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  • Johannes Bauer, Zeitstrukturen Neuer Musik

    Zeitstruktur und Zeiterfahrung in der Neuen Musik Ständig gleich gegenwärtig ​Paris 1913: Uraufführung von Debussys Jeux ; Erstauflage von Prousts Du côté de chez Swann . Neue Zeit- und Wahrnehmungsmodelle in beiden Werken. Prousts poetische ›Deformation der Zeit‹, vom Autor der Recherche selbst einmal mit Einsteins Relativitätstheorie verglichen(1), verlangt zum Erfassen der ›Fiktionalität seelischer Ganzheit‹ in den »états successifs« und »moi successifs« etwas anderes als eine ichkonstante Bespiegelungslektüre. Debussys diskretes Kontinuum der Schnittwechsel und perspektivischen Brechung ständig sich ändernder Gestaltvarianten etwas anderes als das de- und rezentrierende Umkreisen des Subjektpols. Gefordert ist die Fähigkeit strukturellen, transsubjektiven Lesens und Hörens. Und wenn thematisches Komponieren auf der linearen Dramaturgie physiognomisch konturierter Motiv-Charaktere basiert, dann zeigt Debussys athematische Konzeption, was für die Zeitstruktur der Neuen Musik entscheidend wird: transversale Bezüge aus verschiedenen, gleichwertigen Zeitlinien, asymptotisch, nicht teleologisch angelegt, orientiert mehr an Symmetriebrechungen als an zielfixierten Verlaufsformen. Der Gedanke von der Musik als einer Zeitkunst ist weit weniger interessant als die Überlegung, was denn aus der Zeit selbst und ihrer Erfahrung geworden sei. Noch bis zu Schönbergs Erwartung war Musik abbildhaft durch die Artikulation einer psychologischen Zeit, die über alle Sprünge und Risse hinweg mit dem Ich-Bewusstsein und seiner Affektbühne kommunizierte. Reguliert von der Mensur des Takts war der Sprachcharakter der Musik die Sonde, um Zeit im Strom der Affekte zu orten; der Pakt zwischen Zeit und Sprache der Garant, der im Wechsel der Affekte Maß hielt. Mag zum vielberedeten Abstraktwerden der musikalischen Zeit, zum Abrücken der Musik vom Abbildprinzip ähnlich den bildenden Künsten auch beitragen, dass Neuer Musik das gleichnishafte Sprechen über die Zeit und deren Fließen kaum noch gerecht wird: Ebenso entscheidend dürfte sein, dass die Abkehr vom Maß affektiver Erlebniszeit die musikalische Zeit in einen Zustand des Maßlosen versetzt. Der Augenblick als Intervall verschwindet in einer entgrenzten Simultanität, die die Einbildungskraft wie in Kants Erhabenem über die Grenzen des mentalen Bindungsvermögens hinausführt. Meint die Rede vom Abstraktwerden der Zeit in der Neuen Musik also womöglich auch, dass die Abkehr vom Tableau der Affekte ein gleich bleibendes Höchstmaß an Intensität in allen Momenten erzeugt? Eine Intensität, deren scheinbare Kontrastlosigkeit mitunter wie zeitleer wirkt? Strukturen, die wie in Stockhausens Momentform »sofort intensiv sind und – ständig gleich gegenwärtig – das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten suchen«? Strukturen, in denen »ein jedes Jetzt (...) für sich bestehen kann«?(2) Erfolgt der Gang der Musik ins Innere der Zeit also um den Preis, dass die Kompositionen zeitlos werden, weil sie sich der Dramaturgie von Erwartung und Erinnerung verweigern? Nun ist Zeitleere im Gegensatz zur Zeitfülle zunächst eine Empfindung des Hörbewusstseins. Auch wenn es absurd wäre, Zeit gegen die Objektivität komponierter Zeitstrukturen auf ein rein subjektives Phänomen zu reduzieren: Dass die rezeptive Einigungskraft bei zeitgenössischen Kompositionen so oft ins Leere läuft, hängt mit der abendländischen Abwertung des passiven, unwillkürlichen Gedächtnisses zum identitätsgefährdenden Kontrollverlust zusammen. Einer Abwertung von der Subjektnorm der aktiven Synthesis her. Ihre Präferenz ist es auch, die an Cages entstrukturierten Strukturen den Verlust eines jeglichen Vorher und Nachher kritisiert. Cages Musik, die die Verwechslung von Zeit und Ökonomie aufheben will, wird zum blinden Spiegel eines Bewusstsein, das den Augenblick nur als die privilegierte Ekstase einer Zeit des Aufschubs denken kann. Was mit dem Ende der teleologischen, theologisch verschatteten Zeit alles an Möglichkeit und Freiheit real wird, wird überhört. Mag Neue Musik gegen die Waage der Syntax auch das Unwägbare der Struktur setzen: Sie ist kein Niemandsland der Zeit. Dazu wird sie erst unter dem Dogma einer subjektzentrierten Ästhetik. Die Sucht jedenfalls, beim Hören von Musik ständig sich selbst zu bespiegeln, wird von zeitgenössischen Kompositionen kaum noch gestillt. Stattdessen geht es um die Verflüssigung eingefahrener Gedächtnismuster und um das Aussetzen eines akkumulativen Zeitbewusstseins, das eng mit dem Eigentumsprinzip verschwistert ist: mit dem Verbuchen von Identität als der Sinnrendite des Sichwiederfindens und der Selbstbestätigung im Bekannten. Das klassische Zeitmodell der tonalen, sprachgestisch fundierten Musik regelt vor allem eines: dass zu jedem Zeitpunkt nicht jede Kombination zwischen Struktur und Zeichen, zwischen dem Gesamtorganismus und den Einzelmomenten möglich ist. Etwa was die harmonische Grammatik anbelangt. Es handelt sich bei dieser Axiomatik um eine Erzeugung von Sinn durch ständige syntaktische Wertungen und um eine Axiomatik, die das Ökonomieprinzip Zeit mit rudimentären logischen Mustern verschränkt. Solche Regelsymmetrien zwischen komponierendem Ich und kompositorischer Substanz lösen sich in der Neuen Musik auf. Zeit spielt in ihr nicht mehr die Rolle einer morphologischen Hebamme, die wie im motivisch-thematischen Diskurs die Einzelmomente effizient ins Licht des Satzorganismus zu ziehen hat. Mit der Neuen Naturwissenschaft teilt Neue Musik den Abschied von intuitiven Zeitvorstellungen wie jener vom augenblickssummierenden, linearen Kontinuum. Relevant wird dagegen die Idee einer nach den Kriterien von Wahrscheinlichkeit und Emergenz ausgefalteten Zeit. Mit unendlichen Zwischenwerten und der Kraft von Randbedingungen, die sich nicht sofort auf Null hin einebnen lassen. Das zeigt sich auch daran, dass avancierte Kompositionen ihrem Zeitverlauf nach nicht mehr formalisierbar sind. Während die dur-moll-tonale Grammatik in einer kompositionstechnischen Metasprache skizziert werden konnte – einer Art algorithmischer Komprimierbarkeit in der Tradition generalbassmäßiger Bezifferung –, sind solche Analyse-Codes bei zeitgenössischen Werken unmöglich geworden. Sie können nicht in einer formelhaften Nomenklatur stenographiert werden. Die Beschreibung des Systems ist das System selbst. Dieses Irreduzible, Nichtberechenbare verweist dem Zeitaspekt nach auf eine Komplexität, die ins Zufällige hinüberspielt. Komplexes wie Zufälliges vom Bewusstsein her verstanden als Zustände der Überdeterminierung: Gemäß jenen Unberechenheitsgraden des Unvorhersehbaren, Nichtvoraushörbaren, bei denen das am sprachgestischen Werk geschulte Gedächtnis aufläuft. Voraushörbarkeit wird zur Wiederholung des Komponierten, ähnlich wie Vorhersagbarkeit bei Phänomenen des deterministischen Chaos zur Wiederholung des Systems. Riskiert man für die Zeitmodelle der Neuen Musik ein gemeinsames Charakteristikum, dann liegt es im Eindringen in zeitliche Mikrostrukturen. So wie die Quantenmechanik die Makro-Ebene der klassischen Physik verließ; so wie in der Kernphysik die einheitsstiftende Wirkung der Schwerkraft ihre Absolutheit eingebüßt hat, so hat sich auch in der Musik des 20. Jahrhunderts jene Universalkonstante relativiert und verfeinert, die die Größen der musikalischen Grammatik auf das Gravitationsgesetz einer einheitlichen Zeit hin ausgerichtet hatte. Newtons »absolute, wahre und mathematische Zeit«, die »gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand« dahinfließt und allen Ereignissen das Maß der Gleichzeitigkeit vorgibt(3), ist ihrem Totalitätsanspruch nach auch ästhetisch längst passee. Deshalb konnte Stockhausen in der Sprache der neuen Physik schließlich von »Mikro- und Makrozeit«, von »Feld« und »Quantelung« sprechen. Und wie die Quantenmechanik den Determinismus zu Gunsten statistischer Modelle aufgab, so orientierte sich auch das Komponieren an »statistischer Formvorstellung«, an den »Graden der Dichte von Tongruppen« etwa.(4) Eine Formvorstellung mit eminenten Auswirkungen auf das Verhältnis von »Struktur und Erlebniszeit«: Wird mit dem Zerfall der Einheitszeit die Struktur variabel und mit der variablen Struktur der Zeitverlauf, verschieben sich die Lesarten der Zeit in Richtung eines Ensembles von Intensitäten, die weniger subjektgesteuert als systemgebunden sind. Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit zu Gunsten verschiedener »Eigenzeiten« außer Kraft setzt; dass die Quantenmechanik mit Wahrscheinlichkeitswerten arbeitet, die strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Umdenken von Phänomenen verlangt, die vormals umstandslos dem durch und durch regellosen Zufall zugeschlagen wurden: All diese Positionen finden ihre ästhetischen Parallelen. Zumal bei Cage. Auch bei ihm bedeutet Gleichzeitigkeit die Zeitgleichheit unterschiedlicher Eigenzeiten: die der jeweiligen Interpreten und Klänge nämlich. Auch in seiner Musik unterbindet die Nichtvoraussagbarkeit jegliches prophetische Hören. Allein schon weil keine Aufführung der anderen gleicht. Und was den Zufall anbelangt: er ist in der Auseinandersetzung mit Cage das Reizthema schlechthin. Generell hält Neue Musik Distanz zu zielgerichteten Formationen, die die Einzelmomente in Funktionsträger einer Idee verwandeln. In ihr spielen Zeitlabyrinthe, Zeitgitter eine Rolle, an denen das hypotaktisch trainierte Hören immer wieder abprallt. Und wie sehr hypotaktische Verfahren mit dem logischen wie ästhetischen Denken abendländischer Vernunft identisch waren, lässt sich am Katalog des »pará« als Differenz zum Hauptstrom der Tradition ablesen. Ob die Rede vom Paradoxen, vom Paralogismus, von der Paranoia oder von der Paralyse ist: Verzeichnet werden Abweichungen, Auflösungen, Vernunftwidrigkeiten. Erst die Moderne kann die psychiatrisierten Para-Aspekte zu tragenden Ausdrucksmitteln emanzipieren: Sei es dass die Parrhesie zu einer Sprache jenseits der Syntax durchbricht, sei es dass die Parataxe Strukturen enthierarchisiert oder Neue Musik, indem sie immer wieder die Allianz zwischen Gedächtnis und Identität aufbricht, Zeit zur Para-Zeit entbindet. Als mit der Entmächtigung der Subjektpotenz die Vorstellung von der absoluten Einheitszeit brüchig wurde, begann sich allmählich auch die Idee von der Schicksalsmacht Zeit zu entzaubern. Gegen deren Formdogmatik setzen die variablen Formen der Neuen Musik die Praxis von »Verantwortung und Freiheit«. Wenn in Mathias Spahlingers 128 erfüllte augenblicke Auswahl und Wiederholung einzelner Momente aus dem Repertoire der 128 losen Partiturblätter den Ausführenden überlassen bleiben, wirkt sich die Entscheidung der Interpreten nicht nur auf den Formverlauf aus: sie wird zum Bestandteil des Werks. Mit dem Resultat je individueller Fassungen, die den Zwang der Zeit und des geschlossenen Werks und damit den einer Kontinuität brechen, die jede andere ausschließt. Die Zeit variabler Formen verhandelt das Verhältnis von Freiheit und Struktur, das Standhalten von Momenten in einer Struktur. Abgesehen davon, dass die Wandelbarkeit variabler Formen zur Anspielung auf die Veränderbarkeit von Ordnungen und Systemen wird, hat diese proteische Vielfalt nichts mehr mit jenem Organismus-Ideal zu tun, in dem jedes Einzelne »seiner Stelle und seiner Funktion nach« unverrückbar durch die »Idee des Ganzen« bestimmt sein soll.(5) Deshalb entgeht dem Vorwurf, die verschieden vielen, gleich gültigen Realisationen variabler Formen wären gleichgültig im Sinn des Beliebigen und Formlosen, dass gerade variable Strukturen es ermöglichen, Zeit gegen die Macht ihrer Umklammerung von außen her zu begreifen. In ihrer Reflexion der Zeit hat Neue Musik Ähnlichkeit mit dem, was die neuere Philosophie als ein Denken nicht nur der Differenz, sondern aus der Differenz bestimmt. Im Bewusstsein dafür, dass sich Töne und Klänge nur durch die Trennung und Unterschiedenheit von allen anderen Tönen und Klängen realisieren können. Durch eine Differenz also, die der Struktur immer schon vorausliegt, ja erst vom Spiel der Differenz in der Struktur erzeugt wird. Niemals direkt greifbar, eher von der Qualität eines mobilen Nullpunkts, dem Nullphonem Jakobsons ähnlich. Dass dieser Abschied vom tragenden Grund eines Wesensprinzips zahlreiche Umwertungen zur Folge hat, liegt auf der Hand. Lange galt Musik als eine hohe Schule der Gedächtniskunst. Mit dem Medium Zeit war ihr das Wechselspiel von Augenblick, Erinnerung, Vergessen und Wiederholung eingeboren. Dass musikalische Zeit dabei um der ästhetischen Stimmigkeit willen auf die empirische Zeit mit Resonanzen und Reflexionen zu antworten hat, heißt für die Neue Musik, sich mit der polyspektralen Wahrnehmung des Ichs und seinen mnemonischen Erosionen auseinander zu setzen. Aber auch mit den daraus resultierenden Entgrenzungen des Bewusstseins. Wenn Tristan Murails Mémoire/Erosion nach wechselseitig sich auslöschenden Rückkopplungen in Verzerrung und Rauschen endet, weitet sich der Aspekt der Störung zugleich auf eine neue Wahrnehmung hin: auf die der Gleichrangigkeit von Rauschen und Signal. Ähnlich der Qualität des »Weißen« bei Mallarmé oder der Stille bei Cage. Von hier aus werden nicht nur Frakturen und Sprünge anders gewertet. Mit dem Rang des Leeren und des Vergessens ändert sich auch der des Bewusstseins. Vergessen gilt nicht mehr als eine kognitive Blindstelle, sondern – wie schon bei Proust – als ein Moment der Regeneration. Galten dem klassischen Zeitmodell Stille und Rauschen als leer und unrein und damit als eine Art Parasitentum am Organismus der Konstruktion, werden in der Neuen Musik oft genug die »blancs« zum Ereignis – gegen das Schwarze von Text und Notation. »Blanc« verstanden als das Weiße, Unbeschriebene, Blanke; als Rauschen, Ausfall und Zero; mit dem verwandten Formenkreis von Schnee und Staub, der in der Neuen Musik so überaus markante Spuren hinterlässt. Eine andere Umwertung betrifft das Phänomen der Komplexität, die nicht mehr ausschließlich als Abbild einer komplexen Welt mit einer hochgerüsteten Faktur der Werke zu verwechseln ist. Die Höherwertung einer an logischer Vielschichtigkeit orientierten musikalischen Zeit- und Ereignisdichte gegenüber einer als Ereignisleere missverstandenen anderen, zweiten Komplexität greift nur noch bedingt. Dass im Vergleich mit Feldman dissonant zerklüftete Bekenntnismusiken wie Selbstläufer einer leeren Subjektdramaturgie wirken, ist eine Konsequenz davon. Überdies sind gerade Feldmans Kompositionen wichtig für eine Karte der Zeitstrukturen Neuer Musik, weil sie mit der Ästhetik der Repräsentation brechen. Sie repräsentieren nichts Vor- oder Nachgeordnetes mehr: weder hierarchische Gefälle wie die von Wesen und Erscheinung noch eine ablösbare Semantik des Sinns. Das Zeitspiel der Wiederholung und der Differenz von Mikrovarianten, die Überlistung des Gedächtnisses gegen seine erkennungsdienstlichen Hörgewohnheiten charakterisiert eine Musik, die komplex ist, eben weil sie die ichgesteuerte Spaltung von Kohärenz und Inkohärenz hinter sich lässt. Gerade das Abrücken von einer Ereignisdichte erster Ordnung kann das Bewusstsein über die Gedächtnisspuren des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns zur Aufmerksamkeit eines mikroakustischen Zeitsensoriums bringen. So in Sven Åke Johanssons Komposition Vom Gleichwertigen und Ungleichwertigem , deren tastend nomadisierender Verlauf um minimale Abweichungen in der Zeit kreist: um das Changieren des vorgeblich Gleichen und damit um die Koordinaten von Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Einzugsbereich von Erwartungshorizonten. Sind nach Kant Zeit und Bewusstsein nicht zu trennen: ihre Fusion differenziert sich gleichwohl historisch aus. Wenn in der Neuen Musik die Filter der Subjektzeit demontiert werden, trifft Musik zwar immer noch auf ein Ich-Bewusstsein, nun allerdings auf eines, das sich weder auf einen wahren Subjekt-Kern noch auf eine vom Wechsel seiner Gedanken und Empfindungen unabhängige Wesenhaftigkeit des Ich berufen kann. Dass sich die Metapher vom Gewebe als eine der häufigsten im Beschreibungsrepertoire der Neuen Musik findet, registriert genau diese Auflösung. Keine Substanz mehr, taucht das Ich effektgleich aus einem sich unentwegt strukturierenden und entstrukturierenden Geflecht von Gedanken und Affekten auf, eine semantische Fraktur im Gefüge von Welt und Sprache. Gegen das Vorurteil, das Fiktionale am Subjekt ernst zu nehmen bedeute einen Verrat am Menschen, und gegen das Vorurteil, Ästhetik wäre umstandslos in Ethik aufzulösen, dürfte heute eine Musik am Puls der Zeit sein, die von Systemzusammenhängen ausgeht. Eine Musik mit Zeitstrukturen, die das Ich als einen Knoten in der Textur des Systems begreifen. Zeitmodelle der Neuen Musik werden demnach zum Prüfstein, bis zu welchen Schichten eine Komposition vordringt. Bleibt sie auf der Ebene der Subjektrhetorik stehen oder legt sie deren Sprachgrund frei. In einer Auseinandersetzung mit der Gattung des Solokonzerts ermöglicht beispielsweise Lachenmanns Ausklang erst auf Grund des Aussetzens der subjektdramatischen Zeit und der affektiven Subjekt-Klischees jene Präsenz der Klänge, die ihre geschichtliche Ladung ernst nimmt. Erst indem die musikalische Zeit nicht zum Generator einer Sinnspur des kompositorischen oder solistischen Subjekts wird, können sich die Mittel differenzieren und das Hörbewusstsein emanzipieren. Anders Rihms Musik für Violine und Orchester, »Gesungene Zeit«. Sie setzt die musikalische Sprache als gegeben voraus. Ihre Rhetorik amalgamiert sich mit einem Zeitverlauf, der die Idee des substanziellen Subjekts nicht aufbricht, sondern über einen Fundus an expressiven Masken lediglich variiert. Organisiert in Lachenmanns Ausklang die Zeit mit einem Abstieg zum Sprachgrund der Musik einen Abstieg zum Artikulationsgrund von Sinn und Subjekt, geht Rihms Zeitentwurf immer schon vom subjektverbürgten Sinn des Ausdrucks aus. In der Gesungenen Zeit getragen vom Melos als der stabilsten Brücke ins Refugium der Innerlichkeit. Dass freilich die Zeitorganisation systemreflexiver Kompositionen den subjektexpressiven Gestus keineswegs eliminieren muss, zeigt Gerald Eckerts Nachtschwebe . Ihre Formulierung fragiler Gleichgewichtszustände lässt die Subjektspur ein, indem sie sie unentwegt ins Schemenhafte verwischt und dekonturiert. Und erst indem die Komposition die Auflösung der einstigen Dreieinigkeit von Subjektspur, Sprachcharakter und Ausdrucksgestus reflektiert, ohne sie subjektnostalgisch auszukosten, gewinnt sie jene diagnostische Schärfe, die den Schatten des Subjekts einer unberechenbaren Systemdynamik aussetzt, ohne ihn endgültig auszulöschen. Zeit bedeutet hier die Zeit offener Systeme. Um offene Systeme, in denen der Mittelpunkt überall und nirgends liegt und in denen Zeit zu einer alles durchdringenden Variablen wird, geht es auch in Stockhausens Komposition Punkte für Orchester von 1952. Einer Urszene der Neuen Musik. »Alles wird Hauptsache, kein Formglied soll über das andere herrschen«. Den Einwand, Strukturen, in denen »alles Hauptsache wird«, würden einem Zustand permanenter Nebensächlichkeit und einer Zeit des Unterschiedslosen verfallen, widerlegt das Werk als formallogische Sprachfalle. Natürlich steuert die Zeitorganisation der Punkte keine automatenhaft unveränderte Dichte, sondern Mikroprozesse der Intensität: die allerdings müssen erst auf ein entsprechend fein geeichtes Sensorium treffen. Für Stockhausen jedenfalls organisiert punktuelle Musik »keine Wiederholung, keine Variation, keine Durchführung, keinen Kontrast. (...) All das ist (...) aufgegeben worden. Unsere Welt – unsere Sprache – unsere Grammatik«.(6) Die Konsequenz dieses Gedankens wird klar, liest man ihn von Nietzsche her: »Ich glaube, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.«(7) Der Abschied vom Prinzipiellen: auch für die Neue Musik ratifiziert er mit der Aufhebung der tonsprachlichen Grammatik die endgültige Säkularisierung, zumal die ihrer letzten heilsgeschichtlich inspirierten finalen Zeitmomente. War der Entwurf von Zeit und Zeiterfahrung seit Descartes an den vom Subjekt gebunden, stellt sich angesichts der Debatten zur Massengesellschaft die Frage, ob sich die Rede von Einzigartigkeit und Autonomie nicht schon von selbst verböte. Auch wenn es absurd wäre, die marionettenhafte Entmündigung des Individuums zu behaupten – Nietzsche sprach bereits vom »Dividuum«: Seine Zersplitterung in einer Welt des Funktionalismus ist unübersehbar. Wer heute das Wort Subjekt oder, eine Etage tiefer, das vom Individuum in den Mund nimmt, muss der Verspannung dieses Subjekts in Funktionen, Rollen, Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Rechnung tragen, die einander nicht nur durchdringen, sondern ihrer Widersprüchlichkeit wegen schizophrene Bewältigungs- und Entlastungsstrategien schon im Alltäglichen verlangen. Ebenso wenig kann musikalische Zeit in einer Welt der Informations- und Kommunikationsnetze jenes zeugenschaftsresistente Kurzzeitgedächtnis ignorieren, in dem Dinge und Zeichen warenästhetisch freigesetzt flottieren. In Gang gehalten von einer elektronischen Simulationsindustrie, die als eine gigantische Maschine der Zeitüberlistung die Rede von Realität und Original fragwürdig werden lässt. Mit dieser Welt der Simulationen und Doubles und ihren Zeitstrukturen setzt sich Nicolaus A. Hubers Orchesterstück To »Marilyn Six Pack« v on 1996 auseinander, im Rekurs auf Warhols Siebdruckserie The Six Marilyns . Huber interessiert an Warhol »die multifokale Bildkomposition«. Und ihn interessieren die »Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden«.(8) Die multimedialen Aufführungsmöglichkeiten der Live-, Filter- und Schleifenversion dieses Klangkosmos ohne Zentrum machen Hubers To »Marilyn Six Pack« zu einem Werk der Poly-Akustik. In ihm sprengen die Serien der Loops, Spiegelungen und Doubles die Ich-Bastion des Hörens, indem sie sich zu einer plissierten Zeit verdichten, die ein tiefengestaffeltes und mehrdimensionales Hören verlangt. Was ist in der Verschränkung von Live-Aufführung und medialer Wiedergabe Original, was Reproduktion? Was in der Vernetzung simultan geschichteter Loops Gegenwart? Nimmt die Wiederholung der Wiederholung so wie in Warhols Serien die Abbilder der Abbilder nicht etwas Trugbildhaftes an, ohne im Trugbildhaften aufzugehen? Allein schon weil Hubers multifokale Musik stets auf das körperpräsente Bewusstsein der Hörer bezogen bleibt? Und weil es ihm auf neue Wahrnehmungsweisen in Analogie und im Widerstand zu den technizistisch normierten einer alltäglichen Lebenspraxis ankommt? Neue Wahrnehmungsweisen, neue Strategien und Listen im Entwerfen von Zeit: das ist es, was Neue Musik, verpflichtet der Philosophie des Odysseus, im Ausharren gegen den gesellschaftlichen Mainstream des Funktionalen und der Verwertbarkeit erreichen und finden will. Und wenn die elliptische Fasson vieler ihrer Zeitmodelle zum Unabschließbaren tendiert, einem Unabschließbaren, das sich in Feldmans Palais de Mari fast metaphysisch zu einer Musik ohne Passepartout auflädt, dann befreit solche Offenheit zuallererst vom Zwang des Absoluten und von der Gewalt der Totale: Im Wissen, dass Mallarmés universaler Würfelwurf nicht einzulösen und die Realisation aller Kombinationen unerreichbar ist. ​ ​ Anmerkungen 1 Marcel Proust, Briefe zum Leben , Frankfurt a. M. 1983, S. 653f. 2 Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Bd. 1, Köln 1963, S. 199. 3 Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre , übers. v. J. Wolfers, Berlin 1872, S. 25. 4 Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Bd. 1, S. 77. 5 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft , § 65. 6 Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Bd. 1, S. 37. 7 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung , KSA VI, S. 78. 8 Nicolaus A. Huber, Durchleuchtungen. Texte zur Musik , Wiesbaden 2000, S. 379. ​ ​ ​

  • Johannes Bauer, Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik

    ​ ​ ​ Das Schöne, das Wahre und der Diskurs der Neuen Musik Helmut Lachenmann: temA für Flöte, Stimme und Violoncello. Eine Musik aus dem Jahr 1968, komponiert am »Leitfaden des Leibes«(1), am Formenkreis des Atems, auf den bereits der anagrammatische Titel des Stücks anspielt. Von ruhiger Atmung über geflüsterte Dialoge bis hin zum ›schreienden Einatmen‹ soll die Sängerin über ein Repertoire ebenso vertrauter wie ausgefallener Vokaltechniken verfügen, einschließlich der Tremolo-Arten Schnarchen und Knattern: Eine Artikulation unablässig komponierter Plötzlichkeiten, die den Seelenton der Stimme auf den Körper hin erden. Gegen die Kontroll- und Purifizierungsmacht des Zivilisationsprozesses und gegen die Normen ästhetischer Sublimierung entdeckt Lachenmann im physischen Material von Stimme und Sprache eine Sprache innerhalb der Sprache. Dem Kruden, Geräuschhaften über eine Anverwandlung der »mechanisch-physikalischen Bedingungen«(2) der Klangerzeugung Gehör zu geben, darauf kommt es an, und damit auf die Befreiung der stimmlichen Partialtriebe. Atmen, röcheln, stöhnen, schreien – nichts wird tabuisiert. Alle expressiven Qualitäten, die bislang gegen den guten Ton der etablierten Musiksphäre verstießen, werden rehabilitiert. Gegenstandslos wird die Unterscheidung zwischen Rohem und Gekochtem, deren kulturgeschichtlicher Wertung zufolge Schnarchgeräusche als animalisch gelten, ruhiges Atmen dagegen als menschlich sublimiert. Lachenmanns musikalische Archäologie des Verfemten nimmt das bislang Knechtische der unteren Produktionssphäre ernst, die der Organe, um den Ton als einen Sonderfall des Geräuschs zu enttarnen. Erfahrbar wird der Zusammenhang zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs. Darin zugleich ein Stück ästhetischer Metaphysikkritik: Sinn ist von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen wie die Botschaft von ihrem Medium. Verabschiedet wird ein Ideal der Läuterung, das sich lange genug hinter austarierten Ordnungen und sauberen Töne verschanzt hatte. Klang verstanden als »Nachricht seiner Hervorbringung«(3) hebt die Hierarchie zwischen Geist und Materie auf und mit ihr das Gefälle zwischen der Idee und dem Botenstoff des Sinnlichen. – Was aber hat Lachenmanns Musik mit Schönheit, mit Wahrheit zu tun? »Der Ruf nach Schönheit heute [...] verdient mehr denn je unser Mißtrauen. Er verrät sich an seinem Geschrei nach ›Natur‹, nach Tonalität, nach dem Positiven, dem ›Konstruktiven‹, nach ›endlich wieder Verständlichkeit‹, er verrät sich an seinen treuherzigen Bruckner, Mahler- und Ravel-Zitaten. Es wird höchste Zeit, daß der Schönheitsbegriff den Spekulationen korrupter Geister entzogen und dafür in eine umfassende Theorie des ästhetischen Denkens und des Komponierens [...] einbezogen wird«. »Er muß vielmehr zum reflektierten Anspruch und zum stets an der Wirklichkeit von neuem geläuterten Leitbild der Komponisten werden, die [...] den Auftrag der Kunst weder in der Flucht vor noch im Kokettieren mit den Widersprüchen sehen, welche doch das Bewußtsein unserer Gesellschaft prägen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihnen und in ihrer dialektischen Bewältigung.«(4) Als Lachenmann 1976 das »Problem des musikalisch Schönen heute« thematisierte, war die Richtung klar. Basiert die Tradition des Schönen zunehmend auf einem Katalog an Verschleierungen, Verboten und Vermeidungen, gewinnt zeitgenössisches Komponieren seine Wahrheit dadurch, daß es Musik gegen die Ausgrenzungsgeschichte und gegen die Verkrustungen des »ästhetischen Apparats«(5) zum sinnlichen, gesellschaftskritisch geschulten Erkenntnismedium befreit. Dabei insistiert Lachenmanns Begriff des »reflektierten Anspruchs« auf dem Aufklärungsprozeß der Musik, auf ihrer Emanzipation von kultischen, religiösen und feudal-repräsentativen Belangen. Daß sich im Zug dieser Autonomisierung das Erkenntnispotential der Musik immer weniger mit einer kontemplativ verfaßten Schönheit verträgt, läßt vor allem das Werkmodell des Organismus als Leitbild des Schönen brüchig werden: die Reflexion gesellschaftlicher Widersprüche zersetzt den Schein des Runden und Ganzen im Namen des Wahrheitsgehalts »zerrütteter« Werke, die als »Gegenstand des Denkens« gesetzt sind und »am Denken selber Anteil« haben.(6) Hat Musik etwas mit Wahrheit zu tun, steht es ihr nicht frei, sich unbekümmert zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten. Unter solchen Oppositionsgeboten haben Schönheit und Wahrheit kaum noch etwas mit dem Kontemplationszauber vergangener Tage zu tun. Daß Schönheit in der abendländischen Tradition als splendor Dei, als Glanz Gottes, als ein Medium der Einheit, der Klarheit und des Wohlproportionierten, schließlich der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit, zwischen Endlichem und Unendlichem ihre Nähe zum Vollkommenen schwerlich verleugnen konnte: all das macht deutlich, wie sehr das Schöne und mit ihm das Häßliche den wahrheitsfundierten Grunddualismus von Gut und Böse beerben. Erst im Lauf der Verfallsgeschichte der Transzendenz und einer weltimmanent prosaischen Reflexion des Schönen emanzipiert sich Kunst von diesem Dualismus. Mit der Konsequenz, daß das, was nach verbreitetem Vorurteil die Szene der Neuen Musik in ein Ghetto des Unzumutbaren mit dem Stigma des Häßlichen verwandelt, in erster Linie auf eine Radikalkur der Entwöhnung zurückzuführen ist: auf eine Entwöhnung von der Ich-Ästhetik der Projektion, schließlich der des leicht Konsumierbaren. Während sich gängige Rezeptionsgewohnheiten an einer Musik mit hohen Wiedererkennungswerten und einer Dauerimmunisierung gegen das Unbekannte ausrichten, verweigert sich zeitgenössisches Komponieren den Spiegelwänden, die das musikalische Subjekt seit gut dreihundert Jahren seiner eigenen affektiven Bestätigung wegen aufgezogen hatte. Während das Häßliche etwas mit Anarchie zu tun hat, mit dem Formlosen und Vieldeutigen, mit archaischen Schrecknissen und Ängsten, mit dem also, was sich dem Integrationsbegehren der Form und der Autonomie des Subjekts zu entziehen droht, lassen sich die Kulturgeschichte der Schönheit und ihr Wahrheitsgrund als Entdämonisierung lesen. Das Schöne als Zähmung des einst Furchtbaren wird zur Befreiung vom Bann des undurchschaut Mythischen. Es ist dieser Kontext, der Nietzsche vom »biologischen Wert des Schönen« reden läßt. Das Schöne »steht [...] innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte des Nützlichen, Wohltätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen, d. h. der Vermehrung von Machtgefühl geben [...]. Hiermit ist das Schöne [...] als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsre untersten Erhaltungswerte«. Das Schöne an sich »existiert so wenig als das Gute, das Wahre«.(7) Weil sich jedoch die Idee der Schönheit aufs Engste mit der Souveränität des Subjekts und dessen Repräsentanz im Formgesetz des Kunstwerks verbunden hatte, mußte das Kolonisierungsunternehmen der Künste gegenläufige Tendenzen erzeugen. Denn je mehr der Formalismus der Form dominiert, umso mehr wird Konstruktion zur leeren Herrschaft über arrangierte Stoffe und Materialien. Die durchgeformte Totalität zeigt totalitäre Züge. Aus diesem Grund hat bereits die Ästhetik des deutschen Idealismus den Formtrieb mit Verhüllungstaktiken zu mildern gesucht: Formgewalt verlangt Verschleierung. Als Vernunftindex der Schönheit hat sie zwar den Stoff zu besiegen, doch muß ‹der Künstler, wenn er seine Hand an die [gestaltlose] Masse legt, um ihr Gewalt anzutun, es vermeiden, diese Gewalt zu zeigen›.(8) Grund und Grundloses Wenn Kants Kritik der reinen Vernunft ihr »Zeitalter« als das »eigentliche« der »Kritik« bezeichnet, »der sich alles unterwerfen muß«(9), spielt sie auf jene Prozesse der Aufklärung und der Selbstreflexion an, die von nun an auch die ästhetische Wahrheit binden. Wirkungen dieser Selbstreflexion zeigen sich in der Auseinandersetzung mit dem »Satz vom Grund«, der als eines der Strukturgesetze neuzeitlicher Theorie und Praxis ein von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit gesteuertes Sinnrepertoire der Wahrheit legitimiert: »Nichts ist ohne Grund«. Ästhetisch manifestiert sich der »Satz vom Grund« im Organismus des Kunstwerks und seiner unveränderlichen Einheit von Teil und Ganzem, schließlich in den verschatteten Konsequenz- und Kausalitätsgeboten mimetischer Logik. So arbeiten die syntaktischen, affektiv gestischen Sprachmodelle der Musik bis hin zur Wiener Schule einem Muster an Wahrheit und Schönheit zu, das am Begründungs- und Bestätigungsverlangen der Identität des Selbstbewußtseins Maß nimmt. In den gesetzten Ordnungen sich selbst wiederzufinden, wird zur Rendite eines Schönheits- und Wahrheitstypus, der in der Einheit des Subjekts verortet ist. Mag auch für Schopenhauer die Erfahrung der Kunst, zumal die der Musik, den »Satz vom Grund« aufheben, wird diese Erfahrung doch durch Werke ausgelöst, die ihrerseits die Spur des »Satzes vom Grund« hörbar machen. Erst über ihre antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Impulse treibt Musik die Auflösung des »Satzes vom Grund« ins Innere ihrer Strukturen. Sind indes Sinn und Wahrheit verschwistert, ändert sich mit einem Komponieren, das die mnemonische Souveränität des Subjekts in Frage stellt, auch die Essenz ästhetischer Wahrheit. Mit der Verweigerung narzißtischer, an der Gefühlsästhetik der Lust orientierter Spiegelungen wird in der Frühzeit der Neuen Musik eine kritische Wahrheitsdoktrin relevant, die die Aura des Schönen und ihre Sicherheit verdächtig werden läßt. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion seriellen Komponierens nochmals eine letzte, extreme Probe auf den »Satz vom Grund« leisten, der Hörerfahrung nach löst sie jeden Begründungszusammenhang ins Grundlose auf: mit der Aufhebung des syntaktischen Sprachgestus wird Musik gegen Kausalitätsverletzungen immun. Statt dessen erzeugt sie eine Maßlosigkeit, die dem Synthesis- und Wahrheitsanspruch des Subjekts zum Abgrund wird. Mit dem Außerkraftsetzen eines an der Gedächtnis- und Gefühlsökonomie des ästhetischen Subjekts orientierten Kunstideals öffnet sich Musik jenen vielberedeten transhumanen Tendenzen, die voreilig mit Inhumanität verwechselt werden(10). Korrespondieren aber Schönheit und Wahrheit, vom Organismus des Werks her gedacht, über die Einheit des Komponierten mit der des Subjekts, muß das Zersetzen des Scheins der Einheit ästhetisches Entsetzen auslösen. Gerade die Geschichte der Neuen Musik legt davon beredtes Zeugnis ab. Zeigt also die mimetisch gedämpfte Gründungs- und Begründungsmacht des »Satzes vom Grund« musikalische Wirkung, solange Komponieren einer sprachgestischen Syntax und damit dem verbunden bleibt, was Nietzsche das Symbolische der Musik nennt, verwischt sich die Grenze zwischen Sinn und Sinnlosigkeit erst mit dem Ende der Korrespondenz zwischen der syntaktischen und syntaxähnlichen Qualität des verbalen und musikalischen Sprachcharakters. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre wechselseitige Allianz auf. Das Zerbrechen der semantischen Analogien zwischen Sprache und Musik erzeugt eine fremde, weil transsubjektive Topik des Sinns, die gemessen am überkommenen syntaktischen Kanon des Sinns sinnlos erscheint. Deshalb auch versucht sich die philosophische Deutungshoheit, deren Grammatik dem Sog des identifizierenden Urteils und damit der Ontologie des Subjekts kaum entgehen kann, immer vergeblicher an Eingemeindungen zeitgenössischen Komponierens in das Traditionsrepertoire des Wahren und Schönen. Etwa wenn sie das am »metaphysischen Sinnverlust«(11) gemessene Sinndefizit Neuer Musik an das Ethos des Wahrheitsgehalts rückbinden will, sofern die »Wahrheit [...] avancierter Musik« eher darin aufgehoben sei, »durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft« zu dementieren, als »von sich aus positiven Sinnes mächtig« zu sein(12). Eine Rückbindungsformulierung, die die Wahrheit des Komponierten gesellschaftskritisch vorentscheidet. Solche Vorentscheidungen verweisen mit ihrer Abstraktionshypothek auf eine Entwertung des Garantiefonds des Wahren und Schönen. Neue Musik wird deshalb zugleich zu einem Aufklärungsprozeß zweiter Ordnung, indem sie das Übergreifen des Erkenntnisregimes der Sprache über die ästhetischen Phänomene bewußt macht. Befreit sich zeitgenössisches Komponieren von der Deutungshoheit der Philosophie, beendet es zugleich die Vernunfthierarchie des Logos gegenüber der sinnlichen Erkenntnis der Aisthesis. Seitdem die Vermittlungsökonomie des Werkbegriffs mit einem Komponieren kollidiert, das subjektcodierte Sinndepots auflöst, hebt sich jenes hermeneutische Gefüge aus Ästhetik, Ethik und Gesellschaftskritik per Gewaltenteilung auf, dessen Vermittlungsdichte einstmals den Wahrheitsgehalt des musikalischen Werks ausmachen sollte. Erst aufgrund dieser Gewaltenteilung als einer zwischen dem Guten, Wahren und Schönen jedoch läßt sich eine der Umwertungen Neuer Musik verstehen: die vom Ästhetischen zum Aisthetischen, vom Logos der Wahrheit zum Sensorium der Wahrnehmung. Feldman oder der »große Maßstab« Was besagt es nun, wenn neuerdings immer öfter von der Schönheit des Feldmanschen Spätwerks die Rede ist?(13) Vom Kanon der Tonalität her bedeutet »schön« die Kraft einer Organisation, die die Einzelheiten des Komponierten innerhalb der Geschlossenheit eines beziehungsreichen, in seiner Folge durchhörbaren Werks miteinander vermittelt, das wie etwas Gewachsenes erscheint; innerhalb eines Werkorganismus also, der sich im Bewahren des unmittelbar Vergangenen und im Vorgriff auf ein perzeptiv schon Erahnbares adäquat rezipieren läßt. Mit dieser Koordinationsregie entspricht das Formgedächtnis des Werks der Synthesis des Selbstbewußtseins, das »aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammen[knüpft]«, die »zwischen Momenten, die sich gegenseitig aufheben müßten, eintritt«. Erst diese Verknüpfungsarbeit macht »Leben und Bewußtsein, und insbesondre das Bewußtsein als eine fortlaufende Zeitreihe möglich«.(14) Einem solchen Werk- und Rezeptionsverständnis kontrastiert Feldmans Musik, indem sie ein Charakteristikum des klassischen Schönheitskanons, das Format des Begrenzten und Faßbaren unterminiert. Statt dessen verflüchtigt sich in Feldmans späten Kompositionen die Wahrnehmung zu einem Nullsummenspiel »verfälschter Assoziationen«. Feldmans Musik versiegelt sich gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses, indem sie das Gedächtnis selbst thematisiert: seine Vernetzungsarbeit, seine Zeitfenster, seine Leerstellen und Ausfälle. Damit sich aber »Form« zum unberechenbaren »großen Maßstab« wandelt, muß das Gedächtnis sich selbst fremd werden. Deshalb deformiert Feldman Form als sicheres Terrain. Sein Spätwerk wird zu einer nomadischen Musik, die anders als gängig proportionierte »Musikformen« das Weiße des Gedächtnisses zirkulieren läßt. Gedächtnis reimt sich bei Feldman auf Genese: Es zehrt sich auf, indem es sich erzeugt. Darin ist Feldmans Musik für das Fassungsvermögen ähnlich überdeterminiert wie diejenige Cages, die uns als eine Entstereotypisierung der Wahrnehmung beim Vergessen helfen soll, um nicht in Standardisierungen zu versinken. Schönheit transformiert sich vom Ästhetischen zum Anästhetischen – gegen den Sog des Gewohnten und gegen den ästhetischen Schein, seit Platon das Fluidum des Schönen. Wenn das Schöne laut Kants Kritik der Urteilskraft das Gemüt in »ruhiger Kontemplation« beläßt(15); wenn bei Schiller der »Spieltrieb« als harmonische Wechselwirkung zwischen Form- und Stofftrieb »Zeit in der Zeit aufzuheben« vermag(16), dann lassen Feldmans überdimensionierte Spätwerke die sinnstiftende Einbildungskraft ins Leere laufen. Im Modulieren von Mikrovarianten verschiebt Feldman Patterns gegen die Tradition des musikalisch Sinns, indem er Musik daran hindert, syntaktisch zu gerinnen. Mit der Folge, daß die Ordnungs- und Ortungsfilter und mit ihnen die Integrationskraft des Gedächtnisses schwinden. Im Bruch mit intuitiven Zeitvorstellungen nähert sich Hören einem ungedeckten Geschehenlassen, statt das Komponierte ständig auf das Einheitsverlangen der »produktiven Einbildungskraft« zu recodieren. Indem Feldman die Theorie ästhetischer Wahrheit zur Praxis der Wahrnehmung versinnlicht, entmystifiziert er die Basis des Schönen wie Joyces Stephen Dädalus, dem es möglich scheint, »die Rechtfertigung für jede Form der Schönheit [...] zu finden«, sofern nur »der Mechanismus der ästhetischen Wahrnehmung untersucht« werde. »Das Wahrnehmungsvermögen muß in Aktion erforscht werden.«(17) Diese Aktion komponiert Feldman aus, wenn er die Differenz zwischen objektiver Zeitstruktur und subjektiver Erlebniszeit auf eine Verstörung konventioneller Rezeptionsmuster hin zuspitzt, auf die Verstörung der Zeit als der inneren Form des Selbstbewußtseins qua Identität. Indem die Selbstreferenz von Feldmans Musik auf keinen ihr vorausliegenden Sinn mehr verweist, indem sie sich von der Sinn- und Affektrhetorik des Subjekts befreit, läßt sie die Empfindungsalternative des Schönen und Häßlichen hinter sich. Feldmans Musik ist eine jenseits gängiger Polarisierungen, die dem Komponisten zufolge als Nötigungen des Entweder/Oder nicht in der Sache, sondern in der europäischen Tradition des Geistes gründen. Feldmans Kunst ist eine jenseits der Scheidung nach Wahrheit und Schein, nach Wesen und Erscheinung, nach Grund und Oberfläche. Gegen die narrative Dramatik setzt sie das Ereignis. Sie dämpft die Sinngier der Sprache – »ich versuche, nichts einen Namen zu geben«(18) – und begegnet dem philosophischen Hunger nach Auslegung mit einem Fasten der Semantik. Weniger noch greift für Feldmans Spätwerk und seine Durchdringung von ›Intimität und großem Maßstab‹(19) die für die Postmoderne unermüdlich bemühte Kategorie des Erhabenen als Ausweg aus der Polarität des Schönen und Häßlichen: eben weil seine Musik des überforderten Fassungsvermögens sich nicht auf »Ideen« der Vernunft und des Sittlichen hin transzendiert, sondern dem an sich selbst irrewerdenden ‹Spiel der Einbildungskraft› als der Idee ihrer Immanenz eingebunden bleibt. Ist diese Immanenz aber nicht gerade der Beweis für eine Schönheit ohne Transzendenz, die deshalb der Tradition nach keine Schönheit mehr ist? Gegen den Transit der Begriffe, als den sich die Geschichte der Philosophie auch verstehen läßt, verwandelt und verdichtet Neue Musik den Kanon des Wahren und Schönen zum Riß des Unverhofften. Zudem gewinnt ein Komponieren der Umwege und Verzögerungen, der leisen Töne und des Ritardandos wie dasjenige Feldmans Qualitäten des Eros, je mehr die Sinne den Verstand verlieren, je mehr sie auf die Instant-Mentalität schneller Befriedigung und Konsumeffizienz trainiert werden. Indem Neue Musik fast durchweg das »Lustprinzip« der »Wiederholung« im »Wiederfinden der Identität«(20) enttäuscht, erinnert ihre Verwandlung sinngarantierender Aha-Erlebnisse in Ereignisse des Unerwarteten an das, was Goethes Tasso unter visuellen Vorzeichen thematisiert: »Wenn ganz was Unerwartetes begegnet, / Wenn unser Blick was Ungeheures sieht, / Steht unser Geist auf eine Weile still, / Wir haben nichts, womit wir das vergleichen.«(21) Ob das Ereignishafte zeitgenössischen Komponierens weiterhin den Gestus des »Un-geheuren« gegen das »Geheure«(22) und den des Entsetzens im Aufheben des »Satzes vom Grund« verfolgt, indem es vom Belagerungszustand einer durchökonomisierten Begründungs- und Berechenbarkeitsmanie entsetzt, oder ob es die Kompetenz der Sinne gegen deren Entsinnlichung im Ohr behält: Längst hat die neuere musikalische Entwicklung gezeigt, daß sie die Entscheidung zwischen einem »bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk« und einer »Entfaltung der Wahrheit«(23) hinter sich lassen kann, ohne deshalb zum belanglosen bricolage zu werden, differenzlos zu dem, was ist. Immer weniger rechtfertigt sich Musik als eine Ethik zweiter Potenz und immer mehr versteinern subjektkanonische Sinnmodelle gegenwärtigem Komponieren zur Mauer hohler Wahrheitsbegriffe. Wahrheit – Wahrscheinlichkeit – Wahrnehmung Über die Trias von Schönheit, Natürlichkeit und Wahrheit hatte das Organismusmodell – gerichtet gegen die Künstlichkeit der Kunst und die Aufdeckung der Genese der Werke – Kunst und Ästhetik metaphysisch codiert: im Zeichen des Vollkommenen. Daß allerdings »das Vollkommene [...] nicht geworden sein [soll]«, entlarvt der Genealoge Nietzsche als »mythologisches« Relikt im Namen genialischer Schöpfungs- und Werkfantasien. Um solche »Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellekts aufzuzeigen«, hat die »Wissenschaft der Kunst« solcher Mythenbildung »auf das bestimmteste zu widersprechen«.(24) Und nicht nur die Wissenschaft der Kunst, sondern die Kunst, die Musik selbst. Die Logik des Komponierten, das seine Notwendigkeit aus Freiheit erzeugt, wird schon in den Ellipsen des beethovenschen Spätwerks als scheinhaft entlarvt. In den Antistrukturen des Unwiederholbaren und des Zufalls Neuer Musik schließlich geht es nicht mehr um die Gedächtnistrassen des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns, sondern um Epiphanie, verstanden als Bruch im Begründungs- und Kausalitätsdenken. Musik entfaltet sich zu einer komplexen und ausschnitthaften Textur, die sich der Stille und dem unmerklichen Auftauchen und Verschwinden von Momenten öffnet. Gegen die Metaphysik der Wahrheit als einer der sinnstiftenden Wiederholung beschreibt die Nicht-Wiederholbarkeit aleatorischer Formen eine rätselhafte Figuration zwischen der Einmaligkeit des Ereignisses und der Serie von Differenzen. In den Streuungen des Wahrscheinlichen zergeht die exklusive Wahrheit vom inneren, die Einheit des Selbstbewußtseins organisierenden Sinn der Zeit. Der Einwand, in eben dieser Dezentrierung als einer der sozialen Tendenz liege die Wahrheit Neuer Musik, betrifft bereits einen Wahrheitsanspruch der soziologischen Metaebene. Das Schöne konnte im Dienst der Selbsterhaltung stehen, weil Künstler, Werke und Rezipienten über die Idee der Autonomie miteinander kommunizierten. Als Organismus nimmt auch das Kunstwerk Subjektqualität an. So wird das Schöne zum bejahenden Selbstgenuß, schließlich zur privatisierten Entlastung auf dem Weg ins Gelobte Land der Innerlichkeit. Als Ausgleich von Spannungen der Aura des Göttlichen nachempfunden, repräsentiert sich die Autarkie des Schönen vornehmlich in den Qualitäten der Kontemplation und des Quietivs. Kunst wird zur »milden Narkose«, zum »Linderungsmittel« inmitten eines »Lebens«, das »zu schwer für uns [ist]«, weil es »zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben« abverlangt.(25) Schon Kants Definition: »schön ist, was ohne Begriff allgemein gefällt«, zielt auf eine Physiognomie des Schönen im Zeichen formaler Zweckmäßigkeit und einer Anpassung an das subjektive Erkenntnisvermögen. Daß diese statische Verfaßtheit mit der Produktionsdynamik der Moderne kollidieren mußte, war abzusehen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts läßt die Macht industrieller wie genealogischer Produktions- und Erkenntnisprozesse transhistorische Ideale wie Wahrheit und Schönheit suspekt werden. Zudem kontrastiert dem Präsenzanspruch des Schönen – der perfekte Werkkosmos kennt keinen imperfekten Zustand, keine Leerstelle, keinen Mangel an Fülle – das nicht Darstellbare, nicht Hörbare, Unrealisierbare Neuer Musik, ihr bewußt Imperfektes also. Vorbei die »schöne organische Innerlichkeit«, in der »jede Schicht signifikant und subjektiv« war.(26) Vorbei aber auch jene Deutungen, die in der Nachfolge Adornos der Neuen Musik allzu lange ein gutes Gewissen verschaffen wollten, indem sie sie zum schlechten Gewissen der Gesellschaft erklärten. Von Daseinsapotheosen und Leidensapologien gleicherweise entfernt verabschiedet sich Musik von der rhetorischen und affektiven Subjektbühne. Wie bei Kafka schweigen während ihrer furchtlos nüchternen Odyssee die Sirenen. Die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Ihre Odyssee ist eine ohne metaphysische Klippen und Strudel im Kurs auf viele Ithakas. Die Spannung zwischen der Verzauberungsinstanz des Schönen und der Entzauberungsinstanz des Wahren, die die Ästhetik der Neuen Musik lange Zeit gesellschaftskritisch vorentschieden hatte, wird hinfällig. Was freilich in einer Musik, die nicht mehr auf das »Entsetzen der Geschichte«(27) oder das »perennierende Leiden«(28) im Bestehenden einzuschwören ist, als subjektferne Kälte empfunden wird, ist keine Kälte der Musik, sondern eine im Empfinden des rezipierenden Bewußtseins, das wie selbstverständlich annimmt, Musik hätte um seiner Selbstbestätigung willen da zu sein. Schönheit und Wahrheit verlieren ihren rhetorischen Habitus, sobald die Sinnmacht des Subjekts in Richtung kompositorischer Denkmodelle überschritten wird, die – ohne zynisch und menschenverachtend zu sein – um eine produktive Leere kreisen. Sie hat Foucault im Anschluß an Heideggers Humanismuskritik »le vide de l´homme disparu« genannt. »In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.(29) Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.« Selbst wenn sich neuerdings eine Musik des Leisen sowie zahlreiche Installationen der Klangkunst wieder einem anthropomorphen Maß nähern, geht es dabei keineswegs um eine Gefühlsästhetik des Schönen. Unbekümmert um geschmackspsychologische »likes and dislikes« weist Musik eher in eine Richtung, die Adorno einmal die »opferlose Nichtidentität des Subjekts« genannt hat(30) und Heidegger die Abkehr vom verfügenden und rechnenden Monopol des »animal rationale«(31). Der Weg von der Begründungsmanie des Serialismus, seinem Kalkül im Triumph der Methode, hin zur Destruktion der Struktur und zur Gelassenheit Cages, schließlich zur bewegten Stasis Feldmans skizzieren eine Karte der Neuen Musik, in der sich Wahrheit in die Phänomene von Wahrscheinlichkeit und Wahrnehmung auflöst. »Auch das Schöne muß sterben«, heißt es in Schillers Nänie . Nur daß sich das Schöne im Untergang in Schneisen des Freien und Offenen verwandelt, die die Ordnung des Realen mit experimenteller Emphase durchqueren. Um die zu Trend und Trott verinnerlichten funktionalen Standards zu irritieren und den Eigensinn der Wahrnehmung auf eine Dissidenz des Bewußtseins hin zu sensibilisieren. Zielt Offenheit darauf, wie routinierten Sinnmustern zu entkommen sei, bedeutet die Verstörung von Sinn-Normen immer auch die von Wahrheits-Normen. Was aus dieser Verstörung wird, muß Neue Musik nicht bekümmern. Sie ist keine praktische Philosophie. Weit eher eine »Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert«(32). Und ein Versuch, die Wahrheit des Schönen im mimetischen Vermögen der Wahrnehmung zu fundieren, so wie das schon vor gut einem halben Jahrhundert Paul Valéry umschrieben hat: »Wenn ich wählen müßte zwischen dem Schicksal eines Menschen, der weiß, wie und warum eine Sache das ist, was man ›schön‹ nennt, und dem Schicksal, zu wissen, was Wahrnehmen ist, ich glaube wohl, ich würde das zweite wählen, mit dem Hintergedanken, daß dieses Wissen [...] mir alle Geheimnisse der Kunst liefern würde.«(33) Anmerkungen 1 Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre , in: Nietzsche, Werke in drei Bänden , hg. v. Karl Schlechta, Bd. 3, München 1969, S. 475. 2 Helmut Lachenmann, Drei Werke und ein Rückblick , in: Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung , Wiesbaden 1996, S. 402. 3 Ebenda 4 Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute , in: Lachenmann, Musik als existentielle Erfahrung , S. 106. 5 Ebenda, S. 107. 6 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 118f. 7 Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre , S. 576. 8 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen , in: Schiller, Sämtliche Werke in fünf Bänden , hg. v. Ger­hard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1980, Bd. 5, S. 578. 9 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft , hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 7. 10 Vgl. dazu Martin Heidegger, Brief über den »Humanismus« , in: Heidegger, Wegmarken , Frankfurt am Main 1967, S. 145ff. 11 Adorno, Ohne Leitbild , in: GS 10,1, S. 449f. 12 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 28. 13 So zum Beispiel Gisela Gronemeyer, die einen Aufsatz zu Feldmans Crippled Symmetry mit dem Titel «Momente von gro­ßer Schönheit» überschreibt [in: MusikTexte 4 (April 1984, S. 5-9)]. 14 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre , Hamburg 1979, S. 124. 15 Kant, Kritik der Urteilskraft , Werke in zwölf Bänden , hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. 10, S. 181f. 16 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen , a. a. O., S. 612f. 17 James Joyce, Stephen der Held , übstzt. v. Klaus Reichert, Frankfurt am Main 1973, S. 225. 18 Morton Feldman, Essays , hg. v. Walter Zimmermann, Kerpen, S. 184. 19 Pie-Slicing and Small Moves. Morton Feldman in Conversation with Stuart Morgan , in: Artscribe, 11, S. 35. 20 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips , in: Freud, Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, Frankfurt/M. 1969 ff., Bd. 3, S. 245. 21 Johann Wolfgang von Goethe, Torquato Tasso , Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden , hg. v. Erich Trunz, Bd. 5, Mün­chen 1977, S. 162. 22 Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes , in: Heidegger, Holzwege , Frankfurt am Main 1980, S. 61. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III , Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970ff., Bd. 15, S. 573. 24 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches , Kritische Studienausgabe in 15 Bänden , hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 2, S. 141. 25 Freud, Das Unbehagen in der Kultur , Studienausgabe Bd. 9, S. 207 u. 212. 26 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Rhizom , Berlin 1977, S. 8. 27 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 125. 28 Adorno, Negative Dialektik, in: GS 6, S. 355. 29 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge , Frankfurt am Main 1971, S. 412. 30 Adorno, Negative Dialektik , in: GS 6, S. 277. 31 Heidegger, Brief über den »Humanismus« , a. a. O., S. 164ff. 32 John Cage, Silence , übstzt. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 54. 33 Paul Valéry, Discours sur l'Esthétique , gehalten auf dem 2. Internationalen Kongreß für Ästhetik und Kunstwissenschaft 1937, in: Valéry, Œuvres, Bd. 1, Paris 1957, S. 1296. ​ ​ Johannes Bauer ​ ​ ​ Jenseits der Normen?

  • Johannes Bauer, Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik

    Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik DeutschlandRadio Berlin 2003 A Wie weit trägt heute noch eine Philosophie der Neuen Musik, die am Subjekt, an Durchgestaltung und Stimmigkeit, am «Ausdruck des Entsetzens» festhält? Zumal in einer Welt der schnelligkeitstrainierten Funktions- und Wahrneh­mungsmuster, der Übermacht von Kurzzeitgedächtnis und elektronischer Zeit­überlistung, der gebrochenen und gleitenden Oberflächenidentitäten? Gilt Adornos Ästhetik in der Auseinandersetzung mit der Kunst ihrer Zeit mittler­weile nicht zu Recht als Denkmal einer normativen Ästhetik? Zu sehr gefan­gen in ihren dogmatischen Fallen, um etwa der Vielfalt zeitgenössischer Musik gerecht zu werden? Einer Vielfalt, der kein Weltgeist mehr souffliert, wie zu komponieren sei? Auch wenn es in der Nachfolge Adornos allzu lange üblich war, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat: Mindestens ebenso lange wird Adornos Rigorosität kritisiert, die vieles aus dem Bereich der Musik des letzten halben Jahrhun­derts vom Ensemble legitimer Ausdrucksformen ausgeschlossen habe. Ein Ausschlussverfahren um den Preis allerdings, dass die künstlerische Praxis unbekümmert um solche ästhetischen Gebote ihren Weg ging. Denn nicht je­der – so der Philosoph Peter Sloterdijk – der außerhalb der «Dissonanzpflicht» gegen «Konsonanztabus» verstoße, muss darum bereits ein «Mitläufer der falschen Totalität» sein. Vom «Verhängnis der Welt» könne man schließlich auf «verschiedene Weise wissen». Und doch war es gerade Adorno, der immer wieder auf den Zeitkern philoso­phischen Denkens verwiesen hat, das eigene nicht ausgenommen. Und damit auf eine Instanz der historischen Ernüchterung, die in den philosophischen Texten ein Gefüge der Spannungen und Widersprüche, der Mehrdeutigkeiten, Überschreibungen und Offenheiten freilegt. Adornos keineswegs doktrinär ge­schlossene Ausführungen zur ästhetischen Konstruktion, zur Unversöhnlich­keit der Kunst oder zum Faktor Subjekt werden in dieser Textur zur kritischen Masse, ja zum Überschreitungspotenzial seiner Philosophie und Ästhetik. Für Adorno ist der Geist einer Komposition von der Schriftlogik der Notation nicht zu trennen: B «Ohne Schrift keine hochorganisierte Musik; der historische Unterschied von Im­provisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen». A Notenschrift, Organisation und Artikulation aber zielen auf Sinn, auf Logik; mö­gen Sinn und Logik sich in der Musik auch mimetisch verwandeln, das heißt auf einer eher intentionalen und äußerst verschatteten Kausalität basieren. Außerdem zielen Sinn und Logik auf das Medium einer qualitativ artikulierten Zeit, von der Adorno die Neue Musik keineswegs entbunden wissen will. B «Das zeitlich Aufeinanderfolgende, das die Sukzessivität verleugnet, sabotiert die Verpflichtung des Werdens, motiviert nicht länger, warum dies auf jenes folge und nicht beliebig anderes. Nichts Musikalisches aber hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes bestimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorher­gehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.» A Natürlich geht dieser Zeitbegriff, gemessen an der Musik der letzten Jahr­zehnte, ins Leere. Kompositionen, die auf den Zufall, auf variable Formen, auf eine akausale Energetik oder auf aktions- und situationsbestimmte Über­schreitungen des Werkbegriffs setzen, fügen sich nicht mehr einer Zeitvor­stellung, die sich letztlich am Urmodell motivisch-thematischer Folgelogik ori­entiert. Bspl. 1: Cornelius Schwehr, Do you know what it means to miss [Tr. 2: 0´00 – 1´39] [1´39] A Immanente Stimmigkeit und qualitative Zeitartikulation: für Adorno bestimmen diese Strukturkomponenten die Qualität einer ‹denkenden Musik›. Einer Mu­sik, komplex und welthaltig, im Widerstand gegen ihre Zeit, von ihr erfüllt und sie zugleich überschreitend. Denkende Musik: für Adorno ist sie die einzige, die ihren Namen verdient. Das «zerrüttete Kunstwerk», das als «Gegenstand des Denkens» gesetzt ist und «am Denken selber Anteil» hat: für Adorno ist es die zentrale ästhetische Reflexionsform der Moderne. Was Adorno jedoch an der Konsistenz und am Denken des musikalischen Werks festhalten lässt, ist seine historisch begründete Angst vor dem Verges­sen. Die Angst, sich dem Geschichtsverlust einer profitversessenen Gesell­schaft der schnellen Zirkulation auszuliefern: Und damit, vom Fokus Auschwitz her, einem drohenden Rückfall in die Barbarei. Dass am Ende gar → B → «Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesell­schaft als irrationale Hypothek liquidiert» wird, dass «die Menschheit sich der Erinnerung entäußert, um kurzatmig in der Anpassung ans je Gegen­wärtige sich zu erschöpfen»: → A ← diese Gefahr ist es, die Kunst zum «Gedächtnis des akkumulierten Lei­dens» werden lässt. Hat Musik etwas mit Erkenntnis, mit Wahrheit zu tun, steht es ihr nicht frei, sich unbekümmert zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten. Was also könnte Adorno von die­sem Anspruch her eine Musik bedeuten, die die Struktur radikal abrüstet? Eine Musik etwa wie John Cages 4´33? Bspl. 2: John Cage, 4´33 [Tr. 4: 0´0 – 0´37] [0´37] A Eine Musik nicht nur im Echoraum der Stille, sondern als Echoraum der Stille: für Adorno wäre sie eine Überläuferin zum «krud Empirischen», eine Regres­sion aufs Vorkünstlerische. Mag man ihr auch eine äußerste Konsequenz im Ablassen von musikalischer Naturbeherrschung zubilligen: Weit mehr gilt Adorno ein solches Konzept von Musik als «amorph». B Musik «opfert(.) Logik und Stimmigkeit und überantwortet(.) sich dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität». A Gegen die Übermacht einer codierten Welt, der alles kommunizierbar, weil kom­merzialisierbar scheint; gegen das Ersticken an Tönen und Signalen, ge­gen die Tätowierungsfunktion der Zeichen und ihre ständige Sinnpräsenz weiße, leere, asignifikante Momente komponieren; Stille, Rauschen, Leerstel­len, Ortlosigkeiten des Bewusstseins: Adorno interpretiert ein solches Aufge­ben von Organisation und Artikulation als Entlastungskategorie des ge­schwächten Ichs im Zeichen seiner Ohnmacht. Trotz aller ästhetischen Diffe­renzierung bleibt Musik für Adorno der Logik des Denkens verschwistert. Ar­beitet hier nicht der Denker gegen den Künstler Adorno? Adorno den Vorwurf zu machen, seine Arbeiten zur Neuen Musik seien mehr über als in den Sachen, klingt ketzerisch. Wer sonst als Adorno hätte sich ein­gehender mit der Abstraktionsgefahr des Begriffs auf ästhetischem Gebiet auseinander gesetzt? Wer sonst – außer Nietzsche – hätte die Gewalt der kompositorischen Konstruktion, wer sonst die theologischen Relikte im Unbe­dingten der Werke unnachgiebiger aufgedeckt und in zahlreichen Einzelanaly­sen thematisiert? Und doch waren für Adorno musikalische Praktiken im Sinn ei­ner Erweiterung und Aufhebung der werkzentrierten Ästhetik ihrerseits Gewalt, voreilige Aufkündigungen eines letzten Rests an Subjekt. Eines letzten Rests wohlgemerkt. Denn für Adorno war klar, B «dass die jüngste Geschichte, die fortschreitende Entmächtigung des einzel­nen Individuums bis zur drohenden Katastrophe des Ganzen, den unmittelba­ren Ausdruck von Subjektivität mit Eitelkeit, mit Scheinhaftem und Ideologi­schem überzogen hat. Das Subjekt (...) hat schließlich selber als ephemer sich entblättert. Während es so tut, als wäre es der Schöpfer der Welt, oder der Weltgrund, ist es, englisch gesagt, fake, bloße Veranstaltung dessen, der sich aufwirft, sich aufspielt, während an ihm real kaum mehr etwas liegt. (...) So wenig Musik, Kunst überhaupt, bar des subjektiven Moments gedacht werden kann – sie muss eben jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und da­mit allemal affirmativen Subjektivität sich entschlagen, die der Expressionis­mus geradewegs von der Neuromantik ererbte». A Und doch: Eben weil sich Adorno über die Zerrüttung und Zersplitterung des Subjekts in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts keine Illusionen ge­macht hat, vollzieht seine Musikphilosophie eine Gratwanderung. Eine Grat­wanderung zwischen dem Zerfall des Subjektmonopols einerseits und der Bewahrung des Subjektmoments andererseits. Subjektmoment verstanden als jene fragile Instanz, die dem «Vorrang des Objekts» in der Struktur des Kunstwerks ‹beisteht›, um das Werk nicht zur «Höllenmaschine» werden zu lassen. Freilich besetzt Adorno das Subjektmoment zuweilen so stark, dass die Idee eines an dieses Moment gebundenen Sprachcharakters der Musik zur Schlüsselfrage in der Auseinandersetzung mit neueren Kompositionen wird. Und zur abwehrenden Gegenantwort auf jene wegweisenden Tendenzen gegenwärtiger Musik, welche die Einheit von Formgedächtnis, Subjektspur und Sprachcharakter überschreiten und hinter sich lassen. Wäre zu zweifeln, dass Adorno das Spätwerk Morton Feldmans als eine Musik am Rand des Verstummens rezipiert hätte – als einen Ausdruck der Ausdruckslosigkeit nach dem Muster Beckett? Bspl. 3: Morton Feldman, String Quartet (II) [Tr. 1, 4´51 – 5´58] [1´07] A Feldmans Streichquartett Nr. 2 : Mit Adorno gehört eine Musik am Rand des Ver­stummens; Ausdruck des Ausdruckslosen. Oder doch nicht? Bewahren wir uns das Gespür für das eingangs erwähnte Überschreitungs­potenzial der Philosophie Adornos. Das Gespür für ein Potenzial, das in den späten Arbeiten Adornos über die Idee der «écriture» und der «Schrift» zur Entfaltung kommt. «Schrift» wird Musik durch den «Verzicht aufs Kommunika­tive». Und selbst wenn Adorno bis zuletzt einer äußersten Durchbildung der Werke das Wort redet: Musik transformiert sich nun zu einer → B ← «veränderten Gestalt des Expressiven», «unabhängig von der signifikati­ven Beziehung auf ein Auszudrückendes» und einem «sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt». Im «Absterben ihrer nachahmenden Momente» bis hin zu denen der «traditionellen Expressivität» wird Musik damit zum ‹Schema› einer «nichtsubjektiven Sprache». A Im «reinen Ausdruck» nähert Musik sich jenem «Unbekannten», durch das sich Adornos Ästhetik für einen Augenblick von der Signatur des «Schmerzes und der Negativität» befreit. Ergibt sich von hier aus nicht eine Perspektive, nach der die hochauflösenden Mikroverfahren Feldmans keineswegs mehr auf einen Horizont des Sprachlosen und Katastrophischen hin zurechtgehört wer­den müssen? Eine Perspektive, weit genug jedenfalls, um neue Wahrneh­mungs- und Erkenntnisebenen zu konturiereren, gerade indem das arbeitende und verarbeitende Bewusstsein an die Grenzen seiner Sicherheit geführt wird; ein Bewusstsein, dem auch ästhetisch ständig zu allem etwas einzufallen hat. War Musik die Jahrhunderte hinweg eine hohe Schule der Gedächtnis­kunst, erkunden die Kompositionen Feldmans auf genuin musikalische Weise, was es mit dem Bewusstseinsapparat selbst auf sich hat: Mit seinem Geflecht aus Erinnern, Vergessen und Wiederholen samt ihren Überschneidungen; mit seiner Begrenztheit, seiner Überschätzung, seiner Jetztzentriertheit, seiner Kraft zur Transformation und seiner Überlagerung von kognitiven und emotio­nalen Spuren. Eine Erkundung frei vom Pathos des Verlusts und unbeküm­mert um den Narzissmus des Publikums. Erst von hier aus und eher peripher, ohne unmittelbare ethische Zuschreibungen, ergeben sich Verweise auf den gesellschaftlichen Kontext: auf die Bahnung des Sinns, seine Normen und de­ren Aufhebung. Man versteht, dass Feldmans Musik «between categories» den Begriff der Form durch den des Maßstabs ersetzt wissen wollte. Erst wenn der metaphysische Überhang der theoretischen Spekulation über die musikalischen Phänomene durchschaut wird; erst wenn durchschaut wird, dass – wie nicht selten bei Adorno – die allzu dichte Engführung von kunst- theoretischen und gesellschaftskritischen Axiomen den Blick für die wegwei­senden Transformationen der Gegenwartsmusik verstellt: Erst dann ist es möglich, die Zeitmodelle der Neuen Musik nicht mehr mit einer irrationalen Feier des Vergessens oder mit dem Gedächtnisverlust eines deformierten Bewusstseins, gar mit Sinnlosigkeit zu verwechseln. Jenseits von Kohärenz und Inkohärenz beginnen Zeit, Form und Identität zu oszillieren. Das Expressivwerden der Struktur in den subtilen Veränderungen der Mikrovarianten, im Spiel von Wiederholung und Differenz; die Überlistung erkennungsdienstlicher Hörgewohnheiten: All dies trägt bei Feldman eben kei­nen negativen, keinen tragischen Akzent. Ist Feldmans Musik also womöglich jene «zeitgenössische Kunst», die Adorno in den Noten zur Literatur mit dem «Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod» charakterisiert hat? Jene subjektlose Kunst, die gleichermaßen B zur «Chiffre von Versöhnung wie von Entsetzen» wird; eine «Kunst ins Unbe­kannte hinein, die einzig noch mögliche, (...) weder heiter noch ernst; das Dritte aber zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben»? A Wie auch immer. Das ‹zugehängte Dritte› jedenfalls hat die jüngere Entwick­lung der Neuen Musik bereits enthüllt. Und ohne sich an Adornos metaphysi­schem Fluchtpunkt des Nichts orientieren zu müssen. Von einer «Reklame fürs Dasein» wie von einer «Überhöhung des Leidens» gleicherweise entfernt, spielt für zeitgenössisches Komponieren die «Alternative von Tragik und Ko­mik» keine Rolle mehr, weil es sich in einer letzten Autonomiebewegung vom Monopol des Subjekts und dessen affektiv-rhetorischer Bühne distanziert hat. Wie in Kafkas Text schweigen während der furchtlos nüchternen Odyssee die­ser Musik die Sirenen – die der Gefahr sowohl wie die der Verführung. Aber nicht in menschenfeindlicher Absicht, sondern mit Kurs auf eine neue Seman­tik der Erfahrung. Frei von einem unentwegt nach Subjektkriterien gemodelten Sinnbegriff und frei vom Anspruch einer Ästhetik, die unter dem Patronat kriti­scher Gesellschaftstheorie nicht anders als ethisch urteilen kann. Feldmans Musik und zahlreiche Kompositionen der letzten drei Jahrzehnte verdeutlichen indes noch etwas anderes: Wie sehr sich nämlich überkommene ästhetische Kategorien in ihr Gegenteil verkehrt haben. Beispielsweise die von Fülle und Radikalität. Mit dem Resultat, dass im Vergleich zu einer Komposi­tion wie Feldmans Zweitem Streichquartett manche dissonant zerklüfteten Be­kenntnismusiken der Gegenwart wie rhetorisch-hohle Selbstläufer klingen. Das allerdings hat auch Adorno unmissverständlich registriert und mit der be­reits er­wähnten Zerrüttung des Subjekts in Zusammenhang gebracht. Vielleicht lässt sich das Verhältnis Adornos zur Musik der Avantgarde am besten mit einem Bild aus der Dialektik der Aufklärung darstellen; mit dem Bild vom «Fühlhorn der Schnecke» als einem «Wahrzeichen der Intelligenz»: Moti­viert von der Bewegung des Sich-Annäherns und Zurückzuckens im Wechsel von Faszination und Irritation. Mag Adorno auch die Grenz- und Randgänge seiner Ästhetik auf das Gravitationszentrum einer Kunst des Subjektingeniums hin ausgerichtet haben; mag für ihn auch das Grauen von NS-Terror und Sta­linismus auf der Basis des «autoritären Charakters» der modernen Massenge­sellschaft zu schwer gewogen haben, um einer «Abdankung» und «Austrei­bung» des «Subjekts» vorschnell beizupflichten: Selbst noch die für Adorno vom «Entsetzen der Geschichte» gezeichnete authentische Physiognomie der Kunst der Gegenwart wird seiner Ästhetik nicht zum unangefochtenen Dogma des Ausdrucks. Dass die Kunstwerke, B «um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, (...) je­nem sich gleichmachen (müssen)»; dass «radikale Kunst heute (...) so viel (heißt) wie finstere, von der Grundfarbe schwarz»:→ A ← selbst noch dieser Kanon der Ästhetischen Theorie provoziert den Ein­wand Adornos. Gibt er doch zu bedenken, B ob in der «Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze (...) mit sich führt», nicht «auch das Gedichtete, Gemalte, Komponierte (verarmt)». A Hier wären wir wieder bei der kritischen Masse, beim Überschreitungspoten­zial von Adornos Ästhetik, der noch das Überschreiten des Gebots der «Klage» und des «Odiums der Entmenschlichung» in der Musik denkbar wird. Eben weil der Druck des universalen Leidens und sein ästhetischer Widerhall auch lähmen kann, ja mit dieser Lähmung dem Verblendungszusammen­hang des Status quo vermutlich sogar noch zuarbeitet. Denn B «nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweif­lung; diese», die absolute Verzweiflung nämlich, «ist vielmehr seine Geschlos­senheit. (...) So sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist: (...) Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich ver­sagt und das sie sich versagen». A Schließlich werden Adorno sogar der ‹Verlust der Identität› und der ‹falsche Reichtum› des Pluralismus zur zweideutigen und damit offenen Perspektive: B «Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren (die Men­schen) die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, dass damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und ei­ner Realität, in der der Bann explodiert. (...) Die totale Vergesellschaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne dass bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.» A Hatte Adorno nicht 1956 an Hans Magnus Enzensberger geschrieben: B «Ich halte mich (...) für alles eher als einen Defaitisten.»? A Möglicherweise hätte Adorno in Kenntnis der neueren und neuesten Ent­wick­lung der Musik noch manche der zugespitzten Aporien seines musikphilo­so­phischen Denkens aufgelöst und das dichte Gefüge aus Ästhetik, Ethik und kritischer Gesellschaftstheorie gelockert. Nicht um in der Routine gängiger Ar­beitsteilung Erfahrung und Erkenntnis zu schwächen, sondern um einer feiner geeichten Einsicht in das Spezifische der Neuen Musik willen: Verpflichtet vor allem ei­nem an der Autonomie des musikalischen Phänomens ausgerichteten ästheti­schen Sensorium und weniger einer primär dem philosophischen Begriff zu­gewandten Exegese. Einmal umschreibt Adorno den emanzipatorischen Fluchtpunkt der Musik als eine B «Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens» in der «Überwindung musikalischer Naturbeherrschung durch deren Vollendung hin­durch». A Ob dieser Utopie nicht eher eine Musik nahe kommt, die sich dem System der Verweisungen entzieht? Und sei es durch ein Äußerstes an Dichte oder Leere? Kein Nullpunkt der Musik zwar, aber ein Unterlaufen des Sinns. Eine Musik zudem, die den philosophischen Hunger nach Deutung, nach musikalischem Sinn dämpft und mit ihm die Sinngier der Sprache. Ordnung und Ortung aufheben. Musikalische Zeit und musikalisches Gedächt­nis in einen Zwischenbereich überführen. Vor allem aber auf das Dogma einer einzig «richtigen» Musik verzichten. Ob Adorno nicht selbst auch noch diese Perspektiven im Blick hatte? Am ehesten spricht dafür jenes Leitmotiv, das in den späten ästhetischen Schriften wie ein theoretisches Mantra wiederkehrt; jenes Leitmotiv, das die «künstlerische Utopie heute» umkreist und als die Notwendigkeit fasst, B «Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind». Bspl. 4: John Duncan, NAV-flex [Tr. 1, 2´00(aufbl.) – 4´20 (ab 4´15´´ausbl.)] [2´20] Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Cornelius Schwehr, Do you know what it means to miss (hat ART 6191) Bspl. 2: John Cage, 4´33 (CRAMPS RECORDS CRS CD 101) Bspl. 3: Morton Feldman, String Quartet (II) (hat[now]ART 4-144) Bspl. 4: John Duncan, NAV-flex (Zeitkratzer 2002 zkr AQ 03) ​

  • Philosophie, Musikästhetik, Malerei: Johannes Bauer, Philosoph, Maler

    Johannes Bauer Philosophie ​ Musikästhetik ​ Malerei © Johannes Bauer, יהי / Jehi (2017), 72,7 x 53 cm, Acryl auf Papier Texte Bilder Reflexionen

  • Johannes Bauer, Lineares und Linearität in der Neuen Musik

    Fäden, Netze, Stoffe Lineares in der Neuen Musik Seitdem Newtons „absolute, wahre und mathematische Zeit“(1) physikalisch von den Eigenzei­ten der Relativitätstheorie durchsiebt ist; seitdem empirisch nahezu jede Alltagser­fahrung in diverse Reiz- und Wahrnehmungsrhythmen zersplittert; seitdem schließlich auch ästhetisch die Geschlossenheit des Komponierten durch variable Formen gesprengt werden kann: seitdem geraten Linearität und Lineares zunehmend in Konkurs. Seit Einsteins Relati­vierungsschock und seit den Wahrscheinlichkeits- und Zufallstendenzen des Quantenkosmos erinnert der Begriff des Linearen zu sehr an Regelwerke des Geraden, an die Direktheit kür­zester Verbindungen, an Geodäten und Euklidische Geometrie, an deduktive Filiationen und zielgerichtete Kausalität. Zumindest was die Dimension der Zeit betrifft, mit der es Kompo­nieren doch vornehmlich zu tun hat. Und nur noch mit Rührung lassen sich in Anbetracht der Fülle neuer musikalischer Zeitmodelle so manche Verbotstafeln zur besten aller möglichen komponierten Zeitstrukturen lesen: „Nichts Musikalisches [...] hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes be­stimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander.“(2) Längst schon zerfasert das seit Jahrhunderten normgebende Fünf-Linien-System abendländischer Musik. Etwa in Cages Entgrenzung der Notation zu einer Schrift zweiter Ordnung, mit einem ersten Höhepunkt in der Solostimme des Concert for Piano and Or­chestra und ihren Drehfiguren horizontaler und vertikaler Beliebigkeit. In solchen Umbrü­chen hochbetagter Schrift- und Zeichenarmaturen werden die Graphismen zum Logbuch eines Experiments, das sich gegen die Sinnraster herkömmlicher Lineaturen richtet. Vor al­lem gegen die Sukzessionslogik des Ersten und Folgenden, des Früheren und Späteren, in der Nietzsche die Regulative einer zeitfixierten Moral erkennt. Selbst wenn wir zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit unterscheiden müssen: Delinea­risierungen solchen Ausmaßes bleiben der Musik und dem ästhetischen Bewusstsein wahr­nehmungssemiotisch alles andere als äußerlich. Linie gestisch Melodische Linien ziehen, Spannungsbögen straffen: beides verweist auf Gestisches. Linien verzweigen sich zu Lineamenten, in deren Konfiguration sich dem Lateinischen das mimi­sche Spiel der Gesichtszüge und ihrer linearen Verwandtschaftsstränge offenbart. „Linea­mentorum qualitas matri ac filio similis”. Wenig verwunderlich also, dass gerade das indivi­duelle Profil der melodischen Linie mit ihrem Filigran aus Mikrokonturen ein subjektiviertes Ich repräsentieren konnte, das als Subjekt musikgeschichtlich früh mit dem Begriff des Themas verwechselbar wurde. Die markante Physiognomie melodischer Linien steht für Identifizierbarkeit und Sicherheit im Akt des Hörens und dessen Selbstvermittlung im musi­kalischen Diskurs. Deshalb wohl sind sich Melodie und Ritornell so überaus nahe: im Ri­torno als Rückkehr und Heimkehr im Wiedererkennen. Melodische Linien gehören zum Repertoire einer Musik der Repräsentation. Dass etwa Wolfgang Rihms Violinkonzert Gesungene Zeit eine Art kontemplativer Gestimmtheit zwischen Versenkungsemphase und Transzendenzverlangen zelebrieren kann, gründet - ab­gesehen von der traditionellen Emotions- und Gestensprache - in der Monoakustik einer Mu­sik, die „immer Gesang“ ist.(3) Der an eine singulare Linie gebundene Bogenverlauf der Kompo­sition sucht den Faden, nicht das Gewebe. Es ist die melodische Silhouette der Ein­zellinie, auf der Rihm auch begrifflich insistiert. So „spricht die Violine ihre Nervenlinie in den Klangraum“. „Die Linie selbst“ jedoch: „ist sie ein Ganzes? Alles ist nur Teil, Segment, Bruchstelle“(4). Was aber könnte in Rihms Konzert die solistische Identität, die durch nichts zu irritieren ist, und mit ihr die Konsistenz des Ichs besser gewährleisten als die Spur der li­nea singularis? Eine lineare Musik solcher Fasson mag zwar von der Geschichte des heroischen Subjekts her und mit rückwärts gewandtem Ohr gegen die zunehmende Entsubjektivierung Widerstand anmelden: Die Belange des Status quo, dessen multiple Zeit- und Funktions­fluktuationen geradezu nach einer kompositorischen Formation und Transformation verlan­gen, bleiben ihr fremd. Anstatt mit der Einsicht in die notwendige Zerfallsgeschichte des Subjekts über das Subjekt-Monopol hinauszudenken, gilt einer Musik der einsamen Linie und ihrem neoexpressionistischen Formenkreis jede emotionsresistent transsubjektive Über­schreitung als antihumanistischer Verrat im Zeichen einer unmenschlich gewordenen Kunst. Und doch interessieren die radikale Neue Musik gerade solche transsubjektiven Erkundun­gen, die das diskret Lineare in die Polyakustik rhizomatischer Gewebe auflösen. Linie vernetzt Auch rhizomatische Kompositionen basieren auf Linearem - allein schon aufgrund der Ge­richtetheit der Zeit -, auf Linearem allerdings im Plural, das seine wie zu Fäden und Ge­spinsten verstofflichten mikrolinearen Klangfasern antilinear verzweigt und verästelt. Ohne jede mittelpunktszentrierte Ordnung verwandelt das Rhizom Strukturgefälle in transversal vernetzte Texturen: dezentriert, variabel, polymorph. Indem das Rhizom „einen beliebigen Punkt mit einem anderen“ verbindet und „jede seiner Linien [...] nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien“ verweist(5), bleibt es an universellen Verknüpfungen interessiert. Unbe­kümmert um Brüche und Widersprüche unterwandert es Territorien und bricht sie auf, indem sein wildwüchsiges Spross- und Wurzelwerk die Details wuchern lässt. Für Pierre Boulez jedenfalls wurde die Methode der „prolifération“ zu einer Leitinstanz der kompositorischen Arbeit.(6) Rhizome, delinearisierte Lineamente. Auch Isabel Mundrys Quartett no one entfaltet Zeit aus den Eigenzeiten der jeweils mit separater Taktierung notierten Streicherstimmen. Ihre asynchronen Einzellinien synchronisieren sich im hochbeweglichen Netz einer Musik der heterogenen Verläufe zu einer mehrdimensionalen Zeitlichkeit im Spannungsraum von Zufall und Ereignis. Polyphonie wird in Mundrys Rhizom à quatre als eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zur Polychronie unterschiedlicher Zeitwahrnehmungen. Ein lineares Geflecht mit „Linien der Artikulation“, mit „Schichten und Territorialitäten“; aber ebenso mit „Bewegungen der Deterritorialisierung und Entschichtung“ einschließlich ihrer ver­schiedenen „Fließgeschwindigkeiten“ von „Verzögerung“, „Überstürzung“ und „Abbruch“.(7) Die Komponistin selbst gebraucht für das Tableau von no one das Bild von vier Reisenden, die auf dem Weg vom Centre Pompidou zum Eiffelturm zwar alle die Seine überqueren, alle durch St. Germain müssen, dazu aber verschiedene Routen und Tempi wählen, sich gele­gentlich treffen, einige Schritte gemeinsam gehen, um sich dann wieder zu trennen. Nicht nur dass hier die Linie über den Begriff der Route bedeutsam wird: indem Mundry zudem auf zentralafrikanische Webmuster als eine der Inspirationsquellen ihres Quartetts verweist, erweitert sich die Etymologie der Linie zu deren ursprünglich stofflicher Basis, von der linea zum linum, vom Leinenfaden zum Gewebe. Gewebe - auch dies ein häufiger Topos in der Exegetik Neuer Musik. Cage greift ihn anlässlich seiner Komposition Sixty-eight mit der Metapher des „audible cloth“ auf. Ohnehin flechten die Klangfadenlinien seiner späten Zahlenstücke die Musik zum „hörbaren Stoff“; organisiert über flexible oder fixe „time brackets“ und einem „brushing in and out“ der Töne in die Zeit und aus der Zeit. Es ist dieses absichtslose Fließen aus Verknüpfungen und Auf­lösungen, das die „Number pieces“ zwischen verschiedenen Dichte- und Transparenzgraden wuchern lässt. Eine akausal energetische Musik ohne jede lineare Zielrichtung, an der das Hörbewusstsein kausaler Sinnbezüge abgleitet. Stattdessen: Zeitlabyrinthe, offen, ausschnitthaft. Ein fraktales Dereglement der Linie zu „linearen Vielheiten mit n Dimensio­nen“(8), abseits einer jeden hierarchisch vorgängigen Einheit. Linie linienlos Gibt es somit heute überhaupt die Möglichkeit, Lineares als Linie ohne nostalgische Rück­bindungen an die Subjektrepräsentanz zu komponieren? Es sind vor allem etliche Werke Morton Feldmans, die auf nahezu rätselhafte Weise hörbar machen, wie Neue Musik, die nicht mehr unerbittlich in Waffen steht, sich dem Rhizom entziehen kann, ohne dem Identi­fikationssog des Melodischen zu erliegen. Indem ihre zeitgedehnten, nicht mehr durchhörba­ren Modulationen von Mikrovarianten das einst auf wenige Takte konzentrierte Subjekt­emblem der Melodie zur transsubjektiven Qualität des Melos weiten, versiegelt sich Feld­mans Musik gegen die Innerlichkeitsform des Gedächtnisses. Mnemonische Ordnungs- und Ortungsfilter, die sich traditionell an der Prägnanz rhythmisch-melodischer Episoden orien­tiert hatten, lösen sich auf. Dabei bindet sich die postheroische Gelassenheit des Langsamen und Leisen in Feldmans „großem Maßstab“ weder an eine hinter dem Komponierten lie­gende Ideal gestalt noch an eine im Komponierten präsente Real gestalt des Melos, weder an ein platonisches Ur-Melos noch an eine hybrid unendliche Melodie im Sinne Wagners. Eher schon ist es die Zeit, die „die Linie und den Zusammenhang her[stellt]. Die Zeit selbst wird zum lyrischen Ton. Es ist, als ob sie eine Melodie singen würde, die gar nicht da ist.“(9) An­statt das Komponierte auf das Sinngebungs- und Einheitsverlangen der kognitiven Regie hin zu hören, ja zu verhören, emanzipiert Feldman die Linie vom Stringenzgebot des Linearen und nähert die ästhetische Wahrnehmung einem ungedeckten Geschehenlassen an. Eine Szenerie des Unwägbaren, die den Erwartungshorizont der Musik unablässig irisieren lässt. Wie Cy Twomblys Malerei lässt auch Morton Feldmans Spätwerk eine Atmosphäre des Mediterranen spüren, eine Art Heiterkeit des Maritimen. In leichten Wellen nur, die ebenso unmerklich wie spurlos verschwinden, kräuselt die Bahn der Töne die Klangfläche. Nach dem Umfahren des Kaps Bojador der Neuen Musik mit all seinen Sirenen des Schre­ckens entdeckt Feldmans Passage von der Schwere zur Schwebe einen helleren Kontinent des Komponierens. Ohne im seichten Gewässer des Trivialen und Belanglosen zu stranden, öffnet sich ein Freiraum des Aufatmens abseits der Unwetter so mancher Katastrophenmu­sik. Musik wird hier nicht auf Linie gebracht. Indem sich ihr Melos synthetisch verweigert und - imaginär eine Linie ohne Linie - syndetisch ins Offene läuft, wandelt sich der Transit der Klänge zu einer bilderlosen Fahrt ins Unbekannte. Sah nicht schon der römische Blick im stofflichen Grund der Linie, im linum, den Umriss des Segels und in ihm den Aufbruch zu neuen Ufern? ​ ​ Anmerkungen ​ 1 Isaac Newton, Mathematische Principien der Naturlehre, übersetzt von Jacob Philip Wolfers, Berlin 1872, S. 25. 2 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle, in: Adorno, GS 16, S. 518. 3 Wolfgang Rihm im Booklet zur Einspielung des Violinkonzerts mit Anne-Sophie Mutter, James Levine und dem Chicago Symphony Orchestra, Deutsche Grammophon 1992. 4 Ebd. 5 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 34. 6 Pierre Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 15 und passim. 7 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom, S. 6. 8 Ebd., S. 34. 9 Brief Morton Feldmans vom 4. 11. 1976 an Samuel Beckett, in: Programmheft Arnold Schönberg, Die glückliche Hand / Morton Feldman, Neither, De Nederlandse Opera, Amsterdam 1991, S. 27. ​ ​

  • Johannes Bauer, Arbeit am Mythos in Liza Lims "Oresteia"

    Und Troja brennt noch immer Arbeit am Mythos in Liza Lims Oresteia Von Johannes Bauer Der Schmerz soll uns an uns erinnern. An ihm werden wir uns später, wenn wir uns wiedertreffen, falls es ein Später gibt, erkennen. Christa Wolf, Kassandra Die Orestie des Aischylos. Ein Stoff aus dem alten Griechenland von vorrangig akademi­schem Interesse? Dass das Drama vom Krieg um Troja, von der Ermordung des Königs Agamemnon, von Orest, dem Muttermörder, und der Seherin Kassandra brisante Urszenen der Menschheitsgeschichte verhandelt, steht für die australische Komponistin Liza Lim außer Zweifel. Gegen die hohe Enteignungsgeschwindigkeit von Erinnerung und Erfahrung erkundet Lims Oresteia von 1993 den Mythos als Abstieg in die Katakomben der Zivilisa­tion.(1) Wie aber gelangt Musik auf den Grund der Kultur? Und was heißt überhaupt Kultur? Was Grund? Dazu Goethe 1781 in einem Brief an Lavater: «Unsere moralische und politi­sche Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer Bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreifli­cher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehört werden.»(2) Dem Blick in die «seltsamen Irr­gänge», «mit welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist», wird eine wundersame Klarsicht zuteil: «Religion, Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche».(3) Darunter als «Grund» schiere Konfusion, so, als wären «nirgends (...) Ordnung und Form das Ursprüngliche», sondern als wäre ein «anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden».(4) Sicher ist nur, um auf den Grund zu kommen, müssen die Deck­steine des ‹moralisch-politischen› Überbaus angehoben werden. Wie sich dieses Anheben in Lims Oresteia anhört, demonstriert bereits ihr Beginn: ein zwischen dreifachem Piano und Mezzopiano gedämpfter Grund aus Stöhnen und Schreien. Ein musikalischer Katafalk von «mysteriösem Timbre», sofern sich dem Verlan­gen nach Berechenbarkeit und Eindeutigkeit die polymorphen Lautvariationen des Atmens, nach Lust oder Qual nicht zu scheiden, ins Unheimliche verlieren: «gasping cries of pleasure/pain – indecipherable sobbing/laughter». Aus dieser Substruktion lösen sich erste Artikulationssplitter, silbische Pulverisierungen in der Dämmerungszone zwischen Laut und Wort: jenes «otototoi popoi da», mit dem Kassandra in die helle Nacht propheti­scher Ekstase gleitet. Dass die Komponistin dieses Stammeln aus der Orestie des Aischy­los übernehmen kann, verbündet neue Musik und antikes Schauspiel im Gespür für das somatische Fluidum der Sprache. War doch der griechischen Tragödie über die Rituale des Totenkults ein breites Repertoire an Verzweiflungsgesten geläufig. Vom Zerreißen der Klei­der über das Zerkratzen des Gesichts und das Ausraufen der Haare bis hin zu Faustschlä­gen auf Brust und Erde, begleitet von Ausbrüchen und Interjektionen des Entsetzens, des Ekels, des Jammers. Die Ausdrucksvielfalt des Atmens plädiert für die Physis, die erdet, was die Idee der Sprache an stofflichen Stimm- und Schriftschlacken allzu schnell zur Reinheit des Begriffs destilliert. «Croaking, choking, sputtering, stuttering, squeezed nasal sounds»: die Atemge­räusche, die Lims Oresteia wie eine Naturmetapher der menschlichen Gattung kontrapunk­tieren und im Puls von Ein- und Ausatmen in das je einzelne Dasein als Lebens- und Todeschiffre hineinreichen, werden als Sprachschatten zu einer mächtigen Schatten­sprache, die mit den Erzählungen um die Belagerung Trojas zugleich die Bastion des okzi­dentalen Rationalismus einkreist. Gegen dessen Mentalreservate macht Lim die Geste­hungskosten der Sublimierung hörbar: Sprache wird auf den Körper hin dekomponiert, um mit der Sprache des Körpers den Körper der Sprache zum Sprechen zu bringen. Tagesrest Kultur Lim setzt auf ein «Theater der Grausamkeit», das die Worte taumeln lässt und Satz und Urteil im verbalen Niemandsland zwischen Schrei und Schweigen zerreibt. Oft treibt der pneumatische Fundus – Hauchen, Wimmern, Röcheln, Stöhnen – irritierende Entgrenzun­gen aus dem Innern der Sprache hervor, nach Luft ringend, stimmlos, gepresst. «Briser le langage pour toucher la vie»(5): Artauds Appell der Überschreitung liefert die Devise auch für das Oresteia -Projekt. Zermürbt es doch die Abstraktionen und Projektionen eines Erkennt­nissensoriums, das syntaxgestützt und wie unter Zwang unentwegt dem Instrumentarium der Kausalität und dem Satz vom Grund zuarbeitet. Formt Sinn sich über die Statuten der Grammatik, dann weitet – der auf Widerspruchsfreiheit konditionierte Verstand würde sa­gen: dann verdunkelt sich die Bedeutung, sobald das logische Gitter des Begriffs bricht. «Stuttering, disintegration of sentence»: Sprache muss von ihrer Sinntaufe erlöst werden, um wieder sprechen zu können. Sie muss, dionysisch gedacht, in ihren Konventionen ster­ben, um neu geboren die Besatzungspräsenz von Regelsätzen zu unterlaufen. Vorbei der Triumph einer vernunftgeleiteten Contenance, die den Schrei des Leidens und der Leiden­schaft lange genug in der Klarheit und Makellosigkeit von Wort und Ton beruhigen konnte. Basieren syntaktische Ausgewogenheit und Konsistenz der musikalischen und verbalen Sprache selbst noch im Lodern der Affekte auf dem Repräsentationscharakter abendländi­scher Kunst, zerfließt mit dessen Niedergang die epische Ordnung aus Erzählung und Ent­wicklung ähnlich der Parataxe der Oresteia in eine Konstellation von Momenten ohne Rang- und Zeitfolge: «Cassandra's Dream Song / Memory spills from the split skulls of Clytemnestra and Agamemnon / Cassandra – The banquet / The furies. The (funeral) procession / Clytemnestra's ghost / Apollo's masque / Athena's trumpet». Es scheint, als wollte Lim zum Schmelzen bringen, was die Funktionalitätsdoktrin der Neuzeit an ästhetischer und kognitiver Sensibilität vereist hat. Dass die normative Logik und die seelenkundliche Rückführung des Unbekannten auf Bekanntes eine Allianz zur Festschreibung des Realitätsprinzips unterhalten, zur Bindung der Abweichung an das Er­klär- und Beweisbare, provozierte Kafkas Satz «Zum letztenmal Psychologie!».(6) Ein Regula­tiv mit Parallelen bei Marinetti, Artaud, Cage oder Heidegger, dem die Psychoana­lyse als Abweg des «vorstellenden Denkens», seiner Sicherungs- und Begründungsmanie und seiner Wissenschaftsgläubigkeit galt. Wie freilich die Fusion von Sinn und Norm – eine Fusion des Willens zur Wahrheit mit dem Willen zur Macht – durch Detonatio­nen der Semantik außer Fassung gerät, zeigt die zweite Episode der Oresteia . Sie besinnt sich auf Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert wurde, um der Flotte der Achäer das Auslaufen nach Troja zu ermöglichen. Wird das Entsetzliche zunächst noch mit militärischem Zweckkalkül ratifiziert – «the war-effort wants it, the war-effort gets it» –, er­hitzt sich die Parole wenig später zur Hysterie einer Propaganda, deren Wortturbulenzen wie von der Furie des Kriegs aufgeputscht wirken. Kurz danach, als ein Herold das ver­brannte Troja heraufbeschwört, läuft die Sentenz vom «empire gone putrid» irre stotternd aus der Bahn. Als wäre schon der Versuch, sich der Ruinen von Trojas «dahingefaultem Reich» in Aussagesätzen zu entsinnen, ein Einverständnis mit dem Horror. Zivilisation reflektiert sich im Mythos als zerstörerisch, weil, modern gesprochen, ihre Schrecken der Lethargie der Erfahrung und der Amnesie des Bewusstseins verfallen. Des­halb setzt Lims «memory theatre» auf die Kraft der Mnemosyne: als Mutter der Musen und der Künste auch die von Poesie und Musik, die nicht vergessen können. Mnemosyne, me­moria, memory tragen die Arche und mit ihr das Archiv eines Gedenkens, das den Weltlauf nach vorn erinnert, vor allem in Kassandras divinatorischer Gabe, der Antike und Gegen­wart über die Wucherungen des Ungeheuren und Monströsen verwechselbar werden. Hat Troja jemals zu brennen aufgehört? Auch durch die Oresteia weist jene Hoheits- und Blut­farbe des Purpurs den Weg, die Klytaimnestra im Agamemnon des Aischylos mit Macht und Untergang besetzt und Lim in den «Carpet»-Sequenzen zu einem Epizentrum des Grauens staut: grundiert vom Pochen und Klopfen der Rototoms, als wäre die Bühne zum Sarko­phag geworden, mit den Akteuren als lebendig Begrabenen, die gegen die Wände ihres Kerkers schlagen. Im Bann der tödlichen Spirale aus Gewalt und Gegengewalt versiegelt sich das Labyrinth der Oresteia mit der Frage, ob das Ereignis Homo sapiens womöglich nichts weiter sei als ein vom animalischen Triebreservoir her sich speisender Maelstrom mehr oder weniger dicht aufeinanderfolgender Gräuel; ein nach Nietzscheanischer Lesart düsterer Alptraum mit dem Tagesrest Kultur. Vergeltungssymmetrien Lim begreift den Mythos nicht als Monolith, sondern als Mosaik, gebrochen durch Ge­schichte: eine Sicht, die die Exzesse der Spezies Mensch ernstnimmt. Zivilisation wird zum Ausnahmezustand, zur anthropologischen Bürde ständiger Überforderungen und Selbst­überforderungen. Weil die Katastrophen des 20. Jahrhunderts trotz oder gerade wegen ih­rer technokratischen Dämonie mit den Erinnyen der Vorzeit in Wechselrede stehen, ist der griechischen Stimme Gewicht beizumessen. Sie wiegt umso schwerer, je mehr der elektro­nische Reproduktions- und Simulationszauber mit dem Entzug von Natur auch den von Welt zu erzeugen droht – bis hinein in das Abstraktwerden des Sozialen, dem Extrem zur hellenischen Polis. Unbekümmert um die Entzauberung des Mythos bekräftigt Lim dessen Aktualität: in den Tableaus der Generations- und Geschlechterspannungen, den Kriegsszenarien, den Strategien der Justiz. Gewiss, der Blutsverband und Mordverbund zwischen Agamemnon, lphigenie, Klytaimnestra und Orest wären nach heutigem Rechtsverständnis nicht justitia­bel: zu sehr entzieht sich das Verhängnis aus Hybris, Ate und Dike, jenen nur unzureichend mit Frevel, Verblendung und Sühne übersetzten Konstanten der attischen Tragödie. Und doch ist diese Ferne zu vernachlässigen, sofern der Konflikt zwischen alten und neuen Göttern, zwischen Gesetz und Wunsch, Sitte und Verstoß, Hemmung und Enthemmung die Stadien von Mythos und Geschichte unter eine gemeinsame Kontinuität zwingt. Hatte nicht schon die Orestie des Aischylos Kritik an der Monokratie des Perikles geübt, schädlich für den Einzelnen wie für das Ganze? Lim passiert die Schächte und Höhlungen des Bewusstseins nicht, um sich am Feuer der Leidenschaft zu wärmen, das verzehrt und schließlich gelöscht werden muss, weil wieder einmal das Drama vom Widerstreit zwischen Geist und Natur aufgeführt wird. Ihre Oresteia ist kein Läuterungsunternehmen als Vollzug ethischer Autonomie. Erst dadurch aber gewinnt die Komposition eine von christlicher Moral freie Nähe zur Antike: als rituelles Theater in einer entritualisierten Öffentlichkeit. Die Passionen zu sublimieren, ohne ihren Aufruhr ein für allemal unterdrücken zu können, beschreibt die Not aller Souveränitätsmuster. Gilt in Monteverdis Orfeo das Gesetz Apollons als eines der Mäßi­gung, das den Wirbel der Emotionen eindämmen soll – mit dem Ertrag der Tugend als einer Mitte zwischen den Extremen des «troppo gioisti» und «troppo piangi»; gilt außerdem, dass sich an den Höhen- und Tiefenkoordinaten der Stufung von Körper, Geist und Seele samt ihren topographischen Referenzen von Unterwelt, Erde und Himmel der Aufstieg in die Re­gionen stoischer Abgeklärtheit ablesen lässt, dann ist Lims Konzeption keine, die die Fahrt ihrer Helden durch die Wirrnis der Sinnlichkeit kartographiert, um in den Phasen von Ver­blendung, Sturz und Selbsterkenntnis das Göttliche zur Erscheinung zu bringen. Nicht mehr der auf sein spirituelles Soll hin gespannte Körper, sondern der in seinem Naturgrund ge­spiegelte Geist knüpft in der Oresteia als Klage und Schrei, als Stöhnen und Stammeln die Klangfäden einer Textur, deren Tönungen immer wieder wie von Tierlauten inspiriert wir­ken. Gleichwohl verweigert sich Lims Oresteia , die in einigen Nuancen dem No-Theater Japans ähnelt, dem Habitus einer expressionistisch gestikulierenden Musik. Sie widersteht einer Subjektmagie, deren theologische Genese und Geltung samt ihrer mono­theistisch gefärbten Herrschaftsattitüde seit Nietzsche, Weber und Heidegger transparent wurden. Ebensowenig inszeniert Lim wie manche klassizistischen Verklärungen des Alter­tums das Glasperlenspiel einer heiteren Affäre zwischen Mythos und Historie. Bereits die Signal- und Fanfarenrudimente der Oresteia bezeugen eine Liturgie aus Gewalt und Verstrickung. Müsste man die Grundfarben der Komposition benennen, es wären die von rot, schwarz und grau, die von Blut, Tod und Asche. Lim geht es um die Hypothek des archaischen Erbes, um seine Vergeltungssymmetrien aus Verrat, Schuld und Mord, die Ais­chylos zum Pendant der Leichenpaare Agamemnon/Kassandra, Klytaimnestra/Aigisthos verdichtet. Mit der Kunde aus dem «Menschenschlachthaus»(7) der Atriden vertiefen sich die barbarischen Züge in der Physiognomie des Genus humanum, zumal Lim den Furor der Orestie durch matriarchale, mykenische und homerische Sagenstränge potenziert. So in der Bankett-Szene den Strang der Schlachtung und Einverleibung von Verwandten, gar der eigenen Kinder, aus Motiven der Rache, der Vertuschung von Verbrechen oder des Götter­frevels. Dadurch werden Mahl und Gelage zu Schlüsselereignissen für die Zeit des Mythos, einer vom Fressen und Gefressenwerden. Solche Emanationen des kannibalischen Kronos dem Cogito cartesianischer Prägung anzumessen, seiner Ethik und Psychologie, wäre Ver­harmlosung und Entstellung. «It stinks like an abattoir drain»: Lim komponiert die Arena der Gewalt, als würde Musik an ihren Tönen und Worten wie an Innereien und Eingeweiden ersticken. Da Lim zu­dem die Entsühnung des Muttermörders Orest ausspart und mit ihr die beschützende Rolle Apollons, wird der Gott zum schonungslosen «destroyer». Folgt nicht das Schicksal Kas­sandras, die Zukunft zu schauen, ohne Gehör und Glauben zu finden, aus der Strafe Apol­lons an seiner Priesterin, die sich dem Begehren des Gottes entzogen hatte? Und wird sie nicht, die schönste der Töchter des Priamos, nach der Einnahme Trojas von Aias im Athena-Tempel vergewaltigt, um zuletzt dem Griechen Agamemnon als Kriegsbeute und sexuelles Freigut zuzufallen? Ein Parcours der Vernichtung, dessen maskuline Schleif- und Schändungsspuren Lims Kassandra einzig im Mond- und Sternenbezirk von Sapphos Nachtgedicht Ruhe finden lassen – nach dem Zerreißen der apollinischen «trappings of prophetess»: «Die Sterne rings um den herrlichen Mond verbergen wieder ihre strahlende Gestalt, wenn er in seiner Fülle am hellsten über die Erde glänzt».(8) Nacht und Nächtliches Denken wir nochmals an Orpheus im fünften Akt von Monteverdis gleichnamiger Fa­vola in musica, an seine Verzweiflung, die zerrüttet, ohne die personale Einheit des Helden aufzulösen; denken wir an Shakespeares Lear, an Cervantes’ Don Quichotte und ihre Ver­rücktheit als Maske einer zweiten Identität: solche Konsistenzgarantien lassen die Erschüt­terung ahnen, von der eine Kassandra des 20. Jahrhunderts zu multipler Zersplitterung ge­trieben wird – «dismembered by her». Verfehlt wäre es allerdings, an «Cassandra's Dream Song», einer Komprimierung der Oresteia als Stück im Stück, nur das Unbehagen in einer strangulierenden Kultur zu vernehmen: das «stahlharte Gehäuse» einer weltimmanent geschlossenen Ökonomie aus dem Geist christlicher Askese.(9) Überschrei­tet Lims Kassandra nicht gerade in ihrer Nähe zum Wahnsinn neuzeitlicher Prägung dessen vernunftcodierte und damit psychiatrisierte Ausgrenzung? Paralyse wird zur Lyse, in der sich der Part der Entrückten – «hieratic, shamanistic» – Lautpraktiken des Schamanismus im Gewand zeitgenössischer Dekompositionsverfahren angleicht und zu einer Sprache be­freit, die sich selbst spricht, indem sie die Kluft zwischen Wort und Gegenstand aufhebt. Dem Zwielicht, in dem die von der Ideensonne westlicher Rationalität geworfenen Schatten abblenden, was nicht in den Netzwerken von Logik und Konstruktion aufgeht, antworten Lims Hell-Dunkel-Mischungen mit einer Musik des Bündnisses von Tag und Nacht, von Le­ben und Tod wider deren ökonomieverrückte Spaltung. Und es ist dieses Clair-obscur, das die «Clairvoyance» Kassandras zu einer Epiphanie des Offenen steigert. Lim durchquert den Archipel der Mnemonik, seine «memory locations», mit einer Psychonautik, deren Kurs sich an den Wendekreisen von Erinnern und Vergessen orientiert und der Untiefen von Traum und Wahnsinn gewärtig bleibt. Zwar bezieht sich Lim auf Ar­chetypen des Prophetischen und Numinosen, der Mutter- und Vaterimago oder der Ge­schlechterdifferenz, zumal in ihren Brechungen durch Rituale des kollektiven Gedächtnis­ses wie Geburts-, Hochzeits-, Begräbnis- oder Opferzeremonien. Indem sie jedoch diese Typologie durch zirkulierende Embleme des Mythos – Netz, Beil, Feuer, Bad, Bett, Sarg – verflüssigt, eröffnet sich ein Feld der Umformungen bis hinein in die Faktur der «stuttering transformation». Dennoch setzt eine solche Organisation des Oresteia -Stoffs auf keinen Zeichensturm, sondern darauf, dass der Text einer frühen Psychomachie, zum «Gedächt­nistheater» fokussiert und mit sich selbst ins Gespräch gebracht, die Diagnostik gegenwär­tiger condition humaine verfeinert. Ähnlich bündig stimmt sich Lims «great variety of nuance in vocal expression» auf idiomatisch verwandte Tonfälle ab, die ungeachtet ihrer Häufigkeit in der Variations- und Assonanzbreite des Komponierten jede leitmotivische Tendenz verlie­ren. Je lautloser und unerbittlicher sich die Nivellierungswucht des rechnenden Denkens etabliert, umso tiefer ist kompositorisch zu schneiden. Die Ahnung, Natur beginne sich in­folge ihrer wissenschaftlich-technischen Vergegenständlichung als negative Größe ins Un­erfahrbare zu entziehen, wird in Lims Oresteia zum Revers der Erkenntnis, wie sehr der christliche Umbau des Abendlands antike Kosmosfülle durch das Kampfschema von Be­drohung und Bändigung ausgebleicht hat. Trotzdem seziert Lim den Mythos nicht, um er­träumten, nie existenten Paradiesen nachzutrauern. Sie will die Wunde Zivilisation aufde­cken, die der siebte Teil der Oresteia , «Athena´s trumpet», traumatisch verrätselt. Zwar er­innern hier Piccolotrompete und Sopran mit der Herrschaftssymbolik barocken Fanfaren­glanzes an das Ende der aischyleischen Trilogie, an den Auftritt Apollons und das von Athene gestiftete Tribunal des Areopags. Suspendiert indes Aischylos den Fluch der Blutrache mit der protodemokratischen Institution freier Gerichtsbarkeit, behält Lim den drakonischen Unterbau von Polis und Politik im Blick. Anders als der Ausklang der Eumeniden und sein Hymnus auf Kult und Staat stürzt der Schluss in Lims Oresteia vom Gipfel des ‹Überirdischen› in den Abgrund. Die Trompete, zunächst «with an unearthly bril­liance» zu spielen, sinkt in Takt 670 «rau» und «roh» in die Zone ihrer Pedaltöne ab, kom­biniert mit dem vokalen Tiefensog auf der ersten Silbe von «FURY». «FURY», das mit gro­ßen Lettern markierte Stigma der Raserei und des Todes in Lims Oresteia nunmehr auch deren letztes Wort: Tribut an die Furien, die als eine unversöhnlich chthonische Triebmacht und konträr zu Aischylos im Ahndungs- und Rachestatus der Erinnyen belassen werden. Schließlich, nach einer «violent exhalation of breath», das Abdriften der Stimme ins pure Atemgeräusch und «al niente» ins Nichts. Damit fügen sich Anfang und Ende der Komposi­tion über ihr pneumatisches Fundament zum Kreis, dem Sinnbild des Mythos. Wenn auch nur beinahe. Da Lim das Geschehen weder episch noch dramatisch durchstrukturiert, son­dern mit leichtem Zielgefälle reiht, erzeugt sie ein Defilee der Momente und Zeichen und der Namen, die sich im musikalischen Gewebe zu narrativen Knoten schürzen: Agamem­non, Iphigenie, Apollon, Zeus, Orestes, Helena. Und sie erzeugt eine Bilanz des Unwägba­ren: Präsentiert der Sopran als Coda des Stücks nochmals dessen Leitmotive, die von «memory», «dream» und «FURY», dann überlagert sich punktuell – Memento und Menete­kel in einem – das Unternehmen des homo humanus mit dem des homo barbarus zur Un­entschiedenheit eines Experimentum mundi, hintergründig kommentiert vom «breath noise» des finalen Takts. Hatte nicht bereits Hegel im kolonisierenden Ausgriff Europas allzu an­maßend jenen «Hauch» der «Tätigkeit» gefeiert, in dem das ‹Natürliche untergeht› und zum Material des Geistes wird?(10) Mit ihrer Operation am offenen Herzen der Kultur widerspricht Lim dem Gesetz der Verwertung, dem zufolge Schmerz kein profitables Produkt abgibt. Ihn mit dem Ziel einer politischen Dynamik öffentlich zu machen, verletzt das Effizienzgebot, mit dem sich die Menschheit als Symptom und Ursache ihrer eigenen Nutzungs- und Vernutzungsobsessio­nen dem Recycling von Produzieren und Konsumieren unterwirft: einem industrialisierten Zyklus des Daseins, der zunehmend alle Energie aufsaugt und sich mythisch auflädt. Und sind wir zudem – der Aufklärungsseite der Idee vom animal rationale nach – mittlerweile nicht alle Profiteure einer Disziplinierung, die durch verinnerlichte Verwaltungsroutinen in die Weltbewältigungsapathie des «Schmerzlosen» einübt?(11) Wie könnte die Intention eines «memory theatre» das Gedächtnis der Zivilisation anders als eines des Schmerzes fassen, den noch der Roman eines jeden Ichs kennt, sobald die Wünsche und Sehnsüchte im Kältestrom der Gesellschaft gefrieren? Deshalb wohl muss Lims Oresteia auf die Askese protestantischer Ethik, die sich immer raffinierter als Leben drapiert, mit dem Grauen der Nacht des Aischylos antworten, aber auch mit dem sapphischen Zauber des Nächtlichen, damit sich das Orphische über die Musik hinaus nicht vollends im Regime des Tags und seiner Geschäftigkeit verliert und mit dem Orphischen die Stimme, «die nicht befiehlt, son­dern singt».(12) ​ ​ Anmerkungen ​ 1 Obwohl das Oresteia -Projekt in Zusammenarbeit der Komponistin Liza Lim mit dem Regisseur Barrie Kosky und der Choreogra- phin Shelley Lasica realisiert wurde – mit weitreichenden Auswirkungen auf die Bühnenversion – geht es im vorliegenden Essay primär um Lims Musik. – Die Partitur der Oresteia , deren Libretto auf der Orestie des Ais­chylos, auf Sapphos Mondgedicht und dem Agamemnon -Drama Tony Harrisons basiert, ist bei Ricordi erschienen, die Ein­spielung mit dem Elision Ensemble unter San- dro Gorli bei Dischi Ricordi. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Briefe , Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, hg. v. Erich Trunz, Hamburg 1968, Briefe Bd. 1, S. 365. 3 Goethe, Dichtung und Wahrheit , Hamburger Ausgabe, Bd. 9, S. 285. 4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlich en Freiheit, Frankfurt am Main 1975, S. 54. 5 Antonin Artaud, Le Théatre et son Double , Paris 1966, S. 12. 6 Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente II , hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1992, S. 81. 7 Aischylos, Orestie , in: Aischylos, Tragödien und Fragmente , hg. v. Oskar Werner, München und Zürich 1988, S. 73. 8 Sappho, Lieder , München 1976, S. 24 (Übstzg. J. B.). 9 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus , Gütersloh 1984, S. 188. 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte , Theorie Werkausgabe Bd. XII, Frankfurt am Main 1970, S. 108. 11 Friedrich Hölderlin, Mnemosyne , in: Hölderlin, Gedichte , hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt am Main 1984, S. 199. 12 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft , Frankfurt am Main 1971, S. 160. ​ ​ ​

  • Johannes Bauer, Martin Heidegger und die Neue Musik

    Das Ungeheure und die Gelassenheit Martin Heideggers Nähe zur Neuen Musik Obwohl sich Martin Heidegger so gut wie nie zu musikästhetischen Fragen geäußert hat, sind strukturelle Korrespondenzen zwischen seinem Denken und der Musik der Gegenwart unverkennbar: Parallelen etwa zwischen Heideggers Kritik des Erlebnisses und einer Musik, die sich der narzisstischen Spiegelfunktion ihrer Hörer entzieht. Vor allem aber macht Heideggers Destruktion der Philosophie den Übergang vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs einer nachmetaphysischen Ära bewusst und damit einen Wandel, der für die Geschichte der Neuen Musik von entscheidender Bedeutung ist. Von Bedeutung zumal für jene Brechung gewohnter musikalischer Konstruktions- und Wahrnehmungsmuster, in der die Regie des ästhetischen Subjekts an Boden verliert und ins Grundlose gleitet. Dass dieses Entgleiten für Heidegger zu einem Weg ins Offene, Freie wird - jenseits des Ideenrepertoires des abendländischen Humanismus und seiner Sinngebungen -, spricht für die Brisanz einer Philosophie, deren Reflexion zum Problem der Zeit, der Leere, des Todes oder der Gelassenheit zahlreiche Facetten gerade auch der Neuen Musik in einen bislang ungewohnten Kontext der Deutung rückt. ​ Heideggers Nähe zur Neuen Musik (Monolog-Fassung) (Südwestrundfunk 2010) Bspl. 1: Peter Ablinger, Voices and Piano (Martin Heidegger) A Martin Heidegger und die Neue Musik - ein provokantes, gar absurdes Thema? Absurd insofern, als es dabei nicht um das „Sujet Heidegger“ in zeitgenössischen Kompositionen geht, wie im Fall von Jo Kondos Holzwegen, von Hans G. Helms Golem oder wie im Fall des eingangs gehörten Ausschnitts aus Peter Ablingers Voices and Piano. Absurd vielmehr deshalb, weil einige strukturelle Korrespondenzen zwischen der Philosophie Heideggers und der Neuen Musik thematisiert werden sollen. Hat indes nicht Heidegger selbst sich in seinen Schriften so gut wie nie über Belange der Musik geäußert? Und bestätigen nicht allein schon die Bedeutung der Malerei und weit mehr noch der Vorrang der Dichtung in Heideggers Auseinandersetzung mit der Kunst und den Künsten die Abwegigkeit unseres Themas? Und falls sich Heideggers Kunstverständnis tatsächlich, wie so oft behauptet wird, eher an Hellas als am Heute orientiert: läuft dann das „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden“ - eines der Leitmotive aus Heideggers Kunstwerkaufsatz von 1936 - für die Musik der Gegenwart nicht vollends ins Leere? Fragen über Fragen also. Und doch: nach wie vor richten sich geisteswissenschaftliche Diskurse allzu hartnäckig am Dogma der Wörtlichkeit aus. Kein Wunder also, dass Heideggers Enthaltsamkeit in musikalischen Dingen den Schluss nahelegt, der Philosoph sei für den Bereich der Musik, gar der Neuen Musik ohne jedes Interesse. Abgesehen davon, dass der Skandal von 1933 immer noch allzu leicht und allzu bequem von einer Auseinandersetzung mit Heideggers Philosophie entlastet: Wie sollte gerade einem von Heideggers Werk her gestützten Desinteresse am Thema „Heidegger und die Neue Musik“ in den Sinn kommen, die Abhandlung des Philosophen über den „Satz vom Grund“ könnte für die Musik der Gegenwart womöglich mehr Gewicht haben als so manche fachspezifische Analyse? Beginnen wir deshalb mit einer deutlicheren Spur, mit einer Spur aus den Jahren von Heideggers Sein und Zeit. Bekanntlich gilt die Angst in Heideggers erstem Hauptwerk als jene „ausgezeichnete Befindlichkeit“, die radikal vereinzelt und kraft dieser Vereinzelung die alltägliche Verfallenheit an das „Man“ durchbricht. Denn erst die Angst ermöglicht jene „Freiheit des Sich-selbst-wählens“, die mit der „Erschlossenheit des Daseins“ die Wirklichkeit zu einer bloßen Möglichkeit unter vielen entzaubert. Ist es nun ein Zufall, dass Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene mit dem Untertitel „Drohende Gefahr, Angst, Katastrophe“ im selben Jahr 1929 komponiert wurde, in dem auch Heidegger das Phänomen der Angst nachhaltig analysiert? In einem Klima der Bedrohung und des Ausgesetztseins zwischen den beiden Weltkriegen? B „In der Angst […] ist es einem unheimlich. […] Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit. […] Dieses Wegrücken des Seienden im Ganzen, das uns in der Angst umdrängt, bedrängt uns. Es bleibt kein Halt. […] Die Angst offenbart das Nichts. Wir >schweben< in Angst. Deutlicher: die Angst läßt uns schweben, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten bringt. […] Nur das reine Da-sein in der Durchschütterung dieses Schwebens, darin es sich an nichts halten kann, ist noch da. Die Angst verschlägt uns das Wort. Weil das Seiende im Ganzen entgleitet und so gerade das Nichts andrängt, schweigt im Angesicht seiner jedes >Ist<-Sagen.“ A Wenn uns aber - so möchte man Heidegger ergänzen - das Andrängen der Angst das Wort verschlägt, könnte dann vielleicht die Musik dem Unheimlichen der Angst eine Stimme geben? Die Stimme einer Erschütterung zudem, da ja auch Schönberg aus dem Schock der Angst heraus die Mauer der Gleichgültigkeit und der Abschottungsrituale zum Einsturz bringen will? Die Mauer des „Man“ also, dem „Jeder […] der Andere [ist] und Keiner er selbst“? Bspl. 2: Arnold Schönberg, Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34 A Nun zählt Schönberg freilich nicht zu jener Rubrik „Neuer Musik“, unter die der gängige Sprachgebrauch die Geschichte des Komponierens seit 1945 subsumiert. Dennoch zieht sich von Schönberg her bis in unsere Tage der Strang einer musikalischen Kunst des Schreckens, deren Charakterisierung als „Katastrophenmusik“ etwa auch noch die Werke der 1968 geborenen Komponistin Olga Neuwirth für sich in Anspruch nehmen. Und galt eine Musik des Grauens nach der beispiellosen Barbarei des NS-Regimes nicht lange Zeit als die einzig authentische? Eine Musik also, die sich gegen Masse und „Man“ dem Entsetzen zu stellen und standzuhalten hat? Gleichwohl steht Neue Musik längst nicht mehr unerbittlich in Waffen. Und möglicherweise öffnet gerade diese Überschreitung ihres katastrophischen Potenzials den Horizont für eine Musik ohne Menschheitspathos, die dennoch alles andere als belanglos, gar inhuman wäre. Für eine Musik somit, deren Wandel von einer Kunst des Widerstands und der Detonationen hin zu einer Kunst jenseits der ethisch-metaphysischen Impulse von Klage und Anklage verläuft. Wäre indes ein solcher Wandel nicht mit Heideggers berühmter „Kehre“ vergleichbar? Mit der Kehre von einer Fundamentalontologie des angstdurchbebten Daseins und seines entschlossenen Entwurfscharakters hin zur Seinsgeschichte des „Seyns“ und hin zu einem offenen Raum der „Gelassenheit“, frei von den Koordinaten der Metaphysik? Heidegger und die Neue Musik. Konzentrieren wir uns also vorrangig - vom Kurs einer Kehre, eines Wandels her - auf eine evidente Wegparallele zwischen Heideggers Denken und dem Komponieren Neuer Musik, nämlich auf die Destruktion des Erbes der Metaphysik. Was heißt nun aber Metaphysik und was macht ihre Konstanten aus? Für Heidegger liegt eines ihrer Leitmotive darin, dass die Metaphysik B „das Seiende in der Weise des begründenden Vorstellens denkt. Denn das Sein des Seienden hat sich seit dem Beginn der Philosophie und mit ihm als der Grund […] gezeigt. Der Grund ist jenes, von woher das Seiende […] in seinem Werden, Vergehen und Bleiben als Erkennbares, Behandeltes, Bearbeitetes ist, was es ist und wie es ist“. „Der Grund hat [so] den Charakter des Gründens als ontische Verursachung des Wirklichen“. A Soweit die Diagnose der Philosophie. Und die der Musik? Auch die Musik der Moderne steht von Beginn an in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Dessen Gründungs- und Begründungsmacht - „Nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich am nachhaltigsten in der Einheit der Werke zur Zeit der tonalen Epoche: in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und in den dieser Logik zufolge erst möglichen Regelverstößen. Erinnert sei nur an Mozarts hintersinniges Sextett KV 522 mit dem Titel Ein musikalischer Spaß. In solchen gleichsam an logische Hohlformen der Musik erinnernden Gesetzmäßigkeiten von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit kultiviert auch die Musik einen Sinnfundus an Wahrheit, zumal die organisch durchgeformten Werke der tonalen Ära aufs Engste mit der Einheit von Ich und Subjekt korrespondieren. In der begründeten Identität der Werke sich selbst als eine Einheit von Begründungen zu finden, wird zum Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen und antinarrativen Tendenzen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ ins Innere der Struktur. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der Affekt- und Gedächtnisregie der Hörer gegründete Allianz auf. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion serieller Musik zum letzten Mal und in sämtlichen musikalischen Parametern eine gewichtige Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten: ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich das durchrationalisierte Begründungssystem serieller Kompositionen bereits ins Grundlos-Abgründige auf. Genau dieser Wechsel vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs aber markiert - mit Heidegger gedacht - den Übergang zur metaphysikkritischen Musik der Gegenwart. Bspl. 3: Pierre Boulez, Structures pour deux pianos A Dem Zwang des metaphysischen Denkens, für jedes Seiende ein „Warum“ zu finden, allem auf den Grund zu kommen, um es kausal und methodisch zu verorten, wird das Abgründige zur sinnlosen und bedrohlichen Leere. Umgekehrt bleibt die Destruktion der Metaphysik stets an den Sprung ins Abgründige und Unbegründete gebunden. Hat nämlich das metaphysische Denken laut Heidegger B „je nur Seiendes aus Seiendem abgeleitet, weil es auf dem >Boden< der >Tatsachen< bleibt“, dann ist im Unterschied dazu das „Sein […] kein Boden, sondern das Bodenlose“. A Demnach begreift sich Heideggers „Destruktion“ der Metaphysik und ihrer „Seinsvergessenheit“ als ein Denken und An-denken des Unverfügbaren ohne jede Sicherung und Stütze. Kompromisslos aber ist dieses Denken noch als Einsicht in die Grenzen dieser Destruktion, genauer: in die Grenzen der Sprache dieser Destruktion, sofern eine argumentativ operierende Sprache wie die der Philosophie ihrem auf Gründe bedachten Diskurs kaum je entkommt. Denken indes, das von Belang ist, zumal das Denken von „Sein“ und „Ereignis“, hat sich auszusetzen. Vergleichbar einer Musik, die, wie der Komponist Helmut Lachenmann betont, auf die Besinnungslosigkeit einer >überforderten Zivilisation< mit der radikalen B „Brechung des Vertrauten“ durch eine „Situation“ der „Verunsicherung“, ja durch eine „bewusst ins Werk gesetzte >Nichtmusik<“ zu antworten hat. A Ohne hermeneutische Nötigung lässt sich deshalb bereits Lachenmanns Destruktion der Musik hin zu einer „Nichtmusik“ des befreiten Hörens mit Heideggers Destruktion der Philosophie hin zu einer Nichtphilosophie des befreiten Denkens vergleichen. Geht es doch in beiden Fällen um eine Rücknahme metaphysischer Ausschlussverfahren. Wenn Lachenmanns „Musique concrète instrumentale“ die Verschränkung zwischen der Physis des Klangs und dem musikalischen Diskurs erfahrbar macht, plädiert sie für eine metaphysikkritische Option, sofern Sinn von seinen materialen Trägern ebenso wenig zu trennen ist wie die Botschaft von ihrem Medium. Der Klang - mit Lachenmann verstanden als „Nachricht seiner Hervorbringung“ - hebt den Dualismus zwischen der Idee und dem tönenden Botenstoff des Sinnlichen auf und mit ihm jene Spaltung zwischen Geist und Materie, die der Gründungsakt der Metaphysik freisetzt und in zahlreichen Varianten tradiert. Natürlich verliert mit der Zurücknahme solcher Spaltungen auch die spaltende und über Zugelassenes und Ausgeschlossenes verfügende Instanz des neuzeitlichen Subjekts ihre Privilegien. Ihre Privilegien verliert damit auch die von Heidegger monierte Definition des Menschen als eines „animal rationale“ samt ihren im Namen des Humanismus fixierten Spaltungs- und Wertungsmustern des Animalen und Rationalen. Verbünden sich indes seit der Renaissance Metaphysik und Humanismus zu einer Art Weltentschlüsselungs- und Welteroberungsemphase, dann ist, mit Heidegger gedacht, die Metaphysikkritik der Neuen Musik immer auch Subjekt- und Humanismuskritik: Kritik wohlgemerkt an einem nur insofern geist- und vernunftzentrierten Humanismus, als Geist und Vernunft sich von der Niederung des Kreatürlichen abspalten und schließlich doch nach Art der Dialektik von Herr und Knecht in einem Gewaltverhältnis davon abhängig bleiben. Bspl. 4: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester A Helmut Lachenmann: Ausklang, Musik für Klavier mit Orchester. Wo wäre in dieser Komposition die Grenze zwischen Idee und Stoff, zwischen Konstruktion und Eruption nach dem Modell des „animal rationale“ zu ziehen? In einer Komposition, die sich zur Tiefenbohrung in den Sprachgrund der Musik schärft? So, als wollte Lachenmann über die Andeutung und die gleichzeitige Verweigerung musikalischer Sinneffekte die historische Dimension dieses Sprachgrunds ausloten - sein Werden und sein Vergehen - und zugleich Fühlung mit dem Abgrund dieses Sprachgrunds aufnehmen? Mit einem Abgrund, der als Demontage narrativer Zeit- und Affektdramaturgien eine neue, andere, freiere Präsenz der Klänge ermöglicht und die Musik - um mit Heidegger zu sprechen - nach dem Abschied von der Metaphysik des Subjekts in Bereiche des Unberechenbaren, des Unverfügbaren und Unbekannten gelangen lässt. Wenn aber Heidegger zufolge die Metaphysik eine Rationalität ausformt, die stets nach zureichenden Gründen verlangt, dann kann gerade das Ablassen vom Gründen und Begründen eine „Lichtung des Offenen“ aufschlagen: im Wagnis des Unwägbaren und Beispiellosen nämlich. Neue Musik vollzieht dieses Wagnis in Kompositionen, die eher auf ein ungedecktes Geschehenlassen setzen, anstatt das Komponierte auf das Einheitsverlangen des rezipierenden Bewusstseins hin zu hören, ja zu verhören. So entäußert sich etwa die Vielfalt der patternhaften Mikrovarianten in Morton Feldmans späten Kompositionen umso eher zu einer Schwebe im Offenen, je mehr sich diese Vielfalt von der Formeffizienz des Satzes vom Grund und seinen ästhetischen Varianten löst. Distanz zum Satz vom Grund aber bedeutet bei Feldman vor allem, das Gedächtnis als oberste Kausalinstanz sich selbst fremd werden zu lassen. War Musik fast durchweg eine hohe Schule des Gedächtnisses, thematisiert Feldman das Gedächtnis selbst: seine Vernetzungsarbeit, seine Leerstellen, seine Zeitfenster. Dabei verwickelt der „große Maßstab“ in Feldmans späten Stücken, die ihrer Zeitausdehnung nach nicht mehr durchhörbar sind, das Hören immer wieder in den Wandel kaum bemerkbarer Motivmodulationen. Musik wird zu einem Nullsummenspiel aus Scheinwiederholungen und unscharfen, weil vermeintlichen Akten des Wiedererkennens. Sie entzieht sich der Kalkulierbarkeit zerleg- und beherrschbarer Formen und damit dem Fassungsvermögen des Gedächtnisses. Vergleichbar dem Ereignisdenken Heideggers bahnt Musik eine Spur ins Namenlose, eine Spur, die Feldman selbst aufgreift, wenn er davon spricht, „keine Sprache“ etablieren und „nichts einen Namen […] geben“ zu wollen. Bspl. 5: Morton Feldman, String Quartet (II) A Frei von der Ich-Rhetorik der Affekte, ihrem Widerstreit und ihren Zuspitzungen, erinnert Feldmans transsubjektive Musik an Heideggers „Zeit-Spiel-Raum der Gelassenheit“. Ist doch auch dieser „Zeit-Spiel-Raum“ einer, dessen „verweilende Weite“ erst dem erfahrbar wird, der sich, so Heidegger, B „als Subjekt überwunden hat und […] das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt“. Denn „Gelassenheit ist in der Tat das Sichloslassen aus dem [Ich-Entwurf des] transzendentalen Vorstellen[s] und so ein Absehen vom Wollen des Horizonts“. A Und wie sich Heidegger vom „transzendental-horizontalen Vorstellen“ der Metaphysik und ihrem frontalen, auf Fronten ausgerichteten Polarisierungs- und Objektdenken abkehrt, so entgrenzt sich auch Feldmans Musik zur Weile und Weite eines Zeit-Spiel-Raums, indem sie vom Willen zur effizient kalkulierten Form ablässt. Es ist dieser vom Souveränitätszwang des Subjekts befreite Duktus des Lassens und Zulassens, mit dem sich das Ereignis von Feldmans Musik ohne heroische Verfügungsgesten und jenseits falscher Idyllen dem musikalischen Satz vom Grund entzieht. Entrückt doch ein Komponieren, das sich nicht mehr vom Ertrag der Konstruktion her entwirft, die Musik über den Entzug des konstruktiven Grundes und damit über den Entzug des Formgedächtnisses ins abgründig Offene. „Das Offene des Ab-grunds“ freilich ist, wie Heidegger in den Beiträgen zur Philosophie notiert, „nicht grundlos“. B „Abgrund ist nicht das Nein zu jedem Grund wie Grundlosigkeit, sondern das Ja zum Grund in seiner verborgenen Weite und Ferne“. Der „Zeit-Raum als Ab-grund“ ist zwar zugleich „Versagung des Grundes“. „Versagung aber ist nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung“. A Offenheit als abgründige Leere wird für Heidegger zum Möglichkeitsraum des Unverfügbaren, frei von jeder rational-rationellen Begründungstotalität, sofern „Ratio“ den Methoden des „vorstellenden Denkens“ gemäß zuinnerst auf „Rechnung“ und Berechnung basiert. Entsprechend wandelt sich auch Feldmans Musik vom belanglosen zum subversiven Spiel einer Fülle ohne Grund und „Warum“; zu einer dem rationalen Begriff nach unergründlichen Fülle, deren Momente sich nicht mehr nach metaphysischen Konditionen als Träger einer Idee verrechnen lassen. Feldmans späte Kompositionen verweisen auf keinen ihnen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Musik erst zu Repräsentierendes. Weder geht es in ihnen um den Phantomschmerz des dezentrierten Subjekts noch um den Sturz in metaphysische Sinnleeren, ohne dass Feldmans Musik jemals das „Rätsel“ der Kunst, ihren „Stoß ins Offene“ und „Ungeheure“ tilgen würde. Denn, so Heidegger im Ursprung des Kunstwerks: B „Je reiner [das Kunstwerk] alle Bezüge zu den Menschen zu lösen scheint, um so einfacher tritt der Stoß, dass solches Werk ist, ins Offene, um so wesentlicher ist das Ungeheure aufgestoßen und das bislang geheuer Scheinende umgestoßen. Aber dieses vielfältige Stoßen hat nichts Gewaltsames; denn je reiner das Werk selbst in die durch es selbst eröffnete Offenheit des Seienden entrückt ist, um so einfacher rückt es uns in diese Offenheit ein und so zugleich aus dem Gewöhnlichen heraus. Dieser Verrückung folgen, heißt: die gewohnte Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln und fortan mit allem geläufigen Tun und Schätzen, Kennen und Blicken ansichhalten“. Bspl. 6: Morton Feldman, Palais de Mari A Heidegger und Feldman verabschieden sich vom anthropozentrischen Spiegel. Denken und Musik umkreisen ein Unverfügbares - nennen wir es ruhig das Unverfügbare des „Seins“ -, das nicht mehr durch Herrschafts- und Verfügungskategorien umstandslos auf den Menschen zurückzurechnen ist. So ist Feldmans Musik bereits auf Seiten des Komponisten eine Musik des Hörens, die den Tönen zu- und nachhört, um, so Feldman, B „nicht zu >komponieren<, sondern Klänge - frei von jeder kompositorischen Rhetorik - in die Zeit zu projizieren“ und Stücke zu schreiben, die „Dingen“ gleichen, die „sich aus sich heraus entwickeln“. A Gerade weil sämtliche kausal orientierten Sinnmuster am akausalen Duktus der Musik abgleiten, verwandelt Feldmans Zeit-Spiel-Raum seine Bahnen und Bahnungen in eine Musik, die sich aus sich selbst heraus entfaltet. Wie der Zeit-Spiel-Raum Heideggers liegt auch derjenige Feldmans jenseits verordneter „kausaler Wirkungszusammenhänge“. In ihm irisieren Nähe und Ferne, weil es kein Zentrum gibt, von dem aus sich Nähe und Ferne bestimmen ließen. Indem Feldman, wie Cage es umschreibt, B „innerhalb weiter Grenzen die ersten [Klänge]“ nimmt, „die daherkommen“, verlagert er „die Verantwortung des Komponisten vom Machen aufs Akzeptieren“. A Durch diesen Akt des „Akzeptierens“ entzieht Feldman seiner Musik der Gelassenheit den Grund. Genauer: den Grund in Form einer Willensinstanz, die einer vorgeplanten Konstruktion zufolge über Zugelassenes und Ausgeschlossenes entscheidet. Zugleich schwindet mit dem Entzug dieses konstruktiven Grundes auch die Gründungs- und Begründungsmacht des Subjekts ins Grundlose, weil Unbegründbare. Auch seitens der Musik wird zur Gewissheit, dass das zum Absoluten stilisierte Subjekt den Grund seiner Weltpräsenz nicht mehr rein aus sich begründen kann. An der Unmöglichkeit, das Unberechenbare der Musik im Repertoire einer verbindlichen musikalischen Sprache verorten zu können, scheitern die Allmachtsfantasien, jederzeit Herr über das Wo und Wie, über das Wann und Warum zu sein. Was an Feldmans nicht mehr durch- und aushörbaren Kompositionen fasziniert, ist vielmehr das „Ereignis“ der Musik. Und zwar - wie in Heideggers spätem Vortrag Zeit und Sein - das Ereignis des „Es gibt Zeit“. So wird Feldmans Musik der Entschleunigung gegen die quantifizierende Vernichtung der Zeit zu einer Musik der Gabe: Gabe verstanden als jener Freiraum des Gewährens, der sich der Zeitökonomie des Tauschs und der Verrechnung entzieht. Zeit jedoch verweist das Dasein auf Endlichkeit und damit auf jenes „Sein zum Tode“, dessen Bewusstsein für Heidegger den Unterschied zum „vulgären Zeitbegriff“ und zur „uneigentlichen Zeitlichkeit“ ausmacht. Mit dem Einlassen des Todes als einer existenzialen Bestimmung des Daseins aber ergibt sich eine weitere Parallele zwischen Heideggers Metaphysikkritik und der der Neuen Musik. Sind es nicht gerade ihre Kompositionen, die die Spur des Todes nicht mehr nur als ein gleichsam programmmusikalisches Sujet reflektieren, sondern Endlichkeit und Kontingenz in der Struktur selbst verankern? Sei es aufgrund von Lecks oder Leerstellen, die als Rauschen in den Werken aufbrechen, oder sei es aufgrund einer Überdeterminierung durch variable Formen oder hohe Kom-plexitätsdichten, die jedes prophetische Hören außer Kraft setzen: das heißt jedes im Gedächtniskontinuum subjektiver Innerlichkeit gesicherte Voraus- und Zurückhören und mit ihm die Illusion einer musikalisch gewährten Unsterblichkeit. Bspl. 7: Tristan Murail, Mémoire / Erosion A Unter dem Zugriff der Kybernetik als einer Macht der allumfassenden Steuerung steht das Ereignis der Kunst für das Nicht-Steuerbare. Muss doch das Kunstwerk, so Heidegger in seinem Athener Vortrag über Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens, B „in das den Menschen nicht Verfügbare, in das Sich-verbergende zeigen, damit das Werk nicht nur sagt, was man schon weiß, kennt und treibt“. Das Werk muss also auf das verweisen, „was sich weder planen noch steuern, weder berechnen noch machen lässt“. A Und so wie zahlreiche Partituren der Neuen Musik ins Unwägbare weisen, so gilt es in den Zonen der Kunst generell, sich der logisch-kausalen Sinnarmatur als der theoretisch-praktischen Regulierungsmacht schlechthin zu entwöhnen, wenigstens in Ansätzen. Zu entwöhnen gilt es sich laut Heidegger aber auch jener Deutungswerte, die das Kunstwerk als ästhetischer, psychologischer oder soziologischer Firnis überziehen. Dass sich Heideggers Philosophie in solcher Strenge mit den antipsychologischen und antiästhetischen Facetten Neuer Musik trifft, liegt auf der Hand. Man denke nur an Cage, dem es auf „Kompositionen“ ankam, B „deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinnerung (Psychologie) und gleichermaßen frei von Literatur und den >Traditionen< der Künste“. Bspl. 8: John Cage, Atlas Eclipticalis A Heideggers Versuch, die Logik der Metaphysik im „Wirbel eines ursprünglicheren Fragens“ aufzulösen, hört immer auch - wie das Ohr der Neuen Musik - das Unhörbare im Hörbaren und das Schweigen als Grund der Sprache mit. Ergibt sich deshalb nicht auch von Heideggers „Sigetik“ als einer Kunst des Schweigens und „Erschweigens“ her eine Brücke zur Neuen Musik? Trotz Heideggers Präferenz der Sprache als dem „Haus des Seins“? Ist somit nicht gerade die Neue Musik aufgrund ihrer Ferne zum Bild- und Abbildhaften, zur verbalen Logik und zum Narzissmus des Erlebnisses ein adäquates Medium für das, was Heidegger als „Ereignis“ denkt? Zumal doch „Ereignis“ und „Seyn“ „nie unmittelbar [zu] sagen“ und zu vergegenständlichen sind, schon gar nicht im syntaktischen Gefüge von Grund- und Aussagesätzen? Ungeklärt bleibt für Heidegger allerdings, ob der Kunst im Zeitalter des „technisch organisierten Menschen“ B noch die „höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist“. „Wird Kunst mit der Metaphysik [nicht] hinfällig? Verbirgt sich hinter der Beunruhigung durch die gegenstandslose Kunst vielleicht eine noch viel tiefere Erschütterung? Das Ende der Kunst? Die Ankunft von etwas, wofür wir keinen Titel haben?“ A Doch selbst wenn die Kunst der Gegenwart Heideggers Befürchtung zufolge immer mehr zu einem „gesteuert-steuernden Instrument[.] der Information“ werden sollte: Vorerst bleibt ihr - hin und wieder zumindest - die Kraft, die Schranken des Selbstverständlichen zu durchbrechen und auf das hin zu sensibilisieren, was nicht in der „öffentlichen Ausgelegtheit des Man“ aufgeht. Uns aber, „ausgeworfen aus dem Garten der Natur“ wie in Hölderlins Hyperion, stünde es an, auf der Hut zu sein. Auf der Hut vor unserem Zynismus gegenüber den Zu- und Anmutungen in Heideggers Gedanken über „Sein“ und „Gelassenheit“. Begreifen wir also die Opfer, die uns eine Ratio aufbürdet, die sich umso geistiger dünkt, je rationeller und technischer sie über die äußere und innere Natur triumphiert. Vielleicht werden wir dann vorsichtiger, unsere Selbst- und Weltentfremdung zum Maß zu nehmen, sobald wir an Heideggers Denken die Geduld verlieren. Und vielleicht beginnen wir dann vom Ungeheuren und von der Gelassenheit der Neuen Musik und von Heideggers Denken des „Ereignisses“ her zu ahnen, wie sehr das Heroentum des Bezwingens und Akkumulierens die Welt und das Leben erst monströs und unmenschlich werden lässt. Wie heißt es doch in Heideggers Brief Über den Humanismus unter Absage an jede nicht nur sprachliche Sinn-Effizienz: B „Doch das Sein - was ist das Sein? Es >ist< Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muß das künftige Denken lernen.“ Bspl. 9: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Peter Ablinger, Voices and Piano (Martin Heidegger) [Tr. 10, 1´10 - 2´06] [Nicolas Hodges] [KAIROS 0013082KAI] ​ Bspl. 2: Arnold Schönberg, Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34 [Tr. 13, [Tr. 13, 3´02 - 5´33] [BBC Symphony Orchestra, Pierre Boulez] [Sony SMK 48462] ​ Bspl. 3: Pierre Boulez, Structures pour deux pianos [Tr. 13, 0´00 - 2´41] [Pierre-Laurent Aimard, Florent Boffard] [Deutsche Grammophon 445 833-2] ​ Bspl. 4: Helmut Lachenmann, Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester [Tr. 1, 0´00 - 2´27] [Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester, Peter Eötvös, Massimiliano Damerini][col legno 31862] ​ Bspl. 5: Morton Feldman, String Quartet (II) [CD 1, Tr. 1, 3´13 - 7´08] [Ives Ensemble] [hat[now]ART 4-144] ​ Bspl. 6: Morton Feldman, Palais de Mari [Tr. 2, 0´00 - 2´56 ] [Markus Hinterhäuser] [col legno WWE 1 CD 20070] ​ Bspl. 7: Tristan Murail, Mémoire / Erosion [Tr. 1, 14´32 - 17´38´] [Ensemble L´Itinéraire, Charles Bruck] [ACCORD 202122] ​ Bspl. 8: John Cage, Atlas Eclipticalis [Tr. 2, 0´00 - 3´04] [The Orchestra of the S. E. M. Ensemble, Petr Kotik] [Wergo 286 216-2 / WER 6216-2] ​ Bspl. 9: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [CD 2, Tr. 10, 9´40 - Tr. 11, 2´01] [Elizabeth Keusch, Sarah Leonard, Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi, Mayumi Miyata, Salome Kammer , Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek] [KAIROS 0012282KAI] ​ ​

  • Johannes Bauer, Pierre Boulez/John Cage, Briefwechsel

    Dokument der Mißverständnisse Pierre Boulez - John Cage Der Briefwechsel Europäische Verlagsanstalt 1997, 257 Seiten, 48,- DM Zum Zeitpunkt, als der Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage auf deutsch erschien, stand die Bedeutung beider Komponisten für die Musik der Gegenwart längst außer Frage. Diesem Urteil der Musikgeschichte zufolge ermöglicht die Korrespondenz eine detaillierte Auseinandersetzung mit zwei der zentralen Konzeptionen neueren Komponierens: mit der methodischen Anwendung des Zufalls bei Cage und mit der reihenmäßigen Organisation sämtlicher Bereiche des Tonsatzes bei Boulez. Nachvollziehbar werden die Voraussetzungen, die innere Logik und die Entwicklung kompositorischer Verfahren, die unter den Schlagworten Aleatorik und Serialität schon bald Aufsehen und Skandale erregen sollten. Es ist deshalb nicht zu viel gesagt, dem vorliegenden Briefband den Rang einer Gründungsurkunde der neuen Musik zuzugestehen. Einem Band, der neben den Briefen auch kurze Vorträge, Einführungen und Statements der Briefpartner einläßt und die Lektüre zudem mit je einem Aufsatz des Herausgebers und der deutschen Übersetzerin zum künstlerischen und historischen Stellenwert der Begegnung Cage/Boulez begleitet; ergänzt von einer Auswahlbibliographie und einem ausführlichen Anmerkungsapparat. Worum geht es in diesen Briefen, geschrieben zwischen 1949 und 1954? Abgesehen von Aufführungs- und Publikationsvorhaben hauptsächlich um die wechselseitige Vorstellung verschiedener Arbeitsprojekte und um den Stand der jeweiligen Kompositionstechnik. Boulez hat die frühe Periode seines Komponierens, und damit auch die Zeit seiner Korrespondenz mit Cage, rückblickend als die "Jahre der Reinigung" bezeichnet. Und Reinigung, Absage an die Tradition war es auch, was beide Komponisten in der Überzeugung verband, zeitgenössisch könne nur eine Musik sein, aus der jede Spur des Überkommenen getilgt sei. Dieser Bruch mit der Tradition erklärt denn auch eine Gemeinsamkeit bei Cage und Boulez, die den Band wie ein Leitmotiv durchzieht. Gemeint ist die Arbeit mit Tabellen und graphischen Kalkülen. Tabellen und Schemata aber können am ehesten einer falschen Subjektivität entgegenarbeiten und von der Ästhetik des Einfalls und Ausdrucks befreien. Tabellen und Diagramme also als kleinster gemeinsamer Nenner, als graphischer Schnittpunkt unterschiedlicher Wege? Während Cage und Boulez Anfang der 50er Jahre in der Aufkündigung etwa der Sprachgestik von Musik noch übereinstimmen, führt Cages Umgang mit dem Zufall bei Boulez schon bald zu Einwänden. Schnell wird klar, wie eng Boulez im Vertrauen auf das schlüssig gearbeitete Meisterwerk der Tradition verbunden bleibt, im Gegensatz zu Cages Ästhetik der Unbestimmtheit. Zwar zeigt sich Boulez von der Komplexität der Music of Changes beeindruckt, die Cage ihm 1952 als das erste rein zufallsmethodisch komponierte Werk der Musikgeschichte zugesandt hatte; zwar beteuert Boulez in seinem Antwortschreiben, wie sehr ihm diese Music of Changes gefalle: ​ Ich bin absolut erfreut über diese Entwicklung Deines Stils. Und ich pflichte Dir darin völlig bei (...) Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mit Dir übereinstimme. Ich sage Dir das voller Be- geisterung.(1) ​ Doch trotz dieses Beifalls läßt eine dann wiederholte Ablehnung des Komponierens mit dem Zufall nicht lange auf sich warten: ​ Den Zufall als Bestandteil eines komponierten Werks akzeptiere ich nicht und werde ihn (...) auch in Zukunft nicht akzeptieren. Ich erweitere die Möglichkeiten von festgelegter oder freier Musik. Aber was den Zufall betrifft, so kann ich nicht einmal den Gedanken daran ertragen!(2) ​ Wenige Jahre später wird Boulez den kompositorisch ungezähmten Zufall als eine "Preisgabe" verurteilen, ​ die man nicht hinnehmen kann, ohne gleichzeitig alle Vorrechte und Rangordnungen aufzu- geben, die das geschaffene Werk in sich birgt.(3) ​ Als Höhepunkt seiner Mißbilligung hat schließlich ein Gespräch von 1974 zu gelten, in dem Boulez - scharf bis zur Beleidigung - den Pakt mit dem Zufall als einen Akt "kompletter Faulheit" interpretieren und Cage ungenannt mit einem "Hofnarren" vergleichen wird, der einer "geschlossenen Gesellschaft mit faschistischen Tendenzen" zum Alibi dient.(4) Diese wachsende Abwehr bei Boulez' zu kennen ist hilfreich, um zu verstehen, was bereits in den Briefen an unterschwelliger Ablehnung mitläuft. Während Cage dem Unvorhersehbaren immer mehr Rechte einräumt, arbeitet Boulez seine Kompositionen zum durchorganisierten "Universum" aus. Und während sich Cage von der Idee verabschiedet, Klänge zum Vehikel kompositorischer Ideen zu funktionalisieren, und den Interpreten immer größere Freiheiten zugesteht, verteidigt Boulez unerbittlich den Schöpferstatus des Komponisten und die Würde des Werks. Folgerichtig grenzt für Boulez und seine künstlerische Verantwortungsethik auch die Entscheidungskompetenz der Interpreten ans Absurde. So heißt es in einem Brief vom Dezember 51 kritisch gegen eine Partitur Morton Feldmans: ​ wenn man möchte, daß Interpreten imaginativ, erfinderisch sind, wären sie ja Komponisten.(5) ​ In dieser Kritik an Feldman bricht sich Bahn, was Boulez Cage selbst noch nicht sagen will oder sagen kann. Aufschlußreich ist die Kritik an Feldman auch insofern, als sie zugleich einen Abriß Boulezscher Ästhetik liefert. Zentriert um Motive wie das vom Komponisten als dem Vollstrecker des historisch Notwendigen in seiner Verantwortung der Geschichte und dem Materialfortschritt gegenüber. Die 'Effizienz der klassischen Notation' wird gegen die 'Vagheit' der graphischen Notation ebenso verteidigt wie die "rigorose Kontrolle in der Konstruktion" oder das 'Geheimnis des Kunstwerks'.(6) Angesichts des Anspruchs dieser gleich rationalen wie idealen Ästhetik wirkt es beinahe obszön, wenn Cage seinerseits über die "Leere im Kopf" philosophiert, die das zeitraubende "Werfen von Münzen" im Dienst des Zufalls mit sich bringt.(7) In der Absicht, damit Kompositionen zu schaffen, deren Fortgang frei ist von individuellem Geschmack und Gedächtnis (Psychologie), ebenso wie von der Literatur und den Kunst»traditionen«. Die Klänge treten in sich selbst gründend in den Zeit-Raum ein - unbehindert davon, irgendeiner Abstraktion dienen zu sollen. Ihre allseitige Offenheit setzt sie frei zu einem unendlichen Spiel gegenseitiger Durchdringung. Werturteile liegen nicht in der Natur dieser Werke, weder bei der Komposition, der Aufführung noch beim Hören. Da die Idee der Bezogenheit fehlt (...), kann sich alles mögliche ereignen. (...) Ein >Fehler< ist ausgeschlossen, denn was auch immer sich ereignet, ist authentisch."(8) Daß es bei der Auseinandersetzung zwischen Cage und Boulez um mehr geht als um den bloßen Methodenstreit von Zufall und Notwendigkeit, wird beim Lesen des Briefwechsels offensichtlich. Es geht darin um nichts weniger als um das theologische Erbe der Musik selbst. Zur Verhandlung stehen die Schöpfermacht des Künstlers und ihr weltlicher Habitus von Kontrolle und Organisation. Zur Verhandlung steht aber auch das Bündnis zwischen der gewissenhaften Konstruktion und dem Gewissen der formalen Stimmigkeit als der Moral des geschlossenen Werks. Und schließlich geht es auch noch um das Publikum als einer Gemeinde von Propheten. Zwar schränkt die neue Musik insgesamt die Sicherheit des Mit- und Voraushörens drastisch ein und damit die tonalitätsverwöhnte Lust an hohen Wiedererkennungswerten. Dennoch läßt sich narzißtische Selbstbestätigung bei Boulez immer noch eher erfahren als bei Cage. Vorrangig über das Studium und das wiederholte Hören des notierten und in seiner Identität unendlich reproduzierbaren Werks. Während Boulez davon überzeugt ist, daß die überkommene und verfeinerbare Notenschrift nach wie vor eine ästhetische Erkenntnis formulieren kann, die den komplexen Strukturen der Welt angemessen ist, setzt Cage auf eine Transformation des Notentextes, die die "Gutenberg-Galaxis" auch der Musik hinter sich läßt. Damit praktiziert Cage den Abfall vom reinen Werk in doppelter Hinsicht: als eine Abkehr von der Meisterschaft des kompositorischen Handwerks und als eine Befreiung der verfemten Zonen von Geräusch, Lärm und Stille, die dem Gebot des reinen Tons und dem Gebot der Kontinuität bislang nur als Störung, als Abfall galten. Jedenfalls verrät Boulez' an manchen Stellen gereizter, um nicht zu sagen autoritärer Tonfall, was in diesem Briefwechsel auf dem Spiel steht. Formeln wie diejenigen: "was ich auf keinen Fall dulden kann", was ich "absolut nicht akzeptieren" kann(9), reagieren auf Bedrohung. Kann doch für die Ordnung und den Plan des Komponierten der "Zufall aus Versehen", wie Boulez ihn nennt, nur zerstörerisch sein. Ebenso zerstörerisch wie Cages Prinzip der "Gleichgültigkeit"; verstanden als gleiche Gültigkeit jenseits der Wertung nach Wichtigem und Unwichtigem, Bedeutendem und Unbedeutendem. Eine Enthierarchisierung, die in der abendländischen Tradition bislang der Mystik oder der Nachtseite von Krankheit und Wahnsinn zugefallen war. Abgesehen davon, daß Boulez' Musik bisweilen in die Nähe technizistischer Erstarrung und dekorativer Selbstgenügsamkeit gerät, diejenige Cages aber in die Nähe von Naivität und Trivialität; abgesehen auch davon, daß die Rede vom "absoluten" Zufall, den Boulez Cage ankreidet, philosophisch unhaltbar, weil undenkbar ist, ebenso unhaltbar zumindest wie Cages Neigung, den Zufall gegen jegliches dramaturgische Komponieren zu verabsolutieren -: ein Phänomen sollte gleichwohl zu denken geben. Das Phänomen, daß die durchrationalisierte Komplexität bei Boulez den großen Zufallskompositionen Cages wie der Music of Changes , den Freeman-Etudes oder den späten Zahlenstücken an ästhetischer Dichte und Authentizität nichts voraushat. Was dies für das aktuelle Bewußtsein der Musik der Gegenwart bedeuten kann, beginnt allmählich wirksam zu werden: im Wagnis einer Komplexität jenseits der konstruktiven Exzesse und frei vom Nazarenertum einer neuen Sinnlichkeit. Dieses Wagnis vor der Falle falscher Kompromisse warnen zu können, macht noch immer die Brisanz des Briefwechsels Cage/Boulez aus, eines Briefwechsels, dessen theoretische wie künstlerische Bedeutsamkeit gerade in der wechselseitigen Kompromißlosigkeit liegt. (Johannes Bauer) Nachweise 1 Briefwechsel, S. 149. 2 A. a. O., S. 168. 3 Boulez, Werkstatt-Texte, Frankfurt a. M. - Berlin 1972, S. 104. 4 Boulez, Wille und Zufall, Stuttgart/Zürich 1977, S. 97. 5 Briefwechsel, S. 129. 6 A. a. O., S. 128-130. 7 A. a. O., S. 148f. 8 A. a. O., S. 128. 9 A. a. O., S. 129. ​ ​

  • Johannes Bauer, Haydn in London (Teil 1)

    Haydn in London oder Der lose liberale Gang der Musik ​ 1.Teil Südwestrundfunk 2004 Haydn in der britischen Metropole: das bedeutet zunächst die ebenso wachen wie gewitzten Beobachtungen eines Musikers in der «unendlich großen Stadt London»; das bedeutet zudem den Kult um einen Komponisten, der den Triumph beim Publikum der «Kenner und Liebhaber» durchaus zu genießen weiß; vor allem aber bedeuten Haydns Englandreisen die symphonische Summe einer Musik, von der Goethe meinte, sie sei «vielleicht zu überbieten, aber nicht zu übertreffen». Was Haydns Londoner Symphonien an Hintergründigkeit im Umgang mit der musikalischen Zeit formulieren, welchen Esprit, welche Reflexion sie im Erzeugen und Austarieren komponierter Symmetriebrüche erkennen lassen - vom geistreichen Spiel bis zum Ernstfall: immer sind es Charakteristika, die die Idee des Republikanischen einlösen und Mündigkeit auch im Auditorium, im Akt des Hörens voraussetzen. Sechs Sendungen werden Haydn in England begleiten: vom sensationellen Erfolg der ersten Saison 1791 (I: Magier und Souverän ) bis zu jenem berühmten Konzert im Mai 1795 mit der Uraufführung der letzten Symphonie des Komponisten (VI: Dr. Haydn’s Night ). Sechs Sendungen einer Reihe, die selbst zu einer Reise auf der Spur von Haydns symphonischem Spätwerk wird: seiner körperhaften Gestik (II: Musik von unten ), seiner sinnlichen Spiritualität (III: Affekte - Effekte ), seiner labyrinthischen Verwicklung (IV: Dämon Zeit ), seiner prozesshaften Dramaturgie (V: Weltlauf mit Fanfare ). 1. Magier und Souverän ​ Bspl. 1: Mozart, Le nozze di Figaro, Ouvertüre / Takt 139–Schluss [2´15] (Staatskapelle Dresden / Sir Colin Davis) «Nun – da siz ich in meiner Einöde – verlassen – wie ein armer waiß – fast ohne menschlicher Gesellschaft – traurig – voll der Errinerung vergangener Edlen täge – ja leyder vergangen – und wer weis, wan diese angenehme täge wider komen werden? diese schöne gesellschaften? wo ein ganzer Kreiß Ein herz, Eine Seele ist – alle diese schöne Musicalische Abende – welche sich nur dencken, und nicht beschreiben lassen – wo sind alle diese begeisterungen? – weg sind Sie – und auf lange sins Sie weg. (...) so­gar die Traume verfolgten mich; dan, da ich am besten die opera le Nozze di Figaro zu hören traumte; wegte mich der Fatale Nordwind auf, und blies mir fast die schlafhauben von Kopf...». Als Joseph Haydn am 9. Februar 1790 von Schloss Eszterháza aus Marianne von Genzinger sein Leid klagt, ahnte er nicht, wie schnell sich seine Situation ändern sollte. Noch im selben Monat starb die Fürstin Esterházy, im September 1790 dann der Fürst selbst, Nikolaus Esterházy, in dessen Diensten Haydn 28 Jahre lang gestanden hatte. Nach Auflösung des Orchesters durch Anton von Esterházy behielt Haydn zwar nominell seinen Posten als Kapellmeister mit einer lebenslangen Pension von jährlich 1000 und einem Gehalt von 400 Gulden. Allerdings ohne weitere Dienstverpflichtung, was Haydn veranlasste, zahlreicher Bindungen und Verbindungen wegen umgehend nach Wien zu übersiedeln. Dort wird schon wenig später, im November 1790, der in London als Kon­zertmeister tätige Impresario Johann Peter Salomon bei Haydn vorstellig, um den Kom­ponisten für eine Konzertreihe nach England zu verpflichten. «Ich bin Salomon aus London und komme Sie abzuholen. Morgen werden wir einen Ak­kord schließen.» Dieser Akkord verpflichtete Haydn, eine Oper und sechs Symphonien für London zu komponieren und zu dirigieren. Da ihm zudem die kompletten Einnahmen eines Benefiz­konzerts garantiert wurden, belief sich Haydns in Aussicht gestellter Gewinn mit sämtli­chen Honoraren und Verlagsrechten auf rund 5000 Gulden. Es dürften die verlockenden Bedingungen dieses Vertrags gewesen sein, die Haydns rasche Zustimmung bewirkten. Bereits am 15. Dezember I790 brachen Haydn und Salomon von Wien auf und setzten am 31. Dezember nach Dover über. «Berichte demnach, daß ich den ersten dieses als an neuen Jahres tag früch um halb 8 uhr nach angehörter H. Meß in das schif stiege, und nachmittag um 5 uhr dem höchsten sey gedanckt wohlbehalten und gesund zu Dower ankame, anfangs hatten wür 4 ganze stund fast gar keinen wind, und das schif gieng so langsam, daß wür in diesen 4 stunden nicht mehr als eine einzige Englische Meile machten, deren aber sind v. Calais bis Do­wer 24. unser schif Capitain in üblester laune sagte, daß, wan sich der wind nicht än­dere, wür die ganze nacht zur See bleiben müssen, zum glück aber hub sich der Wind gegen halb 12 uhr so günstig, daß wür bis 4 uhr 22 Meilen zurück legten [...] wehrend der ganzen überfahrt bliebe ich oben auf den schif um das ungeheure Thier das Meer satsam zu betrachten, solange es windstill war, förchtete ich mich nicht, zulezt aber, da der immer stärckere Wind ausbrach und ich die heranschlagende ungestimme hohe wellen sahe, überfiel mich eine kleine angst, und mit dieser eine kleine üblichkeit. doch überwündete ich alles, und kam ohne – S[ie] v[erzeihen] – zu brechen glücklich an das gestadt. die meisten wurden kranck, und sahen wie die geister aus». Am 2. Januar 1791 trifft Haydn in London ein. Schon drei Tage vor seiner Ankunft inse­riert der Morning Chronicle: «Die Vorbereitungen für die nächste Musiksaison bürgen für einen überaus wohlklingen­den Winter. Außer den beiden rivalisierenden Opernhäusern ist eine Konzertserie unter der Leitung von Haydn zu erwarten [...] zu dem die Liebhaber instrumentaler Musik wie zu dem Gott der Wissenschaft aufblicken.» Im Gepäck hatte Haydn, da er der Eile des Aufbruchs wegen nicht gleich neue Werke für London komponieren konnte, die schon 1788/89 entstandenen, aber dort noch unbe­kannten Symphonien 90 und 92 , von denen gerade die 92. Symphonie , die «Oxforder», in England außerordentliche Beliebtheit erreichen sollte. ​ Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 92, 4. Satz / ganz [5´45] (Österreichisch-Ungarisches Haydn-Orchester / Adam Fischer) Haydn in London, der Weltmetropole, die ihn überwältigt. Mit knapp einer Million Einwoh­ner die größte Stadt der Christenheit, Mittelpunkt eines kolonialen Handelsimperiums mit dem bedeutendsten Hafen der Welt; ein Schmelztiegel unter der Knute des Profits, mit Pracht- und Elendsvierteln, mit Monarchie und parlamentarischer Tradition, mit liberalem Bürgertum und frühem Industrieproletariat, politischen Skandalen und Maschinenstürme­rei. Ein Moloch des Vergnügens und des Verbrechens, voll mit Kunstschätzen, Stadtpa­lästen, riesigen Parks und mehreren hundert Kirchen. Die Straßen von Öllampen be­leuchtet und gesäumt von Bürgersteigen, um die Fußgänger vor dem rollenden Verkehr zu schützen. Hören wir, um einen Eindruck von der Londoner Atmosphäre am Ende des 18. Jahrhun­derts zu bekommen, dem Schriftsteller und Physiker Georg Christoph Lichtenberg zu, der die englische Metropole 16 Jahre vor Haydns Ankunft schildert. «Stellen Sie sich eine Straße vor [...]. Auf beiden Seiten hohe Häuser mit Fenstern von Spiegelglas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen ganz von Glas zu sein; viele Tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücher­läden, Uhren, Glas, Zinn, Gemälde, Frauenzimmer-Putz und Unputz, Gold, Edelgesteine, Stahl-Arbeit, Kaffeezimmer und Lottery Offices ohne Ende. [...] Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrach­ten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by Your leave wenn Sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von Tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tam­bourinen englischer Savoyarden und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. [...] Auf einmal ruft einer, dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief, und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine Uhr oder einen Geld­beutel zu erwischen. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich ange­kleidetes Mädchen bei der Hand: come, My Lord, come along, let us drink a glass to­gether, or I’ll go with You if You please; dann passiert ein Unglück 4o Schritte vor Ihnen; God bless me, rufen einige, poor creature ein anderer; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint Anteil an dem Unglück des Elenden zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder, weil einer sich aus Versehen in die Gosse gelegt hat; look there, damn me, sagt ein Dritter und dann geht der Zug weiter. Zwischendurch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrei von Hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme oder ein Haus einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte. [...] Hier ist man [...] froh, wenn man mit heiler Haut in einem Nebengäßgen den Sturm auswarten kann. Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spazieren ginge oder ob­servierte, sondern alles scheint zu einem Sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem Dezemberabend.» Und wie kommt Haydn im Januar 1791 mit diesem Tumult zurecht? «Ich gebrauchte 2 Tag um mich zu erhollen. nun aber bin ich wider ganz frisch und Mun­ter, und betrachte die unendich grosse stadt london, welche wegen Ihren verschiedenen schönheiten und wunder dingen ganz in Erstaunung versezt, ich machte alsogleich die Nothwendigsten Visiten, als den Neapolitanischen und unsern gesandten, ich erhilte in 2 Tagen von beeden die gegen Visit, und speisete vor 4 Tagen bey dem Ersteren zu Mit­tag, aber NB um 6 uhr abends, das ist So Mode hier. meine anckunft verursachte gros­ses aufsehen durch die ganze stadt durch 3 Tag wurd ich in allen zeitungen herumgetra­gen: jederman ist begierig mich zu kennen. ich muste schon 6 mahl ausspeisen, und könte wenn ich wolte taglich eingeladen seyn, allein ich mus erstens auf meine Gesund­heit, und 2tens auf meine arbeith sehen. ich nehme ausser denen Milords bis nachmittag um 2 uhr keine visite an. um 4 uhr speis ich zu Hauß mit Mon. Salomon. ich habe ein niedliches bequemes aber auch theueres logement [...] alles ist erschröcklich theuer. gestern wurde ich zu ein. grossen liebhaber Concert geladen [...] ich wurde unter den arm des Entepraneurs unter allgemein. Hände Klatschen durch die Mitte des Saals bis vorne an das orchest. geführt, allda angeäffet. und mit einer menge Englischer Compli­menten bewundert, man versicherte mich, daß diese Ehre seit 50 Jahren nicht seye voll­zohen worden [...] alles dieses [...] war für mich sehr schmeichelhafft, doch wünschte ich mir auf eine zeit nach wienn fliehen zu könen um mehrere ruhe zur arbeith zu haben, dan der lärm auf denen gassen von dem allgemeinen verschiedenen Verkaufs Volck ist unausstehlich». Längst war Haydn in England berühmt. Seine Werke waren im britischen Musikleben be­kannt – im Gegensatz zu denjenigen Mozarts – und hoch geschätzt. Zwischen Haydn und diversen Londoner Verlegern bestanden Verträge. Zudem war Salomons Einladung keineswegs die erste, wenn auch die erste, die Erfolg hatte. All das erklärt, mit welcher Spannung Haydn in London erwartet wurde, und weshalb Charles Burney, der führende englische Musikschriftsteller, Haydn in seinen Begrüßungsversen als «Great Sovereign of the tuneful art» feiern konnte. Und was hatte London einem Komponisten auf musikalischem Gebiet nicht alles zu bie­ten! Ein vom Hof, von Adel und Bürgertum getragenes kulturelles Leben, eine florie­rende, öffentliche Konzertpraxis, den Wettstreit zahlreicher Abonnementsreihen auf kommerzieller Subskriptionsbasis, professionelle Orchester mit erstklassigen Musikern und eine rege Presse mit ausführlicher Berichterstattung. Am 11. März 1791 findet endlich das lang erwartete erste Salomon-Konzert Haydns in den Hanover Square Rooms statt. Auf dem Programm, entgegen der üblichen Zählung, die Symphonie Nr. 96 D-Dur als erste der Londoner Symphonien . Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / ganz [9´35] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Bereits dieses erste Konzert sicherte Haydn den Beifall des Publikums und die Anerken­nung durch die Kritik: «Letzte Nacht fand das erste Konzert unter Haydns Leitung statt; womöglich gab es nie­mals ein größeres musikalisches Vergnügen. [Haydns] neue Große Ouvertüre [die Sym­phonie Nr. 96 ] wurde von jedem kundigem Ohr als eine äußerst exzellente Komposition anerkannt». «Das Publikum war so begeistert, dass auf einhelligen Wunsch der zweite Satz wiederholt wurde; der dritte wurde ebenfalls stürmisch ein zweites Mal verlangt, wobei lediglich die Bescheidenheit des Komponisten allzu bestimmt eine nochmalige Wiedergabe verhinderte.» Was war es, dass das englische Publikum so sehr für Haydns Musik einnahm? War es das Changieren zwischen dem republikanischen Gestus und einer letzten idiomatischen Erinnerung an das Ancien Régime und seine Musik? War es also eine Rhetorik, die sich im Sturm der neuen Zeit nochmals vor der Tradition verneigt – selbst noch im Struktur­modell der Wiederholung des Durchführungs-, Reprisen- und Codateils im Kopfsatz? Eine Wiederholung, die Haydn in der 96. Symphonie zum letzten Mal komponiert, als sei er sich der rezeptiven Fassungskraft des Londoner Publikums noch nicht ganz sicher. Mag sein, dass genau diese Rhetorik der Mischung den Nerv des Londoner Publikums traf; eine Rhetorik, wie sie bereits die langsame Einleitung bestimmt, mit ihrer Legierung von feierlicher Eröffnung und schmerzlicher Chromatik und ihrer Eintrübung von D-Dur nach d-Moll. Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 1–17 [1´20] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Zudem präsentiert Haydn in dieser Symphonie ein Kompendium seines Ausdrucks- und Konstruktionsrepertoires. So, wenn im ersten Satz nach einer längeren Durchführungs­partie der Einsatz des Hauptthemas – abgesetzt durch eine fast dreitaktige General­pause – den Reprisenbeginn zu signalisieren scheint, den Haydn wenig später als Scheinreprise aufdeckt: als ein Zu-früh also, da die reguläre Reprise nach erneuter Durchführungsarbeit erst 22 Takte später einsetzt. Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 117–161 [1´00] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Was Haydns Londoner Symphonien an Hintergründigkeit im Umgang mit der musikali­schen Zeit formulieren, welchen Esprit sie im Erzeugen und Austarieren komponierter Symmetriebrüche realisieren – vom geistreichen Spiel bis zum Ernstfall: immer sind es Charakteristika, die mit der Mündigkeit des Hörens als einer Forderung tätigen Mitden­kens und dadurch mit der Mündigkeit der Person rechnen. Spielt Haydn mit den Erwar­tungen der Hörer, ist dieses Spiel stets mehr als nur ein Spiel. Musikalische Gedanken­arbeit wäre dafür wohl der adäquate Ausdruck. So zieht Haydn die Summe des Zeitalters der Aufklärung auch in der Musik. Haydn setzt seine Hörer einem Labyrinth verwickelter kompositorischer Arbeit aus, in dem es Orientierung und Autonomie zu beweisen gilt, weil Divertissement und Unterhaltung den Belangen der Zeit gegenüber zurückgebliebe­nes Bewusstsein bedeuten. Wie ernst und fordernd diese Belange sind, lässt der Schluss des ersten Satzes der Symphonie Nr. 96 hörbar werden: ein Schluss mit drama­tischer Fanfarenrhetorik und kathastrophisch eingefärbtem d-Moll-Ausbruch. Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 165–Schluss [0´55] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Als Haydn die D-Dur-Symphonie 1791 in London komponiert, sind die Auswirkungen der Französischen Revolution längst auch in der britischen Metropole an der steigenden Zahl der Flüchtlinge zu spüren. Die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Revolu­tion und Revolutionsgegnern gewinnen an Heftigkeit, am prominentesten in der Kontro­verse zwischen Thomas Paine und Edmund Burke. Die Verunsicherung in der Regierung und weiten Kreisen der Bevölkerung nimmt zu, republikanische Klubs werden gegründet. Ein Bild der Situation liefern die Memoiren der Charlotte Papendiek, einer englischen Hofdame und Gattin des Musiklehrers der königlichen Familie: «Der alarmierende Zustand des Zeitgeschehens veranlasste die königliche Familie in der Stadt zu bleiben, da die Französische Revolution an Boden gewann, und revolutionäre Ideen sich auch hier ausbreiteten. Fast in jeder Stadt und in jedem Landkreis wurden Gesellschaften gegründet, die gegen die Autorität der Regierung eingestellt waren, und die aus Leuten der verschiedensten sozialen Klassen bestanden. In London nannten sich einige dieser Vereinigungen ‹The Debating Societies›, ‹The Corresponding Socie­ties›, ‹Night of the People› etc. [...] Die Stadtpolizei wurde in Bereitschaft gehalten [...] und die Artilleriekorps waren in Alarmbereitschaft. Auch alle anderen größeren Städte folgten dem Londoner Beispiel.» Bekannt ist, dass Haydn während der Londoner Zeit selbst Kontakt zu einigen «men of letters» unterhielt, etwa zu Thomas Holcroft, dem Verfasser mehrerer sozialutopischer und revolutionsfreundlicher Romane und Dramen und eines Huldigungsgedichts an Haydn, oder zu John Wolcot, der den Text zu Haydns Chorwerk The Storm schrieb und unter dem Pseudonym Peter Pindar zahlreiche gesellschaftskritische Politsatiren dru­cken ließ. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 96, 1. Satz / Takt 84–Schluss [2´40] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Wie Haydns D-Dur-Symphonie (Nr.96) im zweiten Jahr der Französischen Revolution zwischen der Erinnerung an das Ancien Régime und republikanischer Verve changiert, verdeutlicht ein Detail gegen Ende des zweiten Satzes, das wie ein Kommentar zu den Zeitumständen wirkt: Geradezu bedrohlich wird hier eine Trillerfigur der Holzbläser, or­namentales Zitat der galanten Rhetorik des Ancien Régime, vom harmoniefremden Vor­halt der Celli und Kontrabässe grundiert und verabschiedet. Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 96, 2. Satz / Takt 83–Schluss [0´30] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) ​ Diese Stelle steht am Ende eines Variationssatzes mit konzertierenden Holzbläsern und Hörnern und einem kontrapunktischen g-Moll-Mittelteil, der die Dimension des Erhabe­nen, die die zeitgenössische Kritik an Haydn hervorhebt, mit fast barockem Pathos ins Spiel bringt. Mit seiner konzertanten Faktur wird dieses G-Dur-Andante zu einer Verbeu­gung Haydns vor dem Orchester als einer Republik im Kleinen, in der jede Stimme solis­tischen Wert hat. Und dies nicht nur in der konzertartigen Quasi-Kadenz der beiden So­loviolinen am Ende des Satzes. Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 96, 2. Satz / ganz [5´30] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Der hohe symphonische Ton des Menuetts zeigt eine weitere Facette der Mischung und des republikanischen Idioms nicht nur in seinen zahlreichen Signalfanfaren, sondern auch in seiner Öffnung für die Couleur locale der populären Sphäre im Trio mit Solo-Oboe und Ländlerton. Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 96, 3. Satz / ganz [4´55] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Im Finale der Symphonie Nr. 96 schließlich Elan mit Fanfare. Ein «Vivace assai», das ebenfalls Mischungen und Kontraste auskomponiert: etwa im kontretanzhaften Rondo­thema, dem eine hochdramatische d-Moll-Episode mit Durchführungscharakter wie ein musikalischer Sturmvogel der neuen Zeit folgt. Vor allem aber ist es das Wechselspiel vom Entschwinden und Wiedererscheinen des Themas, das das Finale zum symphoni­schen Laboratorium schärft, um darin eine Epochengrenze auszuloten. Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 96, 4. Satz / ganz [3´35] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) ​ ​ ​ ​2. Musik von unten ​ Bspl. 1: Symphonie Nr. 95 c-Moll, 4. Satz / Takt 32–Schluss [2´40] (Hanover Band / Roy Goodman) Fugierte Technik in Vollendung. So als wollte Haydn mit dem Finale der Symphonie Nr. 95 das Londoner Publikum davon überzeugen, mit welcher Meisterschaft auch ihm – wie Mozart in der Jupitersymphonie – die «gelehrten» kontrapunktischen Künste zur Verfü­gung stünden. Und doch geht es um mehr: der Furor, der den Satz mit Signalfanfaren durchquert und in der Reprise einen Durchbruch von c-Moll nach C-Dur auskomponiert, spricht die neue Sprache des «Durch Nacht zum Licht» mit republikanischem Elan. Mit einer drängenden Geste, die schon im konzisen Kopfsatz der Symphonie, der einzigen der Londoner Reihe in einer Molltonart, die Scheidung der ästhetischen von der empiri­schen Zeit blitzartig, ohne die Vermittlung einer langsamen Einleitung in Szene setzt. Bspl. 2: Symphonie Nr. 95 c-Moll, 1. Satz / Takt 1–28 [0´50] (Österreichisch-Ungarisches Haydn-Orchester / Adam Fischer) Haydn wusste seine Wertschätzung bei «Kennern und Liebhabern» durchaus zu genie­ßen. Eine Wertschätzung, die keineswegs auf den Konzertsaal beschränkt blieb. Haydn in London – das war ein öffentliches Ereignis, durchaus schon mit Zügen moderner Pub­licity. Hof, Adel und Bürgertum nahmen an der Anwesenheit des Komponisten regen Anteil und rivalisierten mit Gunstbezeugungen. Gesellschaftliche Verpflichtungen – Ein­ladungen zum Dinner, zu Banketten, auf Bälle, Feste und in Konzerte – gaben ein volles Programm vor. Zugleich hatte Haydn bei all diesen Ablenkungen in einer ebenso aufre­genden wie ungewohnten Umgebung auf die Einhaltung seines Vertrags und die Liefe­rung neuer Kompositionen zu achten. Um die nötige Zeit zur Arbeit zu finden, musste Haydn also den Kult um seine Person ökonomisch organisieren. Doch damit nicht genug. Nachdem es den Professional Concerts, dem Gegenunterneh­men zur Konzertreihe Salomons und Haydns, misslungen war, Haydn mit beträchtlich höherem Honorar selbst zu verpflichten, setzten sie eine Kampagne gegen den Kompo­nisten in Gang – mit allen Möglichkeiten, die der Markt einschließlich Pressewesen und Sensationsreklame hergab. Höhepunkt dieser Kampagne war die Einladung von Haydns ehemaligem Schüler Ignaz Pleyel im Dezember 1791 nach London, vor allem in Erwar­tung eines profitträchtigen Komponistenwettstreits. Allerdings ging diese Rechnung nicht auf, da Pleyel und Haydn einander in bestem Einvernehmen begegneten: «Pleyel zeugte sich bey seiner ankunft gegen mich so bescheiden, daß Er neuerdings meine liebe gewann, wür sind sehr oft zu sam, und das macht Ihm Ehre, und Er weis seinen vatter zu schätzen. wür werden unsern Ruhm gleich theillen und jeder vergnügt nach hause gehen». Dennoch: Haydns Arbeitsbelastung in diesem Klima aus Konkurrenz- und Erwartungs­druck war enorm. Nach Auskunft Georg August Griesingers, Haydns frühen Biographen, benötigte der Komponist in London für die Komposition einer Symphonie etwa einen Mo­nat: Zeugnis einer schöpferischen Souveränität, die staunen macht. Wie groß die An­spannung allerdings war, belegen Haydns Briefe an Marianne von Genzinger während der ersten Monate des Jahres 1792: «Wenn Euer gnaden seheten, wie ich hier in London Seccirt werde in allen denen privat Musicken beyzuwohnen, wobey ich sehr viel zeit verliehre, und die menge deren ar­beithen so man mir aufbürdet, würden Sie gnädige Frau mit mir und über mich das gröste Mittleyd haben, ich schriebe zeit lebens nie in Einen Jahr so viel als im gegenwär­tig verflossenen, bin aber auch fast ganz Erschöpft [...] ich arbeithe gegenwärtig für Sa­lomons Concert, und bin bemüssigt mir all erdenckliche mühe zu geben, weil unsere gegner die Professional versamlung meinen schüller Pleyell von Strassburg haben an­hero komen lassen, um Ihre Concerten zu Dirigiren. es wird also einen blutig Harmoni­schen Krieg absezen zwischen dem Meister und schüller, man finge gleich an in allen zeitungen davon zu sprechen, allein, mir scheint, es wird bald Allianz werden, weil mein credit zu fest gebaut ist.» / «Kein Tag, ja gar keinen Tag bin ich ohne arbeith, und ich werde meinem lieben gott dancken, wenn ich wie eher desto lieber werde london verlas­sen könen. meine arbeithen erschweren sich durch die ankunft meines schüllers Pleyl [...] Er kam mit einer menge neuer Composition, welche Er schon lang vorhero verfertigte anhero an, Er versprache demnach alle abende ein neues Stück zu geben, da ich dan diss sahe, und leicht einsehen konte, daß der ganze haufen wider mich ist, liesse ich es auch Publiciren, daß ich ebenfals 12 neue verschiedene stücke geben werde, um also worth zu halten, und um den armen Salomon zu unterstüzen mus ich das Sacrifice seyn und stets arbeithen, ich fühle es aber auch in der that, meine Augen leyden an meisten, und hab viele schlaflose nächte: mit der hilfe gottes werd ich alles überwinden, die H. Professionisten suchten mir eine brille auf die Nase zu setzen, weil ich nicht zu Ihren Concert überginge, allein, das Publicum ist gerecht; ich erhielte voriges Jahr grossen beyfall, gegenwärtig aber noch mehr». / «Ohngeachtet [also] der grossen Opposition und Musicfeinde, so wider mich sind, und sich besonders samt meinem schüller Pleyl diesen winter alle mühe gaben mich herabzusetzen, erhielte ich (gott lob) die oberhand: ich mus aber beckenen, daß ich wegen so vieler arbeith ganz ermüdet und erschöpft bin, und sehe mit heissen wunsch meiner Ruhe entgegen, welche sich dan gar bald meiner erbarmen wird.» In solcher Atmosphäre fand am 17. Februar 1792 das erste Salomon-Konzert der zwei­ten Saison mit der Uraufführung von Haydns Symphonie Nr. 93 in D-Dur statt. Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 93, 1. Satz / ganz [8´20] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Wie Haydn in diesem Satz melodische und tänzerische Charaktere mit der kontrapunkti­schen Strenge der Durchführung kreuzt, «Galantes und Gelehrtes» also in wechselsei­tige Spannung bringt und zugleich den Unterscheidungseifer solcher Kategorien aufhebt, wurde vom Publikum begeistert aufgenommen und von der Presse unter Berufung auf das «Urteil der Kenner» als Qualitätssiegel einer «außerordentlichen» Komposition ho­noriert. «Jeder Satz wies eine derartige Vereinigung hervorragender Qualitäten auf», kommentierte die Times, «dass sämtliche Spieler wie Zuhörer zu enthusiastischer Leidenschaft hingerissen wur­den. Ideenneuheit, einnehmende Überraschungen und kapriziöser Humor verbanden sich mit Haydns erhabener und gewohnter Größe und beeinflussten Seele und Gemüt aller Anwesenden». Der zweite Satz der Symphonie Nr. 93 , ein «Largo cantabile» in G-Dur, musste wieder­holt werden, ein Satz, der sich nach dem intimen Beginn im Concertino des Streich­quartetts schon bald zum kollektiven Pathos feierlichen Schreitens weitet. Zäsiert durch jeweils neu kontrastierende Tutti-Episoden entfaltet das Thema seinen sprechenden Charakter in einer rhapsodischen Brechung durch Barockidiom, Mollschleier und Trio­lenpuls. Einmal mehr demonstriert Haydn in diesem Satz, wie die spirituell aufgehellte Welthaltigkeit seiner Musik ihrem körperhaften Impuls verbunden bleibt, hier der Subli­mierung lied- und marschhafter Charaktere. Und wenn sich am Schluss das Thema in die Abspaltung seines Auftaktmotivs auflöst, wird dies nicht zur tragischen Maske, son­dern zu einer Nuance des schöpferischen Eros der Verwandlung. Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 1-77 [4´50] (Cleveland Orchestra / George Szell) Sprengt allerdings gegen Ende ein stimmungswidriges Fortissimo-C der Fagotte jäh und schockhaft den poetischen Charakter des Satzes, erweist sich Haydn erneut als Meister der Surprising-Effekte. Vorbereitet durch ein Spannung erzeugendes Stocken durch­schlägt die Musik die lyrisch-heroische Aura des Satzes mit der Unberechenbarkeit eines derben musikalischen Witzes. Ein Ausdruck der Ironie und – vom klassischen Ideal her gehört – das frühe Moment einer Ästhetik des Hässlichen, einer Musik von unten, die sich wenig um die Tabuisierung der niederen Sphäre schert und dem sublimierten Ton des Satzes mit der Triebcanaille drastischer Körperlichkeit in die Parade fährt. Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 73–Schluss [1´00] (Cleveland Orchestra / George Szell) ​ Dass die zeitgenössische englische Presse eine Verwandtschaft zwischen Haydn und Shakespeare hergestellt hat, verwundert angesichts einer solchen Stelle weniger. Die Mischung vielfältiger Affekte, die für Haydns Musik bezeichnend ist, oder die Kontrastie­rung der Gattungen des Hohen und Niedrigen, die sich in der Fagott-Kaprice der D-Dur-Symphonie konzentriert, können durchaus an Shakespeares Kombinatorik unterschied­lichster Charaktere erinnern. An seine Überschreitung von Stilgrenzen im Universum hart gefügter und gerade dadurch das Welttheater in Gang haltender Widersprüche. Zugleich erinnert Haydns Sinnirritation an die seines Zeitgenossen, des Schriftstellers und Physi­kers Georg Christoph Lichtenberg; vor allem an dessen «Cross-readings», zu denen Lichtenberg auf seinen Englandreisen beim Lesen der mehrspaltigen britischen Tages­zeitungen angeregt wurde. «Man muss sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin so­wohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art usw. anzutreffen sind: der Druck jeder Seite sei in zwei oder mehrere Kolumnen geteilt, und man lese die Seiten quer durch, aus einer Kolumne in die andere», schreibt Lichtenberg zu seiner «Nachahmung der englischen Cross-readings», um nach dieser Anleitung Beispiele folgender Art zu liefern: «Am 13. dieses schlug der Blitz in die hiesige Kreuzkirche – / Und setzte Tages darauf seine Reise weiter fort». - «Es wird eine Köchin gesucht, die mit Backwerk umzugehen weiß – / Zu zwei Personen eingerichtet, nebst etwas Kellerraum.» Was Lichtenbergs «Cross-readings» als sprunghaften Übertrag von einer Spalte zur anderen realisieren, sind Risse im Sinntransfer der Sprache. Eine Übertragung mit Kurz­schlüssen, deren Blitze frappante Korrespondenzen zwischen unterschiedlichsten Welt­ressorts zünden. Eine Sinnstiftung zweiter Ordnung, die den konventionellen Sinn erster Ordnung in Frage stellt. Ähnlich bedeuten Haydns Rupturen erste Lecks und stim­mungswidrige Asymmetrien im gewohnten Sinnkreislauf des symphonischen Kosmos. Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 93, 2. Satz / Takt 73–Schluss [1´00] (Cleveland Orchestra / George Szell) Die Mischung unterschiedlicher Tonfälle und Ausdrucksbereiche findet sich auch im drit­ten Satz der D-Dur-Symphonie , der Nr. 96, mit seiner Kombination von symphonischer Durchführungsarbeit und deutschem Tanz – jenseits des höfischen Menuettcharakters. Vor allem der Trio-Teil verschränkt militärische Signale und Tanzbodenambiente zu einer Gegenwart des dritten Standes, die als ein Eindringen zeitgeschichtlicher Realität in die Musik die ästhetische Ordnung für Momente irritiert. Etwa wenn die Streicher im Ver­such, auf die Bläserfanfaren zu antworten, buchstäblich aus ihrer harmonischen Bahn geraten, unschlüssig, ja verstört schwankend zwischen den regel- und erwartungswidri­gen Tonarten h-Moll, G-Dur und F-Dur, bis der Diskurs endlich in die Grundtonart D-Dur und ins tanzhafte Idiom zurückfindet. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 93, 3. Satz / Takt 47–Schluss [2´45] (Cleveland Orchestra / George Szell) Ein Aufgebot an Haydns dem Zeitalter der Aufklärung so eng verbundener Rhetorik schließlich auch im Finale. Wenn sich die Musik auf dem Weg zur Reprise und damit zu einer für die Stabilität der Struktur herausgehobenen Formsequenz auf Cis festläuft, stockt, gleichsam den Faden verliert, und erst durch einen massiven Tutti-Appell wieder zur Besinnung und auf den rechten Weg gebracht wird, dann mahnt hier der Imperativ des Orchesters kollektive Verantwortung an, Gattungsbelange also. Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / Takt 148–170 [0´20] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Und um Gattungsbelange geht es auch bei den Coda-Fanfaren, deren Ankündigung von einem Pianissimo-Paukenwirbel wie zum Zeichen ihrer zeitgeschichtlichen Brisanz grun­diert wird: ​ Bspl. 9: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / Takt 268–304 [0´35] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) B Erinnern diese Signale nicht an den republikanischen Tonfall des «Viva la libertà» vom Ende des ersten Akts in Mozarts Don Giovanni ? Bspl. 10: Mozart, Don Giovanni, 1. Akt / Nr. 13: Finale / Takt 384–396 [0´25] (Andreas Schmidt, Amanda Halgrimson, Lynne Dawson, John Mark Ainsley, Gregory Yurisich, The London Classical Players / Sir Roger Norrington) Die Emphase selbstbewussten Bürgertums im öffentlichen Raum des Konzertsaals: so könnte man das Finale von Haydns 93. Symphonie charakterisieren. Einen Satz mit ex­pansiver thematischer Arbeit, wie um eine selbstgenügsame Vereinzelung der Themen­subjekte von Beginn an zu unterbinden. Bspl. 11: Haydn, Symphonie Nr. 93, 4. Satz / ganz [5´30] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Im Juni 1791 lernt Haydn Rebecca Schroeter kennen, die Witwe des «Master of the King's Musick» Johann Samuel Schroeter, der er Privatunterricht erteilt und zu der sich eine enge Freundschaft entwickeln wird. Einen Monat später erhält er den Grad eines Doktors der Musik der Universität Oxford, ein Anlass, bei dem die Symphonie Nr. 92 auf­geführt wird, die seither den Namen 0xford-Symphonie trägt. Doch auch sonst ist Haydn ein viel beschäftigter Mann. Mit 58 Jahren immer noch ein waches Kind der Aufklärung und der Enzyklopädisten interessiert sich der Komponist mit ungebrochener Erkundungslust für die unterschiedlichsten Details des englischen Le­bens. Für die Musikszene Londons ebenso wie für das englische Gerichtswesen oder die Skandale der Highsociety. Architektur, Kochrezepte, die Situation der Lohnarbeiter oder das Innere der Bank of England: kaum etwas, das Haydns Wissbegier nicht zu fesseln vermag. Auffällig dabei Haydns Vorliebe für Statistik, als würde sich noch hier jener Zug der Ökonomie und Stringenz zeigen, der seine Musik so nachhaltig bestimmt, um den­noch stets vom Genie des Unberechenbaren unterlaufen zu werden. Dass in 30 Jahren 38.000 Häuser in London gebaut wurden, dass dort 1791 22.000 Menschen starben, dass die Stadt jährlich 800.000 Karren Kohle verbraucht, notiert sich Haydn ebenso er­staunt wie akribisch, um schließlich ins Detail zu gehen: «jeder karn [enthält] in sich 13 Säcke, jeder Sack hat 2 Metzen. die meisten koln komen von Newcastle: es komen öffters 200 schiffe damit beladen zugleich an, der karn kostet 21/2 Pfund». «Zur reinigung der strassen» unterhält die Stadt London «4000 karn, von welchen täglich 2000 arbeiten». «Die Stattsschulden von England» aber rechnet man «über 2 hundert Millionen; man rechnete neustens aus, daß wan man diese Summa in Silber mit einer Zufuhr abzahlen müst; die Wägen dicht aneinander von London bis Yorck als 200 Meyl sich erstrecken würden, ungeachtet man nicht mehr auf jeden Wa­gen als 6000 Pfund legen könte.» Vom 23. Mai bis 1. Juni 1791 erlebt Haydn das Händel-Fest in Westminster Abbey und damit etliche der berühmten Massenaufführungen händelscher Werke, so des Orato­riums Israel in Egypt , mit mehr als 1000 Mitwirkenden. Bspl. 12: Händel, Israel in Egypt, Exodus / Chorus "He gave them hailstones" / ganz [2´20] (Monteverdi Choir and Orchestra / Sir Eliot Gardiner) Händels Oratorien bleiben als monumentale Völkerdramen über ihre alttestamentari­schen Stoffe dem Sendungsbewusstsein des englischen Puritanismus verpflichtet: dem Sendungsbewusstsein der aufsteigenden Weltmacht England in der Rolle eines «neuen Israel» und auserwählten Volkes. Vom nationalen Pathos der frührepublikanischen Tra­dition des 17. Jahrhunderts inspiriert, weder feudalhierarchisch noch konfessionell ge­bunden, drängt Händels Musik mit ihrer um biblische Protagonisten zentrierten Thematik in die kosmopolitische Dimension sittlich-humanitärer Ideale. Eine populäre Kunst höchsten artistischen Niveaus, an der Haydn fasziniert haben dürfte, wie sich die feudal barocke Repräsentation mit dem rhetorischen Schwung frühbürgerlich liberaler Emphase zu durchsetzen beginnt. Diesen Zug jedenfalls hat Haydn Anfang 1792 in der Symphonie Nr. 98 auskomponiert, wenn auch nun vom republikanischen Blickwinkel der Französischen Revolution her. In einer Symphonie also, deren Eröffnungssatz mit seiner gravitätischen Einleitung barocke Affektrhetorik zitiert und im pathetischen Duktus eines Streicherrezitativs von b-Moll über Ges-Dur und Des-Dur zur Dominante F-Dur führt. Bspl. 13: Haydn, Symphonie Nr. 98, 1. Satz / Takt 1–15 [1´00] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) Die Introduktion wird zu Beginn des Allegro-Teils in Dur wieder aufgenommen – nun be­schleunigt und mit einem spielerischen Doppelschlagmotiv die vormalige Strenge der Einleitung ins Graziöse auflösend: als sollte die Tradition dem neuen Ton der Musik gleichsam verführerisch anverwandelt werden. Und dies selbst noch in der Durchfüh­rung, die über weite Strecken in einer stellenweise an Händel erinnernden kontrapunkti­schen Arbeit verläuft; dynamisiert von Fanfarenimpulsen und einer motorischen Energie, die eine strategische Karte gegenläufiger Wege und exzentrischer Bahnen in Musik um­setzt. Eine Strategie freilich, die sich schließlich in einer tänzerischen Themenapotheose aufhebt. Bspl. 14: Haydn, Symphonie Nr. 98, 1. Satz / ganz [8´10] (Concertgebouw Orchestra / Nikolaus Harnoncourt) 3. Affekte – Effekte «Ich war über [Mozarts] Todt eine geraume Zeit ganz ausser mir und konnte es nicht glauben, daß die Vorsicht so schnell einen unersetzlichen Mann in die andere Welt for­dern sollte [...] Sie werden, bester Freund, die Güte haben, mir das Verzeichniß der noch nicht hier bekannten Stücke [Mozarts] mit zu schicken, ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben, solche der Wittwe zum Besten zu befördern; ich hatte der Armen vor 3 Wochen selbst geschrieben, mit dem Inhalt, daß wenn ihr Herzens-Sohn die gehörigen Jahre haben wird, ich denselben unentgeltlich die Composition mit allen meinen Kräften lehren will, um die Stelle des Vaters einigermassen zu ersetzen.» Als Haydn diese Zeilen im Januar 1792 an Johann Michael Puchberg, Mozarts Vertrau­ten der letzten Lebensjahre, schreibt, arbeitet er vermutlich gerade am langsamen Satz der Symphonie Nr. 98 , der sich mit einer Huldigungsgeste vor dem Andante der Jupiter­symphonie verneigt und unter dem Eindruck von Mozarts Tod jede kontrastreiche Affekt­vielfalt zurückweist. Im Gegenteil: im symphonischen Spätwerk Haydns ist dieses F-Dur-Adagio einer der seltenen Sätze, die sich retrospektiv am Medium des barocken Zentral­effekts zu orientieren scheinen, hier an dem von Trauer und Schmerz. Bspl. 1: Haydn, Symphonie Nr. 98, 2. Satz / ganz [6´10] (Cleveland Orchestra / George Szell) Und doch: was nach den dunkel getönten Eingangssätzen der «lose, liberale Gang» der Symphonie Nr. 98 an Stimmungskontrasten zulässt, zeigt das Finale, das sich als Pasticcio und Capriccio mit dem Extrem der Affekte auskennt. Und mit dem Spiel der Formen, Motive und Hörerwartungen. Auch hier thematisiert die Musik eine Auseinan­dersetzung mit der Tradition, nun allerdings eine mit ihren anachronistischen Aspekten. Etwa wenn Haydn dem Sonatensatz mit ironischem Tonfall ausgedehnte solistisch kon­zertante Momente implantiert und dabei manche «agreeable caprice» liefert: Sei es durch einen Bruch in der Dynamik und in der Tonartenregie der Musik, die mit der «fal­schen» Tonart As-Dur ein Podest für zwei ausgedehnte Violinsolos Johann Peter Salo­mons, Haydns Impresarios, aufschlägt. Sei es, indem Haydn, der die Symphonie vom Cembalo oder Fortepiano aus leitete, sich selbst ein galant verzopftes Solo in die Hände schreibt. Dazu kommt noch Haydns berühmter Effekt im Spiel mit der Zeit, mit dem Hän­genbleiben der Musik auf stereotypen Motivrepetitionen, die das kompositorische Ge­triebe offen legen. Dass der gemächlichere Ton der Soloepisoden von Violine und Fortepiano ein anderes Zeitgefühl ins Spiel bringt, ein Zeitgefühl, das in der Coda ausdrücklich mit «più mode­rato» markiert wird, hindert die Musik nicht daran, diese Ritardandi immer wieder dem kollektiven Presto-Furor zu integrieren. Haydn formuliert damit einen musikalischen Ex­kurs zur Beschleunigung der Zeit und des Zeitgefühls in einer Epoche, in der die frühe Industrialisierung und Proletarisierung in England, der «Werkstatt Europas», erste Spu­ren zeigt. Notiert nicht auch Haydn in sein Tagebuch: «Der Handwercksbursch arbeitet insgemein das ganze Jahr von früh 6 über bis 6 uhr abends, und hat durch diese zeit hindurch nicht mehr als anderthalb stunden zu seiner Disposition frey. Er hat die woche 1 guinee. muß sich aber selbst verkösten. Viele wer­den stückweis bezahlt. es wird Ihm aber jede Viertl stund seines ausbleibens abgerech­net. nur die schmiedsgesellen müssen des Tages um eine stund länger arbeithen.» Bspl. 2: Haydn, Symphonie Nr. 98, 4. Satz / Takt 148–Schluss [4´05] (Orchestra of the 18th Century / Frans Brüggen) Der Uraufführungserfolg der B-Dur-Symphonie (Nr. 98) am 2. März 1792 war grandios – die Ecksätze mussten wiederholt werden. Was war das für ein Publikum, das auf die Anforderungen dieser anspruchsvollen zeitgenössischen Musik mit solchem Enthusiasmus reagieren konnte? Und das wohl auch Haydns Anspielung auf die Tempo- und Zeit­diskrepanzen als eine Grenze zweier Epochen verstand. Und damit die Anspielung auf einen Beschleunigungsschub, der sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen begann – bis hinein in die Geschwindigkeitsrendite militärischer Strategien, mit deren Taktik Napoleons Eilmärsche seine Gegner schon bald das Fürchten lehren werden. Erschütterungen, Transformationen im Körper der Gesellschaft. Erschütterungen, Deto­nationen aber auch im Konzertsaal. Bspl. 3: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / Takt 1–16 [0´35] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Auf die Frage Georg August Griesingers, Haydns frühen Biographen, ob es denn «wahr wäre, dass er das Andante mit dem Paukenschlag komponiert habe, um die in sei­nem Konzert eingeschlafenen Engländer zu wecken», antwortete Haydn: »Nein, [...] sondern es war mir daran gelegen, das Publikum durch etwas Neues zu überraschen und auf eine brillante Art zu debütieren, um mir nicht den Rang von Pleyel, meinem Schüler, ablaufen zu lassen, der zur nämlichen Zeit bei einem Orchester in London angestellt war und dessen Konzerte acht Tage vor den meinigen eröffnet wurden. Das erste Allegro meiner [94.] Sinfonie wurde schon mit unzähligen Bravos aufgenommen, aber der Enthusiasmus erreichte bei dem Andante mit dem Paukenschlag den höchsten Grad. Ancora, Ancora! schallte es aus allen Kehlen, und Pleyel selbst machte mir über meinen Einfall sein Kompliment». Klingt die Schlaf- und Weckgeschichte für Haydns Tuttischlag auch allzu anekdotisch, ganz aus der Luft gegriffen scheint sie nicht, liest man sie von den damaligen Rezep­tionsgewohnheiten her. Glauben wir Albert Christoph Dies, dann hat Haydn den Besuch eines Londoner Konzerts während seines ersten England-Aufenthalts folgendermaßen geschildert: «Der erste Akt wurde gewöhnlich von dem Geräusche der spätkommenden Zuhörer auf mancherlei Art gestört. Nicht wenige Personen kamen von gutbesetzten Tafeln (wo die Männer nach Landesgebrauch – wenn sich nach der Mahlzeit die Damen in ein anderes Zimmer begeben haben – bei geistigen Getränken sitzen bleiben), nahmen im Konzert­saale einen bequemen Platz und wurden daselbst von dem Zauber der Tonkunst so sehr überwältigt, dass sie ein fester Schlaf überfiel.» Und hatte nicht auch Charles Burney beklagt: «Die besten Opern und Konzerte werden von einem Stimmengewirr und murmelnder Un­terhaltung begleitet.» Bspl. 4: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / Takt 1–16 [0´35] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Natürlich sprengt der Fortissimo-Tuttischlag auf leichter, auf «falscher» Taktzeit am Ende des wiederholten ersten Themenhalbsatzes den Kontext mit einer besonders nachdrück­lichen Variante aus Haydns Surprisen-Repertoire. Dass sich Haydn mit diesem Coup je­denfalls nicht verspekuliert hatte, belegt der Erfolg der G-Dur-Symphonie bei ihrer Ur­aufführung am 23. März 1792, insbesondere der Erfolg des Andantes und seines Tut­tischlags, den die Presse in kurios bildhafter Weise kommentiert: «Der zweite Satz war den glücklichsten Eingebungen des großen Meisters durchaus ebenbürtig. Der Überraschungseffekt ließe sich der Situation einer schönen Schäferin vergleichen, die, vom Gemurmel eines fernen Wasserfalls eingeschläfert, durch den un­erwarteten Knall einer Vogelflinte aufgeschreckt wird.» Haydn verdichtet in diesem Coup de théâtre, was seine späten Symphonien insgesamt auszeichnet: die Verunsicherung berechnender Rezeptionsmuster und damit die Verun­sicherung prophetischen Hörens. Mit souveräner Geste setzt der Komponist Erwartungs­klischees außer Kraft. Als Zeichen eines selbstbewussten Komponierens und Hörens und einer Autonomie, die regelwidrige Spontaneität als Freiheit des Subjekts interpretiert. Und dass der Tuttischlag am Beginn eines Andantes steht, das mit vier Doppelvariatio­nen die Charaktere seines Themas nach Art einer «Experimentalphysik der Seele» ent­faltet, ist ein Indiz mehr, wie sehr nach der Zeit feudaler Subordination das offene Expe­riment von Welt und Geschichte die mündige Praxis des Einzelnen und der Gattung ver­langt – im «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit». Bspl. 5: Haydn, Symphonie Nr. 94, 2. Satz / ganz [5´40] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) ​ Was sich im unerwarteten Tuttischlag des Andantes komprimiert, erweitern die Ecksätze der G-Dur-Symphonie zu einer extensiven Kunst des Unberechenbaren. Erzeugt der erste Satz, ein 6/8-Vivace, mit seiner über weite Strecken durchgehaltenen Achtel- und Sechzehntelbewegung insgesamt eine Atemlosigkeit, die eher an ein Finale erinnert, dann signalisiert bereits die von Beginn an durch motivisch-thematische Arbeit dynami­sierte Vielgestaltigkeit des Hauptsatzes, welche Wendigkeit des Hörens dieser Satz ver­langt. Und nicht nur das: die Durchführungspartie des «Vivace assai» erfordert zudem ein fein geeichtes dramaturgisches Sensorium für die technische Raffinesse, mit der die Musik den Widerstand des Materials thematisiert und zu einem dramatischen Cumulus bündelt. Bspl. 6: Haydn, Symphonie Nr. 94, 1. Satz / Takt 18(W)–158 [2´50] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Vor allem das Finale der G-Dur-Symphonie wirkt mit seiner Ästhetik des Inkalkulablen, als wäre keiner seiner Wege im Voraus festgelegt. Ohne jede Wiederholung in der Formstruktur wird die motorische Energie dieses «Allegro di molto» von einer Triebkraft in Gang gehalten, die die thematisch-motivischen Gestalten unentwegt verwandelt und in dieser Kunst des Maskierens und Andeutens ihr ironisches Leben findet. Ganz im Sinne Goethes, der das ironische Elixier gleichfalls auf stete Veränderung und auf jenen Wech­sel hin denkt, in dem «das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulö­sendes» produziert. Dabei bringt der rastlose Prozess in Haydns Finale den Augenblick weder zum Verschwinden noch kostet er ihn aus; vielmehr integriert er ihn mit der Elo­quenz des Plötzlichen in eine Musik, die nichts Statisches und Ständisches mehr dulden will. Bspl. 7: Haydn, Symphonie Nr. 94, 4. Satz / ganz [3´40] (London Philharmonic Orchestra / Sir Georg Solti) Dass Haydn, um es mit den Worten des Komponisten zu sagen, «gegen die Reize ande­rer Frauenzimmer weniger gleichgültig» war, berührt auch einen biographischen und ästhetischen Aspekt seiner Londoner Aufenthalte. Auch von London aus unterhält Haydn den Briefwechsel mit Luigia Polzelli, der Geliebten aus den Tagen von Estherhazy; den Briefwechsel mit Marianne von Genzinger, der vertrauten, mütterlichen Freundin aus Wien und – spärlicher – die ärgerlich bittere Korrespondenz mit Maria Anna, seiner Frau. Darüber hinaus bekunden die Londoner Notizbücher manche Passion des Komponisten für die Damen der englischen Gesellschaft, denen Haydn auf Einladungen oder Empfän­gen begegnet: mehr als einmal liest sich das Kompliment vom «schönsten Weib auf Er­den», hieß es nun Missis Shaw, Mrs. Hodges, Anne Hunter oder Elisabeth Billington. Vor allem war da die enge Freundschaft und wohl auch Liebesbeziehung zu Rebecca Schroeter, der reichen und gebildeten und, wie Haydn vermerkt, «schönen und liebens­würdigen» Witwe des von Mozart geschätzten Klaviervirtuosen und Komponisten Johann Samuel Schroeter, des Bruders von Goethes Freundin Corona Schroeter. Haydn hat die empfindsam schwärmerischen Briefe, die Rebecca Schroeter ihm zwischen den Junimo­naten 1791 und 92 in englischer Sprache geschrieben hatte, fein säuberlich in sein zweites Londoner Notizbuch übertragen; Briefe etwa wie den vom 7. März 1792: «Mein Lieber! Ich war sehr betrübt, dass ich mich letzten Abend so plötzlich von Ihnen trennen musste. Unsere Unterhaltung war ausnehmend interessant, ich hatte Ihnen tau­send zärtliche Dinge zu sagen. Mein Herz war und ist voll von Empfindung für Sie, doch keine Sprache kann auch nur halb so viel Liebe und Zuneigung ausdrücken, wie ich für Sie fühle, Sie werden mir mit jedem Tag meines Lebens teurer. Es tut mir sehr Leid, dass ich gestern so matt und wenig unterhaltsam war. Wirklich, mein Liebster, es war nichts als ein Unwohlsein infolge einer Erkältung, das meine Einsilbigkeit verursacht hat. Ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Anteilnahme. Ich bin so gerührt von Ihrer Güte und versichere Sie, mein Lieber, ich hätte Ihnen mein Herz aufs vertrauensvollste geöffnet, wäre irgendetwas Beunruhigendes vorgefallen. Oh wie ungeduldig wünsche ich, Sie zu sehen! Hoffentlich kommen Sie morgen zu mir. Ich würde glücklich sein, Sie sowohl morgens wie abends zu sehen. Gott segne Sie, mein Geliebter, meine Gedanken und besten Wünsche begleiten Sie beständig [...]. Mein Liebster! Ich kann nicht glücklich sein, bis ich Sie sehe! Sagen Sie mir, sobald Sie es wissen, wann Sie kommen.» Dass es bei Haydns amouröser Empfänglichkeit nicht um biographische Belanglosigkei­ten, um bloße Klatsch- und Tratschgeschichten geht, zeigen die Nuancen des ästheti­schen Eros in seiner Musik. Nuancen der Verflüssigung und der Verwandlung alles For­melhaften, die noch die ungemein differenzierte, ja zärtliche Sublimierung beleben, mit der in der Einleitung der 97. Symphonie die ebenso sinnliche wie spirituelle Parallelfüh­rung der ersten Violinen und Flöten eine galante Geste zum sprechenden Melos erweckt. Hat nicht auch Theodor W. Adorno anlässlich solcher Stellen geschrieben: «Wer ganz begriffe, warum Haydn im Piano die Geigen durch eine Flöte verdoppelt, dem könnte aufblitzen, warum die Menschheit vor Jahrtausenden aufgab, rohes Getreide zu essen, und Brot buk, oder warum sie ihre Geräte glättete und polierte». Bspl. 8: Haydn, Symphonie Nr. 97, 1. Satz / Takt 1–13 [0´55] (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati) Eine andere Spur des ästhetischen Eros, die nichts mit Einfühlung und Läuterung zu tun hat, wohl aber mit Übergang und Verwandlung und mit den Aufhellungen und Eintrübun­gen des Farbenspiels der Seele, zeigt sich im F-Dur-Adagio der Symphonie Nr. 97 . Eine Spur ohne den Filter des Ideals in einem Variationen-Satz, der sein Thema zunächst mit Triolenfigurationen, dann in f-Moll variiert, schließlich einem für damalige Ohren uner­hörten Instrumentationseffekt aussetzt: den «sul ponticello» und «vicino al ponticello», also «am Steg» und «nah am Steg» schrill und zugleich fahl gespielten Violinen. An die­sen Variationen, die ein Thema durch verschiedene Stadien des Ausdrucks bis hin zur Auflösung in seufzermotivartige Splitter führen, zeigt sich Haydns von der Moderne des späten 18. Jahrhunderts geprägter Entwurf der Musik. Ein Gleiten der Affektbahnen, die das Themensubjekt zum Medium werden lassen, um an ihm den Zug der Zeit und des Stimmungswechsels zu demonstrieren. Allerdings ohne dem Monopol des sittlichen Cha­rakters unterworfen zu sein. Deshalb repräsentieren die großen Moll-Partien in Haydns späten Variationssätzen auch keinen tragischen und damit ethisch fundierten Grund, sondern lediglich eine Facette in der Fluktuation der Charaktere. So gleichen Haydns Va­riationssätze mit ihrer rhapsodischen Folge jenem Nullsummenspiel, von dem Georg Christoph Lichtenberg träumt; einem Spiel, bei dem man weder etwas gewinnen noch verlieren kann und das Lichtenberg mit dem Urteil kommentiert: «dieses schien mir ein wichtiges Spiel». Bspl. 9: Symphonie Nr. 97, 2. Satz / ganz [6´50] (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati) Fülle und Flüchtigkeit der Charaktere korrelieren bei Haydn einem Bewusstsein, das ge­gen die Unbeständigkeit der Affekte kein unerreichbares Ideal des Sollens und des Ethos postiert. Haydn steht damit dem Philosophen David Hume nahe, der den menschlichen Verstand als eine rasante Folge der Eindrücke und Vorstellungen begreift. Als ein «Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen», «die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind». Ein Rapport rasch wechselnder Eindrücke also, wie ihn auch das Kaleidoskop der Auf­zeichnungen in Haydns Londoner Notizbüchern entfaltet: «Nehnadl, Scherrl und Messerl für Frau von Keeß» / «Mr Hunter ist der gröste und be­rühmteste Chyrurgus in London. Leicester Square.» / «wen Jemand 2 Pfund stihlt, wird Er aufgehangen, wen ich aber jemanden 2000 Pfund anvertraue, und dieser geht damit zum teufl, Jener wird freygesprochen.» / «den 14. Jenner 1792 brandte das Pantheon Theater um 2 uhr nach Mitternacht ab.» / «wen das weib Ihren Mann ermordt, so wird Sie lebendig verbrant, der Mann aber ingegentheil gehangen.» / «den 21. May war Giardinis concert in [Ranelagh Gardens] – Er spielte wie ein schwein.» / «den 5tn Ok­tobri war der Nebl so dick, dass man denselben hätte könen auf das brod streichen. ich muste um schreiben zu könen um 11 uhr licht anzünden.» / «Field a young boy, which plays the pianoforte Extremly well.» Wie sehr das Rhapsodische und Gemischte auch das Finale der Symphonie Nr. 97 be­stimmt, erweist die Unmöglichkeit, den Satz nach Kriterien einer klaren Affektscheidung zu sondieren. Wie so oft bei Haydn schon von seiner Anlage her eine Kombination aus Rondo- und Sonatenform reicht die affektive Spannbreite des «Presto assai» vom erha­benen bis zum buffonesken Ton, noch dazu in einer Vielzahl von Legierungen. Schon diese Vielfalt verhindert, dass Haydns Kompositionen den Formprozess zur Sinnres­source des Ideals aufladen oder zur Einheit des ethischen Charakters, der stets Gefahr läuft, sich die Saturnalien der Musik austreiben zu lassen. Und wenn das Finale gegen Ende zweimal gestaut wird, wirkt dieses Innehalten nicht wie ein desillusionierender Riss, sondern eher wie ein sensibler akustischer Fingerzeig, dass das Enden von Musik den Übergang zur Welt des Realitätsprinzips bedeutet. Bspl. 10: Haydn, Symphonie Nr. 97, 4. Satz / ganz [5´15] (Philharmonia Hungarica, Antal Dorati) Die Zeit des ersten Londoner Aufenthalts geht zu Ende. Im Juni 1792 unternimmt Haydn noch verschiedene Reisen, so zum Riesenteleskop des Astronomen Wilhelm Friedrich Herschel: «dieses ist 40 Fuß lang und 5 Fuß in Durchschnit, die Maschine ist sehr groß, aber so künstlich, daß ein einziger Mann die ganze Maschine mit leichter Mühe in Bewegung setzen kan.» Und Haydn reist zum Pferderennen nach Ascott: «der Reitter ist ganz leicht gekleidet von Seiden und Jeder von einer andern farbe, damit man Sie desto gewisser bestimmen kan, ohne Stifl, ein kleines cascet auf den kopf, alle mager wie die windhund, und ihre pferde, ein jeder wird abgewogen, und wird ihm ein gewisse schwere, welche den kräften des Pferds a proportione angemessen, zugetheilt, und ist der Reiter zu gering, muß Er sich dichter anziehen oder man hängt Ihm bley an. die Pferde sind von der allerfeinsten gattung, leicht, sehr dünne füß, [...] so bald Sie den Ton der glocke hören, laufen Sie augenblicklich mit der grösten Force ab.» Ende Juni, Anfang Juli 1792 verlässt Haydn London. In weniger als zwei Jahren wird er erneut in der englischen Metropole eintreffen – mit noch größerem Erfolg dann: ein wah­rer «Souverän der Musik». ​ ​

  • Johannes Bauer, Ränder. Zur Philosophie des Peripheren und Marginalen

    © Johannes Bauer, Ränder in Blau (2013), 48 x 36 cm, Acryl auf Papier ​ ​ ​ Ränder Zur Philosophie des Peripheren und Marginalen I moved further to the actual edge of the canvas, and I felt that I'd moved to the edge but hadn't fallen off. Barnett Newman ​ An die Silhouette eines Waldes denken, an den Saum bewegter Wipfel, die sich im Spiel von Licht und Schatten gegen den Horizont abheben. An den Lichtrand zwischen Tag und Nacht denken und daran, wie sich im Zauber der Dämmerung die scharfen Grenzlinien des Tages mildern und mit ihnen - wie im halb dunklen Park von Mozarts Figaro -Finale - die Forderungen eines Realitätsprinzips der strikten Selbstbehauptung. An den solistischen Akteur des Mundes in Samuel Beckens Bühnenstück Not I denken, an diesen Schlund mit zwei beweglichen Lippenrändern, die Sprache und damit Welt erzeugen, und an die Bilder Barnett Newmans, die mit dem Blitz des Ereignisses vom Rand her ein Überschreiten des Randes ins Werk setzen oder - wie in den 18 Cantos - mit der virtuosen Gestaltung der Ränder die Grenzen und Brücken zwischen Kunst und Empirie ausloten. Daran denken, wie uniform und monoton eine Welt ohne Ränder wäre - Ränder nicht der Hierarchisierung, sondern der Differenzierung: eine randlose Welt gleichsam ohne Passepartout, eine Welt ohne Schattierungen, ohne Konturen, ohne Refugien. “Surrounded by inevitable white margins”: Barnett Newman, Canto VI (© ARS, NY and DACS, London 2002) PERIPHERIE I: ZUFALL UND EREIGNIS Beginnen wir mit einem fließenden Zeitrand, beginnen wir mit den Jahren 1434 und 1440 in einem Jahrzehnt des Übergangs zwischen Spätmittelalter und Renaissance. Als Gil Eanes nach dem Scheitern zahlreicher portugiesischer Kapitäne endlich das Äußerste riskiert und Kap Bojador umsegelt - das Kap des Schreckens, das Tor zum Nichts, den Rand der bewohnbaren Welt -, öffnet dieses Wagnis den Europäern nicht nur den Seeweg nach Indien. Die unwägbare, doch schließlich erfolgreiche Fahrt ins Ungewisse entkräftet zugleich auch jenes angst- und tabubesetzte "Nein", das den Bann des "Kaps Non" und seines "Ch'il passa ritorna no" Jahrhunderte lang am Leben hielt. Erst jetzt wird die Drohung, dass, "wer Kap Bojador umfährt, niemals wiederkehrt", durch die Überwindung einer verbotenen Randzone selbst zu einer marginalen Legende. Sechs Jahre später dann, 1440, eine weitere kühne Entgrenzung, als Nikolaus von Kues in seiner Docta ignorantia den mittelalterlichen Kosmos und dessen akribisch gestufte Architektur der Zentren und der Ränder in ein randloses, unbegrenztes Universum auflöst, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends liegt. Von nun an weicht die hierarchische Statik des schoscholastischen Weltbilds samt ihrer Trennung von Himmel und Erde einer Dynamik gleichrangiger Relationen ohne das Privilegierungsgefälle von Mitte und Rand. Freilich werden solche frühen Lockungen des Randes und seine Überschreitungen samt den Verflüssigungen und Entkernungen im Regelwerk der Zentren und der Peripherien immer noch von einem soliden Grund getragen. Immer noch bleibt die Bürgschaft für den Ausgleich aller kosmischen und weltlichen Spannungen die Idee eines Gottes, der als die Summe aller Bewegung die absolute Ruhe ist: allgegenwärtiges Zentrum und unendliche Peripherie jenseits jeder Unterscheidung von Mitte und Rand. Und zweifellos war jener unfassbare, wenngleich omnipräsente Gott, der noch bei Nikolaus von Kues das Spiel mit sich und der Welt über das Wunder der "Einfaltung" und der "Ausfaltung" in sich birgt, im Traditionsgeflecht des christlichen Abendlands eine der mächtigsten Integra-tionsinstanzen. Dennoch: Mag auch das theologische Weltfundament noch für geraume Zeit alle exzentrischen Exkursionen sichern, die Erkundung der Ränder bei Eanes und Cusanus kündigt bereits massive Verwerfungen in der Kartographie gewohnter Grenzen und Schranken an. Wie sehr sich indes die Säkularisierung des Diesseits und die Faszination, schließlich die Emanzipation der Ränder wechselseitig bedingen, wird zu einem Charakteristikum der Neuzeit. Ränder schließen ein, Ränder schließen aus. Indem sie trennen und verbinden, geben sie Kontur. Kultur selbst lässt sich als eine Chronik der Grenzziehungen und Markierungen lesen. In ihr bedeuten Ränder Zonen, die stabilisieren, indem sie separieren und hierarchisieren. Insbesondere jede Systembildung - ob theoretisch-begrifflicher oder praktisch-politischer Art - organisiert mit ihrer deduktiven oder induktiven Entfaltung oberster Prinzipien und Repräsentanzen eine Rang- und Randfolge an Stufungen. Je optimaler in solchen Vermittlungsgefügen der Rand integriert ist, umso stärker und tragfähiger das System, je stärker und tragfähiger das System, umso nichtiger der Rand. Aus diesem Grund haben sich Ränder in geschlossenen Systemen stets als eingemeindete Ausläufer der Mitte zu verstehen, die vom Wesentlichen des Zentrums aus leicht im Unwesentlichen verschwinden. Doch nur was als Rand erfahren wird, kann als Rand erkannt werden. Nicht selten handelt es sich bei diesen Erkenntnissen um Ränder, die von weither kommen, um Ränder mit einer ebenso langen wie geheimnisvollen Inkubations- und Karenzzeit. Eine dieser Peripherien mit hoher Anziehungskraft betrifft die über Epochen gebändigte Randzone von Zufall und Wahrscheinlichkeit. Vom Beginn des griechischen Denkens an versuchten eine Philosophie und später eine Theologie im Namen des Absoluten - zuletzt im Verbund mit der Physik und Mathematik eines Galilei und Newton - die Risse der Kontingenz im Weltgefüge zu glätten und abzudichten. Zufall und Zufälliges galten von der Vollkommenheit jeder göttlichen oder gottähnlichen Substanz her als defekte Phänomene am Rand, defekt allerdings nur, sofern sie die kausale Intelligenz des Menschen überforderten, dem Schöpfungsplan selbst jedoch stringent und sinnvoll eingebunden blieben. Leibniz’ Satz vom zureichenden Grund und sein Gesetz der Kontinuität - "La nature ne fait jamais des sauts" -, dem zufolge die Natur keine Sprünge macht, oder Spinozas Theorie vom Zufall als einem verstan-desbedingten "Nicht-Wissen" und einem "Asyl der Unwissenheit" spiegeln die Idee einer Welt, die den Rand des Unberechenbaren vom Zentrum einer gottgegebenen Ordnung her bricht und annektiert.(1) Denn "in der Natur der Dinge gibt es nichts Zufälliges, vielmehr ist alles aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt."(2) Gleichwohl wird gerade um die Mitte des 17. Jahrhunderts - eines Jahrhunderts der Mathematik und eines Jahrhunderts im Zeichen eines weltflüchtigen Gottes - der Sog von den Rändern des Zufalls und dessen Gesetzmäßigkeiten her spürbar, vor allem in den Diskussionen Blaise Pascals und Pierre de Fermats über das Würfel- und das Teilungsproblem, über das Problem kalkulierbarer Gewinnchancen beim Glücksspiel also. Mag es in Anbetracht des Dämons aus Laplaces Essai philosophique sur les probabilités von 1814 und seiner These von der totalen Berechenbarkeit der Welt und des Kosmos ruhig noch einige Zeit dauern, bis der Kausalbegriff des Determinismus auch in seinen physikalisch-mathematischen Varianten porös wird: Von seiner theologischen Bevormundung und Einbindung emanzipiert sich der Randbezirk der Kontingenz bereits seit jenen Anfängen der Wahrschein-lichkeitsrechnung, die die Deutungsmacht der göttlichen Vorsehung partiell durch eine Art weltlicher Prophetie zu entzaubern begannen, nämlich durch die weltliche Prophetie statistischer Prognosen. Zu groß war die Faszination - etwa in Bernoullis Ars coniectandi von 1713 - die Trennschärfe des Randes zu erkunden, der zwischen Zufall und Notwendigkeit verläuft. Sobald indes das Zufällige und Wahrscheinliche die Anrüchigkeit provokanter Randzonen verlieren, an deren Einbürgerung sich die Philosophie von Parmenides bis Hegel abgearbeitet hat, gilt der Zufall keineswegs mehr als ein Putsch des Chaos gegen die Ordnung der Vernunft und schon gar nicht mehr als ein Aufstand des diabolischen Randes gegen die göttliche Mitte. Im Gegenteil: Das Unberechenbare und Unverfügbare wird zu einem Horizont der Öffnung und der Verwandlung, um schließlich im Denken des "Ereignisses" in den Rang eines Mediums der Befreiung von alten Denk- und Weltschablonen aufzusteigen. Basiert doch der durch Nietzsche initiierte Übergang der Philosophie vom Begründungs- zum Ereignisdiskurs auf der Erkenntnis, dass die als universal geltenden Gründe der Logik die Ordnung der Dinge nur fragmentarisch und verzerrt repräsentieren, solange sich "Grammatik und Logik […] die Welt schaffen", in der sie a priori "recht haben"(3). Einen Denker wie Heidegger schreckt darum weit mehr das Fundament des Grundes als der Rand des Abgrunds. Zumal der Abgrund zwar "Versagung des Grundes" bedeutet, "Versagung aber […] nicht nichts" ist, "sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens, somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung".(4) Offenheit als abgründige Leere wird für Heidegger zum Möglichkeitsraum inmitten einer von der Vergötzung des Seienden bedrängten Welt und ihrer auf der Basis des Satzes vom Grund organisierten rational-rationellen Begründungstotalität. Erst wer den Rand des Abgrunds gegen die Normen einer "seinsvergessenen" Welt überschreitet, gelangt in den "Zeit-Spiel-Raum" der Gelassenheit. Zwischen Ordnung und Unordnung: am Rand der Entropie (© www.physik.uni-kassel.de/typo3) Peripherie II: Endlichkeit und Entropie Mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik - popularisiert zu der Version, Wärme könne nicht von selbst, sondern lediglich unter Energieaufwand von einem kalten zu einem warmen Körper fließen -, wird über das Faktum der Irreversibilität das Bewusstsein der Endlichkeit auch in der Physik akut. Dass Wärme nicht vollständig und ohne Einbußen in Arbeit umgewandelt werden kann, der thermische Kreislauf vielmehr mit Abwärme- und Reibungsdefiziten durchsetzt ist, dass mit diesen Defiziten die Entropie, also die Tendenz zur Unordnung, zum Informationsverlust und zur Unumkehrbarkeit energetischer Prozesse in frühere Ordnungsstadien und -strukturen zunimmt - bis hin zum energie losen Gleichgewicht der Zersetzung aller Ränder und Zentren: Solche Erkenntnisse sensibilisieren für Randbedingungen, die vormals allzu leicht ignoriert oder harmonisiert wurden, das heißt für die Lücken und Spalten, für die Löcher und Brüche vermeintlich energiekonstanter Systeme.(5) Vorbei der Traum von der unerschöpflichen Effizienz eines Perpetuum mobile zweiter Art und eines endlosen Recyclings der Energien. Die Zeitsymmetrie der klassischen Physik, folglich die Symmetrie umkehrbarer Prozesse nach dem Referenzmodell des Pendels, erfährt ihre Brechung und mit ihr die Unabhängigkeit mathematischer Gleichungen von der Richtung der Zeit. Generell verlieren im Lauf des 19. Jahrhunderts selbstgenügsam und zeitresistent in sich kreisende Systeme ihre Immunität, indem sie von den Randzonen her in Bereiche des Unkalkulierbaren auszu-fransen beginnen. Von nun an sind vielschichtige Strukturen nicht mehr ohne chaotische Anteile zu begreifen. War Zeit in der Disziplin der klassischen Logik eine Meisterin der argumentativen Scheidekunst, wird Zeit in den offenen Systemen der Moderne zu einem Medium des plötzlichen Auftauchens und Verschwindens von Symmetriebrüchen und Synergieeffekten. Als Wirkung indeter-minabler Randbedingungen treten minimale Fluktuationen an die Stelle kausaler Großereignisse, mehrdeutige und instabile Phasen an die Stelle kompakter Kraftfelder. Von nun an ist mit Komple-xitäten zu rechnen, die infolge geringster Schwankungen kollabieren können, durch "Schwankungen am Rand", so der Titel von Helmut Lachenmanns Musik für Blech und Saiten , der wie eine Leitme-tapher der Gegenwart klingt. Brüchig wurden die physikalischen und mit ihnen die theologischen und philosophischen Systeme freilich erst, als mit dem Schwinden der ausgleichenden Instanz eines Deus absolutus der Druck und die Unruhe der Ränder stärker wurden. Sei es in der Philosophie die auf Daseinspräsenz drängende, ideell nicht zu beruhigende Sorge der leibsinnlichen Existenz, sei es in der Physik der Gedanke des unumkehrbaren Zeitpfeils. In beiden Fällen ist es der Einspruch von Zeit und Natur, der sich weder begrifflich noch spirituell eindämmen lässt. Während die meisten Großsysteme selbst noch bei Newton oder Hegel unter einem hintersinnigen und geheimen göttlichen Patronat standen, ließ gerade der Entzug des theologischen Regulativs deutlich werden, wie sehr sich die Einheit der Systeme auf eine Dämpfung von Randgrößen gestützt hatte, die die Konsistenz des Systems erst ermöglichte, aufgrund der Konsistenz des Systems aber als ebendiese Dämpfung dem Blick wiederum entzogen blieb. Mit dem Vordringen ehemals verdrängter Rand- und Störungsgrößen wird eine weitere, über Epochen durch theologische, philosophische und mathematische Ewigkeitsversprechen beruhigte Dimension des Randes brisant: die der Endlichkeit. Endlichkeitsfähig werden, die Zerbrechlichkeit des Körpers und mit ihr die eigene Sterblichkeit einlassen, um gnädig sein zu können mit sich, der Welt und den Dingen: auch darauf verweist die Erfahrung des Randes und ihre Botschaft, dass die Konstanz der Mitte eher die Ausnahme als die Regel ist und die Rede von Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit eine sprachliche Hypertrophie. Würde eine Welt mit der Physiognomie des Vergänglichen und ohne jede Art von Jenseitsstaffagen gegenüber den metaphysischen Überforderungen und Demütigungen nicht ein menschlicheres Antlitz zeigen? Möglicherweise sind es deshalb gerade zahlreiche metaphysik-kritische Werke der Neuen Musik, die die Spur des Todes nicht mehr nur als ein programmmusika-lisches Sujet in die Kompositionen einlassen, sondern in der Struktur selbst verankern. Und dies über eine entschiedene Wirksamkeit der Ränder, sei es infolge von Lecks oder Leerstellen, die die Werke gleich einem Rauschen durchqueren, sei es infolge einer Überdeterminierung durch variable Formen oder hohe, etwa zufallsbedingte Kompositionsdichten, die - meist selbst am Rand des Spiel- und Wahrnehmbaren - oft genug jedes prophetische Hören, jedes gesicherte Voraus- und Zurückhören enttäuschen und mit ihm jede Illusion einer musikalisch gewährten Unsterblichkeit. Mit welch disziplinierender Emphase die Endgültigkeitsansprüche der Metaphysik und die theologische und philosophische Autarkie abstrakter und idealer Substanzen - angefangen von der Idee des Guten und derjenigen Gottes - die Besonderheiten und Einmaligkeiten der Conditio humana zur materiell-naturhaften, ja sündigen und hinfälligen Rand- und Verfallszone des Lebens abgewertet hatten, wurde spätestens seit Diderot und der französischen Aufklärung bewusst. Wobei das Gedächtnis dieser Autarkie - nicht anders als das Gedächtnis der Physik - auf dem Gesetz von der Erhaltung der Energie gründet, im Fall der Metaphysik auf der des Geistes. Wie sehr dieses Energiegesetz als eines der Mitte und der Steuerung für die Geschichte des Denkens bestimmend ist, belegt die Philosophie Hegels, die sich weltumfassend zur absoluten Idee ausdifferenziert, ohne dass die Arbeit des Begriffs je an Kr aft verlöre oder von den Rändern, das heißt von der Not der Empirie her an sich selbst irre würde und ermüdete. Während Hegels Welttheater des absoluten Geistes noch den Rand der Thesen und Antithesen reibungslos in die Mitte der Synthesen und die Mitte der Synthesen wieder in den Rand der Thesen und Antithesen verwandelt, wird ein lückenloser Begriffsreigen solcher Fasson bereits bei Kierkegaard und Nietzsche zu einem marginalen Sonderfall im Gewebe jener Diskurse, die die Existenz und das Leben schreiben. Vielleicht ließe sich deshalb vom Niedergang des metaphysischen Denkens her die Moderne und ihr Gespür für die Ränder als ein Eindringen der Empirie in ideale und idealisierte Weltkonstruktionen beschreiben, inklusive der Verabschiedung einer Ordnung, deren Mitte lange Zeit Gott und Logik als die zentralen Sinngaranten besetzt hielten. Und vielleicht ließe sich die Begriffsliste zur Ortung der Moderne ebenso schlüssig durch den Gegensatz von Gott und Entropie, von Mitte und Rand erweitern: Gott als der Name für die zeitlos und in alle Zeiten ausgreifende, unendlich sich differenzierende, schöpferische Mitte und Substanz aller Substanzen mit dem Versprechen von Jenseits und Unsterblichkeit; die Entropie dagegen als ein Maß der Moderne für den drohenden Sog zum Energie- und Informationskollaps einer hochgradig vernetzten und ressourcenabhängigen Welt am Rand ihres rasenden Stillstands, einer Welt zudem der Irreversibilität, der Vergänglichkeit und des puren Diesseits. Peripherie III: Unschärfen des Sinns Erfahrung von Rändern heißt in der Moderne vorzugsweise ein Ernstnehmen von Mikrostrukturen mit Blick auf deren makrostrukturelle Konsequenzen. Namentlich seit den Forschungen der Chaostheorie ist bekannt, welche gravierenden Turbulenzen bereits geringfügige Störungen und Abweichungen in den Ausgangspositionen eines Systems zur Folge haben. Wie machtvoll sich Randbedingungen potenzieren können, lässt sich bereits bei Beethoven und Hegel studieren. Bei ihnen präsentieren sich die Ränder in Form von nichtigen oder beiläufigen Ton- respektive Begriffsmotiven geradezu methodisch als unscheinbare Minimalenergien mit maximalem Steigerungspotenzial. Und welche selbstorganisierenden Kräfte die Fluktuation offener Systeme von ihrem instabilen Rand her erzeugen kann, haben vornehmlich Ilya Prigogines Arbeiten über "dissipative Strukturen" gezeigt. Dass nicht-lineare Systeme im Fluss ihrer Dissipation, das heißt ihrer Streuung und Zerstreuung von Energie, den Grad der Unordnung verringern und einen höheren Grad der Organisation erreichen können, hebt die gewohnte Regelfolge von Ursache und Wirkung, genauer: die Regelfolge des energetischen Reper-toires von Ordnung und Chaos, von Zufall und Notwendigkeit auf. ​ Fraktale Dimensionen. Der krause Rand der als „Apfelmännchen“ bekannten Mandelbrot-Menge erweitert sich bei beliebiger Vergrößerung zu immer neuen, selbstähnlichen Formen. (© www.aladin24.de/chaos) Es sind zumal die krausen und bebenden Ränder der Fraktale, deren selbstähnliche, auf Brüchen basierende und nicht präzis messbare Dimensionen die euklidische Geometrie der rechten Winkel und Kreise an ihre Grenzen bringen und die organische Vielfalt der Natur rehabilitieren. Sind doch "Wolken […] keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt - und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade."(6) Auch hier also lassen feinste Segmente des Übergangs tradierte Oppositionen wie die von Struktur und Desorganisation ins Leere laufen. Das Unregelmäßige und das - Euklid zufolge - Formlose heben sich endlich vom Rand des Unvollkommenen auf das Niveau einer neuen "Morphologie des >Amorphen<"(7) und ihrer freien Komplexität, etwa der des deterministischen Chaos. Kein Zweifel: In der Wahrnehmung von Rändern liegt eine Epochensignatur der Moderne, vor allem in der Wahrnehmung von Sinnrändern, insbesondere von Sinnrändern metaphysisch vorent-schiedener Weltexegesen. Seit Nietzsche wird daher die Sprache als begriffliche Repräsentanz der Metaphysik, ja als die wortgewordene Metaphysik selbst zunehmend von der argumentativen Deutungsmitte der zweiwertigen Logik und der dualistischen Weltinterpretation entlastet. Später radikalisieren Derridas dekonstruktive philosophische "Randgänge" die Metaphysikkritik Nietzsches und Heideggers, indem sie in den Diskursen etwas Grund- und Bodenloses aufbrechen lassen. Wenn sich nämlich jedes Zeichen und jedes Wort, um Zeichen und Wort zu sein, nur durch Trennung und Zäsur von und zu allen anderen Zeichen und Worten etablieren kann; wenn somit die referentielle Lücke, die "différance", dem Text immer schon vorausliegt, ohne selbst als ontologischer Ursprung und Grund greifbar zu werden, eben weil sie einzig vom Ensemble der Zeichen erzeugt wird: Welches Zeichen, welches Wort könnte in der Textur der Trennungen und Bündnisse dann noch das erste sein? Und wo läge in einem solchen Textgewebe die Mitte? Kreieren die differenziellen Unterscheidungen, Verwei-sungen und Aufschübe der Textur nicht eine endlose Faltung der Trennungen und Bündnisse, die jede Mitte umgehend in ein Gebiet des Randes verwandelt? Sobald jedoch der Begriffszauber der Texte auf den Abgrund des Sprachlosen hin durchlässig wird, zeigen jedes Urteil und jede Argumentation zumindest die Spuren einer rhetorischen Attitüde. Abgesehen davon, dass in jedem Akt der Dekon-struktion aufgrund seines eigenen dekonstruktiven Impulses erneut der Zeitkern des Marginalen und des Randes aufbricht, der keine Ankunft im Prinzipiellen zulässt und alle fundamentalistischen Ambitionen ad absurdum führt. Gleichzeitig wird im Formenkreis der Dichtung seit den Tagen Mallarmés die Sprache zerkaut, bis ihre Sinnfasern sich ausdünnen und das Unverständliche im Verständlichen der Worte und Sätze aufscheint: in einer Art Probebohrung in den Sprachgrund der Sprache selbst. Das Werden und Vergehen dieses Sprachgrunds über die Andeutung und den Entzug von Sinneffekten auszuloten, darauf kommt es an. Was ist Sinn, wenn im Rauschen der Silben der Grund der Sprache als Abgrund fühlbar wird? Wo ist Innen, wo ist Außen? Wo Rand, wo Mitte? Zugleich transformieren solche Entre-gelungen den semantischen Gehalt der Sprache poetisch und musikalisch zu einer neuen Qualität des Ausdrucks. Wenn die Ränder der Sprache - etwa die der syntaktischen Destruktion - das Weltgebäude der Logik mit Rissen durchziehen, wenn der Deutungsanspruch der Worte zur puren Klangspur zerfällt und mit ihm ein Stück Realitätsprinzip, das sich im Regelzwang der Grammatik verbirgt, dann setzt erst dieses Dekomponieren die physiologischen, phonetischen und gestischen Ausdruckselemente der Sprache frei. Indem Sprache zum Laut, zum Schrei, zum Atemgeräusch wird, durchbricht sie ihre urteilszentrierte Sinnmitte und damit die Demarkationslinie zur Musik in einem Randgebiet der Überschneidung. Und dies mit einer für weite Bereiche gegenwärtigen Komponierens verführerischen Attraktivität. Schon seit der mechanisch-mathematischen Beschleunigung der Welt und ihrem Echo in der Infinitesimalrechnung wird im Segment des Randes weniger ein Areal der Abgrenzung als vielmehr ein Zustand der Dynamik erkannt. Ränder können von nun an zu Stadien des Grenzwerts werden, gegen null laufend, jede kleinstmögliche Zahl unterbietend, ohne sich doch - stets größer als Null - auf null einebnen zu lassen. In der Moderne schließlich beginnen Ränder als Zonen der Mischung, der Inter-ferenz und der Schwebe zu faszinieren. So, wie sich auch in zahlreichen Werken der Neuen Musik und Malerei Rand und Ränder zu Margen nicht zwischen , sondern von Nichts und Sein, von Entstehen und Vergehen, von Abwesenheit und Anwesenheit ausformen, zu Übergängen mithin, die sich einer exakten Zustandsfixierung entziehen. Überdies verwischen sich jetzt nicht nur die Grenzlinien zwischen Sprache und Musik oder die zwischen Philosophie und Literatur. Die Sprache selbst - neben der der Dichtung auch diejenige einer Philosophie des Ereignisses - beginnt von ihrem aussagelogischen Sinnrand her auf eine Weise zu oszillieren, die sich dem moralisch gefärbten Dualismus des Rationalen und Irrationalen entzieht. Und dass, entgegen der bivalenten Logik des Entweder/Oder, die Fuzzylogik als eine krause Logik von Näherungswerten - also von Aussagewerten wie "ziemlich", "fast" oder "kaum" - der Tendenz zum Mehrdeutigen und Unscharfen und dessen eigenwilliger Präzision ihre Karriere verdankt, ist bekannt. Immer öfter und auf unterschiedlichen Gebieten lassen sich Randzonen entdecken, die - wie im Fall des deterministischen Chaos - nicht mehr nach ihren konstruktiven und destruktiven, nach ihren statischen und dynamischen oder sonstigen konträren Anteilen zu polarisieren sind, sondern in einer wechselseitigen Durchdringung vielfältiger Wirkungen vibrieren. Die erkenntnistheoretische Polari-sierung zwischen dem hellen Tag des Wissens und der dunklen Nacht des Unwissens, zwischen Klarheit und Willkür, weicht der Dämmerung einer Rand- und Schwebezone des Vieldeutigen, man könnte auch sagen: des wissenden Nichtwissens, das schon für die Docta ignorantia des Nikolaus von Kues von Belang war. Wahrheit versteht sich immer mehr als ein plurales Grenzwertgebilde, als eine fragile und flüchtige Kreuzung mannigfaltigster Ideen. Von nun an unterliegt jeder Gedanke, mag er sich im Augenblick seiner Entäußerung auch noch so sehr als das Zentrum der Welt begreifen, dem durchschnittlichen Rang einer mehr oder weniger gewichtigen Marginalie zum Lauf der Welt mit individuellem Verfallsdatum. Und doch offenbart sich darin weniger eine Katastrophe der Vernunft als eine Abrüstung der Arroganz des Geistes. Max Bills Granit-Koloss Kontinuität in Form eines doppelt gewundenen Möbiusbandes vor der Deutschen Bank in Frankfurt am Main (© www.math-inf.uni-greifswald.de/koloss) Peripherie IV: Randgänge Erinnern wir uns an das "Ch’il passa ritorna no", das dem "Kap Non" zum Namen wurde: "Wer Kap Bojador umfährt, kehrt niemals wieder!". Heute scheint uns eher die Wiederkehr zu ängstigen, die alltägliche Wiederkehr des Gleichen in einer Art Leben aus zweiter Hand. Wird Leben unter dem Diktat des Funktionellen nicht allzu leicht zu einem Déjà-vu von Schablonen, zu einem Gefühl des Leerlaufs in bleierner Zeit? Liegt darin womöglich die gegenwärtige suggestive Macht des Möbiusbandes? Eines Bandes mit nur einem Rand, das in endloser Folge Innen und Außen ineinander übergehen lässt und sich darum wohl exemplarisch zum zeitgemäßen Sinnbild einer hohlraumversiegelten, diffusen und leeren Innerlichkeit und eines einsamkeitsgespeisten Narzissmus eignet, nicht zuletzt zu einem gleich-nishaften Kürzel vom Dasein in der Endlosschleife? Vom Alptraum ständig in sich zurücklaufender Erlebnissequenzen her provoziert auch Max Bills Frankfurter Granit-Koloss vor den Zwillingstürmen der Deutschen Bank in Form eines steingewor-denen, doppelt gewundenen Möbiusbandes die Frage, worauf denn der Titel "Kontinuität" dieses Monoliths anspiele. Sollte damit das in sich verschlungene Kontinuum eines unaufhörlichen "Immer-weiter-so" gemeint sein? Folglich der Lauf einer monetär vereidigten Welt, der die Eindimensionalität ihrer Ökonomie die Normen des Profits und der Akkumulation aufnötigt und alle in Geiselhaft nimmt? Und der Granit-Koloss selbst? Changiert er nicht zwischen Triumph und Menetekel? Wege ohne Ziel und Mitte müssen sich freilich keinesfalls in den lebensmetaphorischen Loops von Möbiusbändern verlieren. Auch nicht in einer Gesellschaft, in der die Rede von den Randgruppen und Randzonen, von den Grenzerfahrungen und Grenzverletzungen, von den Bannmeilen und Banlieues und schließlich die vom Borderline real und illusorisch zugleich ist, weil sie eine Mitte beschwört, die sich im engmaschigen Netz der Globalisierung in eine Welt ohne stabile Zentren und klare Peripherien aufzulösen beginnt, vergleichbar einem säkularisierten cusanischen Universum, in dem jeder Punkt Mitte und Umfang zugleich zu sein vermag.(8) Längst sind Positionen, die strikt nach Mitte und Rand, nach Norm und Regellosigkeit, nach Wahrheit und Irrtum trennen, unhaltbar geworden. Zudem, ob Gott, Subjekt oder Staat - gleichviel welches zentralistisch hierarchisierte Zentrum: Wie gewaltsam der Extremismus der Mitte sein kann und mit welcher Rigorosität er seine Forderungen durchsetzt, lässt sich am besten von den Rändern her erkennen. Nicht umsonst reagiert die Eingemeindung der Ränder durch die Mitte auf eine Situation der Bedrohung. Auch wenn der Rand, der margo, um auf das lateinische Stammwort zu rekurrieren, Marken setzt und Margen zieht: vom Zentrum her wird er den Makel des Abseitigen und den des Unkontrollierbaren und Aufständischen nicht los. Versagt sich nicht, was sich an der dunklen Peripherie zuträgt, dem Licht des Zentrums? Und wurden Monarchien nicht stets vom republikanischen Rand aus gestürzt? Und doch ist es vom Anarchischen der Peripherie her kaum verwunderlich, dass mit dem Aufkommen der Massengesellschaft das Abseitige des Randes oft genug die Qualität des Exklusiven annimmt. Nicht mehr zum Durchschnitt der Menge zu gehören und die "Diktatur" des "Man"(9) zu sprengen, wird zum Habitus des Heroischen und Exzentrischen. Und während der gesunde Menschenverstand der Mitte den Exzentriker zur Randexistenz eines Sonderlings erklärt, spricht John Stuart Mill dem "eccentric" höchste Charakterstärke zu: als Widerpart gegen die "Tyrannei der Mehrheit". Liegt doch die "Hauptgefahr unserer Zeit […] darin, dass heute so wenige Menschen wagen, exzentrisch zu sein".(10) Ob somit die Randgänge ohne Ziel und Mitte noch die einzigen sind, die ins Offene führen, die insbesondere uns randständige Wesen ins Offene weisen können, uns, die wir - wie in Hölderlins Hyperion - "zerfallen mit der Natur" das "Seyn, im einzigen Sinne des Worts, verloren" haben und daher "alle eine exzentrische Bahn durchlaufen" müssen?(11) Dass allerdings die Figur des Exzen-trischen in Hölderlins gattungsgeschichtlichem Entwurf auf die "Schönheit" und damit auf die Entlastung von einer schweren Bürde setzt, auf die Entlastung von der Bürde der Weltregie des Subjekts und seiner Imitatio Dei nämlich, hat etwas Tröstliches: als würde uns die Natur selbst von den Rändern der Endlichkeit her überreden, von jener gottererbten Ambition des Homo oeconomicus abzulassen, die unter dem Dogma von Wachstum und Steigerung eine global überdrehte Arbeit der gnadenlosen Optimierung und Vernutzung aller Ressourcen in Gang hält. Nicht zufällig steht lêxis, das altgriechische Wort für Rand, speziell bei Aischylos auch für Ende und Tod. Antworten deswegen vielleicht auch die Malerei und Musik der Gegenwart auf diesen Souveränitätszwang der Allwissenheit und Allmacht mit der Magie jener transsubjektiven Ränder, die die geplante Konstruktion immer wieder zugunsten selbstorganisatorischer und aleatorischer Qualitäten zurücknehmen? Als wollten sie bekunden, dass das Abrücken von der Ich-Regie und das Zulassen von Zufall und Erschöpfung, von Desorganisation und Vergänglichkeit immer auch ein Stück weit jenem energetischen Imperativ Paroli bieten, der die Welt in Atem hält? Und wäre diese Lektion zur Abrüstung des willens- und arbeits-energetischen Hochleistungssolls nicht auch eine gewichtige Einsicht im Umgang mit Rändern und Peripherien? Zumindest solange es sie noch gibt? Aber auch das sei nur am Rand vermerkt. ​ Anmerkungen 1 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux Essais sur l’entendement humai n, Paris 1886, S. 46f., sowie Baruch Spinoza, Ethik , Stuttgart 1977, S. 100. 2 „In rerum natura nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sunt.“ Spinoza, Ethik , S. 72f. 3 Michel Serres, Die fünf Sinne , Frankfurt/Main 1993, S. 259. 4 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) , Frankfurt/Main 2003, S. 379. 5 Zum Problem der Entropie aus kulturwissenschaftlicher Sicht vgl. Johannes Bauer, Traduttore traditore? Übertragen, umwandeln, entwerfen , in: Sabine Sanio / Christian Scheib (Hg.), Übertragung - Transfer - Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen , Bielefeld 2004, S. 258ff. 6 Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur , Basel 1987, S. 13. 7 Ebd. 8 Vgl. dazu Johannes Bauer, Telesupervision. Marginalien zur medialen Welt , in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 3, 1996, S. 81ff. 9 Martin Heidegger, Sein und Zeit , Tübingen 1979, S. 126. 10 John Stuart Mill, Über die Freiheit , Hamburg 2009, S. 95. John Stuart Mill, On Liberty and other Essays , Oxford University Press, New York 1991, S. 75. “That so few now dare to be eccentric, marks the chief danger of the time.” 11 Friedrich Hölderlin, Vorstufen zum Hyperion , Darmstadt und Neuwied 1984, S. 162f. ​ ​

  • Johannes Bauer, Ichabstinenz und Schwebe. Neue Musik und Ferner Osten

    Ichabstinenz und Schwebe Begegnungen mit dem Fernen Osten Längst schon hat sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik entzaubert und mit ihr die Idee des Schönen oder der Kult um Subjekt und Gefühl. Zugleich kam mit dieser Entzauberung ein west-östlicher Dialog in Gang, der inzwischen auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt einer asiatischen Klangexotik, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu chinesisch-japanischen Denk- und Kunsttraditionen. Erst diese Korrespondenz aber macht hörbar, was die abendländische Willensemphase bislang übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Schwebe, die inmitten der Sinn- und Informationsdichte einer vernetzten Welt gerade durch die Fülle des Ausgesparten irritiert und fasziniert. ​ Atelier neuer Musik Ichabstinenz und Schwebe Begegnungen mit dem Fernen Osten Von Johannes Bauer Deutschlandfunk (2009) Bspl. 1: Youlan (Komposition für die Qin) [Tr. 13, 0´00 - 1´25] [1´25] Im siebten der „Inneren Kapitel“ des Zhuangzi aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert findet sich eine berühmte Beschreibung zum Spiegel des Dao. Unter dem Titel „Antworten für Kaiser und Könige“ lesen wir hier: „Sei einfach nur leer, das ist alles. Der vollkommene Mensch gebraucht Herz und Verstand wie einen Spiegel. Er weist nichts zurück und heißt nichts willkommen; er antwortet, er spiegelt wider, aber hält nichts fest. Deshalb kann er die Welt, die Dinge überwinden, ohne sie zu verletzen und ohne selbst verletzt zu werden.“ Größer könnte der Unterschied zum narzisstischen Spiegel westlicher Subjektzentriertheit kaum sein. Während die Spiegelfunktion der abendländischen Kunst, etwa die der tonalen Musik mit ihrem Fundus an Ich-Resonanzen, ein stetes Wiederfinden seiner selbst garantiert, kennzeichnet die Lebensformen des Fernen Ostens eher eine Entwöhnung vom ästhetischen Formenkreis der Selbstbestätigung. Anders als beim expressiven Ideal der europäischen Musik, für die die Welt seit der Renaissance zum tönenden Abbild des subjektivierten Ich wird, geht es in der chinesischen und japanischen Kultur keineswegs darum, in erster Linie sich auszudrücken. Bspl. 2: Yatsuhashi Kengyô, Midare [Tr. 4, 0´00 - 1´38] [1´38] Midare - eine Komposition des japanischen Koto-Meisters Yatsuhashi Kengyô aus dem 17. Jahrhundert, eine Komposition, in der das ruhige, über weite Strecken leidenschaftslose Fließen der Klänge die emotionalen Spannungs- und Entspannungskurven europäischer Musik vergessen lässt. Wie nach buddhistischer Lehre jeder Klang trotz seines Verbunds mit anderen Klängen zunächst und gerade aufgrund seiner Singularität ausdrucksvoll ist, wird auch in Kengyôs Midare die Textur auf ein Bloßlegen und Bloßliegen der Einzeltöne hin transparent. Und es ist diese Transparenz der jahrhundertealten japanischen Koto-Kunst, die noch gut 300 Jahre später in Jo Kondos Duo für Harfe und Gitarre nachklingt, mag sich der 1947 in Tokio geborene Komponist auch stets als einen Vertreter der westlichen Moderne bezeichnen. Bspl. 3: Jo Kondo, Duo [Tr. 6, 5´05 - 6´48] [1´43] An Jo Kondos Duo aus dem Jahr 1982 wird deutlich, wie sehr die Wahlverwandtschaft zwi­schen der musikalischen Avantgarde Europas und den Überlieferungen fernöstlichen Denkens keine gesuchte, keine gewollte ist, sondern aus den Strukturmerkmalen der Musik selbst resultiert. Seit sich das abendländische Komponieren vom Gebot verabschiedet, Töne vorrangig zur Psychorhetorik und zum Gefühlsspiegel des Ichs zu verdichten, seitdem beginnt Musik sich dem Selbstbezug des Subjekts zu entziehen. Erst jetzt kann Musik das Eigenleben der Töne respektieren, anstatt sie über einer Folge von Zielgefällen und Höhepunkten narrativen Erwartungsmustern einzubetten. Vorbei die Zeit, als Kompositionen das Wechselspiel von Emotion und Konstruktion nach der vorgeblichen Einheit des Selbstbewusstseins zu modellieren hatten. Vorbei auch die Zeit, in der Beethovens Musik ihre motivisch-thematische Ökonomie subtil und grandios nach Art einer stringenten Geschlossenheit von Investition und Rendite auskomponieren konnte. Wenn dagegen das japanische „Mushotoku“ einen Zustand meint, der an nichts festhält, dann zeigt sich in diesem Loslassen zugleich ein Widerstand gegenüber ideellen Ganzheitsentwürfen. Die Konzentration auf das flüchtige Hier und Jetzt franst nicht nur jede vorgedachte Totalität aus, mit ihr verändert sich zudem auch der Begriff der Zeit, sofern Zeit nicht mehr als ein vorgeordnetes, abstraktes Kontinuum zu fassen ist. Stattdessen gleicht die von Zielvorstellungen freie Versenkung ins Einzelne der Wandelbarkeit naturhafter Phänomene, gleichsam dem Spiel der Wolken, das in seiner Verlaufsform nicht vorherzubestimmen und nicht exakt zu berechnen ist. Bspl. 4: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Tr. 2, 0´00 - 2´57 (ab 2´50 ausbl.)] [2´57] Lassen, loslassen, zulassen: In Toshio Hosokawas Cloudscapes erzeugen die lang gehaltenen Töne der japanischen Mundorgel Shô und des Akkordeons den Ausdruck von Gelassenheit. Gelassenheit indes kontrastiert dem hohen Rang, den die westliche Musikästhetik vom Tabu der Langeweile her einer kompositorischen Umformungsarbeit beimisst, die sich an raschen Wechseln orientiert. Zudem entfalten sich die mittelpunktslosen Schichtungen von Hosokawas „Wolkenlandschaft“ ihrer Intention und Wahrnehmung nach auf unkalkulierbare Weise. Es ist dieser Formenkreis des Unberechenbaren, der zwischen dem ichgedämpften Charakter von Hosokawas Musik und jenen Einsichten der Chaosforschung eine Brücke schlägt, denen ein Umdenken zahlreicher Naturprozesse gelang: ein Umdenken von Prozessen mithin, die sich weder reibungslos dem kausalen Korsett des menschlichen Intellekts fügen noch dem blinden Zufall zuzuschlagen sind. Solche eher statistischen, weil einzig von ihrer Wahrscheinlichkeit her verstehbaren Energien, in denen sich zeitgenössische Musik, moderne Naturwissenschaft und fernöstliches Denken begegnen, erschließen dem Komponieren neue Ereignisräume. Erst nach der Befreiung vom gestischen Tonfall und von der tonalen Sprachsymmetrie der Ich-Rhetorik konnte sich Musik der Spur des Zufalls und der hintergründigen Ordnung komplexer Systeme öffnen. Damit ergeben sich nie gehörte Bezüge zwischen Natur und Musik, die weit über jene Naturerfahrung hinausgehen, die Debussy noch an Beethovens Pastorale kritisiert hatte. Musik klingt nun, wie in Hosokawas Cloudscapes, als stünde sie im Gespräch mit Benoit Mandelbrots Fraktaler Geometrie der Natur , in der es heißt: „Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise. Die Rinde ist nicht glatt - und auch der Blitz bahnt sich seinen Weg nicht gerade.“ Überhaupt ist davon auszugehen, „dass viele Naturerscheinungen in ihrer Unregelmäßigkeit und Zersplitterung nicht einfach einen höheren Grad an Komplexität gegenüber Euklid“ und der „gesamten Standardgeometrie“ […] bezeichnen, sondern ein völlig anderes Niveau darstellen“. Indem nun Hosokawa die auf Berechenbarkeit angelegte Sinngebung des Verstandes vom Unberechenbaren und Unverfügbaren her aufhebt, nähert sich seine Musik in ihrer Fluktuation zwischen Ordnung und Zufall einem akustischen Naturphänomen an: Und dies eben nicht in abbildhafter Funktion, sondern ihrer Struktur nach. Und womöglich zeigt sich erst jetzt, mit ostasiatischen Vorzeichen und als ichferne Komplexität, was Natur sein könnte, befreit vom ökonomisch bewaffneten Zugriff einer Kultur des Rechnens und Messens. Bspl. 5: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Tr. 2, 4´05 (aufbl.) - 6´26 (ab 6´20 ausbl.)] [2´21] Achtsamkeit auf den Lauf der Naturkräfte, auf ihre Ressourcen und Wandlungen und deren lediglich flankierende Regulierung ist bis zur industriellen Epoche ein Charakteristikum chinesischer Kulturgeschichte; weit mehr jedenfalls als das Beharren auf den Bändigungs- und Unterwerfungsmaßnahmen des abendländischen Wissenschafts- und Technikverständnisses. Nicht umsonst konnte Francis Bacons Devise ebendiesem Wissenschaftsverständnis das Leitmotiv vorgeben, „die Natur auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt“. Im Unterschied dazu begegnet uns im Daodejing der Begriff des „Wuwei“, der Begriff jenes Nichthandelns also, das mit seiner zumeist entstellten Lesart einer ohnmächtigen und müßigen Passivität nicht das Geringste zu tun hat. Eher beschreibt das „Wuwei“ ein Handeln ohne Aktionismus, ein Handeln, das den natürlichen Lauf der Dinge so wenig als nötig stört, und damit ein Handeln in der Schwebe: weder unbedacht noch berechnend, weder affektiv noch teilnahmslos. Indem das „Wuwei“ den Akt der Manipulation zurücknimmt, um sich intuitiv auf das Gegebene einzustimmen, kann es den Dingen gelassen, das heißt mit einem Gestus des Lassens antworten. So wird „Handeln ohne zu handeln“ zu einem leeren Spiegel ohne Vorlieben und Abneigungen, zu einem Spiegel demnach, der spiegelt, ohne selbst gespiegelt zu werden. Indem das „Wuwei“ Welt und Dinge nicht zurichtet, sondern sich wie in der agrarischen Kultur Chinas angesichts der überlebenswichtigen Wirkung etwa von Wind und Wasser der Kraft des Windes und dem Lauf des Wassers angleicht, bringt diese Angleichung an die Natur und die Natur der Dinge im Idealfall den inneren und äußeren Naturgrund zum Einklang. Es erstaunt daher kaum, dass sich diese Anlehnung an eine Welt des Wandels schon im Wesen der chinesischen Sprache findet, im äußerst geschmeidigen Fluss ihrer flexiblen Mehrdeutigkeiten, frei von syntaktischen Beugungen und Brechungen. Hier zeigt sich die Kluft zu abendländischen Sprachen und damit zum abendländischen Denken besonders drastisch: zu einem Denken auf der Basis des griechischen Alphabets und seiner Zeichenabstraktion und zu einem Denken auf der Basis jener indoeuropäischen Grammatik, die jeden Satz aufgrund seines geschlossenen Baus als Zieleinheit gewichtet und Wahrheit auf die Probe der Eindeutigkeit gründet. Wasser also - in China das Element des fließenden Wandels schlechthin. So wie es der Zyklus Zwölf Ansichten des Wassers des Sung-Malers Ma Yuan aus der Zeit um 1200 feiert, ein Zyklus, der jeden seiner westlichen Betrachter nicht nur bei der ersten Begegnung mit größtem Erstaunen, ja nahezu schockhaft berührt. Enthalten diese großformatigen Blätter doch reine Studien des Spiels von Wogen und Wellen ohne jede Landschafts- oder Figurenstaffage. Was könnte die antimetaphysische Präsenz von Natur in der Geschichte Chinas wohl besser belegen als diese Bildserie Ma Yuans, die von der abendländischen Malerei, von Turner und Monet her gesehen 650 Jahre zu früh kommt? In einer Zeit somit, als in der westlichen Kunst theologische Szenen dominierten und Natur lediglich marginal und formelhaft stilisiert bildfähig war. Es war das Wechselhafte und doch Gleichbleibende, das Abstrakte und dennoch Reale in Ma Yuans Wasserdarstellungen, von dem sich Johannes Schöllhorns Orchesterstück Liu-Yi aus den Jahren 2001/2002 faszinieren ließ. Indem Schöllhorn der Form der Formlosigkeit und darin der Weichheit, der Anpassungsfähigkeit und Schmiegsamkeit als der ebenso untergründigen wie offenkundigen Verwandlungskraft des Wassers nachspürt, weitet seine Musik einer Meeresklangfläche mit Tonlichtspitzen das Hören auf die Erfahrung des Flüssigen, Flüchtigen, Grundlosen hin. Wasser, das fernöstliche Element par excellence, wird zum maritimen Fluidum auch der Neuen Musik. Wurden vor diesem Horizont des Offenen nicht schon die nautischen Aufbruchsfantasien Baudelaires, Nietzsches und Debussys zu einem Zentralmotiv der ästhetischen Moderne? Ihre Verlockungen ins Grenzenlose, ins Unbekannte und Abgründige, ohne sicheren Boden und ohne die Möglichkeit einer Dauerspur an Halt und Besitz? Bspl. 6: Johannes Schöllhorn, Liu-Yi / Wasser [Tr. 4, 9´30 (aufbl.) - 13´36] [4´06] Lassen und Sich-entfalten-Lassen sind Leit- und Lebensbahnen Ostasiens bis hinein in den kulinarischen Bereich. So ist beispielsweise in Japan die „beste Art Fisch zu kochen, ihn nicht zu kochen“. Die Zubereitung des Fischgerichts Sashimi liegt nicht darin, den rohen Fisch durch Kochen gleichsam zu veredeln, sondern darin, den rohen Fisch vollendet zu schneiden und kunstvoll zu arrangieren. Alles kommt auf die Entfaltung des Vorhandenen an, auf die Entfaltung der naturgegebenen Qualitäten des Fisches also. Erreicht wird dies mit ausgefeilten Filetiertechniken, die die japanische Küche zur Kunstform erhebt, um durch die Meisterschaft des Schneidens dem Aroma des Fisches äußerste Feinheiten an Geschmack zu entlocken. Die ästhetische Komponente dieser präzisen und zugleich luxuriösen Eigenschaften liegt auf der Hand. Deshalb kann Klaus Langs Streichquartett sei-jaku gleichsam die Hohe Schule des Schneidens, das „Katsu“ der japanischen Küche, mit ihrer Virtuosität der Längs- und Querschnitte und ihren differenzierten Praktiken von Schnittstellen und Schnittgrößen, von Schneidedruck und Schneidegeschwindigkeit auf die Bogen- und Grifftechniken der Streichinstrumente übertragen. Und auch hier, in der Musik, zeigt die intime Verbundenheit der Spieler mit ihren Instrumenten während der konzentrierten Erkundung des komponierten Materials, dass Material mehr ist als Material. Indem die vielfältigen Press- und Schleif- und Schab- und Zupfklänge in Langs Streichquartett Zonen der Aufmerksamkeit am Rand der Stille erkunden, wird erfahrbar, wie sehr in diesem „Katsu“ der Musik die ganze Welt in einem Schnitt, in einem Ton liegt. Jedes Hier und Jetzt wird in dieser Komposition zur Ankunft, mehr noch: zu einem Hier und Jetzt als Hier und Jetzt, sofern Ankunft immer schon ein Ziel voraussetzt. Zudem gibt es in der ins Alltägliche eingebetteten Praxis der Schnitt- und Griff- und Bogenkünste keine Spaltung zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem und keine zwischen Tiefe und Oberfläche. Und damit auch keine Symbole, hinter denen ein wahrer und heiliger Sinn läge. Was zählt, ist einzig das innerweltliche Dasein ohne spirituelle Überhöhungen. Antwortet nicht die Kōan-Sammlung des Bi Yän Lu auf die Frage, was denn der Buddha sei, mit der Antwort: „Drei Pfund Flachs“? Bspl. 7: Klaus Lang, sei-jaku [Tr. 1, 19´00 (aufbl.) - 22´11] [3´11] Was Claude Lévi-Strauss als die Abkehr vom Subjekt feiert, jenem „unerträglich verwöhnten Kind, das allzu lange die philosophische Szene beherrscht und jede ernsthafte Arbeit dadurch verhindert hat, dass es ausschließliche Aufmerksamkeit beanspruchte“, diese Abkehr vom Subjekt ermöglicht auch der Musik ungeahnte Entgrenzungen. Erst nachdem sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik und mit ihr die Ausschlussfigur des Schönen, die Forderung nach Finalität und Geschlossenheit und der Kult um Subjekt und Gefühl entzaubert hatten, konnte mit dieser Entzauberung jener west-östliche Dialog in Gang kommen, der mittlerweile auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt exotischer Klangornamente, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu chinesisch-japanischen Denk- und Kunsttraditionen. Dass es mit der Souveränität des Subjekts, seiner Vernunft- und Gefühlsregie nicht mehr zum Besten stand, war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bereits an der philosophi­schen Reflexion und an der Weltdeutung der Künste abzulesen. Inzwischen klingt die Rede von der einzigartigen Qualität des Individuums in einer extrem arbeitsteiligen Massenge­sellschaft auch soziologisch allzu hohl. Einsicht in solche Zerfallsprozesse aber heißt, mit dem Gedanken Ernst zu machen, dass das seit gut 400 Jahren herrschende Ideen- und Praxiskonzept des Subjekts durch und durch geschichtlich ist. Selbstbeherrschung etwa, das Herr-seiner-selbst-Sein, war zwar eine der Schubkräfte der ökonomisch-technischen Expansion abendländischen Zuschnitts, zugleich aber begann sich das Projekt vom Subjekt gerade in den von ihm in Gang gesetzten Verwertungsprozessen zu entwerten und aufzureiben. Zu ausschließlich setzten die Subjektkonstanten Selbstbeherrschung und Selbstbehauptung auf die rationalen und schließlich rationellen Teilaspekte eines als autonom gedachten Individuums. Kein Wunder, dass die Momente transsubjektiver Überschreitung im Bereich der Kunst, der Musik immer deutlicher wurden. Sobald freilich neben ihrer emanzipatorischen Kraft auch die strapaziöse Last der egozentrischen Sinnbühne, ihre Blockaden und Selbstbeschränkungen in den Blick kamen, konnte der Ich-Kern als die Mikrozelle einer rastlosen Kultur der Verwertung erfahren werden, in der Fülle mit Quantität verwechselt wird und die Übermacht der Dinge dem Leben das Leben aussaugt. Dass inmitten der Gläubigkeit an beharrliches Wachstum und stetige Effizienz die Zäsuren von Stille, Leere und Lassen als ungenutzte, sträflich vernachlässigte Brachen provozieren, ist ebenso konsequent wie die Zersetzung solcher Freiräume des Aufatmens, eine Zersetzung, mit der die real existierende Ökonomie ihre Arroganz gegenüber jeder Form von Abweichung demonstriert. Gleichwohl käme es mehr und mehr auf jene Umkehr in der Austreibung von Stille, Leere und Gelassenheit an, in der die Wahlverwandtschaft zwischen Neuer Musik und ostasiatischem Denken liegt; eine Wahlverwandtschaft, die auch in der Shô-Episode von Helmut Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern zu hören ist. Hier lässt die von Emotionen freie Aura der japanischen Mundorgel anklingen, was abendländisches Komponieren lange übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ichabstinenz und der Schwebe. Es ist diese Region zwischen Gefühl und Nichtgefühl und ihre Wendung zum Schwerelosen, mit der sich der Ton der Shô westlichen Stimmungsregistern entzieht. Entgegen der abendländischen Geschichte, die dem Status von Kampf und Konflikt eine so überaus hohe Wertschätzung zugesteht, öffnet die Shô in Lachenmanns „Musik mit Bildern“ eine Klangoase ohne Konfrontation und Gewalt. „Shô“: ein musikalischer Ort weniger der Töne als der Tönungen und ein Ort, an dem sich die Musik von ihrer eigenen Willensanstrengung und Gewolltheit befreit. Und wenn sich schließlich am Ende von Lachenmanns Oper das rätselhafte Klopfen in den Klavieren zu einem akustischen Kassiber ins Offene schärft, dann thematisiert dieses Ende weder Erlösung noch Verzweiflung, sondern die Realität einer Welt ohne Jenseitsbonus und mit einer Verantwortung im Gegenwärtigen. Zusammen mit den appellhaften Pochimpulsen des „Epilogs“ machen deshalb zumal die intentionslosen Klänge der japanischen Mundorgel bewusst, worauf es Lachenmann ankommt: nämlich auf eine Abrüstung der abendländischen Ich- und Willensemphase, ohne damit einer Passivität der Gleichgültigkeit zu verfallen. Bspl. 8: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Tr. 10, 9´40 (aufbl.) - Tr. 11, 2´00] [2´19] Sicherlich kann es nicht darum gehen, ostasiatische Traditionen als Heilsbotschaften nach Europa zu importieren, wohl aber ist es möglich, über die markante Kulturdifferenz zu China und Japan die Diagnose abendländischer Kultur und Geschichte schärfer, nüchterner zu fassen. Nüchterner auch, um die Opfer zu begreifen, die uns eine immer mehr ins Technische und Instrumentelle abdriftende Vernunft zumutet: Eine Vernunft, eine Rationalität mithin, die sich umso geistiger dünkt, je technischer sie über die äußere und innere Natur triumphiert. Seien wir also vorsichtig, unsere Naturferne, unsere Selbst- und Weltentfremdung und den daraus resultierenden Zynismus zum Maßstab zu nehmen, sobald wir über dem langen Atem Ostasiens die Geduld verlieren. Vielleicht dass wir dann vom fernöstlichen Zug der Neuen Musik her zu ahnen beginnen, wie sehr das mittlerweile globale Heroentum des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Welt und das Leben erst schwer, monströs und unmenschlich werden lässt. Bspl. 9: Jakob Ullmann, Komposition für Orchester (I-V) „…Schwarzer Sand / Schnee…“ [Tr. 5, 5´04 (aufbl.) - 7´52] [2´48] Musikbeispiele ​ Bspl. 1: Youlan (Komposition für die Qin) [Xiaoyong Chen] [wergo SM 1603-2] Bspl. 2: Yatsuhashi Kengyô, Midare [Kazue Sawai] [d’c edition Bremen] Bspl. 3: Jo Kondo, Duo [Eva Pressl, Michael Schröder] [hat[now]Art 110] Bspl. 4: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Mayumi Miyata, Stefan Hussong] [wergo WER 6801 2] Bspl. 5: Toshio Hosokawa, Cloudscapes [Mayumi Miyata, Stefan Hussong] [wergo WER 6801 2] Bspl. 6: Johannes Schöllhorn, Liu-Yi / Wasser [WDR Sinfonieorchester / Johannes Kalitzke] [WDR æon AECD 0863] Bspl. 7: Klaus Lang, sei-jaku [Arditti String Quartet] [DDD LC 08864 ed. RZ 4005 Verlag zeitvertrieb] Bspl. 8: Helmut Lachenmann, Das Mädchen mit den Schwefelhölzern [Elizabeth Keusch, Sarah Leonard, Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi, Mayumi Miyata, Salome Kammer , Staatsopernchor und Staatsorchester Stuttgart, Lothar Zagrosek] [KAIROS 0012282KAI] Bspl. 9: Jakob Ullmann, Komposition für Orchester (I-V) „…Schwarzer Sand / Schnee…“ [SWR Sinfonieorchester / Matthias Bamert] [da music ORC 77312] ​ ​

  • Johannes Bauer: Peter Gülke, Studien zu Beethoven

    Peter Gülke ​ «... immer das Ganze vor Augen» Studien zu Beethoven (Metzler/Bärenreiter, Stuttgart/Weimar 2000) Gleich zu Beginn die übliche Schlussfrage: Was ist das Besondere an Gülkes Beethoven-Essays? Ist es ihre philologische Aufmerksamkeit? Sie findet sich zur Genüge auch bei anderen Autoren. Ist es die klärende Kraft des Begriffs? Auf sie setzen ebenfalls zahllose Beethoven-Kommentare. Liegt das Besondere in der Vermeidung einer Auslegungspraxis, deren Größenmaßstab die Sache leicht aus den Augen verliert? Liegt es in der Sensibilität der Deutung, wie subtil Beethovens Kompositionen Buchstabe und Geist miteinander vermitteln? Doch auch das sind Floskeln, solange man nicht selbst erfahren hat, wie Gülke argumentiert, wie er formuliert. Über Beethoven zu sprechen ist leicht. Kaum ein Komponist, der wie er die Leitbahn seines kompositorischen Denkens offen gelegt hätte, offen legen wollte: Musik als ethisch inspirierter Diskurs. Über Beethoven zu sprechen ist aber zugleich unendlich schwer. Dann nämlich, wenn man nicht bei den Jubelbreschen und Bändigungsszenarien seiner Musik stehen bleibt. Bei jenen Gemeinplätzen der Einfühlung also, denen sich in Gülkes Buch jede Seite verweigert. Keineswegs übersieht Gülke die Strategie in Beethovens dramatischer Eloquenz: die Strategie, einkomponierte Widerstände dem Formprozess als Sinnrendite zuarbeiten zu lassen. Aber er vergisst darüber nicht die «Gestehungskosten»: die Asche des triumphierenden Phönix, der als Sturmvogel der Revolution in Beethovens Symphonien unentwegt neu und in vielfältigen Formen ersteht. So folgt Gülke Beethovens Motivfiligran nicht nur als einem Gewebe der Bündnisse zwischen Detail und Ganzem, zwischen finaler Gewichtung und sittlich-tätiger Emanzipation. Er folgt ihm auch als einem Gewebe der Trennungen und Unvereinbarkeiten, ja der «Gleichgewichtsstörungen», gegen die selbst das Satzkontinuum nichts mehr auszurichten vermag. Solche Erkundungen sind wegen der Präzisierung ihrer Befunde auf Beethovens Gesamtwerk verwiesen. Deshalb gilt das Beethoven-Zitat, mit dem Gülke seine Essays überschreibt, auch für ihn selbst. Auch Gülke hat «immer das Ganze vor Augen». Ob er anlässlich der Skizzen zur Fünften Symphonie Einblicke in Beethovens Laboratorium der Materialprüfung gibt; ob er auf Beethovens neuartige, öffentlichkeitswirksame Kommunikationsformen zu sprechen kommt, auf die Klangrede an das große Publikum und damit auf die Strukturveränderungen im Verhältnis von Orchesterapparat und motivisch-thematischer Organisation; ob er die Desillusionierung der Zeit und der Satzhomogenität im Allegretto der Achten Symphonie thematisiert: Immer geht es Gülke um das Verständnis von Beethovens intellektuellem Habitus und dessen ästhetischer Präsenz. Somit um die bisweilen rigoros auskomponierten Charaktere eines hellwachen Citoyen, dem vornehmlich eines zuwider ist: Unmündig und in verblendeter Partikularität hinter den Belangen und Forderungen des Zeitalters zurückzubleiben. Und natürlich geht es Gülke um die Frage, welchem Übermaß an Reflexion sich Beethoven dabei zu stellen hatte; darin durchaus Hegel vergleichbar. Hegel und Beethoven. Wie sich Beethovens kompositorisches Denken zum philosophischen seiner Zeit verhält, entschlüsselt Gülke aus der Eigenlogik der Musik, ohne die Parallelen durch voreilige Gleichheitszeichen zu neutralisieren. 1969 liest sich bereits die Motivkette eines der Essay-Titel wie ein philosophisches Begriffskompendium: Introduktion als Widerspruch im System. Zur Dialektik von Thema und Prozessualität heißt es da. Programmatisch gibt Gülke vor, was der Aufsatz meisterhaft präzisiert: das Verlockende und zu Bändigende der Freiräume und Unwägbarkeiten in Beethovens dichter, ja geradezu logisch gefügter ‹Phänomenologie des musikalischen Geistes›. Freiräume und Unwägbarkeiten bis hin zur Schwierigkeit des Anfangs und Anfangens, die auch Hegel umtreibt. Wie kann eine Philosophie beginnen, die auf die Lückenlosigkeit des Systems setzt? Wie kann eine Musik beginnen, für die die Tilgung unausgewiesener, das heißt zunächst lediglich gesetzter Momente in einer durchorganisierten Werktotalität entscheidend wird? Unter diesem Aspekt interessiert Gülke an Beethovens Kompositionen, wie in ihnen noch geringste Zufälligkeiten mit dem Anschein «bloßer Versicherungen» zum Problem werden; zum Problem vor allem für den diskursiven Bereich der Musik. Und doch, auch wenn Gülke vom «komponierenden Hegelianer Beethoven» spricht: Beethovens Musik wird für Gülke nie zur Manövriermasse philosophischer Thesen. Stattdessen macht der Autor weit mehr die Unterschiede zwischen beiden Diskursgattungen produktiv. Die Spannung also zwischen der kausalen, dem Allgemeinheitssog des Begriffs verpflichteten Logik der Philosophie und der assoziativ verschatteten Logik der Musik mit ihrer Tendenz zum Einmaligen. Diese Spannung treibt Gülke in die Musik selbst hinein, indem er Beethovens Anstrengung verfolgt, wie denn das Besondere des musikalischen Ausdrucks mit einem verbindlichen Formkanon zu koordinieren sei. Dass sich Gülke bewusst ist, wie sehr gesellschaftliche Widersprüche als solche der Form wiederkehren, liegt auf der Hand. Einer Form allerdings, die immer schon mehr als nur Form ist. Mit Gülke begreift man jedenfalls besser, wie sich die «Entfernung vom revolutionären Einklang der Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft» in den Konflikten zwischen «Thema und Form» niederschlägt. Gülkes Buch schüchtert nicht ein. Im Gegenteil: es ist spannend zu lesen. Spannend, weil es der Musik Beethovens so inspiriert und dicht am Material folgt, dass sich das übliche Dilemma musikalischer Erläuterungen gar nicht erst stellt: das Dilemma zwischen gedanklicher Deutungsbeliebigkeit und analysetechnischer Verbissenheit. Stets orientiert sich Gülke auf spekulativem Terrain am Kompass des notierten Werks. Nur ist der immer schon nach dem Meridian des komponierten Geistes ausgerichtet. – Keinerlei Einwände demnach? Auch nicht im Sinn jener mittlerweile zum guten Ton des Rezensionsgeschäfts gehörenden Fragen nach dem Blinden einer Epoche? Nach dem also, was Beethovens Werk nicht erfahrbar ist, wogegen es taub bleibt? Eine Antwort auf solche Fragen gibt Gülke mit der Kategorie des Ernstfalls, die eine Konstante beethovenschen Komponierens ausmacht. Dass Beethoven musikgeschichtlich die «Phalanx der Humorlosen eröffnet», wie Gülke betont, bedeutet nichts anderes als den vom ästhetischen Erkenntnischarakter her verlustreichen Ausschluss einer spielerischen, ironischen, spirituellen Heiterkeit aus der Musik. Als könnte und dürfte der aus den Fugen geratene Weltlauf kompositorisch nur noch unter dem Blickwinkel ethischer Opposition oder mit tragischem Heroismus reflektiert werden: im Vertrauen auf die Ressourcen des Negativen, die die Fron der motivisch-thematischen Arbeit dem absoluten Geist der Musik als Idee von Wahrheit und Freiheit zubringen soll. Gülke macht daher gerade im heroischen Regelkreis beethovenschen Komponierens Lücken ausfindig und verstehbar. Ungedeckte Gedanken in Form jener Peripherien des Tastenden, des Unbestimmten und Ungewissen, die zunehmend ins Innere der Musik dringen. Dabei setzt Gülke das analytische Stethoskop hautnah am Pulsieren der Satzenergie an. Jeder Takt wird abgehört, um die Impulse zu orten, die die Vermittlungsdichte lockern – bis hin zum Ausmaß oasenartiger Abweichungen, in denen die Musik Ökonomie und Stringenz unterläuft und ihren reflexiven Kontrapunkt mitkomponiert. Oasen, in denen die robespierre- und napoleonhafte Physiognomie Beethovens auf Hölderlin verwandte Züge hin durchlässig wird. Oasen zudem, in denen sich das Diktatorische beethovenscher Partituren auf eine Sprache jenseits von Arbeitsethos und Gattungspathos hin öffnet. Nicht selten wird dabei das Werk selbst zum offenen Ohr, dem – wie in der Pastorale – bislang unerhörte Töne vernehmbar werden: die von Vögeln gar, die ‹in die Musik hineinzwitschern›. Und Gülke lässt es sich nicht nehmen, hier von einer «Deckung von Natur und Kunst» zu sprechen, einer Wunschlandschaft mit der «stillen Glückseligkeit Siegfrieds, der plötzlich die Sprache der Vögel versteht». Und etwas wie siegfriedhaftes Verstehen fällt auch Gülkes Lesern zu. Ein Verstehen jenes Naturgrunds in Beethovens Musik, den die Sublimierungsarmatur seiner Kompositionen nicht verdrängen kann. Mag das beethovensche Skalpell der Konstruktion oft genug radikale Schnitte durch den Organismus der Sätze und Werke legen; mag dieses Skalpell immer wieder äußerst manipulierbare Motiv-Kalküle aus dem tonalen Sprachrepertoire herausschneiden, um sie der Formtotale umso müheloser implantieren zu können: Gülke zeigt, dass Beethovens Diskurs ohne die Reflexion zivilisatorischer Gewalt- und Opferarsenale nicht zu denken ist. Der Widerstand, den die Themen mitunter ihrer Verarbeitung entgegensetzen, ist ein Beispiel dafür. Ein anderes wäre die Hinterfragung selbst noch der emanzipatorischen Dramaturgie der Symphonien durch die Musik: Als könnte die Rhetorik der Postulate und Appelle allzu leicht mit Überredung, mit Zwang verwechselt werden. So lesen sich Gülkes Untersuchungen auch wie eine Karte der gegenläufigen Wege und exzentrischen Bahnen in Beethovens kompositorischem Labyrinth. Kann man von einem Beethoven-Buch mehr verlangen? In einer Zeit zumal, in der die gängige Konzertpraxis zur Liturgie der Gewohnheit verkommt? Zum Goutieren von Meisterwerken nach dem Kult von Devotionalien, die eher devot als hellhörig machen? Musste für Kafka ein Buch «die Axt sein für das gefrorene Meer in uns», dann ist Gülkes Buch eines, das das Eis tradierter Rezeptionsklischees aufsprengt. Auch darin im Pakt mit Beethoven und dessen Spätwerk, das die Winterwüste restaurativer Erstarrung zum Schmelzen zu bringen hoffte. Und mit ihr die Seelen-Arktis in den Herzen des Publikums – über alle klassischen Normen hinaus. (Johannes Bauer) ​

 Johannes Bauer     Philosophie / Musikästhetik / Malerei                                                                                                                        © Johannes Bauer 2017 - Impressum /  Datenschutz  

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