noch ein Schatten jener synkopischen Verbissenheit, die die Ouvertüre als Impuls eines obsessiven Sich-Behauptens in Gang gehalten hatte? Bspl. 15: Ludwig van Beethoven, Coriolan-Ouvertüre [Tr. 2, 6´50´´(Einsatz: Takt 276)–7´57´´] [1´07´´] [Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra] A Trotz des Scheiterns ist dieses Scheitern kein Zusammenbruch nach heutigem, psychologischem Verständnis, sondern ein Scheitern im hegelschen Sinn: Tragik eines starken Charakters, der sich unbeugsam, ja in rücksichtsloser Selbstbehauptung gegen die Welt stellt. B Gewissermaßen ein in sich geschlossenes, gleichsam napoleonisches System an Willen. A Denn, so Hegel, «die Intensität und Tiefe der Subjektivität tut sich umso mehr hervor, [...] je zerreißender die Widersprüche sind, unter denen sie dennoch fest in sich selber zu bleiben hat». Am tragisch-heroischen Schluss der Coriolan-Ouvertüre kann man hören, wie sehr sich Beethoven entschiedener noch als am sittlichen Subjekt an der Willenskraft des starken Charakters orientiert; einer Willenskraft, die Hegel zufolge die «Ehre der großen Charaktere» ausmacht. Wie sonst könnte die Musik des Republikaners Beethoven die anmaßenden, hass- und rachsüchtigen Züge des Patriziers und Volksverächters Coriolan trotz dessen spätem Sinneswandel so grandios zum Verschwinden bringen? Mag in der Neuzeit für Hegel die tragische Kollision zwischen starkem Charakter und Weltlauf auch überwiegend von Zufällen bestimmt und die Instanz des Schicksals weit «abstrakter» und «von kälterer, kriminalistischer Natur» sein: Immer noch liegt für Hegel wie für Beethoven der Zauber der «großen Charaktere» darin, dass sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen». B Aber das ist lange her. Und selbst wenn die Musik des 19. Jahrhunderts das heroische Ich umkreist, kreist sie zunehmend auch um dessen Zersplitterung in einem ‹abstrakten Ganzen›, wie Schiller das schon 1795 nennt. Bspl. 16: Gustav Mahler, Sechste Symphonie [Tr. 4, 27´02´´–27´20´´] [0´18´´] [Georg Solti, Chicago Symphony Orchestra] B Orchestertutti fortissimo, ein «pesante» in den Pauken gehämmerter katastrophenartiger Rhythmus, kombiniert mit dem a-Moll-Dreiklang, ein Decrescendo dann, endend im Piano-Pizzikato der Streicher, gedämpft vom leisen Schlag der Großen Trommel: der Schluss von Gustav Mahlers Sechster Symphonie . A Ein Schluss, der an den von Beethovens Coriolan erinnert. B Wenn auch nur vordergründig. Ist doch in Beethovens Orchesterwerken die Spannung zwischen Individual- und Gattungsethos über das Medium der motivisch-thematischen Arbeit noch so weit austariert, dass die Musik auf das Kollektivsubjekt Menschheit und dessen Gattungsbonus ausgerichtet bleibt. A Selbst wenn sie ein Scheitern auskomponiert? B Selbst dann. Erst die unberechenbaren Marktdiktate der Konkurrenzökonomie entzaubern die Ideen von humanem Fortschritt und mündiger Gesellschaft und lassen das durch die Regie der Vernunft gesicherte Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit in einen irregewordenen Weltlauf zerfallen, in den die Einzelsubjekte sich auflehnend und ohnmächtig zugleich verspannt sind, A und verurteilt zur Verinnerlichung ihrer Fantasien und Gegenwelten. Bspl. 17: Gustav Mahler, Sechste Symphonie [Tr. 4, 27´02´´–27´20´´] [0´18´´] [Georg Solti, Chicago Symphony Orchestra] A Mit dem Schwinden jener überzeitlichen Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln konnten, zerbricht Kontinuität in die Eigenzeit des Ichs und in die Zeit eines funktionalistischen Weltgetriebes, dessen Diktat ästhetisch kaum noch zu überschreiten ist. Einsamkeit wird zu einer Grunderfahrung der Moderne. B So wie in Schönbergs Erwartung , deren Schluss – aber ist das überhaupt ein Schluss – durch das bloße Aufhören zum Kürzel wird: zum zufälligen Ausschnitt, der das Besondere als Allgemeines zitiert. Die Einsame, die bei Schönberg durch die Nacht irrt, um ihren Geliebten zu suchen und ihn schließlich ermordet findet, ist in ihrer Angst und ihren Schocks nur die Repräsentantin jener universal alltäglichen Einsamkeit, die isoliert und vereinzelt und von der es gegen Ende der Erwartung heißt. «Tausend Menschen ziehn vorüber ... ich erkenne dich nicht». A Wie sehr indes Masse und Einsamkeit einander bedingen, belegen Musik und Literatur um 1910 hinreichend. B Belegt nicht zuletzt Schönbergs Musik, die den Zusammenhang von Masse und Einsamkeit schlaglichtartig, ohne Mitleid und falsche innere Kontinuität protokolliert. Wenn die Musik mit einem Glissando-Sog im drei- und vierfachen Piano endet, während der Vorhang fällt, dann ist dies ein Schluss ins Offene, der dennoch abrupt abbricht, weil der gesellschaftliche Habitus all der lautlosen Katastrophen im so genannt Privaten keine andere Lösung zulässt. Bspl. 18: Arnold Schönberg, Erwartung [Tr. 8, 0´42´´(aufbl.)–3´06´´] [2´24´´] [Pierre Boulez, Janis Martin, BBC Symphony Orchestra] A Drei Jahre nach Schönbergs Erwartung steht am Ende von Kafkas Urteil , also nachdem die Hauptfigur der Erzählung den Schuldspruch des Vaters vollzogen und sich ertränkt hat, der ungeheure Satz: «In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.» Und Malte Laurids Brigge ? Verzweifelt nicht auch er an der Masse? «Die Masse macht es», lesen wir in Rilkes Roman von 1910. «Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen.» Das «Man»: für Heidegger bedeutet es schließlich, «Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.» B Aber zurück zur Musik des 19. Jahrhunderts. Es gibt in ihr orchestrale Schlüsse – wenn auch selten –, die sich weder dem tragischen noch dem heroischen oder dem enthusiastischen Typus zurechnen lassen. Etwa den folgenden: Bspl. 19: Johannes Brahms, Dritte Symphonie [Tr. 8, 8´11´´(aufbl.)–8´50´´] [0´39´´] [George Szell, Cleveland Orchestra] B Brahms’ Dritte Symphonie : Schluss einer Finalcoda, die kein Scheitern, keine Resignation, kein Bestehen heroischer Kämpfe, sondern eine Abkehr vom Konfrontationsmuster «Subjekt kontra Weltlauf» überhaupt formuliert: Abschied vom beethovenschen Erbe und seiner hegelschen Spur, ohne sich damit der Totalität des Weltlaufs zu unterwerfen. A Wahrscheinlich liegt das Moderne dieser «Poco sostenuto»-Coda in ihrer vielschichtigen Textur, bei der die verborgenen, unterirdischen Zusammenhänge eine ebenso große Rolle spielen wie die offenkundigen: ein Filigran mikromotivischer Anspielungen, Verknüpfungen, Überlagerungen, Schattierungen und Auflösungen, wie gestimmt auf den dionysischen Ton des «Bleibt der Erde treu» von Nietzsches Zarathustra , dessen erster Teil im Entstehungsjahr der Symphonie erschien. B Stärker gestimmt jedenfalls als auf Drama und Trauma. Mögen sich in der Coda von Brahms´ Dritter Symphonie auch zentrale Themen des Werks wie in einem Brennspiegel brechen: Schlussrenditen als Ankunft im Triumphalen oder Tragischen verweigert diese Musik der Zwischentöne. Und noch der so genannte Choral gegen Ende hat – der Brahms-Literatur zum Trotz – weit weniger etwas mit einem Choral zu tun als mit einem bukolisch gefärbten Ausklang. Und wenn im Flirren der Streicherfiorituren die Konturen weich werden, dann nicht infolge fehlender Prägnanz, sondern um die thematischen Physiognomien zu verflüssigen und gegenseitig durchlässig werden zu lassen. A Korrespondenz also statt Konfrontation. Vergleichbar der französischen Malerei des späten 19. Jahrhunderts, bei der im Gesicht der Porträtierten und im Eigenkolorit der Dinge sich alle Farben des Tableaus brechen: multiperspektivische Erfahrung der Moderne und ästhetischer Entwurf einer Versöhnung von Menschen und Dingen in einer Welt zahlloser Korrespondenzen. Brahms 1883: war er nicht auch der Zeitgenosse von Cézannes Mont Sainte-Victoire und Seurats Grande Jatte ? Bspl. 20: Johannes Brahms, Dritte Symphonie [Tr. 8, 6´28´´(aufbl.)–8´50´´] [2´22´´] [George Szell, Cleveland Orchestra] A Diese Coda wird die Musik nicht mehr vergessen. Auch wenn nach 1883 immer noch genügend heroische Schlüsse komponiert werden. B Dennoch: verklärende Synthesen sind bald nur noch mit Ironie möglich, sollen sie nicht ins Triviale abstürzen. Dass Bruckner seine Neunte Symphonie nicht mehr vollenden konnte, wirkt wie der Einspruch des musikalischen Weltgeistes gegen die Norm der finalen Gewichtung. A Und während Anton Bruckner in Wien an seiner «dem lieben Gott» gewidmeten Neunten Symphonie arbeitet, unterzieht Erik Satie in Paris nicht nur den finalen Typus, sondern den musikalischen Zeitverlauf insgesamt einer radikalen Kur: in den Danses gothiques , einem musikalischen Portal der Moderne. Bspl. 21: Erik Satie, Danses gothiques [Tr. 19, 0´00´´–1´23´´] [1´23´´] [Steffen Schleiermacher] A Saties Danses gothiques sind eine Musik aus dem Baukasten. Ein Bestand von einigen wenigen Motivelementen wird in jeweils unterschiedlichen Folgen gereiht. Dass dieses Montageprinzip Konsequenzen für das Anfangen und Schließen der Musik hat, liegt auf der Hand. Anfang und Ende werden als strukturelle Akzente bedeutungslos. Musik kann aufhören, wo sie will, und sie kann beginnen, womit sie will. B Form wäre demnach eine Frage der Kombination beliebig vertauschbarer und wiederholbarer Motivmaterialien, deren jeweilige Reihenfolge Stücke unterschiedlicher Länge kreiert. A Jedenfalls brechen manche der neun Danses gothiques sogar noch innerhalb eines Bausteins ab, natürlich ohne abschließenden Taktstrich. Umgekehrt gibt es vermeintliche Anfänge inmitten eines Motivs. Anfangen und Schließen erinnert in dieser Musik ohne Entwicklung, in der alles auf alles folgen kann, an bloße Willkür. Bspl. 22: Erik Satie, Danses gothiques [Tr. 20, 0´00´´–1´08´´] [1´08´´] [Steffen Schleiermacher] A Natürlich liegt in Saties Aushöhlung des linearen Zeitstroms und seines affektiven Gedächtnisses auch ein Moment des Widerstands gegen die Schicksalsmacht Zeit: als Möglichkeit, Zeit gleichsam von außen zu denken. B Immerhin gibt es seit Satie eine Musik, die sich nicht dafür interessiert, «ob Fortsetzungen ‹zwingend›, Konklusionen ‹schlüssig›, Anschlüsse ‹logisch›, Kontraste ‹stark›, Spannungen ‹aufregend› und Schlüsse ‹endgültig› genug komponiert» seien. A Womit wir bei Stockhausen wären. Wenn Stockhausens «Momentform» eine Musik meint, die «sofort intensiv» ist «und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetzter ‹Hauptsachen› bis zum Schluss durchzuhalten» sucht, dann ist dies keine Musik des Aufschubs mehr. Im Gegenteil: jeder ihrer Momente ist gleich nah zum Mittelpunkt und davon bestimmt, den Augenblick als Augenblick ernst zu nehmen, gegen dessen funktionale Verspannung in die Folgerichtigkeit der Folge. Anfänge und Schlüsse: nichts als punktuelle Zufälligkeiten. Bspl. 23: Karlheinz Stockhausen, Kontakte [Tr. 1, 0´00´´–2´55´´] [2´55´´] [David Tudor, Christoph Caskel, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig] B Strauß’ Perpetuum mobile also doch kein bloßer Scherz? Und erst Alban Bergs Lyrische Suite , an deren Ende die Bratsche ins «völlige Verlöschen» gleitet, als müsste sie im Unhörbaren endlos weiter spielen: «spielen für immer», wobei «nur wir [es] sind», «die sie nicht mehr vernehmen», wie Theodor W. Adorno dieses Ende kommentiert. Ist Bergs Schluss ohne Schluss nicht auch ein délire de toucher? Eine Scheu zwar nicht vor der Berührung der ästhetischen Sphäre, wohl aber vor der Berührung der Realität? A Vielleicht hilft Kafkas Gedanke Vom Schweigen der Sirenen weiter. Mag sein, dass die Sirenen schweigen und die Musik der Moderne mitunter auch aus dem Grund verstummt oder ins Unhörbare gleitet, weil das Publikum sich weigert, das Wachs aus den Ohren zu nehmen. Weil es der Odyssee der Musik seiner Zeit und der Emanzipation des Hörens gegenüber weitgehend taub bleibt, ohne Bewusstsein. Wenn aber Hören zunehmend etwas mit Hörigkeit zu tun hat, in Abhängigkeit vom universell und medientechnisch Gewohnten nämlich, haben dann die Sirenen, wie es bei Kafka heißt, nicht «eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen»? B Was auf die Vorstellung einer Welt ohne Musik hinausliefe, ohne die laut Nietzsche «das Leben ein Irrtum» wäre? A Fragt sich nur welcher Musik. B Eine schwierige Frage. Als kämen nicht schon Nietzsches und Kafkas Stimmen aus einer Zeit, in der noch nicht abzusehen war, wie sehr das Hören einmal zerrieben würde: kommerziell, museal, A vor allem aber pausenlos – ohne Anfang und Ende. Bspl. 24: Alban Berg, Lyrische Suite [Tr. 6, 1´52´´–5´22´´] [3´30´´] [LaSalle Quartet] Musikbeispiele Ludwig van Beethoven, Erste Symphonie, Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester Ludwig van Beethoven, Dritte Symphonie, Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester Ludwig van Beethoven, Fünfte Symphonie, Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester Ludwig van Beethoven, Neunte Symphonie, Michael Gielen, SWF-Sinfonieorchester Ludwig van Beethoven, Egmont-Ouvertüre, Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra Ludwig van Beethoven, Coriolan-Ouvertüre, Otto Klemperer, Philharmonia Orchestra Alban Berg, Lyrische Suite, LaSalle Quartet Johannes Brahms, Dritte Symphonie, George Szell, Cleveland Orchestra Anton Bruckner, Neunte Symphonie, Günter Wand, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester Anton Bruckner, Fünfte Symphonie, Günter Wand, Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester Joseph Haydn, Symphonie Nr. 103, Thomas Beecham, Royal Philharmonic Orchestra Gustav Mahler, Sechste Symphonie, Georg Solti, Chicago Symphony Orchestra Wolfgang Amadeus Mozart, Maurerische Trauermusik, Ferenc Fricsay, Radio-Symphonie-Orchester Berlin Erik Satie, Danses gothiques, Steffen Schleiermacher Arnold Schönberg, Erwartung, Pierre Boulez, Janis Martin, BBC Symphony Orchestra Karlheinz Stockhausen, Kontakte, David Tudor, Christoph Caskel, Karlheinz Stockhausen, Gottfried Michael Koenig Johann Strauß, Perpetuum mobile, Karl Böhm, Wiener Philharmoniker ​ ​

  • Johannes Bauer, Zum pneumatischen Formenkreis der Neuen Musik

    METAspracheATEM Zum pneumatischen Formenkreis der Neuen Musik Atmen wird in der Neuen Musik zu einer Sprache sui generis. Zu einer Sprache, die nicht im Identitätsmonopol der Person aufgeht. Anders als die Stimme, die über ihr Frequenzspektrum exakt identifizierbar ist. Wird von Spracherkennung schon zur Genüge Gebrauch gemacht, wäre Atemerkennung ein Unding. Atmen erlaubt höchstens geschlechtsspezifische Unterscheidungen. Und doch: trotz der Verunmöglichung individueller Erkennbarkeit reicht Atmen ins je eigene Dasein hinein wie keine Sprache sonst. Deshalb entäußert sich komponiertes Atmen zum kreativen Unterbau von Sprache überhaupt, während die Wortsprachen vorab am Erbe der babylonischen Sprachverwirrung zu tragen haben. Atmen das Allgemeinste und Individuellste. Gattung wie Individuum gleich eng verbunden. Ist es demnach verwunderlich, wenn der Atem – schon seinem Be­griff nach nur im Singular verwendbar - im vielfältigen Idiom komponierten Atmens zu einer vor- und übersprachlichen Lingua franca wird? Zu einer, die vom naturalen Subtext der Zivilisation spricht? ​ Briser le langage pour toucher la vie. Antonin Artaud Schreie, Glossolalien: Artauds skandalträchtige Radioaufnahme pour en finir avec le jugement de dieu lässt etwas von der Szenerie jenes 8. Januar 1889 erahnen, an dem Franz Overbeck seinen Freund, den Philosophen Friedrich Nietzsche, »stöhnend und zuckend« in dessen Turiner Logis an der Via Carlo Alberto vorfand. Hineingeglitten in den »Kreis der Wahnvorstellungen«, die mitunter wie die Inszenierung eines Delirierenden wirkten: »Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat«, hervorstoßend, »worauf wieder Konvulsionen und Ausbrüche eines unsäglichen Leidens erfolgten«.(1) Ein Anfang mit Nietzsche und Artaud an den pneumatischen Rändern der Sprache. Natürlich könnten wir auch anders beginnen. Mit der japanischen Bambusflöte etwa. Vergeistigte sich der Körper in der europäischen Kunstmusik jahrhundertelang nach dem Kanon eines spirituellen Reinheitsideals, wird der hörbare Atem, die geräuschhafte Tongebung gerade zu einem Wesenszug der Shakuhachi-Musik. Ihre Meisterschaft liegt darin, sich dem Ton der Welt möglichst dicht anzuschmiegen, und sei es dem Rascheln des Windes in welkem Bambusgebüsch. Der sich selbst genügende Klang in der Fülle seines Hier und Jetzt ist keiner, der sich wie in der christlich inspirierten Kunst des Abendlands von Natur zu reinigen hätte. – Oder nehmen wir den Dikr der islamischen Sufi-Zeremonie, bei dem der unablässig wiederholte Name Allahs zur Vereinigung mit dem Göttlichen führen soll. Eine Dramaturgie keuchenden Ein- und Ausatmens, rhythmisch gebunden und unter steter Beschleunigung des Tempos. Eine ekstatische Deklamation, die an Goethes West-östlichen Divan und an die »zweierlei Gnaden« des »Atemholens« denken lässt: ​ Die Luft einziehn, sich ihrer entladen. Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich presst, Und dank' ihm, wenn er dich wieder entlässt.«(2) ​ ​ Pneumatischer Grund oder Vom Text der Zivilisation Rund 150 Jahre später, in Jacques Lejeunes Chute aus Le Cycle d’Icare , ist von den »zweierlei Gnaden« des »Atemholens« nichts mehr zu spüren. Stattdessen kündigt der Atem des Schocks ein Sturz-Glissando an, das sich wie in endloser Wiederholung vom Ohr des Hörers entfernt und in dieser Endlosigkeit zur Chiffre auflädt. Aber zur Chiffre wofür? Was wirft Lejeunes Ikarus aus der Bahn? Was verschlägt ihm den Atem? Ist es der Abgrund wie in Baudelaires Les plaintes d'un Icare , der sich zum Schrecken des Namenlosen im Anonymisierungsschub der Massengesellschaft verrätselt? ​ So scheidet, wer vor Schönheitssehnsucht brennt In jähem Sturz, so endeten sie alle. Ich weiß den Abgrund nicht, in den ich falle, Ein Fremder ist es, der mein Grab benennt.(3) ​ Oder ist es das »Nichts«, das Kierkegaard so eindringlich mit der Angst verbindet? Mit der Angst als dem »Schwindel der Freiheit, der aufkommt, wenn der Geist die Synthese setzen will, und die Freiheit nun in ihre eigene Möglichkeit hinunterblickt, und dann die Endlichkeit ergreift, um sich daran fest zu halten«?(4) Das Nichts, dem in der Angst »alle Dinge und wir selbst« in »Gleichgültigkeit versinken«, weil die Angst »das Seiende im Ganzen zum Entgleiten« bringt und bewirkt, »dass wir selbst (...) uns mitentgleiten«?(5) Angst inmitten der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Angst als drohendes Ersticken, womöglich an der bitteren Speise des Lebens. ›Verschlägt uns die Angst das Wort‹?(6) Sofern die unverständliche Sprache in Ligetis Aventures zugleich das Unverständliche der angeblich so verständlichen Kommunikationssprache aufdeckt, könnte man von einer angstgefärbten Spur der Irritation auch in Ligetis Mimodram reden. Irritierend, fremd und insgeheim doch so vertraut wie die Rollen- und Charaktermasken des Stücks, deren surrealer Habitus aus der gekappten sprachlichen Logik und der Montage unterschiedlichster Affekte resultiert. Und doch ist der Horizont des Neuen und Unbekannten in den Aventures von ungleich größerem Gewicht. Gerade weil die Musik mit purer Lautdichtung arbeitet; gerade weil sie frei von semantischem Ballast ist, frei von der Instrumentalisierung des Worts zum Definitionsprojektil mit eindeutigen Trefferquoten, verwandeln sich die Aktionen der Sänger in Aventuren, in Abenteuer der Expression und der Reflexion. Zudem gibt Sprache erst als dekomponierte ihre somatische Basis frei. Nun erst kann sie ihr energetisches Luftmoment als ästhetisches Element einlassen, gewissermaßen als eine Windmaschine aller Ausdrucksregister wie zu Beginn der Aventures . Dekomponierte Sprache und komponierter Atem erscheinen daher in der Musik fast zeitgleich. Vorwiegend in den 60er- und 70er-Jahren arbeiten zahlreiche Komponisten mit einer weithin rein phonetischen und pneumatisch grundierten Sprache. So demonstriert Luciano Berio in Visage das Herausproduzieren der Artikulation aus dem Reservoir des Atems wie unter Geburtswehen. In langen Minuten einer traumatischen Initiation, bis die aus realen und künstlichen Atemgeräuschen auftauchenden Lautpartikel endlich in die magische Formel »parole« münden. Geflüstert wie ein verbales Amulett, das festen Boden verheißt. Wäre da nicht die Gewissheit, dass das Terrain der »parole«, der Sprache doppelbödig ist. Sprache als Regulativ der Konvention, als verabredeter und stets neu geredeter Kommunikationsvertrag und deshalb von einer gewissen Sicherheit offenbart genau infolge dieser konventionellen Fasson zugleich die Leere ihres Grundes: den Flatus vocis der Worte, ihr durch Übereinkunft praktikabel gemachtes Willkürmoment. Damit aber ebenso ihre Ungebundenheit, ihr Freiheitspotenzial. Und das Spiel von Vorschein und Unbekanntem, das die Atemszenen der Neuen Musik in den Tableaus von Schlaf und Traum aufblitzen lassen. Seitdem die Geschäftigkeit des Tags den Zauber der Fantasie als unrentablen Seelenluxus in die Sphären des Ästhetischen, Esoterischen und Narkotischen abzudrängen begann, lockt das Geheimnisvolle umso mächtiger. Schlaf und Traum: letzte Refugien einer von Schlaflosigkeit und Albträumen geplagten Welt und ihrer Sehnsucht nach der Mystik des Nächtlichen. Vornehmlich derjenigen Ägyptens und damit einer Kultur, in der das Nacht- und Todesreich von dem des Tags und des Lebens nicht zu trennen ist. Auch Gérard Grisey hat der altägyptische Mythenkreis wiederholt beschäftigt. So der Mythos vom Weg der Sonne durchs Totenreich in Jour, Contre-Jour , einer Musik des Bündnisses von Tag und Nacht gegen deren ökonomieverrückte Spaltung. Mit dem Repertoire sich beschleunigender Herzschläge und ruhiger Atemzüge wirkt der Anfang der Komposition wie der Beginn einer archäologischen Seelenfahrt in Bezirke, die der Nachtblindheit der modernen Zivilisation konturlos zu werden drohen. Bei Grisey dagegen wird der Sprachschatten des Atems zu einer mächtigen Schattensprache, die dem Lichtbogen der Komposition erst Kontur und Kontrast gibt. Und damit dem Wandlungs- und Schichtungsprozess der Klänge im Kosmos ihrer Teiltöne auf der Bahn einer gleitenden Logik von Licht und Schatten. Einer Logik, der gemäß sich ein inharmonisches Klangspektrum zu einer harmonisch reinen Obertonvielfalt aufhellt und wieder eindunkelt und die spektralen Harmonien von einer unterirdischen Gegenwelt der Geräuschklänge grundiert werden. Ein strukturell durchdachtes, klangsemantisches Clair-obscur von Leben und Tod jenseits ihrer polaren Zerrissenheit; das heißt in Form von Prozessen des Entstehens und Vergehens. Jour/Contre-Jour eben, und nicht Jour/Nuit . Traumbühnen entwerfen 1967 auch schon Stockhausens Hymnen , indem sie eine Phase ruhigen Atmens visionär aufladen: zur konkreten Utopie einer befriedeten Welt der Völkerverständigung unterwegs zum »utopischen Reich der Hym­union in der Harmondie unter Pluramon «(7). Was der griffige Formelreigen des Komponisten sprachlich umschreibt, suchen die elektronischen Klangtransformationen und Intermodulationen zahlreicher Nationalhymnen kompositorisch umzusetzen. Am deutlichsten wird der sprichwörtliche Traum von einer besseren Welt, wenn in der vierten Hymnen -Region Stockhausens Schlaf und Traum evozierende Atemzüge von früheren Stationen der Komposition, sprich: Ländern und Völkern durchquert werden und einem zukunftsweisenden Entwurf eingebunden werden. Solche Momente gehören zur suggestiven Motivation einer Musik, die in einem »leeren Rahmen«(8) der Stille endet, einem offenen Modell von fast eineinhalb Minuten, oder über die Stimme eines Croupiers zum Einsatz für das Unionsprojekt Welt auffordert. Dennoch stürzt Stockhausens Höhenflug immer wieder ins Triviale ab. Etwa wenn das vom Komponisten zwischen gleichmäßigen Atemzügen zunächst wie im Halbschlaf gemurmelte »Pluramon« plötzlich wie erleuchtet als Mantra der Universalität verkündet wird und dabei Züge eines unfreiwillig komischen Werbeslogans annimmt. Mag die Sicht vom All aus auf die Völkerschaften des Planeten den Boden des Allzuirdischen aus den Augen verlieren; mögen Stockhausens Hymnen auf des Messers Schneide tanzen, großartig Stringentes neben messianisches Multikulti setzen: die Anziehungskraft der Atempartien bleibt ungebrochen. Zwischenspiel I Woher kommt die Aura des Atmens? Vielleicht daher, dass Atmen zum radikalen Kürzel für Leben und Tod geworden ist. Inmitten einer in der Profit- und Beschleunigungsfalle gefangenen Welt, in der die Verdrängung des Todes und die von Leben aufs Engste miteinander zusammen hängen. Leben, und das hieße zunächst Befreitsein vom ökonomischen und funktionellen Würgegriff, Leben also und Tod sind die Skandale einer Arbeits- und Verwertungsmoral, die alle zu Geiseln der Ökonomie macht. Einer Ökonomie, die im Bann der Arbeit den Vertreibungsfluch aus dem Paradies bibeltreuer und fanatischer als Sinnstiftung und Existenzrechtfertigung verinnerlicht hat als je zuvor. Einer Ökonomie, die die Zeitordnung puritanischer Geschäftigkeit und ihre schnelligkeitstrainierten Effizienztriumphe mit Leben verwechselt und gleichzeitig äußerst konsequent den Tod als letzten Verwaltungsakt verbucht, das Röcheln und Seufzen der Sterbenden am liebsten in schalltote Räume verlegen möchte. Vielleicht weil es daran erinnert, wie sehr Leben zum Treibgut im Maelstrom unberechenbarer Märkte geworden ist. «Leitfaden des Leibes» Einer solch zentrifugalen Lebenswelt und angstgeschnürten Zeit mit der Idylle vom Atmen als dem Urgrund reiner Natur zu antworten, wäre schlicht Ideologie oder, versöhnlicher ausgedrückt, abstrakte Negation. Wie eine pneumatische Musik auf der Höhe der Zeit strukturiert ist, lässt sich an Helmut Lachenmanns Komposition temA für Flöte, Stimme und Violoncello aus dem Jahr 1968 erfahren. Rückwärts gewandten Geborgenheitsträumen widersteht Lachenmanns Musik, indem ihre Technik die Reflexion mitkomponiert, warum sich der Körper an einem bestimmten Punkt der Geschichte gegen seine ästhetische Internierung auflehnen musste und konnte. Und wie sich bereits das Anagramm temA zu »Atem« buchstabiert – als programmatische Außenseite der Komposition –, so verschlägt auch das Innere dieser Musik unablässig komponierter Plötzlichkeiten den Atem: mit pneumatischer Akrobatik. Vom schlichten Atmen über geflüsterte Dialoge bis hin zum ›schreienden Einatmen‹ soll die Sängerin ›ganz hinten im Hals hecheln‹ oder den »Ton durch unnatürlichen Druck verzerren«, außerdem zwei Tremolo-Arten anwenden: Schnarchen und Knattern. Und das alles mit einer Agilität, die den Seelenton der Stimme auf den Körper hin erdet, ohne an satztechnischer Strenge nachzulassen. Komposition repräsentiert hier eher ein »künstliches Naturereignis«(9) denn ein natürliches Kunstereignis. Das Potenzial des Atems befreit den materialen Kern der Sprache selbst zur Sprache und wirkt damit den Ausgrenzungsdirektiven des Zivilisationsprozesses entgegen. Diese Direktiven entmächtigt Lachenmanns Musik allein schon dadurch, dass sie das Geräuschhafte nicht als zu minderwertig ausschließt. Entscheidend bleibt, die »mechanischen Bedingungen bei der Klangerzeugung in die Komposition« einzubeziehen – ohne stoffsublimierende Reinheitsfilter.(10) Lachenmanns Autopsie des Tons macht den Zusammenhang zwischen der Material- und Energiebasis des Klangs – bis hin zu der des Atmens – und dem musikalischen Diskurs einsichtig. Darin ein Stück musikalischer Metaphysikkritik: der Sinn, die Idee sind von ihrem medialen, dinglichen Träger nicht zu lösen. Der Platonismus der Musik ist passee. Und mit ihm ein Komponieren, das sich lange genug hinter der Schlackenlosigkeit wohlproportionierter Konstruktionen und purifizierter Töne verschanzt hatte, mochten sich diese gelegentlich noch so abgründig gebärden. Abschied vom reinen Ton auch bei Dieter Schnebel. Seine Atemzüge komponieren Atemverläufe. »Exerzitien« einer praktisch umgesetzten Sensibilität etwa für »Atemtiefe und Atemgeschwindigkeit«(11). Ohne die Flucht ins entlastende Wort. Exerzitien überdies in Form von Aktionsprozessen: zwischen den Ausführenden und zwischen Interpreten und Publikum. Verspannt in die ganze Bandbreite egoistischer und altruistischer Emotionen, und doch geformt von experimenteller Fantasie und analytischer Präzision. Vor allem sollen die stimmlichen Partialtriebe emanzipiert werden: atmen, röcheln, stöhnen – nichts wird tabuisiert. Nicht einmal das brüchig Asthmatische. Gegenstandslos wird die Unterscheidung zwischen Rohem und Gekochtem, die noch in die Formen des Atmens hineinreicht: einem kulturgeschichtlichen Wertungskodex zufolge, dem Schnarchgeräusche als unästhetisch, als animalisch rohes Atmen gelten, Atemzüge ruhigen Schlafs dagegen als ästhetisch, weil menschlich sublimiert. Nicht nur dass für Schnebel das Atmen »selbst schon genug Geräusche her(gibt)«, die Lautelemente der Sprache sind nicht weniger »hörbar gemachte Atemäußerung«(12). Damit nimmt Schnebels Archäologie des Verschütteten das Knechtische der unteren Produktionssphäre ernst, die der Organe. Um mit der Befreiung der zu Handlangern abgewerteten Produzenten des Tons und der Sprache, allen voran dem Atem, gleichzeitig den schönen, runden Ton von seiner sterilen Herrschaft zu erlösen. Auch so kann eine Folgerung aus Hegels Herr-Knecht-Dialektik aussehen. Schluss also mit einer Praxis, die singt und spricht, als ob es keinen Körper gäbe. Stattdessen Beachtung der »materiellen Erzeugung«, »Stimme bewusst aus dem Atem entstehen« lassen, »Atmen selbst« als »Kunst« begreifen(13). Ein Freisetzen des Körpers, das an Nietzsches Motiv vom »Leitfaden des Leibes«(14) und an Artauds Le Théâtre et son double erinnert. Artaud beschäftigt ja gleichfalls das Problem einer »Gefühlsmuskulatur«, einer »körperlichen Lokalisierung der Gefühle«, da sogar die Schauspieler »vergessen haben, dass sie auf dem Theater einen Körper hatten«. Schauspieler, die beim »Gebrauch ihrer Kehle« kein Organ, sondern »nur noch eine ungeheuerliche Abstraktion« sprechen lassen(15). Und bei all dem bleibt die »Frage des Atems« die »wesentliche«(16), die »Kenntnis der Atemformen«(17), um empfänglich zu machen »für die subtile Natur von Schreien, für die verzweifelten Ansprüche der Seele«.(18) Diese »Ansprüche« verliert Schnebel nie aus dem Blick. Auch nicht, wenn es in den Choralvorspielen I um das pfingstliche Pneuma geht – 1970 übrigens gleichfalls Titel einer Komposition von Heinz Holliger – genauer: um die Säkularisierung des pfingstlichen Pneumas. Wie die Musik formelhaft verhärtete Choralmelodien fragmentiert und verflüssigt, so muss der Sturm des kreatürlich verfassten Geistes als revolutionärer Atem erst aufbrechen und aufheben, was zu neuen Konstellationen zusammenschießen soll: versteinerte Normen und ruinöse Demarkationslinien zwischen Wunsch und Realität. Erst mit dem Aufstoßen der Kirchentüren ins Offene, Freie wird es möglich und nötig, Welt wahrzunehmen: mit ihren Alltagsgeräuschen, ihrem technomorphen Hintergrundrauschen und ihrem zivilisatorischen Druck. Ihn komponiert Schnebel im Sinn eines Athletentums moderner condition humaine aus. Panisches Nach-Luft-Ringen, umtost von aggressivem Motorenlärm, und heftiges An- und Gegenatmen gegen die strangulierende Wirkung einer hochgerüsteten Technik verschränken sich zu atemberaubender, atemraubender Intensität. Dinge verwandeln durch Anverwandlung an sie: eine Praxis, die mitunter Züge einer mörderischen Attacke annimmt. Zwischenspiel II Atmen wird in der Neuen Musik zu einer Sprache sui generis. Zu einer Sprache, die nicht im Identitätsmonopol der Person aufgeht. Anders als die Stimme, die über ihr Frequenzspektrum exakt identifizierbar ist. Wird von Spracherkennung schon zur Genüge Gebrauch gemacht, wäre Atemerkennung ein Unding. Atmen erlaubt höchstens geschlechtsspezifische Unterscheidungen. Und doch: trotz der Verunmöglichung individueller Erkennbarkeit reicht Atmen ins je eigene Dasein hinein wie keine Sprache sonst. Deshalb entäußert sich komponiertes Atmen zum kreativen Unterbau von Sprache überhaupt, während die Wortsprachen vorab am Erbe der babylonischen Sprachverwirrung zu tragen haben. Atmen das Allgemeinste und Individuellste. Gattung wie Individuum gleich eng verbunden. Ist es demnach verwunderlich, wenn der Atem – schon seinem Be­griff nach nur im Singular verwendbar - im vielfältigen Idiom komponierten Atmens zu einer vor- und übersprachlichen Lingua franca wird? Zu einer, die vom naturalen Subtext der Zivilisation spricht? Einspruch und Zeugenschaft Diesem Subtext folgt auch Nonos Komposition Das atmende Klarsein für Bassflöte, Chor und Live-Elektronik auf Fragmente aus antiken orphischen Dichtungen und Rilkes Duineser Elegien . Das atmende Erzitternlassen, das das Starre zum Schwingen bringt, fächert sich bei Nono in feinste Abweichungen, Wandlungen und Zwischentöne des Klangs aus, die die Einbildungskraft nicht nur des Gehörs, sondern eines spekulativen Sensoriums herausfordern. Mit diesem Sensorium rechnet Nonos Musik durchweg. Etwa wenn sie an manchen Stellen drei verschiedensprachliche Texte überlagert und in ihrer Präsenz unverständlich werden lässt. Ein Spiel der Abwesenheit in der Anwesenheit als hintersinniges Gleichnis für die verkannten Möglichkeiten einer Gegenwart, in der sich Wirklichkeitsterror und Weltverlust ergänzen. So wird Nonos sirenenhaft lockende Pianissimo-Musik selbst zum offenen Ohr für leiseste Resonanzen und Echos. Zum Resonanzboden für Unhörbares, Überhörtes, Unerhörtes. Rilkes Wunschfigur »ins Freie«(19) wird von ihr in lange Fermaten und eine atmende Verschwendung der Zeit übersetzt, die – kompromisslos gehört – wie eine ungeheure Provokation wirkt: angesichts der atemlosen Vernichtung des Jetzt im triebhaften Getriebe der »industriellen Pathologie«(20). Was aber käme dem Atem der Suspension näher als ein Instrument, das wie die Flöte selbst schon vom Atem zum Klingen gebracht wird? Ein Instrument, das im Bündnis von innerer und äußerer Natur, von Atem und Wind, die Flüchtigkeit, die Klage und das Versprechen des Naturlauts weit dringlicher bewahrt als die manuell mit größerer Körperdistanz gespielten Streicher. Nonos Musik der stillen Ekstase hat nichts mit einer Verinnerlichung à la Rilkes »Nirgends (...) wird Welt sein als innen«(21) zu tun, alles aber mit einer Änderung des Bewusstseins von innen her. Nicht anders als Mathias Spahlingers Streichquartett »’Àñð` ãû ~ « mi t seinen gepressten und »stimmlosen« Atemstößen. Ein Quartett, signiert gleichsam mit leitmotivischen Worten aus dem Gedicht Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen von Jannis Ritsos. Einem Gedicht, einer traumatischen Höllenfahrt des Bewusstseins aus der Zeit der NS-Okkupation Griechenlands. Dreimal findet sich das Motiv des »’ Àñð` ãû ~ «, des »Von hier« bei Ritsos: in Form des visionären Kürzels »Von hier zur Sonne«. Ein Kürzel, auf das Spahlinger mit dem Melodie-Fragment »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« anspielt, dem Beginn des Solidaritätslieds der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Bei Spahlinger allerdings »sul ponticello« ins kaum Vernehmbare entrückt. Freilich handelt es sich bei dieser Anspielung um die vordergründigste Analogie zwischen Text und Musik. Der Komponist selbst verweist in der Partitur darauf, dass etwa »alle press-klänge« primär als »klangmaterial absoluter musik mit nicht-programmatischer inhaltlichkeit« gemeint sind. Spahlinger interessieren an Ritsos strukturelle, nicht illustrative Parallelen. Wobei strukturell auch die Weitung der Bezüge in die Gegenwart hinein meint. Und in Richtung der kompositorisch reflektierten Ordnungs- und Dominanzstrukturen dieser Gegenwart, mögen sich ihre Hierarchie- und Machtkonstellationen noch so komplex verschleier n. Sicher: es gibt in diesem Quartett Stellen, die an den Widerhall von Schüssen denken lassen. Stellen, in denen gerade die wenigen Ordinario-Töne drohenden Charakter annehmen. Zum Beispiel das lang gehaltene Unisono-As, das an den Heulton von Sirenen erinnert, ohne in solcher Bildhaftigkeit fassbar zu werden. Ebenso wenig wie die Battuto-Schläge des Bogens mit wirklichen Schlägen oder – im Analogieschluss zwischen der menschlichen Anatomie und der der Instrumente – die Knackgeräusche der im Wirbelkasten gezupften Saiten mit den gebrochenen Wirbeln von Folteropfern zu identifizieren wären. Mit der Ohnmacht und dem Verrat, den es bedeuten würde, die Schreie der Gefolterten ästhetisch aufzubereiten, hat Spahlingers Musik nichts zu tun. Sie erzeugt erst über die verweigerte Konkretion den Raum allgegenwärtiger Beklemmung. So wie umgekehrt bei Ritsos alltägliche Beobachtungen auf das Grauen hin ausfransen und den Besatzungsterror im Ausnahmezustand auch des enteigneten Bewusstseins aufdecken: »die Schaben frei in der Nacht auf den Fliesen des Aborts / mit leichtem Knirschen, viel Knirschen, wie in den Gelenken des Albtraums.«(22) Und die komponierten Atemsequenzen? Skizzieren sie in Spahlingers Musik des Widerstands, in der sich der Ton zur Detonation schärft, lediglich ein Stenogramm von objektivierter Angst und ihrer »Abfuhr« beim »Auftreten eines traumatischen Moments«, wie Freud das formulieren würde?(23) Gewiss: die fiebrige Nervosität, die den Irrlauf der Metaphern bei Ritsos in Gang hält, legt auch in Spahlingers zwölfminütiger Tour de force die Saiten der Instrumente wie Nervenstränge bloß. Musik wird zum verminten Gelände, das harmonische Gänge wie unter Lebensgefahr ausschließt. Die Instrumente werden selbst zum Territorium, auf dem sich die Griff- und Greiftechniken der Interpreten in solche des Begreifens übersetzen: Reflexionsmodelle einer Kunst der Zeugenschaft, deren griechischer Name bekanntlich Martyrion, Martyrium lautet. Eine Zeugenschaft bis hinein in die Gestaltung des Bogendrucks, der von der Drucklosigkeit bis zu starker Überhöhung reicht, als sollte auf den Saiten die Summe psychischer Anspannung abgetragen werden: bis hin zur geräuschhaften Zerrüttung erkennbarer Tonhöhen. Pressionen in einem Klima der Repression, das Individualität zersetzt und zum Material erniedrigt. Und doch: selbst wenn Spahlinger eine Atempartie des letzten Satzes als »seufzend hecheln« charakterisiert, lädt sich der Gestus des Seufzens, das suspirium, noch zur Suspension von Atmen und Hoffen auf: dum spiro, spero. Atmen als letzter Einspruch von Leben und Überleben gegen die Präsenz von Tod und Ersticken lässt das Quartett zwischen Angst und Hoffnung, Bedrohung und Entronnensein changieren. Wobei das Ein- und Ausatmen als eine Urform der Parataxe selbst noch in seiner Gehetztheit zum Sinnbild des antihierarchischen Neben- und Nacheinander wird: gegen hypotaktische Macht- und Kommandopyramiden, die Krieg, Terror und Unterdrückung in all ihren sichtbaren und verinnerlichten Gewaltpositionen erst ermöglichen. Kann sich auch die Dreiteiligkeit des Quartetts der dreimaligen Hoffnungschiffre »Von hier zur Sonne« nur angleichen, indem die Teile immer kürzer werden; mag das Werk auch »wie abgebrochen« enden: in der Offenheit des »senza fine« zeichnen sich zugleich die Konturen einer Überschreitung des Status quo ab. Metaphorische Konturen, die sich aus der Musik selbst herleiten. Etwa wenn die täuschend nachgeahmten Atemgeräusche der »arco zarge« gespielten Instrumente und das reale Atmen der Interpreten miteinander verschmelzen, punktuell also die instrumentelle Distanz zwischen Ding und Bewusstsein schwindet; oder wenn dem wunden Ton eine Fülle an interpretatorischen Mitteln zugestanden wird und die Instrumente spieltechnischen Torturen unterzogen werden, ohne zu zerbrechen. Wie Ritsos war auch Xenakis am griechischen Widerstand gegen deutsche und englische Besatzungstruppen beteiligt. 1947 ins französische Exil entkommen, komponierte Xenakis zwanzig Jahre später, als Griechenland unter die Diktatur eines Militärregimes geriet, eine Musik des Gedenkens für die politischen Häftlinge des Bürgerkriegs: Nuits für gemischten Chor a cappella. Eine Musik, deren textloser Text statt auf einer begriffssemantischen Sprache ausschließlich auf sumerischen und altpersischen Silben basiert, endend mit einem kurzen, stimmlosen Husten im »Sforzato fortissimo«. Fragt sich nur, was dieser »short cough«, dieser »toux brève aphone« bedeuten soll? Artifiziell phonemische Texte kennt man hauptsächlich aus Ritualgesängen, aus Gesängen zumal, die den Beistand der Götter erzwingen sollen. So aus der hinduistischen Veden-Rezitation, in der die Worte oft unter Einsprengung der leeren Silben »ha« oder »ho« grammatikalisch entregelt und buchstäblich zermahlen werden, bis der zerstörte Sinn in Gesang übergeht. Oder aus der Lautmystik schamanistischer Austreibungsrezitationen. Alles machtvolle Geheimsprachen jenseits kommunikativer Profanität und wie bei Xenakis äußerst durchstrukturiert mit lediglich vereinzelten Wortresten. Und wie im Deklamieren und Singen heiliger Sprachen so schwingt auch in den Vokalisen von Nuits Beschwörung und Gegenwehr mit. Ein Aspekt, der den Schlusstakt von Nuits verständlicher werden lässt. Soll das Sprechen der geheimen Sprache vor Gefahren erretten, soll das Einsaugen des Krankheitsdämons durch den Schamanen und seine Austreibung im Ausatmen zur Heilung führen, so will auch der »short caugh« in Nuits als ein rituelles, Unheil abwehrendes Ausstoßen der Luft gelten: ein kassiberhafter Abwehrzauber gegen die Dämonie des scheinbar Unabwendbaren in jeder Form von Unterdrückung; ein Ausdruck von Widerstand, von Schutz und weit mehr noch von Verachtung. Nicht zufällig erinnert der Schluss von Nuits an jenes »eigentümliche Zeremoniell« in Freuds Geschichte einer infantilen Neurose , das der »Wolfsmann« einsetzt, wenn er »Leuten« begegnet, mit denen er nichts gemein haben wollte. »Er musste geräuschvoll ausatmen, um nicht so zu werden wie sie«.(24) Eine Art der Objektausstoßung wie sie noch in der Wendung »jemandem etwas husten« mitschwingt. Zwischenspiel III Natürlich spielt bei der musikalischen Dekomposition der Sprache die seit Nietzsche und Hofmannsthal geschärfte Sensibilität für das Macht- und Moralregime von Begriff und Urteil eine Rolle, für die Bindung zwischen Gott und Grammatik. Die Sensibilität für die Prostitution kommerziell abgegriffener Wortmünzen, die sich auf alles einlassen, nur nicht auf das Besondere. Und die Sensibilität für den Allgemeinheitssog der »Worte«, die sich »vor die Dinge gestellt haben«(25). Deshalb will Artaud »die Sprache brechen, um das Leben zu berühren«(26). Und wie könnte das Projekt, ›aufzuhören mit den Urteilen Gottes‹, wirkungsvoller umgesetzt werden als über die Auflösung der Syntax mitsamt den Metastasen ihrer Sinnmoral? »Gott stirbt, die Wörter fallen auf sich selbst zurück«(27): für die Neue Musik und Literatur alles andere als eine Tragödie. Nur dem »unsyntaktischen Dichter« sind die »ausdrucksvollen Schreie des heftigen Lebens« zugänglich, nur einer Kunst der »Parole in liberta« außerhalb des »Gefängnisses der lateinischen Periode«(28). Es war demnach Zeit, das ›Alphabet aufzuschlitzen‹, um »in seinen Bauch« ›neue Buchstaben hineinzustecken‹: »Lispeln, Röcheln, Grunzen, Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, Husten, Niesen, Küssen, Pfeifen«, aber auch »Einatmen« und »Ausatmen«(29). Und dass Hugo Ball die Erfindung des Lautgedichts mit einer »durch den Journalismus verdorbenen«, »unmöglich gewordenen Sprache« verteidigt(30), zieht nur die letzte Konsequenz aus einer Entwicklung, deren Beginn Hölderlin so kommentiert: »Wisst! Apoll ist der Gott der Zeitungsschreiber geworden, / Und sein Mann ist, wer ihm treulich das Faktum erzählt«(31). Wendekreis der Sprache Es geht also um eine verwandelte Sprache. Sie will die Neue Musik durch Emanzipation der im Alltagsgerede verkümmerten physiologischen, phonetischen, gestischen und polysemantischen Ressourcen der Sprache zum Sprechen bringen. Und sei es in Form einer Sprache, die sich selbst spricht. Pulverisierte Texte wie die in Nuits sind keine Sinnträger mehr, die von der kompositorischen Struktur abzulösen wären. Mehr noch: erst durch das Abstreifen der sinnsprachlichen Fesseln wird Nuits zum entfesselten J´accuse. Gängige Worte und Satzmuster wären nur Verrat; Kollaboration mit der Sprache der Unterdrücker. Die syntaktische Vernetzung der Worte von ihrer Sinntaufe erlösen: darin liegt das dionysische Element in der Dekomposition von Sprache. Sprache stirbt in ihren Bedeutungen, um neu wiedergeboren zu werden. Und nicht selten kulminiert der Ausbruch aus den Wort- und Satzgittern des Sprachgefängnisses im Aufstand der Lunge: im virtuos komponierten Schreien und Atmen. In manchen Passagen der Xenakis-Komposition Serment , in der die Worte des hippokratischen Schwurs zeitweise lauthaft zerstäuben, scheinen die Atemimpulse die Asche der alten Logos-Sprache zum Glühen bringen zu wollen. Wie um aus ihr eine Sprache jenseits der Besatzungskraft des Satzes und der Gerichtsfunktion des Urteils zu entfachen. Eine Sprache, die nicht zum Gift des Lebens wird, um den ärztlichen Eid einmal linguistisch zu deuten. Und in Xenakis' N'Shima , dessen Titel bereits auf Atmen und Atem verweist, taucht das Hebräische nur in isolierten Wortassonanzen aus dem Gestöber der Laute auf: in fluktuierenden Konnotationen wie hinter einem semantischen Schleier. Xenakis, der immer wieder den archaischen Grund der Zivilisation in seiner Brechung durch die Kriegs- und Angstszenarien der Moderne auskomponiert hat, legt hier den physischen Grund der Sprache frei. Einer Urteilskraft, der das Politische so alltäglich ist wie das Alltägliche politisch, wird Gewalt, zumal die lautlose, in mentalen Strukturen lesbar. So wie in Annette Schmuckis Komposition Am Fenster für hohe Stimme und Akkordeon nach einem Gedicht Robert Walsers. Einer Musik am Rand der Musik, die Walsers Poesie des Entschwindens mit einer asketisch strengen Atemrhetorik kontrapunktiert. Schon der Atemstoß auf »hinaus« zu Beginn der Komposition will den Normen- und Funktionspanzer eines Daseins durchstoßen, das nach Luft ringt. Im Zeittunnel des homo oeconomicus wird der manque de souffle zum Souffleur versäumter Augenblicke. Und er konzentriert das Erschrecken darüber, dass die Erfahrung noch des scheinbar Geringen eben deshalb den Atem verschlägt, weil das Aufleuchten von Welt und Dingen kurz vor deren Verlöschen zur Lust am Verschwinden wird: als Paradox und Dilemma ihrer Rettung. ​ Zum Fenster sehe ich hinaus, es ist so schön, hinaus, es ist nicht viel. Es ist ein wenig Schnee, auf den es regnet jetzt. Es ist ein schleichend Grün, das in ein Dunkel schleicht. Das Dunkel ist die Nacht, die bald in aller Welt auf allem Schnee wird sein, auf allem Grün wird sein. Hin schleicht sich freundlich Grün ins Dunkel, ach wie schön. Am Fenster sehe ich’s. ​ Atmen wird zum Wendekreis der Sprache, zum leibsinnlichen Riss im ästhetischen Zeichen- und Sinngefüge, der in die Triebschächte des Intellekts gleiten lässt und Berührung mit der Existenz aufnimmt. Und wenn am Ende von Schmuckis Komposition der Atem des Luftinstruments Akkordeon den Schlusston über fast eineinhalb Minuten aushält, im Unterschied zur weit atembegrenzteren menschlichen Stimme, dann wirkt diese Endlosigkeit wie ein Schock: als könnten Gedächtnis und Eingedenken womöglich nur noch in den Dingen überleben. Zwischenspiel IV Es sind vieldeutige und dennoch präzise Assoziationshöfe, die der pneumatische Formenkreis der Neuen Musik eröffnet. Wie das Stöhnen aus Lust und das aus Schmerz verwechselbar werden, so fügt sich auch die Metasprache Atmen weder dem Satz vom Widerspruch noch der zweiwertigen Moral von wahr und falsch. Im Gegenteil: komponiertes Atmen berührt als Voix mixte, folglich seiner Legierungen wegen, allen voran der von Leben und Tod. »Einatmen«, »ausatmen«, »den atem gespannt anhalten«, wie »erlöst ausatmen«: was die Empfindung des Lebens als Frist anbelangt, lässt Rühms atemgedicht an Diagnostik nichts zu wünschen übrig, darin Becketts Breath vergleichbar. Ein Lautgedicht, raffiniert einfach und doch mit der Hintergründigkeit letzter Dinge. Wie muss eine Zeit beschaffen sein, in der sich Atmen dermaßen aufladen kann? Beschlägt Atmen den Spiegel des modernen Narziss mitsamt seinen aktivitätsberauschten Souveränitätsmustern? Weckt es das Lebensgefühl von der Hinfälligkeit des Individuums im Gefühl verweigerten Lebens? Einem Leben, das kurzgeschlossen zwischen Produzieren und Konsumieren zum Vampir seiner selbst wird? «Stahlhartes Gehäuse» - Hauch der Geschichte Dass im »stahlharten Gehäuse«(32) der industriell beschleunigten Massengesellschaft noch das Vertraute, Intime zum Fremden wird, zieht sich als Leitmotiv durch die frühe Musique concrète. Vor allem die Atemsplitter im Erotica - und Eroica -Satz aus Schaeffers und Henrys Symphonie pour un Homme Seul mechanisieren die wiederholbaren und zu Versatzstücken montierten Gefühlsrelikte zu etwas Angedrehtem und Gesichtslosem. Anlass genug zum Ekel an einer in Angst und Atemlosigkeit verstrickten Existenz: ​ Er geht weiter er hat Angst große Angst (...) er sagt dass er angeekelt ist zu existieren ist er angeekelt? (...) Er rennt zu fliehen sich ins Hafenbecken zu stürzen? Er rennt das Herz das Herz das schlägt das ist ein Fest das Herz existiert die Beine existieren der Atem existiert sie existieren rennend atmend schlagend ganz schwach ganz sanft ist außer Atem bin außer Atem, er sagt, dass er außer Atem ist, (...) er ist bleich im Spiegel wie ein Toter.(33) ​ Wird Atmen erst wahrgenommen, wenn es das Problem des Erstickens gibt? Wenn aber die Gehetztheit normal und der Körper dressiert genug ist, kann dann das Korsett der Disziplinierung überhaupt noch aufgeschnürt, gelockert werden? Was heißt es, wenn in Holligers Streichquartett nach dem viermaligen Herabstimmen der Instrumente die reduzierte Saitenspannung am Ende nur mehr die Geräusche des Bogens und das Atmen der Interpreten freigibt? Bricht sich hier Erschöpfung, das Gleiten in die – laut Partitur – ›völlige Regungslosigkeit und Atemstille‹ in einer Parabel vom Joch funktioneller Zurichtung? Erkannt in ihrer Tödlichkeit und dieser Erkenntnis wegen von gleichwohl befreiender Wirkung? Zum Faszinosum wird Atmen in einer Welt, der die Einheit von Atem, Seele und Geist längst zerfallen ist. Einer Welt, die unter Atmung zunächst einmal einen Gasaustausch versteht oder die Verbrennung von Nahrung mittels Sauerstoff zu Wasser und Kohlendioxyd. Lange schon hatte die abendländische Kultur eine Tradition aus den Augen verloren, wie sie noch in manchen hinduistischen oder islamischen Atemliturgien und ihrer Bindung an ein belebendes Schöpfungsprinzip zu finden ist. So lange jedenfalls, dass das Wehen des Geistes der Natur zum todbringenden Atem werden konnte. Hegel zufolge verschwand die frühe Kultur Amerikas, weil sie eine »ganz natürliche« war. »Ohnmächtig« musste sie »untergehen, sowie der Geist sich ihr näherte«, untergehen an dem »Hauche der europäischen Tätigkeit«.(34) Diesen verheerenden Atem der Geschichte verwandelt Giacinto Scelsis Chorwerk Uaxuctum in ein Memento. In Erinnerung an die legendäre Maya-Stadt des 9. Jahrhunderts, die sich aus religiösen Gründen selbst zerstört haben soll. Der Widerhall der atmenden Stimmen wird bei Scelsi zur Klage gegen die Geschichte der Sieger: zum Brausen eines Windes, den der Komponist einmal als jenen »einsamen Wind der Tiefe« charakterisiert hat, der die ›Ordnung der ständigen Hindernisse zerstöre‹(35). Die Ordnung der naturwüchsigen Vorgeschichte der Menschheit, möchte man sagen. Geschichte wird in Scelsis Musik zum pneumatischen Palimpsest, dessen atmende Schichten auf einen anderen Begriff des Fortschritts hin durchlässig werden. Von ihm sagt Benjamin im Unterschied zum katastrophischen, dass er »nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs, sondern in seinen Interferenzen zu Hause« ist(36). Was aber macht uns atemlos? Geld, Worte, Bilder zirkulieren mit einer Schnelligkeit, als sollten im Geschwindigkeitsrausch Altern und Tod samt der Unumkehrbarkeit der Zeit überwunden werden: in einer Art Relativitätstheorie des Corps social mit dem Fluchtpunkt Unsterblichkeit. Der Tauschwert des Neuesten wird zum gemeinsamen Nenner sämtlicher gesellschaftlicher Ressorts. Gewinn und Sensation resultieren aus der konkurrenzüberlegenen Zugriffsrasanz. Nichts katastrophaler als verpasste Nachrichten oder versäumte Preisschwankungen. In dieser Arena braucht man einen langen Atem. Wer hat einen längeren, wer den längsten? Wer kann ihn anhalten? Am besten – wie in Gerhard Rühms Gedicht – »so lange wie möglich«. Bis der Laut im verebbenden, röchelnden Luftstrom zerfällt und mit ihm das Leben. Atemverlust, Loss of Breath , so der Titel einer frühen Erzählung Edgar Allan Poes, als letale Konsequenz der Unfähigkeit zur Umkehr, zum Einatmen, zum Atmen. Je mehr indes die Kultur des Berechnens und Messens ebenso herrisch wie verführerisch Menschen und Dingen unter die Haut dringt, umso entschiedener spricht die Atemenergie, das Atemholen der Neuen Musik vom Hunger nach Gegenwart in einer Ökonomie des Aufschubs und der Beschneidung. Und vom offenen und geheimen, vom rasenden und lautlosen Profitamok, der quer durch alle Instanzen bis in die Winkel des Privaten hinein den Augenblick nach Gewinn und Verlust taxiert und dabei vor allem eines tilgt: Leben, Atmen. Als die vom industriellen Furor und von Aufschwungseuphorie hypnotisierte Ära des Imperialismus am Beginn eines neuen Jahrhunderts stand, notierte ein damals noch unbekannter Prager Autor wie nebenbei eine Art Bulletin der Epoche. Mit der Aura der Poesie und doch prosaisch genug, um den Sturm der hinterrücks und über die Köpfe der Gattung hinweg sich durchsetzenden Fortschritts- und Expansionsgewalt vom menschlichen Maß der Lunge her zu denken – den Blick unverwandt auf die pneumatische Tragik gerichtet: ​ Was sollen unsere Lungen tun (...) atmen sie rasch, ersticken sie an sich, an innern Giften; atmen sie langsam ersticken sie an nicht atembarer Luft, an den empörten Dingen. Wenn sie aber ihr Tempo suchen wollen, gehn sie schon am Suchen zugrunde.(37) ​ ​ Anmerkungen ​ 1 Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. III, München 1981, S. 39. 2 Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan (»Talismane«). 3 Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal (»Les plaintes d'un Icare«); deutsche Übersetzung von Stefan Zweig. 4 Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Hg. Hans Rochol, Hamburg 1984, S. 64. 5 Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt/M. 1967, S. 9. 6 Ebd. 7 Karlheinz Stockhausen, Hymnen, Textheft der CD-Ausgabe, S. 25. 8 Ebd., S. 18. 9 Helmut Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung, Wiesbaden 1996, S. 402. 10 Ebd., S. 378. 11 Dieter Schnebel, Denkbare Musik, Köln 1972, S. 471. 12 Ebd., S. 453. 13 Ebd., S. 455. 14 Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, Hg. Karl Schlechta, München 1969, Bd. III, S. 453 u. 500. 15 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, Frankfurt/M. 1979, S. 147. 16 Ebd., S. 139f. 17 Ebd., S. 142. 18 Ebd., S. 144. 19 Rainer Maria Rilke, Siebente Duineser Elegie. 20 Karl Marx, Das Kapital, Bd. I (MEW Bd. XXIII), Berlin 1972, S. 384. 21 Rilke, Siebente Duineser Elegie. 22 Jannis Ritsos, Gedichte, Frankfurt/M. 1980, S. 55. 23 Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Studienausgabe Bd. I, Frankfurt/M. 1969, S. 528. 24 Freud, Zwei Kinderneurosen, Studienausgabe Bd. VIII, Frankfurt/M. 1969, S. 137, 183f., 201. 25 Hugo von Hofmannsthal, Reden und Aufsätze I (Gesammelte Werke in zehn Bänden), Frankfurt/M. 1979, S. 479. 26 Artaud, Das Theater und sein Double (Vorwort). 27 Jean-Paul Sartre, Mallarmés Engagement, Reinbek 1983, S. 14f. 28 Filippo Tommaso Marinetti, Futuristisches Manifest. Zit. n. Walter Höllerer, Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbek 1965, S. 134 u. 139f. 29 Zit. nach Metzler Literatur Lexikon, Stuttgart 1984, S. 252. 30 Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, München/Leipzig 1927, S. 107. 31 Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Hg. Paul Stapf, Wiesbaden o. J., Bd. I, S. 167. 32 Max Weber, Die protestantische Ethik I, Hamburg 1975, S. 188. 33 Sartre, Der Ekel, Reinbek 1982, S. 118. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie Werkausgabe Bd. XII, Frankfurt/M. 1970, S. 108 (Hvhbg. J. B.). 35 Zit. nach Heinz-Klaus Metzger, Das Unbekannte in der Musik. Versuch über die Kompositionen von Giacinto Scelsi, Musik- Konzepte 31, München 1983, S. 17. 36 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V, 1, Frankfurt/M. 1982, S. 593. 37 Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes. Parallelausgabe nach den Handschriften, Frankfurt/M. 1969, S. 126. Metasprache Atem. Zum pneumatischen Formenkreis der Neuen Musik (Essay) »Die Sprache brechen, um das Leben zu berühren.« Zum Formenkreis des komponierten Atems Ein Radio-Dialog für zwei Sprecherinnen von Johannes Bauer METAspracheATEM. Figuren einer pneumatischen Musik (DeutschlandRadio Berlin, 2000) ​ ATMEN (Sprechpartitur) Variationen über Ludwig van Beethovens "Cavatina" (Streichquartett op. 130) und Heinz Holligers Streichquartett (1973) Uraufführung: Villa Elisabeth, Berlin (2008) ​

  • Johannes Bauer, Theodor W. Adorno: Beethoven

    Theodor W. Adorno Beethoven. Philosophie der Musik hg. von Rolf Tiedemann ​ Frankfurt am Main 1993, Suhrkamp ​ »Das ist die methodische Regel meiner Arbeit«: daß »alle Aussagen über den Gehalt reines Geschwätz bleiben, sobald sie nicht den technischen Befunden abgezwungen werden« (23). Während hermeneutische Praxis in der Reibung zwischen ästhetischer Imagination und begrifflicher Identifikation allzuoft der Polarisierung in Deutungswillkür und Analysepedanterie verfällt, denkt Adornos gesellschaftskritische Engführung von Philosophie und Philologie Musik als »Logik der urteilslosen Synthesis« (32) aus dem Geist der Konstruktion. Ohne damit jedoch einer quasi vorbegrifflichen Tonsprache mit dem Begriff auf die Sprünge helfen zu wollen und zu verkennen, daß an der »strengen Erkennbarkeit von Musik« schon deshalb festgehalten werden muß, weil diese »selber Erkenntnis ist« (256). Zu genau wußte Adorno um das Dilemma jener generalisierenden Methoden, die die Einzigartigkeit des Komponierten durch eine Auflösung ins ideell Allgemeine korrumpieren. Wie sämtliche seiner ästhetischen Schriften setzen daher auch die Beethovenessays und erstmals edierten Beethovenskizzen auf die Einsicht in den Prozeß und die Struktur des Produzierten. Das Ästhetische am Ästhetischen und dessen empirischer Grund muß sich vom Notentext als der Matrix des Wahrheitsgehalts her materialisieren. So verwundert es nicht, wenn Adorno auffällig oft Beethovens angebliche Äußerung über die souveräne Verwendung des verminderten Septimakkords oder die stenographische Methode im Manuskript des D-Dur-Klaviertrios thematisiert: führt ja das Umschlagen des Gemachten in die Transzendenz der Faktur ins Innerste einer Musik, der bereits zeitgenössische Rezensionen die Charakteristika von »Gradation« und »Ökonomie« nicht häufig genug attestieren konnten; einer Musik auch, der die neue Organisation der Affekte und Effekte und die Rationalität der Verflüssigung zur markanten Signatur wurden. Ob Adorno Beethovens Produktionskalkül als Sprengung feudaler Ordnungs- und Gattungsmuster entschlüsselt oder das Veranstaltete, die Gewalt im »heroischen Klassizismus« (122) des Komponisten; ob er die Wirkung des idealistischen Sublimierungsgebots auf die Tektonik und die Idee der Werke untersucht oder den affirmativ-kritischen »Doppelcharakter« (48) des »Dialektikers Beethoven« (153) in seinen Analogien und Differenzen zu Hegels analytisch-synthetischer Episteme des Begriffs: immer insistiert das interpretatorische Urteil auf der Vermittlung von Buchstabe und Geist. Ist sie es doch, durch die schließlich auch die »zentralen Kategorien der künstlerischen Konstruktion […] in gesellschaftliche übersetzbar« (74) werden. Solche Denotationen innerhalb des Kontexts, wie sich Beethovens Musik auf die »Prosa der Welt« einläßt, ihr standhält und sie über den restaurativen Epochenstatus hinaus transzendiert, denkt Adorno vom theoretischen Organon der Dialektik der Aufklärung her. Evident wird so in den ideologischen wie emanzipatorischen Facetten des Komponierten und deren Legierung die Spannung von individueller Autonomie und gesellschaftlicher Totalität, von bürgerlicher Dynamik und Statik, von Naturbeherrschung und Versöhnung, von Mythos und Humanität samt ihrer ästhetischen Reflexion im Agon zwischen Einzelnem und Ganzem, im Ambivalenzproblem der Reprise oder im Triumph der Strategie und deren Entzauberung. Adornos Beethovenstudien und -annotationen verlangen eine Lektüre gegen die szientifische Objektivitätsdoktrin und die Sterilität sogenannter seriöser Exegesen. Gestattet sich doch Adornos mikroanalytische Präzision eine Assoziationsfülle, die puristischen Spezialisten das Fürchten lehren dürfte. Sie scheut sich auch nicht, die Märchen und Sagenwelt Mörikes, Grimms, Musäus’, des »Knaben Wunderhorn« oder Figuren der jüdischen Mystik ins Spiel zu bringen, um Beethovens Œuvre durch ungewohnte Blickwinkel auf die Substruktion seines Gehalts hin transparent werden zu lassen. In permanenter Enttäuschung des Klischees überschreitet Adorno die Grenzen der Fachdiskurse, was manche besonders zunftbornierte und ressentimentgeladene Zeitgenossen schon zu Lebzeiten des Autors in Abwehr solch polysemantischer Bedrohung unter der Rubrik Musikschriftstellerei verharmlosen zu müssen glaubten. Um so aufschlußreicher, wie Adorno selbst das Verhältnis seines spekulativ-mimetischen Denkens zur Niederung positivistischer Kärrnerarbeit in einer Notiz anläßlich der Tonartenidiomatik Beethovens sieht: »Wenn ein musikhistorischer Hengst sich dahintersetzte und alle Beethovenschen Profile registrierte, könnte er sie wahrscheinlich auf eine beschränkte Anzahl zurückführen und Typen aufstellen«. »Aber nie jemand verraten, daß das ginge, und um keinen Preis es selber tun. Dennoch: wenn ein anderer diese Bestialität begangen hätte, wie sehr könnte sie mir in meinem hoffentlich menschenwürdigen Geschäft helfen. Such is life.« (92) Fern jeder illustrativen Paraphrasierung und mit der metaphorischen Kraft des Begriffs unterläuft Adornos Denken von Musik den Zugriff deduktiver Reduktionslogik, ohne an Stringenz zu verlieren. Immer wieder gelingt es der Sensibilität seines Ausdrucks noch in dessen Abbreviaturen, den argumentativen Aufschub der Sprache zu überlisten und mit der Augenblicksemphase Beethovens konvergieren zu lassen: als einen subtilen Einstand von Philosophie und Musik gegen das martialische Zur-Strecke-Bringen des üblichen Subsumtionsdiskurses. Großartig skizziert am Beispiel der Les Adieux -Sonate, in der der »simple und krude programmusikalische Vorwurf zum Anstoß der äußersten Humanisierung, Subjektivierung geworden« ist und im flüchtig widerhallenden Abschiedsidiom das »Ewige« sich ans »Allervergänglichste« bindet. Hier sprengt Kunst den allegorischen Schein, wird Hoffnung als »säkularisierte«, »ohne die Lüge der Religion«, zur »höchsten Kategorie von Beethovens Metaphysik«, in welcher das »Getrappel sich entfernender Pferde mehr von der Hoffnung verbürgt als die vier Evangelien« (250 f.). In solchen Passagen verdichten sich entscheidende Motive der Beethoven-Deutung Adornos, zumal das der Suspension als Einspruchsinstanz gegen den mythischen »Schuldzusammenhang des Lebendigen« (16). Dieser sinnlich präzisen Utopie wegen ist Adornos Beethovenverständnis trotz seiner sezierenden Schärfe immer auch eines des Staunens. Zumal diejenigen »tröstlichen Stellen« des Komponierten, in denen mit der Aura von Wahrheit »über den dicht gewobenen Immanenzzusammenhang der musikalischen Struktur hinaus […] aufgeht, was ihr entrückt ist«, werden ihm zu jenen »höchsten« Momenten, »die überhaupt der Sprache der Musik […] beschieden waren.« (260 f.) Während die Kunst der Auslegung nicht selten Gefahr läuft, Neues mit dem Kompaß des Althergebrachten vorschnell in vertraute Traditionsraster zu vernetzen; während umgekehrt modesüchtige Interpretationen oft genug den Blick für historische Bezüge verlieren, entgeht Adornos mäeutisches Verfahren der Blindheit beider Extreme durch ein antihistoristisches Movens, das die Versenkung in die Sache von der Erfahrung des Autors und der Hypothek der Gegenwart her konturiert. Demzufolge wird das »›Hochgefühl‹« (119) beim Hören des Fünften Klavierkonzerts oder der Eroica und das Trauma des »Seid umzingelt, Millionen« (120) angesichts des Grauens der NS-Barbarei gleicherweise zur Sonde des Verstehens für Beethovens Musik. Mit einem von kritischer Empathie und dem Sinn für historische Differenzen geschärften Sensorium entwickelt Adornos argumentative Vielfalt gegen jede Schematisierung – selbst die der Kolischschen Temporekonstruktionen – und gegen die Auskunftei absoluter Dikta ein Labyrinth von Lesarten zur einzig adäquaten Annäherung an die Komplexität Beethovens, ohne zu einer Art Ursinn zurückzuführen. Daß akademisch normierte Rezensionen meist als Selbstbehauptungsmanifeste im Habitus eigener Überlegenheit aufzutreten haben, kann mit Rücksicht auf eine Veröffentlichung, deren überragende Qualität samt deren Verdrängung in der Wissenschaftsroutine es bewußt zu machen gilt, getrost vergessen werden. Seitdem sich Denken, restaurationskonform und allergisch gegen Kritik, zunehmend mit der Kombination von Textbausteinen verwechselt, deren Puzzles zuallererst den narzißtischen Ausstellungswert ihrer Produzenten steigern sollen, stehen die Zeichen für die Zeugenschaft Adornos und den ethischen Anspruch seiner Philosophie eher ungünstig; vom Desinteresse am strukturellen Hören im Zeitalter der Dauerbeschallung ganz zu schweigen. So dürften auch in Zukunft die Themen- und Problemkreise des Beethoven-Konvoluts dem deskriptiven Verhängnis gängiger musikwissenschaftlicher Forschung weitgehend tabu bleiben. Etwa die Aspekte vom Leibwerden der symphonischen Struktur und einer Dramaturgie des Gestischen, deren frühe Schockexpression den Körper als Bundesgenossen künstlerischer Bändigungsmanöver in Dienst nimmt; oder die einer Anatomie von Beethovens temporaler Grammatik und – überaus weittragend – vom »Chthonischen« (239) einer Musik im Wechselspiel von Geist und Natur. Auch wenn die Aufzeichnungen Adornos zunächst ein »Tagebuch über Erfahrungen mit der Musik Beethovens« repräsentieren, in dem das oft »bloß Angedeutete, gelegentlich wie in einem privaten Idiom Notierte« (12) überwiegt und der Autor keinesfalls zum Leser spricht, steht das Publizierte ungeachtet der fragmentarischen Textur durch seinen Wahrheitsbegriff provokant genug gegen zahlreiche heutige (Musik-)Ästhetiken und deren qualitätsvergessene Geltungslizenzen im Dienst eines marktkonformen Pluralismus. Der von Rolf Tiedemann vorbildlich betreute Band, der »jedes Wort« umfaßt, »das Adorno zum ›Beethoven‹ sich notiert hat« (11), ist allein schon als Dokumentation der Arbeitsweise des Autors von instruktiver Bedeutung. Bietet er doch unmittelbare Einsichten in das Laboratorium der konfigurativen Methode. Mag das Buch von manchen auch zum aphoristischen Steinbruch funktionalisiert werden: seine Modernität liegt gerade im Experimentalcharakter des Offenen, Unfertigen – ein work in progress auch für die Leser. Der Umstand allerdings, weshalb Adorno die Beethoven-Notate, die ihn seit 1938 begleiteten, nicht zur fertigen Monographie ausgearbeitet hat, rührt womöglich an ein hintergründiges Symptom der Abstinenz. Wenn sich die Aufzeichnungen seit 1957 nach und nach verlieren, ohne je ganz abzubrechen, mag dies zwar primär daraus resultieren, daß Adorno angesichts der »Endgeschichte des Subjekts« im Zeichen der Katastrophe von Auschwitz dem Humanum Beethovens und dessen bürgerlicher Subjektemphase nicht mehr mit dem nötigen analytischen Engagement antworten konnte und wollte, vergleichbar dem tragischen Motiv von der ›Zurücknahme der Neunten Symphonie ‹ im Doktor Faustus. Daß ihm aber Beethovens Musik als eine von »unvorstellbarer Größe« (55) galt, hat Adorno trotz seines Widerwillens gegen superlativische Kennmarken bis zuletzt betont. Zumal die »Spätwerke« mit ihrer Subversion des teleologischen Modells und der harmonischen Vorurteile der Tonalität, ihren verstörenden Impulsen gegen die homogene Mnemonik und das Integral des Formgesetzes bis hin zur Auflösungsspur des kompositorischen Subjekts rechnete er zum »Substantiellsten und Ernstesten«, »was an Musik gefunden werden kann« (268): frei vom symphonischen Schein einer verbürgten Perfektibilität der Geschichte. Denkbar also, daß sich ihm die Brechung des Faszinosums Beethoven in barbarischer und »dürftiger Zeit« insgeheim auch mit einer Aversion gegen die Abstoßungsmentalität eines Wissenschaftsbetriebs verband, der jedes zirkulationsfähige Werk in den Taumel der Mode und des schnellen Alterns reißt. Mit dem verweigerten publizistischen Abschied von der ihm »höchsten« (79) Musik Beethovens und dem Dispens, die Rätsel der Sphinx lösen und als eine im tombeau der Schrift geronnene Hommage dem neutralisierenden Warenorkus preisgeben zu müssen, bewahrte sich Adorno – in einer historischen Aporie und wie auch immer bewußt – den »Zauber« und die ›unbeschreibliche Erregung‹ jener »Kindheitserfahrung von Beethoven« (21), die der Herausgeber zu Recht an den Anfang des Bandes stellt. Vermutlich ist deshalb das unvollendete Beethoven-Buch gerade dem Philosophen der neuen Musik eines seiner wichtigsten gewesen. Vielleicht kommuniziert Adornos Torso über die Grenze von Musik und Sprache hinweg am ehesten mit Beethovens Diabellivariationen . Wie sich deren zyklische Konstellation in die Belastbarkeit und Potentialität des Materials versenkt, um sich schließlich zu einem Gebilde des »spekulativen Ohrs« zu verrätseln, so konfiguriert sich die analytische Polyphonie in Adornos »Beethoven« zu einer Art enigmatischem Palimpsest, dessen Deutungsschichten letzte Lesbarkeit verweigern. Dennoch sind die exegetischen Konturen so scharf, daß sie die zum Klischee zurechtgehörte Musik Beethovens und die zur Gewohnheit erstarrte Taubheit ihres Publikums auf neue, auf unerhörte Töne hin durchlässig werden lassen. Johannes Bauer ​

  • Johannes Bauer, Philosoph, Maler

    Ihre Angaben wurden erfolgreich versandt. Senden

  • Johannes Bauer, Mein imaginäres Konzert (Berlin, Villa Elisabeth)

    Mein imaginäres Konzert Konzert für Worte solo Donnerstag, 09. Oktober 2008| 20 Uhr | Berliner Gesellschaft für Neue Musik Villa Elisabeth | Invalidenstraße 3 | Berlin-Mitte | www. bgnm.de Wie nah kann Sprache der Musik kommen, wie genau kann sie Musik beschreiben? Die Berliner Gesellschaft für Neue Musik ruft im zweiten Konzert, das sich dem Grenzverkehr zwischen Musik und Sprache widmet, klangambitionierte Schriftsteller und wortambitionierte Musiker auf, eine existierende oder vorgestellte Musik möglichst genau zu schildern – ein inszeniertes Konzert, in dem die Musik kraft der Worte allein in den Köpfen des Publikums entsteht. ​ Inszenierung: Christian Kesten Ensemble: Die Maulwerker Autoren: Leowee Polyester, Anja Tuckermann, Bernd Hüppauf, Jorn Ebner, Christina Müller-Gutowski, Ruth Wiesenfeld, James Etherington, Johannes Bauer , Hana Sustkova Die Konzerte laufen unter der Reihe Freundliche Übernahme – Im Grenzverkehr zwischen Musik und Sprache der Berliner Gesellschaft für Neue Musik. ​ ​

  • Johannes Bauer, Goethe und Mozart. Aspekte einer Wahlverwandtschaft

    Südwestrundfunk 1999 "Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet" Beiträge demnächst verfügbar Bleibe dran... Goethe und Mozart ​ Aspekte einer Wahlverwandtschaft Goethes musikalische Sprache. Worin könnte sie liegen? Hören wir Goethe selbst zu, der anlässlich einer Charakterisierung des Griechischen und Lateinischen un­terderhand sein eigenes Sprachverständnis formuliert. ​ Welch eine andre wissenschaftliche Ansicht würde die Welt gewonnen haben, wenn die griechische Sprache lebendig geblieben wäre und sich anstatt der lateinischen verbreitet hätte. (...) Das Griechische ist durchaus naiver, zu einem natürlichen, heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag glücklicher Naturansichten viel geschickter. Die Art, durch Verba, beson­ders durch Infinitiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden Aus­druck läßlich ; es wird eigentlich durch das Wort nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt , es ist nur eine Andeutung, um den Gegenstand in der Einbil­dungskraft hervorzurufen. Die lateinische Sprache dagegen wird durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch . Der Be­griff ist im Wort fertig aufgestellt, im Worte erstarrt , mit welchem nun als einem wirklichen Wesen verfahren wird. Hier liegt Goethes Poetik programmatisch vor uns: ihre Ablehnung des ‘Befehls­haberischen’ und ‘Erstarrten’ der Sprache. Namentlich das Wort vom „bepfählen“ zielt gegen eine Sprachgewalt, die die Pflöcke des Bezeichnens und Kennzeich­nens imaginationsblind in das Buch der Welt rammt. Goethe dagegen will die Sprache verflüssigen. Er misstraut der Besetzungs-, der Besatzungskraft des Satzes den Dingen und der Welt gegenüber. Und er misstraut der verkürzten Entschei­dungswillkür des Urteils als einem gegenpoetischen Schwergewicht. Gebündelt finden sich solche Motive schon im Werther . Eine ‘herabgeor­gelte’ Satzperiodik und die „gewöhnliche Terminologie“ der Wortschablonen werden ebenso missbilligt wie jene sittliche Selbstgefälligkeit, die die Kausalketten gottgleich überschauen will, um sie im Urteil über Gut und Böse stillzustellen. ​ Daß ihr Menschen (...) gleich sprechen müßt: das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! (...) Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? Wißt ihr mit Bestimmtheit die Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen mußte? Hättet ihr das, ihr würdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein. ​ Grundiert wird die Wertschätzung der Gefühle und Passionen und ihr entregelter sprachlicher Ausdruck von einer Grammatik der Psyche, die eher stockt und ab­bricht, als ihre Leidenschaft in falscher Verbindlichkeit einzudämmen. „Ich mache nicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrücken“. So richtet sich die große Passion gegen die tödliche Konvention der Sprache und ihre Moral- und Sinnvereisungen. ​ Mozart, Symphonie Nr. 25 g-Moll, KV 183 , 1. Satz, T. 81-128. ​ Das Starre, Verkrustete eindeutiger Zuordnungen im Satzgefüge aufzubre­chen, daran liegt Goethe. Seine Pfingstzeit der Sprache ist eine Antwort auf das Klischee; ein Aufbrechen von Sprachgefängnis und Wortgittern gemäß der De­vise: „Und umzuschaffen das Geschaffne, / Damit sichs nicht zum Starren waffne“. Er will die Sprachelemente aus ihrem Gleichgewicht bringen - hin zu ei­ner eher musikalischen Logik assoziativen Gleitens, ohne sich im Ordnungslosen zu verlieren. Der Beginn eines Gedichts aus den Chinesisch-deutschen Jahres- und Ta­geszeiten zeigt diese gleitende Logik in Vollendung. ​ Weiß wie Lilien, reine Kerzen, Sternen gleich, bescheidner Beugung, Leuchtet aus dem Mittelherzen Rot gesäumt die Glut der Neigung. Nicht nur ein erstes Hören und Lesen sucht hier vergebens nach einem an gängige Satzmuster gebundenen Sinn in Mustersätzen. Zumal die Tatsache, dass es sich hier um ein Bild „frühzeitiger Narzissen“ handelt, erst aus dem zweiten Teil des Gedichts ersichtlich wird. Zwar lassen sich das Prädikat „leuchtet“ und das Sub­jekt „Glut der Neigung“ ausmachen. Die Klärung eines Objekts jedoch stößt auf Schwierigkeiten. Die Reihung „Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung,“ ist als schwebendes Attribut mit dem Folgenden äußerst leicht verbunden. Außerdem irritiert eine weitere Eigentümlichkeit von Goethes Spätstil: seine Vorliebe für unkonventionelle Genitivbildungen: „Sternen gleich, bescheidner Beugung“, heißt es. Und schließlich folgt noch die außergewöhnliche Wortverdichtung „Mittelherzen“. All dies verwandelt sich in einen mehrschichti­gen Bildfluss, dessen gleitende Logik insofern etwas mit Musik zu tun hat, als Mu­sik sich von der Funktionslogik löst, ohne unwahr zu werden. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Auflösung der „bepfählen­den“ Sprache im Fließen der Reflexions- und Affektbahnen sprechen. Vergleich­bar Mozarts Zeitverlauf, in dem melodische Gestalten ‘auseinander hervor und in­einander untergehen’ - „doch ohne thematische Kontraste, die dem Fortgang Halt gäben, Einhalt geböten“. So wie im ersten Satz des Klavierkonzerts KV 595 unter Zurücknahme des solistischen Ausstellungscharakters der reihende Fluss der Themen und Motive in Gang gehalten wird, ohne dass er durch Widerstände ge­staut oder durch Kollisionen dramatisiert würde. Basierend auf Mozarts Verfahren der Phrasenüberlappung, einer schwebenden Metrik, die oft erst rückwirkend Zä­suren erkennen lässt. ​ Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur, KV 595 , 1. Satz, T. 242-Ende. Mit dem fließenden Duktus hängt zusammen, dass der erfüllte Augenblick bei Goethe und Mozart nicht erarbeitet wird, sondern plötzlich in kurzen ausdrucks­dichten Motivgestalten erscheint. Sie haben etwas von einer Fata Morgana an sich: als Erscheinung einer verzauberten Ordnung. In Goethes West-östlichem Divan wäre dafür das Gedicht Liebliches zu nennen. Ein Gedicht, das inmitten der thüringi­schen Landschaft - in der Erstfassung steht noch der Name Erfurt - eine mor­genländische Vision aufscheinen lässt. ​ Was doch Buntes dort verbindet Mir den Himmel mit der Höhe? Morgennebelung verblindet Mir des Blickes scharfe Sehe. Sind es Zelte des Vesires, Die er lieben Frauen baute? Sind es Teppiche des Festes, Weil er sich der Liebsten traute? Rot und weiß, gemischt, gesprenkelt Wüßt' ich Schönres nicht zu schauen; Doch wie, Hafis, kommt dein Schiras Auf des Nordens trübe Gauen? ​ An dieser Stelle gerät die Vision zur Fülle der Gegenwart mit dem Aussetzen des Urteils in einer Frage des Erstaunens. Die Sprache weckt nicht nur Unbekanntes im Bekannten, sie öffnet über das neue Wort auch neue Bahnen der Imagination. Bereits in der ersten Strophe: ​ Was doch Buntes dort verbindet Mir den Himmel mit der Höhe? Morgennebelung verblindet Mir des Blickes scharfe Sehe steigern drei artifizielle Wortmodulationen - „Morgennebelung“, „verblindet“, „Sehe“ -, was schon die Eingangszeilen mit ihrem heiter angetönten und schwe­benden Bild empfinden lassen: mehr die Luftigkeit einer Impression denn eine be­schreibungsgenaue Aussagenlogik. Goethes Zaubervokabeln entsprechen dem Entwurf einer Sprache, die die Worte auf neue Bedeutungshöfe und Klangfarben hin ausleuchtet. Gegen das Wiederkäuen von Wortkennmarken. Zaubervokabeln wie die der Komposita „Pappelzitterzweige“, „Glanzgewimmel“ oder „Mittelherz“. So umwirbt Goethes Sprache das Wort, das im erfüllten Augenblick „tausend Verbindungen schlägt“. Vor allem in solchen Verdichtungen, vor deren Bedeutungsfülle die Deutung schier verzweifelt. Von einer Dichte wie in Goethes Wortspiel: „bogenhaft in Weile“. Dieses Wortspiel begegnet uns im Bild jener heftig wirkenden Pfeile von Liebe und Leidenschaft, die „Gehetzt in Eile, bogenhaft in Weile / In Tausend­fält'gem Wollen sich vermischen“. Jede Philosophie dürfte Goethe um die Tiefen­schichtung dieser Figur beneiden, deren Zauber doch in keinem Philosophem aufgeht. In ihr blitzt der Bogen Amors ebenso auf wie die trügerische Ruhe, die im Irrgarten der Leidenschaft immer schon unmerklich in bedrohlich Bewegung übergegangen ist. Eine Stelle von beispiellosem Ausdruck, die an solche Passagen Mozarts erinnert, in denen ein unerhörter Moment die Zeit staut und mit der Zeitenfolge auch den erklärenden Begriff hinter sich lässt. Etwa im E-Dur-“Ter­zettino“ aus Così fan tutte , einem ebenfalls hintersinnigen Tableau der Leidenschaft. Hier entrückt ein trugschlusshafter Schwebeklang auf „desir“ das Verlangen in eine Wunschlandschaft, die das Wort auf eine unendliche Reise schickt, ohne doch vorsprachlich zu sein. Indem der mehrmals wiederholte präzise Traumklang die Tonalität aufs Bodenlose hin öffnet, verrätselt er Sehnsucht und Begehren zu ei­ner in Natur gespiegelten Meteorologie der Seele: verspannt zwischen Erfüllung und Versagung. ​ Mozart, Così fan tutte , 1. Akt, Nr. 10 (Terzettino). ​ Goethes subtile Wort- und Satzirritationen erinnern an Mozarts Kunst der minimalen Differenz mit maximaler kompositorischer Wirkung. An Mozarts fein­nuancierte Asymmetrien der Periodik und deren Balance oder daran, wie mit einer einzigen harmonischen Rückung, mit einer einzigen Tonkonstellation unerhörte Ausdruckswechsel ausgelöst werden können. Zum Beispiel im zweiten Satz des C‑Dur-Klavierkonzerts KV 467 . Einem Satz, dessen scheinbare Leichtigkeit auf einer ungewöhnlichen metrischen, harmonischen und formalen Struktur beruht. Schon die chromatisch eingefärbte Kantilene der gedämpften Streicher über durchgängi­ger Triolen-Bebung und einem Pizzicato-Puls der Violoncelli und Kontrabässe öffnet ihr kantables Strömen auf einen hochdissonanten Grund hin. So scharf je­denfalls, dass Leopold Mozart diese Klänge im Ohr gehabt haben mag, als er sich die ausgefallenen Harmonien dieses Konzerts mit Kopistenfehlern zu erklären suchte. Dazu kommt eine irreguläre, überwiegend ungeradtaktige Periodik und eine Form, die ihren Bauplan verschleiert. Mag das Andante auch schemenhaft auf das Modell des Sonatenhauptsatzes hin durchlässig werden, weit mehr wird es durch das Ineinanderfließen von Improvisation und Konstruktion charakterisiert. Dass das Irreguläre stets präsent ist und doch in einem ausgewogenen Sich-Heben und -Senken gehalten wird, lässt an die ständigen Abweichungen in Goethes aus­tarierter Sprache denken. Und noch, dass eine rhythmisiert fallende Tonleiter den Ausdruck des erfüllten Augenblicks annimmt wie in Takt 17, hängt mit dem vo­rangehenden Dissonanzbereich zusammen und damit, dass die Dissonanzen gleichsam nur aufblitzen. Es handelt sich hier um eine der großen Stellen Mozarts: eine Geste der Gelassenheit durch Spiritualisierung einer Formel. An diesem Satz kann man studieren, wie eine dissonant und dur-moll-verschattete Binnenstruktur den Eindruck äußerster Klarheit gewinnt. Einer Klarheit, die sich am ehesten mit dem Begriff des Heiteren umschreiben lässt: einem aufgehellten, wenngleich me­lancholisch grundierten Bewusstsein, von dem es in Goethes Wanderjahren heißt: „Auf ernstem Lebensgrunde zeigt sich das Heitere so schön“(Wanderjahre I, S. 76). ​ Mozart, Klavierkonzert Nr. 21 C-Dur, KV 467 , 2. Satz. ​ Goethes neue, gewagte Wort- und Satzvarianten widersetzen sich dem Schema­tismus der Sprache. Und welch bizarre Varianten gibt es da nicht zu ent­decken. Varianten wie „Unglücksbotschaft häßlicht ihn“; „eigensinnig zackt sich Ast an Ast“; „das Schaf bewollt sich dran“; „gehörnte Herde braunt“; „auf und nieder­tröstend“; „hinfeuchten“. Varianten, die oft genug in Serien ohne Binde­wörter oder Prädikate eingelassen sind. Serien wie denen am Ende des Zweiten Faust - „Waldung, sie schwankt heran, / Felsen, sie lasten dran, / Wurzeln, sie klammern an“, oder denen der begeisterten Sprache des Pater ecstaticus: „Ewiger Wonne­brand, / Glühendes Liebeband, / Siedender Schmerz der Brust, / Schäu­mende Gotteslust“; schließlich solchen von nur noch assoziativer Bindung: „Worte, die wahren, / Äther im Klaren, / Ewigen Scharen / Überall Tag!“. Wie Mozart öffnet Goethe die Sprache auf das Abgründige ihrer Konvention hin. Oder was soll man von Sätzen wie den folgenden halten? „Entsetzlich stürzt Er­wachenden sich Jam­mer zu!“; „Wen treff ich schon, wen treff ich noch den Wa­chenden?“; „Glühte deine Seel Gefahren Pindar!“ Sicher geht es in Goethes Kunst der Abweichung um Nuancen und Va­leurs, um Chromatisierung. Ähnlich Mozarts Vorliebe für die Chromatik als einem Ausdruck des Farbenspiels der Seele, ihrer Aufhellungen und Eintrübungen, ihrer Gezeiten. Aber es geht um mehr. Es geht um die Definitionsmacht der Sprache, die Goethes lose Wort- und Satzreihen unterlaufen. Vor allem dann, wenn sie die Urteilsfunktion durch fehlende Prädikate außer Kraft setzen. Dadurch nimmt Goethes Sprache etwas Fremdes, Mignonhaftes an, in dessen zwitterhaften Mehr­deutigkeiten eines ihrer musikhaften Momente liegt. Zweifellos spielt die schon von Zeitgenossen an Goethe hervorgehobene Lust der Verwandlung nicht nur biographisch eine Rolle. Goethes Lebensmotive der Erneuerung und Verjüngung, seine Rede vom „Wiedergeboren Werden“, vom ‘Schalen abwerfen’, vom ‘Ablegen der Schlangenhaut’ oder von der „wiederholten Pubertät“ sind gleichnishafte Charakterisierungen auch seiner Sprache. Sie gewinnt etwas unentwegt sich Häutendes, Schlangenhaftes. Goethes Schreiben - das heißt: die Gedanken am langen Zügel laufen lassen, Umwege, Labyrinthe nicht scheuen. Es ist eine Sprache, die wie in Faust II der raschen Revue der Charaktere angemes­sen ist. Gerade in Goethes und Mozarts Konfigurationen findet sich das Bewusst­sein für das Flüssige von Ich und Charakter in Vollendung. Das Bewusstsein für einen Verstand, der sich in eine Folge von Eindrücken und Vorstellungen auflöst, die, dem Philosophen Hume zufolge, „einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind“. Was etwa in der Exposition von Mozarts letztem Klavierkonzert an Charaktere-Momenten durchmessen wird, lässt in seiner Vielfalt jeden Versuch einer klaren Affektscheidung scheitern. Die aphoristische Spannbreite reicht nicht nur vom erhabenen bis zum buffonesken Ton. Sie durchläuft zudem eine Summe komplexer Mischungen. So wie Diderot, den Goethe überaus schätzte, von den „hundert verschiedenen Gesichtern (...) im Verlauf eines Tages“ sprach. Die menschliche Seele - ein Chamäleon im Spiel der Stimmungen. Goethe und Mozart sind fasziniert von der Freiheit des Mannigfaltigen. Sie lassen im bunten Schwarm der Motive und Formen die Libertinage des Vielen zu, die die Identität liquide hält, zuweilen gar liquidiert. Deshalb ist Goethes Satz: „Dann mag der Zufall selbst als Geist der Einheit schalten“, für Mozart wie für Goethe selbst von größter Wichtigkeit. Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur, KV 595 , 1. Satz, T. 1-80. ​ Konstruktion gerät bei Mozart nicht zum strategischen Triumph. Und Goethe hält von dramatischer Straffungsarbeit, zumal der des Tragischen, so wenig, dass zeitgenössische Urteile immer wieder die Formlosigkeit seiner Stücke beklagen. Schließlich war Goethe selbst im Zweifel, ob er denn „eine wahre Tragödie schreiben könnte“. Worauf indes die Ökonomie des Tragischen abhebt, zeigt Schillers Kritik an Goethes Egmont . Schiller spricht dem Stück den Rang einer Tragödie ab, da es aus einer „bloßen Aneinanderstellung mehrerer einzelner Handlungen“ resultiere. Unüberhörbar ist hier der rügende Unterton gegen das reihende Prinzip. Ein Un­terton, der nicht selten auch bei Kritikern Mozarts und seiner verschwenderisch losen Folge an musikalischen Gedanken begegnet. Parataxe, die bei- und neben­ordnende Reihung gleichberechtigter Elemente, verträgt sich weder mit Arbeit noch mit Tragik. Sie verträgt sich nicht mit den Über- und Unterordnungsgebo­ten, mit der Wertung nach Haupt- und Nebensächlichkeiten, mit all den Strecken der Entwicklung und des Ergebnisses, der Spannung und Lösung, wie sie für die Hypotaxe charakteristisch sind. Weit eher schon vertragen sich parataktische Bei­ordnungen mit der Unabhängigkeit von Ziel- und Systemstrenge. So wie Goethes Faust II und die Wanderjahre dies nachdrücklich demonstrieren. Während die Modelle des Tragischen im Bann der Zahl Zwei stehen - Worte wie Entzwei ung, Zwie spalt, Verzwei flung lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig - muss bei Goethe und Mozart der Widerspruch zwischen Frei­heit und Notwendigkeit vergessen werden. Goethes Poesie der Verschwendung zeigt sich am Kreislauf von Schuld und Sühne uninteressiert. Schon zu Beginn des Faust II lassen Natur und Vergessen den christlichen Reuebegriff schal werden. Goethe spricht seinen Helden frei, ohne ihn zu rechtfertigen. „Wer immer stre­bend sich bemüht,/ Den können wir erlösen.“ Schuld wird mit der ‘Erlösung’ in der Sphäre des „Ewig-Weiblichen“ jenseit von gut und böse ausgesetzt. Was das Faust -Drama vom Sujet her in Szene setzt, entspricht sprachlich aufs Engste Goethes musikalischem Denken: dem reihenden Aufbrechen des herrischen Form- und Satzregimes bis hin zur Sprengung der Gattungsgrenzen der Tragödie. Wobei das Rhapsodische der Verwandlungen über die Wort- und Satzgirlanden in jene bildhafte Großreihung des Dramas eingeht, die dem tragischen Zeitsturz zu­widerläuft. Und wenn Mozart im „Molto Allegro“ der späten G-Moll-Symphonie den dunklen Affekt in Szene setzt, handelt es sich dabei noch lange nicht um das Ethos Beethovens. Selbst wenn sich die Durchführung dieses Satzes auf den Hauptgedanken konzentriert, verweigert sie die tragische Arbeit im Bann von Zer­rissenheit und Entzweiung und deren Überwindung wie in Beethovens Neunter Symphonie . Keineswegs wird das Drama der Themen und Motive als im Dienst der sittlichen Idee stehend vorgeführt. Vorgeführt werden indes die modulatorischen Stürme der Passion, in denen sich das Thema physiognomisch bricht, aufzehrt und regeneriert: im rastlosen Kontinuum der Affektbahnen, ihrem Lodern und Verlöschen. So beleuchtet die Musik einen Ausschnitt aus der „Experimentalphy­sik der Seele“; eine Musik, der jegliches postulatorische Über-sich-Hinausweisen Unbewusstenfremd ist. ​ Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll , KV 550, 1. Satz, T. 100-ca. 183. ​ Goethe hält der Naturgeschichte der Seele die Treue. Dazu gehört, dass er, wie Mozarts Opern, die Decksteine der Zivilisation anhebt, um deren Unterbau frei­zulegen. Schon früh hatte er ​ in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche des städtischen Daseins (...); aber im Innern sieht es öfters um desto wüster aus, und ein glattes Äußere über­tüncht, als ein schwacher Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt (...). ​ Bei diesem Gang in die Unterwelt der Zivilisation wird die Sprache, gerade auch die musikalische, zur Seelenführerin ins Unbewusste. Eine Sprache, die sich dem Stoff anschmiegt, nicht über ihn verfügt. Was die Tiefenschärfe an Mozarts Musik ausmacht, ist die Leib gewordene condition humaine. Der psychologische Unterstrom seiner Opern, ihre blitzartigen Energiekurven, die die Charaktere im Wirbel der Passionen entgrenzen und wechselseitig durchlässig halten, sind das Gegenteil einer Ökonomie des Standhaltens und jeglicher Affektschematik. Es sind die dynamisierten Leidenschaften, die die Weltpräsenz in Figaros Hochzeit ver­handelt. Entgegen ihrer mechanischen Statik, die auch Goethe so unerbittlich kri­tisiert. Goethes Forderung nach Verflüssigung des affektiven Tableaus löst Mo­zarts körperhafte Sprache der Psyche ein, ihr Puls- und Herzschlag. Sie ist es, die dem Ensemble der musikalischen Rede und ihrem Reflexionsgrund erst Leben verleiht. Musik und Poesie folgen der Odyssee des Unbewussten, um noch dem letzten Rest an Formel Sprache zu verleihen. Wie Goethe die Wortkennmarken hin zum unvergleichlichen Wort durchdringt, so Mozart den Schematismus der Kadenzen, die sich im Finale des zweiten Figaro -Akts zu Knotenpunkten der Emotions- und Gedankenspuren verdichten. Zugleich lässt der Gang der Musik sämtliche Formschemata hinter sich, ohne zu zerfallen. Eine Musik, die dem Ver­langen ihrer Impulse folgt und sich die harmonische wie metrische Konstruktion äußerst beweglich hält; eine Musik, ähnlich der Sprache Goethes: schlangenhaft, gleitend, schillernd, zustoßend. Gestisch, ohne im Körperhaften aufzugehen, spi­rituell durchdrungen, ohne sich im Idealen zu verlieren. Mozart, Le Nozze di Figaro , 2. Akt, Finale („Esci ormai …“ bis Szene 9, T. 6). ​ Das Spiel der Vielfalt ist etwas anderes als die Idee der Totalität. Goethe wie Mo­zart geht es nicht um das Dilemma Läuterung oder Untergang, sondern um Über­gang und Verwandlung. Insgeheim aber läuft die Gewaltlosigkeit reihender Konfi­guration jenem Fluchtpunkt zu, den Goethes ungeheures Bild der dem ‘bewegli­chen Staub eingezeichneten’ Dichterworte umschreibt. Vergleichbar Mozarts Geste, das Finale des C-Dur-Klavierkonzerts KV 415 ohne triumphalen Schluss im Pianissimo verebben zu lassen. Einen rhapsodisch-freien Satz, dessen zentrifugale Fliehkräfte wider alles Erwarten in zwei c-Moll-Zäsuren aufbrechen. Worte, Takte, an denen sich erfahren lässt, wie Mozarts und Goethes Kunst des „losen liberalen Gangs“ das gängige Moral- und Rationalitätskorsett sprengt.Unberechenbar wie die exzentrische Bahn Euphorions. Worte, Takte aber auch, an denen sich erfah­ren lässt, was seither einer auf Stärke ausgerichteten Souveränität verloren ging, die sich ihre Überlegenheit durch seelenlose Beherrschung der Seelenzustände beweisen muss. ​ Nicht mehr auf Seidenblatt Schreib ich symmetrische Reime; Nicht mehr faß ich sie In goldne Ranken; Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet Überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht, Bis zum Mittelpunkt der Erde Dem Boden angebannt. Mozart, Klavierkonzert C-Dur KV 415 , Finale, ab T. 128. ​ ​

  • Johannes Bauer, Zur Phänomenologie der musikalischen Zeit

    Zur Phänomenologie der musikalischen Zeit (1) Ökonomie der Affekte SWR 2002 Bspl. 1: Puccini, Tosca, 3. Akt A Puccini, Tosca , 3. Akt. – Rom, Glocken, Morgendämmerung: eine Stadt erwacht. Mein Gott, wie schön! B Und doch werden die Glocken zum Grabgeläute. Im Ohr der wissenden Hörer zumindest. Die Musik, vom Klang des Morgenläutens getragen, lädt sich doppelsinnig auf und beginnt trügerisch zu changieren. Eine Musik über dem Abgrund, in den die Heldin wenig später springen wird. A Und wie der Zeitfluss der Empfindung Leben und Tod verschränkt, so verschränkt er über dem Gefälle der Affekte auch Idylle und Terror. Gegen das Glücksversprechen des anbrechenden Sommertags enthüllt sich im Morgengrauen das Grauen eines Morgens, an dem die vermeintliche Scheinexekution so tödlich sein wird, wie die Gegenutopie des Todes es nur sein kann. B Trotz der räumlichen Weitung durch nahe und ferne Glocken – elf an der Zahl, deren unterschiedliche Distanzen die Partitur minutiös vermerkt – und trotz der gegensätzlichen Stimmungsvaleurs: das harmonisch-rhyth­mische Geschehen der Musik und ihr Motivverlauf bleiben auf die Einheit der Zeit hin abgestimmt: A Knapp zehn Jahre später, 1907, im Vorspiel zu L'Heure espagnole , Ravels Einakter vom erotischen Verlangen und Versagen, wird der Strom der Affekte bereits mechanisch eingefärbt. Vor einem Schleier schweifender Akkordgirlanden, metrisch zwischen 5/4 -, 3/4 - und 6/4 -Takt schwebend, entfaltet die Introduktion dieser Comédie musicale eine polyrhythmische Verzahnung, an der unter anderem auch drei Uhren beteiligt sind, die exakt zu ticken haben. B Nämlich mit jeweils 40, 100 und 232 Schlägen pro Minute und einer Übereinstimmung der Schläge auf jeder 18. Viertelnote bzw. alle 15 Sekunden. A Eine ironische Einfärbung der Affekte demnach, eine hintergründige Verwechslung von Trieb und Getriebe, ein Stimmengewirr,→ B ← das freilich mit der Präzision eines Uhrwerks geordnet ist. Eine kontrollierte Gleichzeitigkeit, die die Zeitverläufe der Orchesterinstrumente und die zauberhaft beseelte Mechanik der Uhren, Glockenspiele und Spieldosen exakt zur Deckung bringt und – wie bei Puccini – immer noch einem einheitlichen Zeitgesetz unterwirft. Bspl. 2: Ravel, L'Heure espagnole A Schließlich dann, fünf Jahre nach Ravels Spanischer Stunde , dieser Ausbruch: Bspl. 3: Ives, The Fourth of July B Eine Mixtur aus populären Melodien und patriotischen Hymnen, die sich in verschiedenen Geschwindigkeiten und Rhythmen überlagern, sich wie durch wechselseitige Reibung aufheizen, verdichten und explodieren. A Charles Ives' The Fourth of July , der dritte Satz seiner Holidays Symphony . Eine Art Urknall im Zeituniversum der modernen Musik. Ein Urknall, bei dem sich die Einheit der ästhetischen Zeit unter dem Druck ihrer Fliehkräfte in die Vielheit verräumlicht. B Unterbrochen nur vom flüchtigen Augenblick eines Glockenschlags. A Wie von einem flüchtigen Komma der Zeit→ B ← oder wie in einer letzten Erinnerung an die gute, alte Gleichförmigkeit ihres Verlaufs,→ A ← bevor eine erneute Detonation das Kontinuum sprengt und in abrupt verlöschende Erinnerungsfragmente zerfließen lässt. B Der Kommentar des Komponisten jedenfalls lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. »An den Stellen«, schreibt Ives, A »An den Stellen, die Explosionen (des nächtlichen Feuerwerks) nachahmen, arbeitete ich wie nach einem Rezept sehr sorgfältig Kombinationen von Tönen und Rhythmen aus, so wie man etwa eine explosive chemische Mischung herstellen würde«. B Was kann danach noch kommen? A Nun, zum Beispiel ein Gang ins Innere der Zeit. Eine Pulverisierung der Zeit, Zeitstaub. Etwa so wie in Stockhausens Gruppen für 3 Orchester : Bspl. 4: Stockhausen, Gruppen für 3 Orchester B Sprechen wir also von der Zeit. Von musikalischer Zeit. A Von der Zeit in der Kunst. B Von künstlicher Zeit gar? A Zeitbewusstsein in der Musik, Zeitbewusstsein außerhalb der Musik: ist das überhaupt strikt zu trennen? B Wohl kaum, selbst wenn sich die Korrespondenz zwischen empirischen und ästhetischen Zeitmodellen oft nur verdeckt zu erkennen gibt. Denken wir nur an die Parallele zwischen einer Rationalisierung der Zeit nach dem Takt der Räderuhren und der Verfeinerung der Mensuralnotation, also der rhythmischen Präzisierung und Messung der Musik am Ende des 13. Jahrhunderts. A Außerdem: schon dadurch, dass jedes Komponieren Zeit in Beschlag nimmt, um Töne präsent werden zu lassen, hat Musik sich von vornherein der Zeitrealität und ihrer Grenzgewalt zu stellen, die im Begriff des »tempus«, des »temneïn«, des »Ein- und Abschneidens« anklingt. Bspl. 5: Gregorianischer Gesang (»Surrexit dominus vere«) B Gregorianischer Gesang, Metapher des göttlichen Pneumas. Ein Atemstrom, der um 1200 rigoros einer Kunst der Kombinatorik unterworfen wird. Einer Kunst, die den gregorianischen cantus planus zum cantus mensurabilis rhythmisiert und mit der Rationalisierung der Zeit den Choral zum Material der Mensuralnotation zu profanieren beginnt. Bspl. 6: Perotin, Sederunt principes A Um 1200 also der große Rationalisierungsschub, der zum ersten Mal über die rhythmische Notation Zeit, gemessene Zeit, in die Musik eindringen lässt. Getragen von der frühbürgerlichen Ökonomie und ihren Rationalisierungsprozessen. Ausdruck einer empirischen Verve, die den feudalen Kosmos nach und nach auflöst. B Bereits seit den großen Organa-Kompositionen der Notre-Dame-Schule und ihren Zeit- und Raumfantasien tendiert Musik zu einem durchstrukturierten Ablauf. Eine Tendenz, die bei Guillaume Dufay bereits zu einer homogenen, wenn auch noch keineswegs quasikausalen, gar zielgerichteten musikalischen Zeit führt. Weder wird die Zeit bei Dufay zum beengenden Zeitkorsett noch wirkt ihr Kontinuum wie die schicksalhafte Instanz eines alles unterwerfenden »Triumphs der Zeit«. Vor allem aber kennt Dufays Zeit nicht den Erwartungs- und Erinnerungsdruck des modernen psychologischen Bewusstseins, das nicht auf die Autonomie des Subjekts und schon gar nicht mehr auf göttliche Eingebung setzen kann, ohne vom innerweltlichen Akt der Sinnstiftung befreit zu sein. A Und doch: was musste nicht alles an technischer Raffinesse, an Klangsinnlichkeit, vor allem an Artikulationskraft in der Zeit erfüllt sein, damit Dufay Petrarcas Kanzone Vergene bella dermaßen ausdrucksvoll komponieren konnte? B Und darin vor allem jene Stelle, die von »Amor« als der Muse des Dichters spricht, von Amor, der die Worte des Gedichts inspirieren soll. Dufay ziseliert diese Stelle wie ein sinnliches Siegel, abgesetzt vom ätherischen, immer noch theologisch inspirierten Fließen der musikalischen Zeit und doch zugleich von ihm umgeben. Vergleichbar den Gegenständen auf den Gemälden Jan van Eycks, die zwischen christlicher Symbolik und Diesseitsaura changieren; vergleichbar auch den frühen Porträts des Malers: Konturen eines ersten Ich-Bewusstseins und doch ohne jede Psychologisierung. Bspl. 7: Dufay, Vergene bella A Schon bei Guillaume Dufay also und mehr noch bei Josquin des Prés wird die endgültige Ablösung feudal-zyklischer Zeitmodelle durch linear gewichtete Zeitverläufe hörbar. Welchen Anteil die Entwicklung des neuzeitlichen Affekt-Repertoires an dieser Ablösung hat, zeigt Josquins vierstimmige Chanson Mille regretz . In ihr thematisiert die Klage um eine verlorene Liebe die Zeitspur von Vergänglichkeit, Altern und Tod. Der Wechsel des Deklamationstempos und das Übergewicht der fallenden Bewegung im Sopran unterstreicht den schwermütigen Ausdruck der Chanson ebenso wie die phrygische Tonart den elegischen Duktus des Stücks. B Auffällig ist, wie am Schluss das »brief mes jours deffiner«, die Ahnung vom Ende des Lebens, in expressiver Wortdeutung drei Mal akkordisch hervorgehoben wird: ein melancholisches Todessigel, gesetzt als Noëma, wie die homophone Akzentuierung von Texthöhepunkten seit dem 14. Jahrhundert genannt wird. Im Augenblick der Todesahnung lässt der klagende Gestus die Balance zwischen der polyphonen und homophonen Textur hinter sich, um mit den final kadenzierenden Akkorden des Chanson-Endes zugleich auf das Ende des Lebens anzuspielen. Ein in ruhiger Homophonie komponierter Zielpunkt der melancholischen Spur der Musik. A So wird die Vergänglichkeit der Zeit von der Musik zur Dauer verhalten und in eine final gewichtete Rhetorik des Nachdrucks überführt. Und so arbeiten Affekt und Konstruktion auf dem Weg zum homogenen Satz und zur Eroberung des Klangraums einander zu. Bspl. 8: Josquin Desprez, Mille regretz B Und doch ist Josquins Musik keine des passionierten Ausbruchs, gar der Tragik eines affektiv affizierten Subjekts. Josquin kennt nicht den Gefühls- und Reflexionskult, mit dem das moderne Selbstbewusstsein die Zumutungen der realen Zeit ästhetisch zu bewältigen sucht. Zwar werden die Schlussakkorde der Chanson Mille regretz zur Projektions- und Spiegelfläche einer frühen Ich-Empfindung, die das Netz der polyphonen Maschen abwirft: Dennoch ist diese frühe Individualität frei von der Durchhalte- und Rückvermittlungsinstanz des Ich. Auch wenn sich die Imitationstechnik Josquins und ihr Relationsgeflecht von Gleichheit und Verschiedenheit zunehmend am Bewusstsein der Identität ausrichtet: der Abstand zur dramatisch-psychologischen Musik insbesondere des 19. Jahrhunderts ist enorm. Und damit der Abstand zur Eigenzeit moderner Subjektivität und ihrer strategischen Zeitrhetorik. A Josquins Kombinationskunst kennt kein postulatorisches Über-sich-Hinausweisen wie Beethovens symphonischer Triumph des Willens. Wohl aber die Bedeutung des Jetzt, Gegenwart als Verwandlung im Prinzip der »varietas«. B Und wie das Formgedächtnis in Josquins Musik von keinem Bruch der Zeiten weiß, so weiß es auch von keinem Bruch zwischen der Last der Gegenwart und einer auf sie reagierenden Sehnsucht nach verlorenen oder erhofften Idealen. Seine Musik kennt keine subjektexpressiven Stimmungsgegensätze, die aus der Spannung zwischen Ich und Weltlauf resultieren. A Und keine Psychogrammatik der Affekte wie im Asyl der Moderne des beginnenden 19. Jahrhunderts und ihrem Leitmotiv der Einsamkeit: dem Schritt des Exilierten auf einer Leben aufzehrenden Wanderschaft inmitten einer fremd gewordenen, winterlich erstarrten Welt: »zu Ende mit allen Träumen«. B Es wird also zu überlegen sein, welcher Wandel des Zeitbewusstseins im Verlauf dreier Jahrhunderte dieses ›Ende aller Träume‹ auslösen und der einst so selbstsicheren Physiognomie des Subjekts eingravieren konnte: als Trauma seines Elends. Bspl. 9: Franz Schubert, Winterreise, »Im Dorfe« ​ ​ ​ ​ ​ ​ A Seitdem sich die theologische Weltordnung im Namen einer welthaltigen Erfahrung aufzulösen begann, musste das Schwinden christlicher Offenbarung durch diesseitige Sinnentwürfe beerbt und ausgeglichen werden: Unter Verwandlung der göttlichen Substanz und ihrer Attribute von Allmacht und Allwissenheit zur Idee der Einheit und Autonomie von Person und Gattung samt deren Zeit- und Gedächtnisstrategien. B Und wie die Festigung einer musikalischen Einheitszeit von Perotin bis Josquin und die Erschließung des Klangraums mit der Entfaltung der neuzeitlichen Affektsprache korrespondieren, so begann sich auch die frühe Imitationstechnik zunehmend am Bewusstsein der Subjektidentität auszurichten: im Wechsel von Gleichheit und Verschiedenheit. Zeit wird zum Bewusstsein, das sich in den Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns entfaltet. A Schon Josquin Desprez’ Kombinationskunst gründet in einer souveränen Regie der Satzkunst, ohne jedoch im Subjektgedanken neuzeitlicher Fasson aufzugehen. Bspl. 1: Josquin Desprez, Missa L’homme armé sexti toni, Agnus Dei B Das dritte Agnus dei aus Josquin Desprez’ Missa L'homme armé sexti toni , 6 stimmig gesetzt, basiert auf einer kontrapunktischen Arbeit höchsten Niveaus. Die Überlagerung thematischer Strukturen kombiniert den Cantus firmus »L'homme armé« nicht nur in seiner originalen und krebsgängigen Gestalt, sondern zudem auch mit kanonischen Formen. A Allerdings unterstützt diese kunstvolle Tektonik in keiner Weise das, was man den Narzissmus des Subjekts nennen könnte. Es finden sich – bis auf wenige Ausnahmen – weder prägnante Motivwiederholungen noch rhythmische Stabilisierungsmuster. Ausschlaggebend ist vielmehr das Prinzip der »Varietas«: eine ständige Verwandlung der musikalischen Sub­stanz und die Tilgung jeglicher Schematik. B Deshalb wohl wird die gleich bleibende Intensität von Josquins Musik über die Jahrhunderte hinweg einem zentralen Zeitmodell der Neuen Musik vergleichbar: Stockhausens Modell der »Momentform« nämlich. Auch Josquins Musik ist eine, A die »sofort intensiv« ist »und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten« sucht. Eine Musik, in der »nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird«, sondern jedes Jetzt »für sich bestehen kann«. B Wie Stockhausens »Momentform« ist auch die Musik Josquins frei vom finalen Stufenschema. Sie ist keine Musik des Aufschubs. Jeder Moment ist in ihr tendenziell gleich nah zum Mittelpunkt. Vergleichbar jenem Welt- und Kosmosmodell, das Nikolaus von Kues um die Mitte des 15. Jahrhunderts in der Idee des »Omnia ubique«, des »Alles ist überall«, formuliert hat. A Vor allem kennt Josquins Musik noch kein subjektstrategisches Außerhalb zur musikalischen Sprache – im Unterschied zu Beethoven, der die musikalische Sprache immer wieder von außen mit einem Repertoire an Eingriffen angreift. Angriffe, um Zeit zu unterwerfen und diese Unterwerfung auch hörbar werden zu lassen. B Dass der als strategisch demonstrierte Umgang mit der Zeit erst relativ spät einsetzt, zeigt die Musik Bachs. Bachs musikalische Rhetorik im Zeitalter des Rationalismus liefert frühe Positionsbestimmungen zur Diesseitsmündigkeit des Subjekts. Und doch zeigt Bachs kompositorische Souveränität, was einer Musik noch an Zeitmodellen möglich ist, die nicht an einer prozesshaften oder ethischen Produktionslogik orientiert ist: nämlich Abweichungen in der Zeit, verstörende Randgänge innerhalb eines engmaschig vernetzten Tonsatzes. A Zumal Bachs Figuren des Abstiegs loten im Zeitalter der Aufklärung das Andere, Dunkle der Vernunft aus: die Brechung der Ratio durch die Asymmetrien der Affekte. Das Ich zeigt sich fasziniert von dem, was schon Leibniz die »dunklen Vorstellungen« nennt; fasziniert vom punktu­ellen Zurücknehmen der Subjektregie, indem es Zeit freilässt. So wie im a-Moll-Präludium BWV 894 , das nach einer dicht gearbeiteten Durchführung unvermittelt und wie selbstvergessen ins virtuose Spiel von Zweiunddrei­ßigstelpassagen ausufert: Bspl. 2: Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894) B Eine ähnlich exzentrische Bahn beschreibt die disproportionale Cembalokadenz im ersten Allegro des Fünften Brandenburgischen Konzerts . Dieser 65 Takte lange solistische, wenn nicht gar solipsistische Parcours der Abschweifung entbindet das Gedächtnis allmählich vom Motivrepertoire des Satzes, um schließlich den geordneten Verlauf zugunsten frei flottierender Passagen zu verlassen: Gegenteil eines kompositorischen Ehrgeizes, der alles an die deduktive Motivkandare nehmen will. Augenblicke eines Diskurses an der Peripherie des Diskurses finden sich durchsetzt mit solchen eines ekstatischen Nachdrucks, in die sich die Kadenz regelrecht verbeißt, bis die Reformulierung der thematischen Substanz dem Gedächtnis wieder Halt gibt und die Rückkehr ins Orchestertutti und zur Ordnung der Sukzession gewährleistet. Bspl. 3: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5, 1. Satz A Übrigens hat schon Bachs frühes g-Moll-Orgel-Präludium mit einer ausladenden Sequenz aus verminderten Septakkorden experimentiert. Mit einer Sequenz, die durch alle zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter abwärts gleitet, bis der rettende Dominant-Orgelpunkt die Gravitationsbewegung abfängt. Auch wenn Anfang und Ende der Sequenzkette sich in der Dominante zum Kreis schließen, erzeugt die Beharrlichkeit dieser harmonischen Expedition eine Art frei laufender Rotation. Unbekümmert um Kategorien wie Eintönigkeit oder Leerlauf. Bspl. 4: Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535) B Ist es anlässlich einer solchen Musik wirklich zu gewagt, von delirierenden Passagen zu sprechen? Sofern man Delirium, der Medizin des 17. Jahrhunderts gemäß, zunächst als einen Begriff der Abweichung versteht, als eine Abweichung von der »lira«, von der Furche, vom gebahnten Weg? Delirium also als ein »de lira ire«, als ein Verlassen der geraden Linie. Auch im g-Moll-Präludium sinkt die Musik ins Ungewisse unterer Regionen ab. Auch hier streift sie die Nähe der Kontemplation zur Melancholie und damit zum Wahnsinn, wie ihn das Jahrhundert der Logik, das siebzehnte, im weitesten Sinn der Symptome zu fassen sucht: als einen Ausfall an Zielgerichtetheit und als einen Koordinationsverlust des Bewusstseins. Selbstverständlich sind Bachs Musik der Abweichung und ihr Zeitmodell keine des Wahnsinns. Wenn aber der Irrsinn, der geplant irrende Sinn der Musik oft genug ohne Erinnerung an den Kontext des Satzes das Bindungsgefüge aufweicht und die Einbildungskraft ins Leere eines freien Spiels laufen lässt, dann reflektiert diese Spur exakt den Zeit- und Erfahrungsschock des neuzeitlichen Subjekts mit seiner wechselhaften Befindlichkeit der Seele. A Zeit, Angst und Tod gehen in der christlichen Tradition eine enge Verbindung ein. Erst mit dem Sündenfall beginnt Geschichte. Zeit und Leben stehen unter dem Urteil des Gerichts. Die vom Tod begrenzte Lebenszeit wird zum Maß der Nutzung nach göttlichen Heilskriterien. Die Aufhebung der Zeit zur Utopie am Ende der Zeiten: erst mit dem Erscheinen des Neuen Jerusalem wird keine Zeit mehr sein. Schließlich dann, im Namen protestantischer Ethik, die Kreuzung religiöser und ökonomischer Interessen. Eine sakral überhöhte Eingewöhnung in praktische Weltbelange, bei der die ästhetische Aufhebung der Zeit allmählich Erlösungscharakter annahm. B Verständlich also, dass im Regelkreis bürgerlicher Kultur vor allem der Musik die Funktion zufiel, Zeit in der Zeit aufzuheben, um die Askese des Lebens wenigstens für Momente im Elysium der Kunst zu erlösen. Und fast scheint es, als ob der real allzu präsente Angstgrund von der Musik nur umso obsessiver übertönt würde. Dass jedoch mit dem Einzug der Transzendenz in die Immanenz der Geschichte der naturwissenschaftlich bestimmten Vernunft die Welt zerbricht, in eine des Geistes und eine der Körper nämlich, wird von nun an zur Wunde des Säkularisierungsprozesses und eines Subjekts der geistsinnlichen Paradoxien. Verspannt zwischen Vernunft und Leidenschaft, zwischen Affekt und Gesetz – und sei es das des Takt und der Uhren. A Monteverdis Lamento della ninfa aus dem Achten Madrigalbuch von 1638 liefert dazu einen hintersinnigen Exkurs: Die Zeit der Emotionen und Affekte trifft sich nicht mit der des Takts und der Uhren. Auch nicht, wenn Körper und Psyche, oder sollte man besser sagen: Körper und Seele, immer rigoroser chronometrisch reglementiert werden. Bereits Monteverdis Aufführungsanweisung macht deutlich, wie wenig sich der Affekt der Klage, mit dem die Nymphe des Lamento den Treuebruch des Geliebten betrauert, mit der Zeitdisziplin des Takts verträgt: B »Die drei Stimmen, die die Klage der Nymphe umrahmen, sind getrennt angegeben, weil sie beim Singen Tempo halten müssen, die drei anderen Stimmen, die leise die Nymphe bedauern, sind in der Partitur untergebracht, damit sie deren Klage folgen können, die sie, dem Gefühl entsprechend und nicht genau im Takt singt.« Bspl. 5: Monteverdi, Lamento della ninfa A »Dem Gefühl entsprechend nicht genau im Takt«, »a tempo del’ affetto del animo«, heißt es bei Monteverdi. Dieser Spannung von Emotion und Konstruktion hatte sich die Musik der nächsten drei Jahrhunderte zu stellen. B Und sie sucht diese Spannung seit etwa 1780 in der Vereinigung von Individual- und Gattungsethos aufzuheben. Seit 1780 etwa, als Musik über das Medium motivisch-thematischer Arbeit das Bündnis von Finalität und Sittlichkeit in Szene zu setzen begann, mit Beethoven als Höhepunkt. So gingen etwa Beethovens Solokonzerte von einem philosophischen Entwurf aus, der das Einzelsubjekt an das Kollektivsubjekt der menschlichen Gattung band. Dieser Entwurf ermöglichte es, die reale Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft in einem hochdramatischen Kräftemessen zwischen Soloinstrument und Orchester auszutragen. Am eindrucksvollsten im Kopfsatz des Fünften Klavierkonzerts mit einem extremen Einsatz an solistischer Energie und einer Patt-Situation der Kontrahenten. Eine musikalische Geschichtslektion sondergleichen: Bspl. 6: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5, 1. Satz ​ A Beethovens Zeitmodell ist indes nur ein fragiler Augenblick – und zwar nicht nur der Musikgeschichte. Schnell schon entzauberten die unberechenbaren Marktdiktate der Konkurrenzökonomie und das Einlösungsdefizit der Französischen Revolution den Gedanken vom ethischen Fortschritt und von einer mündigen Gesellschaft. B Damit aber zerfällt auch die durch Vernunft und Freiheit stabilisierte Dialektik von Zufall und Notwendigkeit: In dem Maß, in dem sich Erfahrung als eine »Sache der Tradition« in ihrer »Struktur verändert«, gewinnt eine vom Schock diktierte Wahrnehmung an Raum. Die Kausal- und Finalketten, das homogene Kontinuum insgesamt beginnt zu zerreißen. Dass jedoch der gesellschaftliche Verlust von Tradition nicht guten Gewissens in der Musik kaschiert werden kann, mindert den Anspruch der Musik, Zeit ungebrochen in der Zeit aufzuheben. A Deshalb auch wird die finale Gewichtung zwischen 1790 und 1830 immer wieder unterminiert – trotz der emanzipatorischen Zeitmodelle und zielgerichteten Wunschproduktionen Beethovens. Momente von Ziellosigkeit, kunstvollem Leerlauf oder in Form flüchtiger Rupturen zäsieren die Werke punktuell; Rupturen wie sie Mozart im Es-Dur-Hornkonzert KV 417 oder im G-Dur-Klavierkonzert KV 453 als subversive Pausen auskomponiert hat. Bspl. 7: Mozart, Es-Dur-Hornkonzert KV 417, Finale + Mozart, G-Dur-Klavierkonzert KV 453, Finale ​ B Überdies wird die musikalische Zeit zunehmend, wenn auch subtil mechanisiert. Indem etwa die Periodensymmetrie der tonalen Syntax Motivwiederholungen von zwei auf drei oder mehr Einheiten erweitert und damit einer rein quantitativen Repetition angenähert wird; so als würde der Artikulationsfluss der Musik plötzlich versiegen. Ein Gestaltungsmittel, mit dem ebenfalls schon Mozart arbeitet: Bspl. 8: Mozart, C-Dur-Klavierkonzert KV 503, 1. Satz A Ein Gestaltungsmittel aber auch, das sich bei Schubert zum Gestus des Stockens an der Grenze einer Gedächtnisstörung wandelt. Eine Paradoxie der frühen Moderne, Zeit musikalisch zu organisieren, ohne sie erneut subjektiver Verfügbarkeit zu unterwerfen. Bspl. 9: Schubert, Klaviersonate B-Dur (D. 960) , 4. Satz B Zuvor hatte schon Haydn den Zeitfluss und den kompositorischen Elan seiner Kompositionen immer wieder kunstvoll gestört. So staut sich das Presto der Symphonie Nr. 100 gegen Ende redundant und läuft auf. Und das innerhalb einer quasi kausalen Progression, bei der sich alle Ereignisse aus dem Vorangegangenen entwickeln sollen: Bestimmt vom Gedanken des in sich geschlossenen, organisch gewachsenen Werks. Für einen Augenblick irritiert Haydns Überlagerung von Kontinuität und Diskontinuität die subjektive Erlebniszeit und mit ihr die Erwartung eines homogenen Verlaufs. Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 100, Finale A Mit dem Bankrott jener transhistorischen Vernunft, in der alle Einzelsubjekte sich bespiegeln können, und mit dem Schwinden eines auf Freiheit gerichteten Ziels der Geschichte bricht eine Kluft auf: die Kluft zwischen dem nüchternen, von der industriellen Ökonomie diktierten Weltgetriebe und dem ins Innere des künstlerischen Subjekts geweiteten Raum der Imagination. So liest man bei Chateaubriand, den Berlioz’ Symphonie fantastique in einer frühen Programmskizze als Kronzeuge anführt: B »Die Fantasie ist reich, überströmend und wunderbar, das Dasein armselig, trocken und entzaubert. Mit vollem Herzen bewohnt man eine leere Welt.« A Wenn Berlioz das thematische Subjekt der Symphonie fantastique als »idée fixe« drapiert und Büchner über das Phänomen der »fixen Idee« die Autonomie des Subjekts demontiert, dann belegen solche der Pathologie entlehnten Begriffe neben den Veränderungen der Zeit- und Gedächtnisstruktur auch das Ende kollektiv tragfähiger Ideale. Gattungsbonus, Weltgeist und personale Autonomie entzaubern sich angesichts des »grässlichen Fatalismus der Geschichte«. B Auch Berlioz’ Symphonie fantastique realisiert einen Zeitentwurf, bei dem das Ich weniger in der Geschichte ist als die Geschichte im Ich, und dies noch dazu in der privaten Form von Geschichten. Beispielsweise derjenigen vom Künstler-Helden dieses symphonischen Romans, der nach der Ermordung seiner Geliebten die eigene Hinrichtung halluziniert. A »Marche au supplice«, »Marsch zum Richtplatz«, überschreibt Berlioz den vierten Satz der Symphonie fantastique , komponiert knapp drei Jahre nach Beethovens Tod. Unbekümmert um die Einheit von Finalität und Sittlichkeit unterbricht das Drama dieses Marsches kolportagehaft eine der Masken der »idée fixe«, die das Werk als thematisches Symptom und Klangsymbol der Geliebten durchzieht. Wenn sich das Ende des Satzes szenisch schürzt, klingt das erotische Symbol nochmals »dolce assai e appassionato« in der Klarinette auf, bevor der Schlag der Exekution den Gedanken durchtrennt. B Hier wird ein Schock komponiert. Und Schocks sind es überwiegend, die die erotische Passion der »Fantastischen Symphonie« austeilt, um das Zeitgedächtnis der musikalischen Logik mit Leidenschaft und wahnhaftem Traum zu durchsetzen. Eine Musik, die trägt und zugleich heteronome Gewalt ausübt: Dem Wunsch- und Wahnbild entsprechend, das aus dem Konflikt des Künstlers mit der ambivalent besetzten Erscheinung der Menge, der Masse resultiert. Und bei all dem keine Spur mehr vom humanen Diktum des »Alle Menschen werden Brüder«. Bspl. 11: Berlioz, Symphonie fantastique, 4. Satz A Einsamkeit wird zu einem Leitmotiv im Asyl der Moderne; mit der Folge, dass sich das musikalische Kontinuum in die prozesshafte Zeit des Weltlaufs und in die Eigenzeit des Ich-Refugiums zu spalten beginnt. Dass die kollektive Verbindlichkeit des Marsches in den vereinzelt einsamen Schritt des Wanderers umschlägt, ist eine der Spuren dieser Spaltung. B Beethovens politische Konzeption der Neunten Symphonie bleibt noch der in jeder Person gründenden Idee der Menschheit verpflichtet. Zeit wird hier zum Feuer der Transformation. Noch einmal wird der Geist republikanischer Ideale beschworen, um der von Unmündigkeit, Zwang und Verhärtung bestimmten Ära Metternich die Koordinaten von Vernunft und Freiheit einzuziehen. Zumal das Ende des ersten Satzes betont die Kraft der Solidarität gegen die Ohnmacht privatisierten Schmerzes: Im Sinnbild gemeinsamen Schreitens, zunächst im Charakter eines Kondukts, der sich wenig später zu einer heroischen Musik der Verwandlung steigert – vom Pathos des Leidens zum Ethos der Unbeugsamkeit. Bspl. 12: Beethoven, Neunte Symphonie, 1. Satz A Doch schon bei Schubert verlagern sich die kollektive Marschcharaktere als Zeitbühne der Gattung in die Binnenzeit des Ich-Refugiums. Und zwar keineswegs nur in kammermusikalischen Kompositionen. Große Teile des »Andante con moto« der späten C-Dur-Symphonie etwa weisen mit ihrer Moll-Tonalität und den bei geradtaktigem Metrum durchlaufenden Achteln »in gehender Bewegung« dieselben Merkmale auf wie jenes Lied, mit dem die Irrfahrt der Winterreise ihren Anfang nimmt. Deutlich lässt der orchestrale Satz in seinen wie verkleinert in Holzbläser- und Streicherfiguren widerhallenden und nachbebenden Fanfaren und Trommelwirbeln den Einzug der Marschintonation ins Innere des kompositorischen Subjekts vernehmen. Und mit ihr den Schritt des Exilierten – »zu Ende mit allen Träumen« – am Beginn einer Leben aufzehrenden Wanderschaft durch winterlich erstarrte Welten. Bpl. 13 + 14: Schubert, 9. Symphonie, 2. Satz + Schubert, Winterreise, »Gute Nacht« , 1. Strophe B Während noch für Hegel »die Gegenwart das Höchste« ist, differenzieren sich der Musik schon im Spätwerk Beethovens die inneren Zeitschichten der Werke zum Bruch zwischen der prosaischen Realität und dem ästhetisch kaum noch realisierbaren Anspruch ihrer Überschreitung. Der Erschwerung, ja Verunmöglichung von Überwindungs- und Jubelemphasen im Plan einer Finalität, die die Zukunft geschichtsmächtig auf Gegenwart verpflichtet, korrespondiert zunehmend das Auskomponieren von Erinnerung. Erinnerung wird als eine Reflexionsform der Zeit bewusst, sobald Zukunftsentwürfe verwehrt bleiben. Vergangenheit wird zur Gegenwart zitiert, während Zukunft sich zumeist nur noch im Rückgriff auf Vergangenes verschlüsseln kann. A Ein spätes Beispiel für diese Differenzierung der inneren Zeitschichten findet sich im dritten Satz aus Gustav Mahlers Erster Symphonie , einem Satz, der rhapsodisch um den »wie eine Volksweise« zitierten Schluss der Lieder eines fahrenden Gesellen kreist. »War alles, alles wieder gut!« lauten die letzten Worte dieses Liederzyklus, der das Verlangen nach Heilung des Risses zwischen Außen und Innen, zwischen »Welt und Traum« zu einer Erinnerung verdichtet, die Vergangenes und Zukünftiges verschränkt: eben zur Sehnsucht des »War alles, alles wieder gut!«. B Auch wenn der Gesang nicht zur symphonischen Fassung assoziiert würde, ließe sich der wehmütigen Episode der Ausdruck von Reminiszenz anhören. Vor allem aufgrund des klagenden Tonfalls im mollgetrübten G-Dur und eines Gestaltungsmittels, das seit Schubert Bedeutung gewann: das der Schichtung zweier Zeitebenen. Hier der Überlagerung des somatischen Impulses – das heißt der als gegenwärtig vorgestellten, solitär gebrochenen Bewegung des Marschierens – mit der Liedmelodik als der Klangspur der Erinnerung. Dass aber der Modus des Liedzitats als Ein- und Überblendung aufzufassen ist, macht die synkopisch gestaute Schnittstelle und ihre später zur Achtelfiguration gewandelte Triolennotierung beim Übergang vom Moll der Marschsektion zum Dur der Liedepisode deutlich. Die pendelnde Marschbewegung im Wandererrhythmus, die den Satz meist in den Pauken und Bässen durchzieht, tritt in den Hintergrund. Im Klang der Harfe leicht instrumentiert und umspielt, lässt die Kantilene den Schritt unter sich, der sich zum Pulsschlag sublimiert und damit zur Metapher für den Einzug des Raums ins Innere der Vorstellung, gleich der Bühne eines Tagtraums. Bspl. 15: Mahler, 1. Symphonie, 3. Satz , A Schließlich dann in Anton von Weberns viertem der Orchesterstücke opus 6 von 1910 eine radikale Wendung im Entwurf musikalischer Zeit. Ursprünglich »Marcia funebre« überschrieben, gerinnt der körperliche Impuls im Negativ skelettierter Marschkonturen. Webern strukturiert ein Protokoll objektivierter Angst ohne funktionsharmonische Vernetzung. Schon der Beginn im Pianissimo possibile – wie ein aus weiter Ferne widerhallendes Dröhnen – entzieht dem Hörer den Boden der Sicherheit. Tam-Tam und tiefes Glockengeläute, kaum hörbar und »von unbestimmter Tonhöhe«, desgleichen der Flatterzungeneffekt der Flöten und die gedämpften Blechbläser mit dem Timbre des erstickten Klangs skizzieren ein Stenogramm der Gefahr. Verstärkt durch das über weite Strecken durchgehaltene Spannungstremolo der kleinen Trommel, vergleichbar der »Erregungssumme« beim »Auftreten eines traumatischen Moments«, um mit Begriffen der zeitgenössischen Psychoanalyse Freuds zu formulieren. B Entscheidend ist jedoch, dass Webern Mahlers dramaturgische Folge von tragischem Höhepunkt, Zusammenbruchsfeld und Epilog umkehrt. Er lässt den Schrecken des Ungeheuren von außen in das ästhetische Gebilde einfallen, um die Musik zum Vorspiel einer real drohenden Katastrophe zu wenden. Wenn sich am Schluss der tosende Überhang des fortissimo anschwellenden Schlagwerks bis zur Unerträglichkeit steigert, mündet die Gewalt des Crescendos in den Sog des Entsetzens. Keine autonome, aus sich gesetzte Sukzession mehr, lädt die Komposition unter dem Bann drohenden Unheils ein Modell negativ auf, das einst im »Alla marcia« des Finales der Neunten Symphonie die Zeitspur von Weg und Ziel als Fortschritt der Geschichte entwarf. Bspl. 16: Webern, Orchesterstücke opus 6, Nr. 4 B Größer könnte der Kontrast zur Zielgerichtetheit einer symphonischen Verwandlungsmusik nicht sein, deren ethisch inspirierter Finaljubel sich einmal so angehört hatte: Bspl. 17: Beethoven, 5. Symphonie, 4. Satz A Auf solche Spannungen hatte die Musik des 20. Jahrhunderts zu reagieren. Sie konnte Zeit weder zu einem Wunschprinzip der sittlichen Emanzipation und des zivilisatorischen Fortschritts aufladen noch unentwegt das Ende der Geschichte beschwören. B Vielleicht finden die Zeitentwürfe der Neuen Musik ihren stärksten Ausdruck im Konzept der variablen Form, die nicht nur eine einzige Lösung zulässt, sondern verschieden viele, die alle »gleich gültig« sind: Eine Möglichkeit, Zeit gegen ihre Umklammerung gleichsam von außen zu denken, und ein Affront gegen die Vorstellung von der Schicksalsmacht Zeit. A Kehren wir von hier aus nochmals zurück und erinnern wir uns, wie es war, als Puccini noch einmal gerade auf die Schicksalsmacht Zeit und auf die tragische Einheitszeit der Affekte gesetzt hatte. B *)Rom, Glocken, Morgendämmerung: eine Stadt erwacht. {Ohne Ironie:} Mein Gott, wie schön! A Und doch schon zu schön. Eine trügerische Idylle nicht nur im abgründigen Tosca-Szenarium. Eine trügerische Idylle auch vom geschichtlichen Stand der Musik her. B Fast schon unwahr und gerade deshalb vielleicht so verklärt. Bei all ihrem Zauber eine fast sentimental kolorierte Projektionsfläche der musikalischen Zeit und so stimmungsgebannt wie die dem Sog der Affekte ausgesetzten Liebenden. A Ein letzter Traum vom großen Passionato; ein letzter Abschied von der Wunschlandschaft des Belkanto und – mitten im Abschied – ein Aufbruch zu neuen Ufern. B Mag Puccinis Sommermorgen also ruhig auf die Sommernacht des Charles Edward Ives treffen. A Und auf ihr nächtliches Feuerwerk, das in der Zeit die Räumlichkeit der Zeiten freizusetzen beginnt und Musik auf die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen hin öffnet. B Und auf seine Gleichwertigkeit, die den Augenblick als Augenblick ernst nimmt. Gegen seine funktionale Verspannung in die Folgerichtigkeit der Folge. A Und gegen eine Verwechslung von Zeit und Ökonomie. Eine Pluralität der Zeit demnach, die sich dem Zufälligen, Beiläufigen, Gestreuten öffnet→ B ← und dem, was Cage das Bewusstsein der Simultaneität von »Ereignissen« nennt, von denen »jedes seine eigene Zeit hat«, und die ›sich ungehindert als gleichberechtigte Zentren durchdringen‹. Bspl. 18 + 19: Puccini, Tosca, 3. Akt + Ives, The Fourth of July Musikbeispiele (Teil 1) Bspl. 1: Giacomo Puccini, Tosca [CD 2 / Tr. 13, 2´46´´-3´56´´; 4´32´´-5´28´´][2´06´´] (Orchestra dell´Accademia di Santa Cecilia, Maazel) Bspl. 2: Maurice Ravel, L'Heure espagnole [Tr. 1, 0´00´´-2´14´´(ab 1´11´´ausbl.)][2´14´´][Tr. 1, 0´00´´-2´14´´(ab 1´11´´ausbl.)][2´14´´] (Orchestre National de la R.T.F., Maazel) Bspl. 3: Charles Ives, The Fourth of July [Tr. 3, 4´54´´(aufbl.)-6´03´´=Ende][1´09´´] (Chicago Symphony Orchestra, Tilson Thomas) Bspl. 4: Karlheinz Stockhausen, Gruppen für 3 Orchester [Tr. 2, 1´55´´-3´05´´][1´10´´] (Berliner Philharmoniker, Abbado) ​ Bspl. 5: »Surrexit dominus vere« [Tr. 7, 0´00´´-1´34´´][1´34´´] (Capella antiqua München, Ruhland) Bspl. 6: Perotin, Sederunt principes [Tr. 6, 2´56´´-6´30´´ (ab 6´25´´ausbl.)][3´34´´] (Early Music Consort of London, Munrow) Bspl. 7: Guillaume Dufay, Vergene bella [Tr. 10, 0´00´´–1´55´´(zügig ausbl.)] [1´55´´] (Studio der frühen Musik, Binkley) Bspl. 8: Josquin Desprez, Mille regretz [Tr. 8, 0´00´´–2´00´´] [2´00´´] (Hilliard Ensemble) Bspl. 9: Franz Schubert, Winterreise (T. 29 – T. 49) [1´49´´] (Pears, Britten) Musikbeispiele (Teil 2) Bspl. 1: Josquin Desprez, Missa L’homme armé sexti toni [Tr. 6, 3´23´´–6´47´´][3´24´´] (A Sei Voci, Fabre-Garrus) Bspl. 2: Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894) [Tr. 4: 3´52´´ – 4´56´´][1´04´´] (Jaccottet) Bspl. 3: Johann Sebastian Bach, 5. Brandenburgisches Konzert [Tr. 4: 7´51´´–9´43´´][1´52´´] (Musica Antiqua Köln, Goebel) Bspl. 4: Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535) [Tr. 6: 0´59´´–2´18´´][1´19´´] (Stockmeier) Bspl. 5: Claudio Monteverdi, Lamento della ninfa [Tr. 10 (1´27´´) + Tr. 11, 0´00´´–1´59´´] (Tragicomedia, Stubbs) Bspl. 6: Ludwig van Beethoven, Klavierkonzert Nr. 5 [T. 292(aufbl.) – T. 319(ausbl.)] [0´53´´] (Brendel, Wiener Philharmoniker, Rattle) Bspl. 7: Wolfgang Amadeus Mozart, Es-Dur-Hornkonzert KV 417 [Tr. 12, ´2´58´´(züg. aufbl.)–3´11´´ (züg. ausbl.)][0´13´´] [T. 145 (züg. aufbl.) – T. 155 (züg. ausbl.)] (Civil, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Marriner) G-Dur-Klavierkonzert KV 453 [Tr. 6, 4´44´´(züg. aufbl.)–5´05´´] [0´21´´] (T. 160 – T. 170) (Serkin, London Symphony Orchestra, Abbado) Bspl. 8: Wolfgang Amadeus Mozart, C-Dur-Klavierkonzert KV 503 T. 206 (züg. aufbl.)–T. 213 (ab T. 211 ausbl.) [0´18´´] (Brendel, Academy of St. Martin-in-the-Fields, Marriner) Bspl. 9: Franz Schubert, Klaviersonate B-Dur (D. 960) [Tr. 4, 7´38´´-8´08´´] [0´30´´] (T. 490, 2. Viertel, – T. 511) (Brendel) Bspl. 10: Joseph Haydn, Symphonie Nr. 100 [Tr. 8: 4´30´´(zügig aufbl.)–4´45´´(ab 4´40´´ausbl.)][0´16´´][T. 292 (zügig aufbl.)– T. 311(ab T. 304 ausbl.)] (Academy of St. Martin-in-the- Fields, Marriner) Bspl. 11: Berlioz, Symphonie fantastique [Tr. 4, 5´27´´(züg. aufbl.)–7´23´´] [1´56´´] [T. 114(züg. aufbl.) bis zum Ende des Satzes)] (London Classical Players, Norrington) Bspl. 12: Ludwig van Beethoven, 9. Symphonie [Tr. 2, 13´13´´–14´10´´] [0´57´´] (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen) Bspl. 13: Franz Schubert, 9. Symphonie [Tr. 2, 0´00´´–1´48´´ (ab 1´41´´ ausbl.)] [1´48´´][Tr. 2, 0´00´´–1´48´´ (ab 1´41´´ ausbl.)] [1´48´´] (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen) Bspl. 14: Franz Schubert, Winterreise [Tr. 1, 0´00´´–1´20´´(ab 1´16´´ ausbl.)] [1´20´´] (Haefliger, Okada) Bspl. 15: Gustav Mahler, 1. Symphonie [T. 70 (zügig aufbl.) – T. 117 (ab T. 115 ausbl.)] [3´09´´] (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen) ​ Bspl. 16: Anton von Webern, Orchesterstücke opus 6 [T. 27 (aufbl.) – T. 40] [1´40´´] (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen) ​ Bspl. 17: Ludwig van Beethoven, 5. Symphonie [Tr. 4, 9´37´´(aufbl.) – 10´47´´] [1´10´´] (SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Gielen) Bspl. 18: Giacomo Puccini, Tosca [CD 2 / Tr. 13, 3´44´´(aufbl.)-5´28´´][1´44´´] (Orchestra dell´Accademia di Santa Cecilia, Maazel) Bspl. 19: Charles Ives, The Fourth of July [Tr. 3, 5´32´´-6´03´´=Ende][0´31´´] (Chicago Symphony Orchestra, Tilson Thomas) ​ ​ Zur Phänomenologie der musikalischen Zeit (2) Präsenz und Prozess

 Johannes Bauer     Philosophie / Musikästhetik / Malerei                                                                                                                        © Johannes Bauer 2017 - Impressum /  Datenschutz  

bottom of page