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- Kleiner Steckbrief (in eigener Sache)
Johannes Bauer, Stereotypie/Entropie (Computergrafik 2020) Philosophie, Ästhetik, Malerei Philosophie und Ästhetik Meiner philosophischen Arbeit geht es unter dem Realitätsgebot des Wirklichen um das Potenzial des Möglichen: Um den Widerstand des Unverfügbaren - gegen die Austreibung des scheinbar Nutzlosen durch technische Verwertungsoffensiven; um die Ressource kreativer Fantasie - gegen die Nivellierung der schöpferischen Einbildungskraft in einer Welt der schnelligkeitstrainierten Wahrnehmungs- und Funktionsmuster; schließlich um die Eigenzeit des Denkens - gegen die Praxisbesessenheit von Arbeitseffizienz und Rendite. Randgänge in den Bereich von Logik und Sinngebung und damit von Bedeutung und Nicht-Bedeutung verstehe ich als einen von zahlreichen Kompositions- und Reflexionspraktiken der zeitgenössischen Musik und Malerei inspirierten Beitrag zu einer ästhetisch fundierten Philosophie der Moderne.[1] Die philosophische Skepsis gegenüber der Deutungskraft des Begriffs bestimmt bereits meine Arbeit zu Beethovens Neunter Symphonie.[2] Indem deren "musikalische Formulierungen mit einer Fülle philosophisch-literarischer Formulierungen von Beethovens Zeitgenossen" konfrontiert werden, deren Substanz auch dem musikalischen Denken des Komponisten zugrunde lag, versucht die Monographie in einer "methodologische[n] Tour de force", wie Georg Knepler schreibt[3], Korrespondenzen zwischen dem musikalischen und begrifflichen Denken zu analysieren, ohne die philosophische Argumentation mit dem Tiefengehalt der Musik zu verwechseln. "Musikalische Sachverhalte" werden als "philosophische" gelesen und "philosophische musikalisch" exemplifiziert. Unter diesem Aspekt wird die Neunte Symphonie, so Peter Gülke, als "'tätige Philosophie' begriffen". "Wie Adornos wenig später erschienene Beethoven-Notizen belegen Bauers Untersuchungen, was von 'links'" für ein „adäquates Beethoven-Verständnis geleistet worden ist und weiter geleistet wird."[4] Dass Sprache im digitalen Zeitalter zunehmend als reine Gebrauchssprache verstanden wird, verhindert die Einsicht in ihre Grenzen und damit in die Grenzen eines Diskurses, dessen Verzahnung von Syntax, Logik und Urteil immer mehr um den Wahrheitsgehalt bloßer Information kreist. Wenn sich alles rechnen muss, verwandelt sich schließlich auch die Sprache in eine rastlose Urteilsmaschinerie, der die Besinnung auf ein weit weniger formalisiertes Sprechen abhanden kommt. Ich will keineswegs die Gebrauchssprache durch experimentelle Sprachspiele ersetzt wissen, vielmehr die Defizite und Ausschlussverfahren der Gebrauchssprache anhand ihrer Überschreitungen bewusst machen. Erst die Überschreitung einer grundsätzlich auf der Logik von Aussagesätzen basierenden Sprache lässt deren Sinnprägung als Abschottung gegen jede andere Ordnung von Sprache und Schrift bewusst werden. Was aber den gewohnten Akten von Sprechen und Schreiben aufgrund der Allianz von Grammatik, Logik und Wahrheit entgeht, bedeutet für mich im Gegenzug, dass genau diese Allianz regelt, was wahrgenommen und nicht wahrgenommen, was gedacht und nicht gedacht werden kann. Erst im Aufbrechen einer Textlogik, die Folge und Folgerung, Sequenz und Konsequenz zur Deckung bringt, werden Schrift und Sprache auf die Rückseite ihrer geläufigen Textur im Weben und Knüpfen von Sinnspuren hin durchlässig. Sagbares, Unsagbares, Lesbares, Unlesbares: wo verläuft die Grenze? Und wie weit kann die Syntax entregelt werden, ohne ins Belanglos-Beliebige abzugleiten? [5] Im Wechselspiel zwischen Philosophie und Dichtung widmet sich meine Auseinandersetzung mit "Goethes musikalischem Denken" der "Musik als poetologischem Vorbild für eine L'art-pour-l’art-Poetik avant la lettre". "Im Anschluss an Adornos auf Goethes 'Klassizismus' gemünztes Diktum von einer 'gewaltlosen' Rede, in der sich der 'Krampf des Wortes' löse, skizziert Bauer eine spielerische Poetik Goethes, die bewusst Mehrdeutigkeiten erzeuge und sich damit als Kritik jener 'Identifikationssucht des Urteils' mit ihrer 'zweiwertige[n] Logik des Richtig und Falsch' lesen lasse". "Aus dieser Blickrichtung erscheint Goethes von Bauer postuliertes Misstrauen gegenüber der 'Besetzungs-, der Besatzungskraft des Satzes'" als eine "frühe Form der Alteritäts-Poetik" und "erhellt" damit eine "wichtige Facette in Goethes Poetologie".[6] (Wie ich selbst eine Umformung der syntaktischen Kausallogik in Szene setze, zeigt die Sprechpartitur Atmen, die 2008 vom Ensemble Maulwerker in Berlin uraufgeführt wurde.) (Johannes Bauer, Sprechpartitur Atmen für das Ensemble "Die Maulwerker" zu Beethovens Cavatina und Heinz Holligers Erstem Streichquartett), Uraufführung: Berlin 2008[Ausschnitt]. Meine Arbeiten sind Heideggers Metaphysikkritik insofern verpflichtet, als dessen Hermeneutik der Sprache zwischen Weltverschließung und Welterschließung den Übergang vom Begründungsdiskurs der Philosophie zum Ereignisdiskurs des Denkens vollzieht, von der kausallogischen Abdichtung der Sprache hin zu einem vieldeutig offenen Entstehen ihrer Bedeutungsstruktur und deren bisweilen subjektferner Weitung. Dieser Übergang ist jenem Wandel vergleichbar, der für die Malerei und Musik der späten Moderne mit ihrer Abkehr vom Abbild- und Organismusmodell entscheidend ist.[7] Parallelen zwischen Heideggers Kritik des Erlebnisses und zahlreichen Kompositionen Neuer Musik, die sich der narzisstischen Spiegelfunktion des Hörens entziehen, liegen auf der Hand. Dass diese Abkehr von einer Ästhetik der Einfühlung für Heidegger einen Weg ins Offene weist - jenseits des subjektzentrierten Ideenrepertoires des abendländischen Humanismus -, spricht für die Brisanz einer Philosophie, deren Gedanken zur Erfahrung der Gelassenheit, der Leere, der Zeit und des Todes ebenfalls einer grundlegenden Intention der Malerei und der Musik des späten 20. Jahrhunderts korrespondieren: nämlich der Intention, das Kunstwerk den transzendenzlosen Spuren des Daseins in seiner Hinfälligkeit nicht selten bis zur Auflösung der materialen und damit ästhetischen Konsistenz auszusetzen.[8] © Johannes Bauer, Oydssee / Nekyia (2017), 53,3 x 45 cm, Acryl auf Papier Nachweise 1 Johannes Bauer: Ränder. Zur Philosophie des Peripheren und Marginalen. In: Gisela Nauck (Hrsg.): …an den Rändern des Maßes… Der Komponist Gerald Eckert. Wolke-Verlag, Hofheim 2013, idn=1030337055 (d-nb.info). 2 Johannes Bauer: Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hrsg.): Musikwissenschaftliche Studien. Band 8. Centaurus Verlagsgesellschaft, Pfaffenweiler 1992, ISBN 978-3-89085-260-7. 3 Georg Knepler: Musiktheorie. In: Annette Kreutziger-Herr, Theorie der Musik : Analyse und Deutung (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft. Band 13,1995, ISBN 978-3-89007-308-8 (d-nb.info). 4 Peter Gülke: Grenzüberschreitung. In: Musica. Nr. 3. Bärenreiter, 1996, ISSN0027-4518, S. 220 f. 5 Johannes Bauer: Text und Textur. In: Dissonanz. Nr. 91, 2005, S. 4 ff. - Zur Kontroverse um eine Delinearisierung des Linearen vgl. auch Stefan Drees: Plädoyer für den Text als linearen Diskurs. Zum Aufsatz »Text und Textur« von Johannes Bauer. In: Dissonanz/Dissonance Nr. 92, 2005, S. 39–40. 6 Stefan Börnchen: Basso continuo mit Quintparallelen. Neue Lieder und alte Weisen auf das Thema "Goethe und die Musik". 11. Dezember 2006 (iaslonline.de). 7 Johannes Bauer: Das Ungeheure und die Gelassenheit. Martin Heideggers Nähe zur Neuen Musik. SWR-Essay, 2010 (johannes-bauer-philosophie.com). 8 Johannes Bauer: Cage und die Tradition. In: Claus-Steffen Mahnkopf (Hrsg.): Mythos Cage. Wolke Verlagsgesellschaft, Hofheim 1999, ISBN 3-923997-87-6, S. 92 ff. (d-nb.info). 9 Johannes Bauer: Das Schweigen der Sirenen, Adornos Ästhetik und das Neue der Neuen Musik. In: Markus Fahlbusch / Adolf Nowak (Hrsg.): Musikalische Analyse und Kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik. Hans Schneider, Tutzing 2007, ISBN 978-3-7952-1237-7, S. 303–324 (d-nb.info). 10 Hans-Klaus Jungheinrich: Adorno vergessen. Ein Frankfurter Kongress internationaler Musikologen. In: Frankfurter Rundschau. 1. Oktober 2003. 11 Johannes Bauer: Neue Musik und Naturwissenschaft. In: www.johannes-bauer-philosophie.com. Abgerufen am 25. März 2020 (deutsch). Malerei Im Gegensatz zur massenhaften Vermarktung abbild- und informationsfixierter Seh- und Sinnangebote geht es meiner Malerei nicht um weitere Abbilder, sondern um das Bild als ästhetisches Ereignis, das den Blick und seinen Erkenntnishorizont über die Norm fotografischer Visualisierungsmuster hinaus öffnet. Was ist real? Wo liegen die Grenzen des Sichtbaren? Was bleibt trotz aller Anschaulichkeit abstrakt und was macht die Brisanz des vermeintlich Gegenstandslosen und Abstrakten gegenüber der oft allzu glatten Oberfläche abbildhafter Darstellungen aus? Von dieser Perspektive aus suchen meine Bilder durch den Entzug des dinghaft Konkreten nach anderen Seh- und Denkweisen. Abseits vom Kurs eingefahrener Wahrnehmungsrouten und Erklärungsroutinen lädt Malerei dazu ein, im unberechenbaren Augenblick und im Grenzbereich zwischen dem Erkennbaren und Rätselhaften ebenso irritierende wie erhellende, ebenso befreiende wie abenteuerliche Reisen ins Unbekannte zu wagen. Schwerpunkte meiner künstlerischer Arbeit sind folglich neben Themenfeldern wie „Metamorphose“ oder „Entropie“ auch monochromatische Experimente und Schrifttexturen als Verunsicherung und zugleich als Verlockung eines visuellen Sicherheitsbedürfnisses, das immer noch auf eine möglichst eindeutige Identifizierung des Dargestellten ausgerichtet ist. Dass meine letzten Arbeiten - vor allem die des Homo-sapiens- und des Ilias-Zyklus - gegenständliche Figurationen einlassen, kann nur bedingt als eine Abkehr von der Abbildabstinenz gelten, zumal die schablonisierte Formgebung dieser Zyklen stets zwischen Abbild und Abstraktion changiert. Die Schablone als Manifestation archaischer Ausdrucksspuren im Homo-sapiens-Zyklus verweigert sich überdies einer Kunst der Einfühlung, während im Ilias-Zyklus die Modellierung durch die Schablone zu Strukturen führt, die das Abbildhafte des Sujets nahezu auflösen. Zyklen: Chroma (2011) Prometheus (2012) Schrift (2012–2016) Abschabungen (2013/14) Pompeji (2013/14) Entropie (2013/14) Belichtungen (2014) Homer (2017) Homo sapiens (2017) Judaica (2017) Fotografie (2018/19)
- Beim Anblick einer Katze
Rätselhaft, geheimnisvoll - die Augen einer Katze; Augen, deren Ausdruck sich nicht sprachlogisch auflöst. Fasziniert vom Ausdrucksrepertoire ihrer Pupillen, deren Wandlungsfähigkeit in einigen frühen Kulturen dem wechselhaften Mondzyklus verbunden bleibt, gleitet der menschliche Blick im Blick der Katze in die Fülle einer sprachlosen Sprache. "Pour dire les plus longues phrases, / Elle n'a pas besoin de mots", wie Baudelaires Fleurs du Mal diesen Sog in die offene Weite des Wortlosen vom Lautrepertoire der Katze her deuten: einen Sog, der nicht weniger die visuelle Physiognomie der "chat mystérieux" charakterisiert. Es ist diese vom Staunen getragene und gleichwohl um den Abgrund der Distanz zum Tier wissende Faszination, mit der sich Baudelaire in seinen Poèmes de chats von Rilkes hochgesteigerter Rühmung des Offenen im Wesen der tierhaften "Kreatur" (Achte Duineser Elegie) und von Heideggers auf das "Weltarme" des Tiers gestützten Einspruch gegen eine solche "Vermenschung" unterscheidet (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, §§ 45ff.; Parmenides, GSA Bd. 54, S. 239). Metaphysisch gestützte Deutungen und ihre Fallhöhe verlieren bei Baudelaire ihr Gewicht zugunsten einer kreatürlichen Erfahrung zwischen Tier und Mensch, der Erfahrung nämlich, wie in einer Welt des zunehmenden Funktionalismus und seiner schnellen Reiz-Decodierung die expressive visuelle Kraft der Katze, mit der sie uns fixiert, in eine Meditatio hominis übergeht: Was heißt Leben, was Sprache, was Arbeit, was bedeutet, kurz gesagt, die Conditio humana vor einem Tier, das trotz aller partiellen Domestikation mit seinem archaischen Naturell das zivilisatorische Regelwerk von Kontrolle und Disziplin unbeirrt und gewaltlos durch eine leise Gegenbewegung des Ungebundenen grundiert? Die Katze - ein Wesen mit vielen Gesichtern. In ihrem Blick, der von weither kommt und einen Korridor in ferne Zeiten öffnet, brechen sich die Wüsten und Sternennächte Ägyptens und die Kulte der Bastet ebenso wie die Verteufelung der Katze im christlichen Kulturkreis, der das diabolische Tier seinem weiblichen Aspekt nach mit Hass und Abscheu überzieht und seine Dämonisierung schließlich im 13. Jahrhundert bei Berthold von Regensburg in einem etymologisch-ideologischen Kurzschluss sondergleichen festschreibt: im Synonym von Katze und Ketzer. Ihre auch in der Dunkelheit präzise Jagdtechnik von Anschleichen und Zugriff, ihre äußerst flexible Augen- und Ohrensensorik, ihre extreme Wendigkeit wird der Katze in einer Religion des sündhaft erstarrten Menschenbilds und der Unterwerfung unter die omnipräsent übermächtige Zeugenschaft Gottes allein schon von ihrem agilen Instinktrepertoire her zum Verhängnis. Der Eigensinn eines Tiers, das sich wegen seiner Befehlsresistenz nie zur Gänze besitzen lässt, das libertär promiske Wesen seiner Sexualität und seine Verbundenheit mit Nacht und Dunkelheit galten der christlichen Doktrin des Gehorsams, der Askese, der Verfallenheit des Fleisches und der Hoffnung auf das Licht der Erlösung als die Inkarnation satanischer Kräfte. Neben ihrer Affinität zum Peccatum mortale der Luxuria und der Superbia, der Wollust und des Stolzes, verkörpert und versinnbildlicht die Katze mit ihrem müßiggängerischen Habitus und ihrem Schlafbedürfnis dem Arbeitsethos des Christentums zufolge vor allem die Sünde der Acedia: Weder liefert die Katze Nutzprodukte - keine Milch, keine Eier, keine Wolle - noch vollbringt sie die effektiven Dienstleistungen anderer Haustiere. Einzig die Verwertung der toten Katze unterlag einer wirtschaftlichen Nutzung - vom Katzenfell über Katzengalle bis zum Katzendarm. Exorzistischen und apotropäischen Praktiken zufolge wurden Katzen lebendig eingemauert, vergraben und zusammen mit Hexen und Ehebrecherinnen gefoltert, verbrannt und ertränkt. Nicht umsonst wird im Malleus maleficarum, dem Hexenhammer von 1486, die Katze als "Sinnbild des Ungläubigen" dargestellt, Projektionsfläche für ein Pandämonium an Lastern, seien es die Mordlust der Beutegier oder die Eitelkeit der Putzsucht, wobei der Katze noch die List und Schlauheit ihrer Jagdstrategie als Falschheit und Verschlagenheit ausgelegt wurden. Erst im Zug der modernen Arbeits- und Leistungsimperative nimmt das Wesen der Katze die Eigenschaft jener Weisheit und Gelassenheit an, in deren Namen Baudelaire Eulen und Katzen als Nachttiere der großen, weitsichtigen Augen im 66. und 67. Gedicht der Fleurs du Mal zu Wesensverwandten erklärt und die Katze vom Makel des Teuflischen ins ‘Engelhafte’ entrückt. Und wenn das christliche Mittelalter in Unkenntnis des Tapetum lucidum, der hinter der Netzhaut liegenden reflektierenden Gewebeschicht, verantwortlich für das Widerleuchten des Katzenauges im Dunkeln, die unheimlich aufglühenden Augen der Katze als weiteres Indiz für deren höllenhaftes Stigma verbucht, werden die Kristalle und Farbpigmente des Tapetum lucidum und sein Farbspektrum bei Baudelaire zum "Goldgesprenkel, das wie Sand so fein, Besternt der Blicke rätselhaften Schein" ("Et des parcelles d'or, ainsi qu'un sable fin, / Etoilent vaguement leurs prunelles mystiques.") Zugleich rückt die sinnende Katze, die in den Fleurs du Mal "wie eine Sphinx am Grund der Einsamkeiten (au fond des solitudes) in Schlummer sinkt" und in "Träume, die nie enden (dans un rêve sans fin)"(1), mit dieser meditativen Ruhe der Versunkenheit in die Nähe jener Schwermut, die bereits bei Shakespeare zur Sprache kommt: "I am as melancholy as a gib cat" (Shakespeare, King Henry IV, First Part I, 2). Steht jedoch die Katze, ein Tier des Pianissimo, auf ihren sprichwörtlichen Samtpfoten plötzlich - einer Erscheinung gleich - im Raum und trifft uns der Blick ihrer „prunelles mystiques”, der die Zeit anhält, dann schärft sich in diesem Innehalten das Auge der Katze zu einem Spiegel, der bannt und zugleich befreit: Befreit, indem sich die Katze keinerlei moralische Urteile über uns erlaubt, und bannt, indem sie uns sphinxhaft mit der Frage ins Visier nimmt: "Wer bist du?". 1 Charles Baudelaire, Les Chats, in: Les Fleurs du Mal (LXVI), Deutsche Übertragung von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart 1980.
- Beethoven
"…tantôt libre, tantôt recherchée" Anmerkungen zur polyphonen Technik Beethovens und Schumanns Die in Beethovens Hammerklaviersonate zentrale harmonische Polarität von B-Dur und h-Moll, die "Position (B) und die Negation (h)"(1), hat als strukturelle Spannung zwischen B und H Relevanz auch für die Neunte Symphonie. "Es ist leicht einzusehen, dass der Ton B in diesem Werk eine besondere Bedeutung hat". "Wann immer das B in den ersten drei Sätzen thematisch auftritt, hat es die Funktion, die Melodie nach unten abzubiegen. Aber noch wichtiger ist der Versuch des B, nach H durchzubrechen, der sich in allen drei Sätzen wiederholt (I 102ff., II 170ff., III 91ff.), aber erst im 4. Satz völlig gelingt. Darauf beruht die ungeheure Wirkung der an sich so einfachen Stelle: 'Und der Cherub steht vor Gott', wo das H zum ersten Mal thematisch auftritt und überschritten wird."(2) Auch wenn Livingstone die polare Klammer B-H schlüssig analysiert, muss man der These des Autors nicht unbedingt folgen, die "Adagio-Stelle des Solistenquartetts in H-dur (IV 831-842)" sei der "Höhepunkt des ganzen Werkes", sofern hier "nicht nur das hohe H, sondern auch die Tonart H-dur erreicht" wird (3). Wie bedeutsam die Polarität B-H in Beethovens Œuvre ist, belegen zudem weitere Passagen. So vollzieht sich in der Hammerklaviersonate der Themenrücklauf der B-Dur-Finalfuge (T. 153ff.), der Jürgen Uhde von einer "Negation des Themas", einer "Liquidierung (seiner) Entfaltung", "einer Art Vernichtung"(4) sprechen lässt, in h-Moll, einer Tonart, die Beethoven auf einem Skizzenblatt selbst als "schwarze Tonart"(5) charakterisiert hat. Vergleichbar ist dieser Rücklauf der extremen, fast bis zu seiner Auflösung getriebenen Reduktion des Freudenthemas im B-Dur-"Alla-Marcia" des vierten Satzes der Neunten Symphonie, genauer: in den ebenfalls nach h-Moll gewendeten Takten 535ff. des Fugatos. Erst nach diesem Aufzehren der heroischen Substanz, einem kompositorischen Ernstfall, der dem Siegespathos des „Laufet, Brüder, eure Bahn, freudig, wie ein Held zum Siegen“ aufs Schärfste kontrastiert, bricht die Musik in letzter Minute zur fortissimo restituierten Originalgestalt des Freudenthemas in D-Dur durch (T. 541ff.).(6) Und sind überdies nicht auch die Fugen des Credos der Missa solemnis und des Opus 133 in B-Dur notiert? Solche Parallelen verweisen neben einer wohlüberlegten Topographie der Tonarten auf Beethovens Absicht, die fugale Technik zum Ausloten, ja zur Steigerung der Binnenkräfte und zugleich als heroisches und triumphales Prinzip der Überwindung und des Durchbruchs einzusetzen, wobei die polyphone Faktur in ihrer zentripetalen Fasson eine zusätzliche Gewähr der Kontinuität des motivisch-thematischen Verlaufs und dessen riskanten Grenz- und Randgängen verspricht. Mitunter gerät der polyphone Komplex zu einer Art Kompressionstunnel, in dem sich die motivisch-thematischen Energien potenzieren, während die fugale Kombinatorik ein tragendes Gerüst in die motivanalytische Rasanz der Durchführungsarbeit einzieht. So in der Architektur der Großen Fuge opus 133, die Sonate und Fuge verzahnt, ohne bei dieser kompositorischen Quadratur des Kreises den Antagonismus des Gebildes aufzulösen. Während die Stimmigkeit und Verbindlichkeit der Bachschen Fuge darin gründen, ihren tektonischen Kanon trotz der dynamischen Verschränkung der Stimmverläufe und der Präsenz eines kompositorischen Subjekts der Frühaufklärung als letzten Widerhall einer zunehmend säkularisierten theologischen Weltordnung zu formulieren, kombiniert Beethovens Durchführungsarbeit die fugalen Partien mit Spaltungs- und Belastungsprozessen und deren gleichsam gesellschaftsanalytisch durch Stadien der Souveränität und der Desubjektivierung hindurchgegangener Motiv- und Themenbildung. Von regelwidrigen Eingriffen durchzogen, charakterisiert mit programmatischen Mottos wie "Fuga a tre voci, con alcune licenze" (opus 106, Finale), "Grande Fugue, tantôt libre, tantôt recherchée" (opus 133), unterscheidet sich die Kontrapunktik Beethovens von derjenigen Bachs, dass Bachs Strukturen ihr vielschichtiges Geflecht der Linien und Faltungen aus dem Gesetz als dem Gesetzten des Fugenthemas heraus in ein Gleichgewicht der Kräfte und die gesetzmäßige Geschlossenheit einer in sich bewegten Entität einbinden. Während demnach das Kontinuum der Bachschen Fuge die empirische Zeit in der ästhetischen aufhebt, wird Kontinuität in Beethovens Polyphonie, unbekümmert um jede Hörtradition, durch subjektexpressive Rupturen eher als Diskontinuität dramatisiert, bis hin zum splitterhaften Eindringen der empirischen Zeit in die ästhetische. Dabei durchformt Beethoven das fugale System mit einem Transformationsfuror, der dem polyphonen Habitus immer wieder scheinhomophone Prägungen als Triebkräfte einer beschleunigten Zeit- und Gedächtnisdynamik und ihrer neuen Sinnlichkeitsregie einverleibt. So wird die Komplexität der Großen Fuge, die ohne Steigerung bereits von Beginn an bis zum "Meno-mosso-e-moderato"-Teil (T. 159ff.) der zweiten Fugensektion in Ges-Dur durchgehendes Forte respektive Fortissimo und doppelten Kontrapunkt setzt, infolge der Beharrung auf dem punktierten Rhythmus und einer obsessiven Sechzehntelbewegung zunächst vom Ausdruck manischer Insistenz verschleiert. In solchen Verfahren wird die Fuge für Beethoven zum disponiblen Material, nachdem im Verdichtungsraum der motivischen Arbeit das Thema in kleinste Partikel zerlegt, der Fuge somit nahezu die Substanz entzogen wird, wenngleich immer noch gebunden an ein durchlässiges polyphones Gitter, das schließlich umso effektvoller gesprengt werden kann. Bachs Fugen, die konzentrisch um ihre Themen kreisen und ständige Ausblicke darauf freigeben, können mit ihrer Balance aktiver und passiver Kräfte als Modelle einer prästabilierten Harmonie gelten, die motivökonomisch weit mehr auf die Epoche der Manufaktur als auf die Zeit frühindustrieller Arbeitsprozesse verweisen. Deren Dynamik durchdringt die polyphone Arbeit erst mit der Dramatisierung der thematischen Charaktere in den Sonatenhauptsätzen, die über "Verwicklungen und Gegensätze", "welche das Gelingen und Sichdurchsetzen einander wechselseitig bestreiten", wie Hegel dieses Tableau für das poetische Drama umschreibt(7), immer auch eine formkritische Komponente in die Fugenkomposition nach Bach einbringen und deren Zeitkontinuum perforieren. Drastisch etwa in den konvulsivischen Trillergesten der Takte 117ff. und 243ff. des Finales der Hammerklaviersonate, die den ineinander getriebenen Verzahnungen von originärer und gespiegelter Gestalt des augmentiert gedehnten (T. 117ff.) und diminuiert komprimierten (T. 243ff.) Ansprungmotivs des Fugensubjekts eruptiv entweichen und - wie in der Großen Fuge opus 133 - das Material zum Beben und zur Erschütterung bringen. Nicht selten konvergiert die engmaschige Entfaltung des im Fugensubjekt konzentrierten Gehalts mit einigen von Beethovens latent monothematisch angelegten Spätwerken respektive einzelnen ihrer Sätze, das heißt der Verlagerung der Spannungen und Antagonismen in ein und dieselbe thematische Substanz samt ihren Modellvarianten. Erinnert sei an das in sich gespaltene Thema der monologischen Adagio-Fuge zu Beginn des cis-Moll-Quartetts, an ein Thema also, das Theodor Helm in Anlehnung an den Espressivo-Charakter des Satzes als eine Spannung zwischen "akutem Schmerz" und "Ergebung" charakterisiert.(8) Auch hier erweist sich die Technik der Fuge mit ihrer Entäußerung struktureller Vielfalt aus monistischem Grund als ein primär deduktives Verfahren. "Die Mathematik ist das Vorbild jedes geschlossenen Systems und also auch der Fuge als eines geschlossenen Systems im kleinen. Hier wie dort sind die Folgerungen scheinbar im Prinzip des Anfangs enthalten, aus ihm erweckbar, voraussehbar, kalkulierbar; dem Sinn eines total rationalen Beziehungsgedankens entsprechend, der auch das Fugenthema rein kontrapunktisch geartet, auf seine vollkommene kontrapunktische Ausbreitung gerichtet zeigt. Das Zeitalter der mathematischen Konstruktion und der großen rationalen Systeme war auch die Blütezeit der Fuge, als welche gleichsam aus der gesetzten Definition des Themas seine 'Eigenschaften' folgen ließ".(9) Die Fuge verfügt zwar über ein vielfältiges Repertoire zur individuellen Durchdringung ihrer Polyphonie vermöge der Emanzipation der Fugensubjekte zu "Charakterthemen" (Besseler) oder – im Unterschied zur Schematik des Kanons – vermöge variabler Verläufe, was Art und Anzahl der Zwischenspiele anbelangt, nicht zuletzt vermöge kombinatorischer Mittel wie Augmentation und Diminution, successio motu contrario, Krebsbewegung, Orgelpunkt und Engführung, bei der sich die Stimmen gleichsam selbst ins Wort fallen und das Thema sein eigener Kontrapunkt wird. Dennoch bewahrt die Fuge, sofern sie auf Stimmenäquivalenz ausgerichtet ist, etwas von einer "Neutralität", die im "Harmonischen und Rhythmischen eine gewisse Zähigkeit, Cäsurlosigkeit, Gravität des Gehens und Fließens bevorzugt. Die Fuge ist, so fluchthaft und reich sie innerlich ist, im Ganzen Ruhe, Gebautheit, Schichtung"(10). Dieser Einstand des Wechsels in einer Art vollendeter Entelechie, gefördert von der Beständigkeit des fugalen Themensubjekts während der Durchführungen, die keine Geschichte verhandeln, und einer Eigenschaft der Themen, die weniger auf individuelle Besonderheit als auf ihre Eignung im kontrapunktischen Gefüge hin angelegt sind, divergiert zum dialogisch kontrastreichen Verfahren der Sonate und ihrer Motorik der Spaltung als treibender Kraft. Basiert doch die Fuge substanziell auf der Explikation des Themas und dessen Wahrung, die Sonate hingegen auf dem Prinzip der Verarbeitung und deren Prozessgewalt über die Themen. Gerade diese Eigenschaften einer in sich ruhenden Entität im musikalischen Denken der Fuge sind es, die die fugale Technik beim späten Beethoven zu einem Zitat der Stabilität werden lassen, wenn auch nur, um diese Stabilität äußersten Belastungen auszusetzen. Es wäre historisch übereilt, die polyphonen Intentionen Beethovens denen Schumanns gleichzusetzen. Dennoch wird über Beethoven auch Schumanns Absicht verständlicher. Erscheint doch auch hier das fugale Verfahren überwiegend als ein Prinzip der Stabilisierung - wenn auch unter anderen Vorzeichen. Geht es Schumann im Ideenpanorama der Romantik darum, einer zunehmend entzauberten Realität poetischen Widerstand entgegenzusetzen - mit einem künstlerischen Habitus zwischen unendlicher Subjektivität und mystischer Selbstaufhebung -, dann steht sein Strenger Stil als Refugium der Sicherheit gegen die Gefahr exzentrischer Affektbahnen. Schumanns polyphone Arbeit kreist um eine Ressource des Banns gegen die dissoziativen Grenzüberschreitungen der kompositorischen Fantasie. Und sie kreist gewissermaßen um einen flankierenden Begleitschutz anlässlich jener Passagen ins Offene, Abgründige, die Schumanns "Kunst der Umwege, Nebenwege, Verschleierungen"(11) der per Tradition codierten Verweisungsharmonik durch die Mehrdeutigkeit zwischen Alt und Neu verrätselter Klänge einschreibt, die sich immer mehr der analytischen Legitimation zugunsten einer Detonikalisierung der funktionsharmonischen Tonalität entziehen. Deshalb sind Schumanns Exkurse auf unbekanntes Terrain nicht von seiner schöpferischen Intention und seinem kompositorischen Leitmotiv zu trennen, welches Integral denn wohl den Zauberton beschwören könnte, um Aufschwung und Absturz, Ekstase und Zerfall trotz strikter Formung poetisch zu transzendieren. Bereits 1828 findet sich in Schumanns Korrespondenz die Stelle: "Jetzt soll es aber an das Studium der Kompositionslehre gehen, und das Messer des Verstandes soll ohne Gnade alles wegkratzen, was die regellose Phantasie etwa, die sich, wenigstens beim Jünglinge, immer, wie Ideal und Leben entgegensteht und mit ihrer Mitherrscherin, dem Verstande, nicht besonders vertragen will, in sein Gebiet einpaschen wollte!"(12) Anders als bei Beethovens enzyklopädischer Verfügung wird die polyphone Technik in Schumanns Kompositionen zu keiner weiteren Spielart romantischer Ironie, sondern - mehr noch als die Choral- und Volkstonpartien - zu einer Rettungsfigur im musikalischen Psychogramm der Seelenbrechungen zwischen Manie und Depression, Traum und Ernüchterung. Im Unterschied zu Beethovens letzten Kompositionen wirkt sich bereits ein Vierteljahrhundert später jener große Weltriss zwischen einer nüchternen Realität und dem Binnenraum der Innerlichkeit aus, der allzu einseitig mit dem Namen "Biedermeier" belegt wird. Im Rahmen dieser Dissonanz zwischen Ich und Welt setzt Schumann die "Rezeption des strengen Stils in vergleichbarem Maße wie die Vereinheitlichungstendenz in der monothematischen Arbeit in den Stand, das intrapsychische Gleichgewicht zu halten, das jedesmal durch die Empathie in den gesellschaftlich ausgesetzten Bereich der Unvernunft respektive des Wahns ins Wanken gerät". Konsequent "intensiviert er stets dann, wenn sich sein Persönlichkeitskonflikt zuspitzt, die Bach-Rezeption", um das "luxurierende Unbewusste" zu zügeln(13). Seine "kontrapunktische Kur", wie er die Auseinandersetzung mit dem Leipziger Meister zur Zeit des ersten schweren Zusammenbruchs nennt, verweist allein schon dadurch auf das Über-Ich Bach, dass Schumanns Fugen opus 72 von 1845 weitaus "bachischer als Bach"(14) klingen, wobei der um "'strengen Satz' bemühte Komponist" ausschlägt, "was sich bei Bach etwa im zweiten Teil des Wohltemperierten Klaviers oder in etlichen großen Orgelfugen ereignet (gelegentliche Homophonisierung des Satzes, Einführung neuer Ideen)"(15). Schon 1840 beschreibt Schumann sein Verhältnis zu Bach als eine 'tagtägliche Beichte', in der er sich "vor diesem Hohen" und "durch ihn zu reinigen und zu stärken" sucht(16). Beethoven dagegen zwingt die Polyphonie mit Verve unter die agonalen Kräfte der Durchführungsarbeit, um die Dramatik des Sonatenprinzips am kompositorischen Verfahren einer älteren Stiltradition zu intensivieren und zugleich die fugale Struktur zu dynamisieren und zu verwandeln. Beethovens vielzitierter Ausspruch, "eine Fuge zu machen ist keine Kunst, ich habe deren zu Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht. Aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten, und heutzutage muss in die althergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetisches Moment kommen"(17), mag diese Intention der Verwandlung und der Metamorphose belegen. Bringt Beethoven somit 'Poesie in die althergebrachte Form', setzt Schumann seine fugentechnischen Exkurse gerade gegen die desintegrative Tendenz des poetischen Passionato. Und wenn Hegels Denken, das sich als Vollendung aller vorangegangenen Philosophie begreift, eine musikalische Entsprechung bei Beethoven findet, dessen Spätwerk Fugentechnik und Sonatenform als Quintessenz abendländischer Musikentwicklung in einer Synthese von Subjektemphase und tektonisch verbindlicher Objektivität verschränkt, dann bleibt Schumann oftmals nur noch der polyphone Regelkanon als Gegenmittel gegen die Bedrohung und Heimsuchung in einer inneren Welt der Dämonen und gegen die prosaische Außenwelt des frühindustriellen Pragmatismus. 1 Jürgen Uhde, Beethovens Klaviermusik, Bd. III, Stuttgart 1974, S. 390. 2 Ernest F. Livingstone, Das Formproblem des 4. Satzes in Beethovens 9. Symphonie, Kassel o. J., S. 495. 3 Ebd., S. 494f. 4 Uhde, Beethovens Klaviermusik III, S. 463. 5 Gustav Nottebohm, Zweite Beethoveniana, Leipzig 1887, S. 326. 6 Dazu ausführlich: Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie (=Musikwissenschaftliche Studien, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, Bd. 8, Centaurus 1992), S. 178ff. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt am Main 1970, S. 480. 8 Theodor Helm, Beethovens Streichquartette, Wiesbaden 1971, S. 235. 9 Ernst Bloch, Zur Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1974, S. 270. 10 Ebd., S. 127f. 11 Diether de la Motte, Harmonielehre, Kassel 1976, S. 173. 12 Brief Schumanns vom 5. 8. 1828 an Gottlob Wiedebein; zit. bei Willi Reich, Robert Schumann im eigenen Wort, S. 50. 13 Norbert Nagler, Der konfliktuöse Kompromiss zwischen Gefühl und Vernunft im Frühwerk Schumanns, in: Musikkonzepte: Robert Schumann, Bd. I, Hrsg. H.-K. Metzger und Rainer Riehn, München 1981, S. 274. 14 de la Motte, Kontrapunkt, Kassel 1981, S. 293. 15 Ebd. 16 Schumann am 31. Januar 1840 an Gustav Adolf Keferstein; zit. bei Reich, Schumann im eigenen Wort, Zürich 1967, S. 226. 17 Alexander Wheelock Thayer, Ludwig van Beethovens Leben, Bd. IV, Berlin/Leipzig 1866-1908, S. 76. "Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist der Mann" Geschlechterfixierte Rollenklischees in Beethovens Neunter Symphonie? Dass bei jedem "Abschnittbeginn die Männerstimmen die Führung haben: im Alla Marcia, im Andante maestoso und sogar im Allegro ma non tanto", also "an den entscheidenden Stellen den Vorrang"(1) behaupten, bis hin zu den Kontrabässen der Rezitativpartie als den "Vätern des Orchesters"(2), ist nach Otto Baensch eine Folge der politischen Konzeption des Finales der Neunten Symphonie und des Umstands, dass "Politik, nach der Anschauung der Zeit Beethovens wenigstens, von Männern geleitet wird"(3). So einleuchtend Baenschs Erklärung zunächst auch klingt, sie bleibt zu pauschal. Ähnlich einer reflexiven Nuance wie sie die Stelle "Und wer's nie gekonnt, der stehle / Weinend sich aus diesem Bund!" anklingen lässt, an der die Musik mit einem Diminuendo der Besinnung den Ausschluss derjenigen hinterfragt, die nach Schiller die philanthropische Gemeinde des Finales zu verlassen haben, muss auch Beethovens Behandlung der Singstimmen - ihrer solistisch wie chorisch exponierten Stimmgattungen respektive Geschlechterrollen - differenzierter gefasst werden als nach rein patriarchalem Muster, mag diese Lesart auch durch Schillers Devise "Alle Menschen werden Brüder" und den zeitgenössischen philosophischen und sozialen Kontext geboten sein. "Ist der Mann in die Operationen der materialen und kognitiven Naturbeherrschung, die ihn mitunter blind und grausam gegen das Beherrschte und gegen sich selbst werden lassen, verstrickt - so erscheint die Frau inmitten seines zuweilen kreativen, zuweilen pflichtvoll vernünftigen und zuweilen kämpferischen Wirkens als ruhende Spiegelfläche, die ihm das unverzerrte Bild seiner idealen Existenz zurückwirft. Sie hat, so scheint es, noch jenes konfliktlose sympathetische Verhältnis zur Natur, das er im Verlauf seiner Beherrschungsanstrengungen zerrüttet und verloren hat."(4) Was Silvia Bovenschen im Hinblick auf Schillers Gedichte Das weibliche Ideal und Die Würde der Frauen zu bedenken gibt, scheint auf den ersten Blick auch für eine markante Partie in Beethovens Neunter Symphonie und deren Geschlechterdisposition zuzutreffen: Für jene Partie nämlich, in der Beethoven innerhalb der sinnlichen Klimax der Freudenode den Solo-Sopran - er setzt erst während der zweiten Strophe auf die Worte "Wer ein holdes Weib errungen" ein und gewinnt dieser Verzögerung wegen umso größeren Glanz - mit der Zeile "Küsse gab sie uns und Reben" in einer geradezu erotisch eingefärbten Höhenlage exponiert, einer Höhe, die schon Henriette Sontag als Sängerin der Uraufführung zu einer erfolglosen Reklamation veranlasste(5). Und doch übersteigt allein schon der vokale Mischklang das Supplementverhältnis des Weiblichen zur männlichen Rollendominanz und lässt das der Frau zugewiesene Sinnlichkeitsattribut einer lediglich ergänzenden Projektions-, Wunsch- und Erfüllungsimago sinnlicher Fantasien und eines idyllischen Refugiums parzellierter Natur inmitten der Herrschaft instrumentell-ökonomisch ausgerichteter Vernunfttheorien und ihrer Praktiken vergessen. Zudem wird der maskulin athletische Habitus von Rivalität und Kampf im "Alla-marcia"-Fugato des Finales der Neunten Symphonie als beschränkt, ja zerstörerisch demaskiert.(6) Nicht nur, dass die Alla-Marcia-Partie den Konkurrenzentwurf des "Laufet, Brüder, eure Bahn" über die massive Fugato-Reduktion des Freudenthemas bis hin zur Destruktion austrägt, Beethoven revidiert zudem die Geschlechterstereotypien seiner Zeit, indem er sie über den Wortlaut der Schillerschen Ode zwar aufnimmt, zugleich aber kompositorisch durch eine rollen- und textkritisch reflektierte Disposition der Singstimmen und ihre subtilen Mischklänge verwandelt. Und wenn schließlich das Timbre der Frauenstimmen das imperativische Unisono-Postulat des "Seid umschlungen, Millionen!" und des "Brüder! über'm Sternenzelt" der Tenöre und Bässe erst zum sinnlich erfahrbaren Humanum entbindet, befindet sich die Musik jenseits des Geschlechterdualismus, den Kant als Kind seiner Zeit festschreibt, indem er das "Gegenverhältnis beider Geschlechter" à la Rousseau als eines zwischen dem "Schönem" und "Erhabenem", zwischen "Gefühl" und "abstrakten Spekulationen oder Kenntnissen", schließlich zwischen "Empfindung" und "Verstand"(7) fixiert. "Nichts von Sollen, nichts von Müssen, nichts von Schuldigkeit"(8): "Dass die Frauen moralischen Imperativen nicht zugänglich seien"(9), dass sie ohne "geschichtsmächtiges Postulat"(10) in Assistenzfunktion zum männlichen Agieren(11) zu verharren hätten, setzt Beethovens Musik gegen Schiller und gegen das zeitgenössische Diskurs- und Praxisgebot männlicher Dominanz und deren mentaler Priorität außer Kraft (12). 1 Otto Baensch, Aufbau und Sinn des Chorfinales in Beethovens neunter Symphonie, in: Schriften der Straßburger Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Universität Frankfurt/M., Neue Folge 11. Heft, Berlin-Leipzig 1930, S. 25. 2 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal, Leipzig 1890, S. 118. 3 Baensch, Aufbau und Sinn des Chorfinales, S. 25. 4 Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt/M. 1979, S. 240. 5 Anton Schindler, Biographie von Ludwig van Beethoven, Hg. Eberhard Klemm, Leipzig 1977, S. 354. 6 Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung, Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie, Musikwissenschaftliche Studien, Herausgegeben von Hans-Heinrich Eggebrecht, Bd. 8, Centaurus, Pfaffenweiler 1992, S. 180ff. 7 Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. In: Kant, Werke Bd. II, Vorkritische Schriften bis 1768, 2. Teil, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1960, S. 850, 852, 867f. Wie Kant sein männliches Dominanzmodell erkenntnistheoretisch fundiert, verdeutlicht der Paragraph 8 der Anthropologie: "Das Passive in der Sinnlichkeit, was wir doch nicht ablegen können, ist eigentlich die Ursache alles des Übels, was man ihr nachsagt. Die innere Vollkommenheit des Menschen besteht darin: dass er den Gebrauch aller seiner Vermögen in seiner Gewalt habe, um ihn seiner freien Willkür zu unterwerfen. Dazu aber wird erfordert, dass der Verstand herrsche, ohne doch die Sinnlichkeit (die an sich Pöbel ist, weil sie nicht denkt) zu schwächen: weil ohne sie es keinen Stoff geben würde, der zum Gebrauch des gesetzgebenden Verstandes verarbeitet werden könnte" (Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Kant, Werke Bd. X, Schriften zur Anthropologie, Gesichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Hrsg. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1964, S. 433). 8 Ebd., S. 854. 9 Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 234. 10 Ebd., S. 230. 11 "Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist (…) der Mensch und unter den Menschen der Mann" (Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 853). 12 So deutet auch Baensch (Aufbau und Sinn des Chorfinales, S. 30) die Disposition der Stimmen mit dem Akzent eines männlichen Führungsanspruchs: "Man darf" diese Disposition als ein "fortschreitendes Verständnis des Chores für die gehörten Worte betrachten, das sich von den älteren Männern (Bässen) über die jüngeren Männer und älteren Frauen (Tenor und Alt) zu den jüngeren Frauen ( Sopran) ausbreitet". Diabellivariationen Wie sich die polyphone Arbeit des kammermusikalischen Spätwerks und die der Neunten Symphonie unterscheiden, so zeigt sich in Beethovens letzten Jahren eine ähnliche Differenz auch in der Variationsstruktur. So entfalten sich die Diabelli-Variationen anders als das Steigerungsprinzip der Variationsreihen im dritten und vierten Satz der Neunten Symphonie zu einer Parataxe experimenteller Modellvarianten: mit einem Höhepunkt im mikroskopischen Verfahren der zwanzigsten Veränderung, deren extremer Grenzgang sich in die Potentialität und Belastbarkeit des Materials versenkt. Voraussetzung einer solchen kompositorischen Praxis bleibt, wie der sentimentalisch-ironische Menuettausklang der Diabelli-Variationen nahelegt, die Distanz zur Tradition. Ihrer Brüchigkeit im Spannungsfeld zwischen verbürgter Tradition und neuer Freiheit sucht die Komposition trotz ihres manischen Zerlegens und Sezierens standzuhalten. Zudem ist diese Brüchigkeit die auffallendste Differenz zwischen den Goldberg- und Diabelli-Variationen, welch letztere wohl kaum, entsprechend der Begleitfama des Bachschen Werkes, zur Beruhigung eines an Schlaflosigkeit Leidenden in Betracht kämen. Sofern die Umformung des Materials bei Beethoven nicht selten einem Identitätswechsel des Themen-Subjekts nahekommt, stellt diese Um- und Verformung den Status der Variation in Frage: den der Beharrlichkeit im Wechsel. So erscheint das Subjekt der zwanzigsten Variation gleichsam wie skelettiert in einer die Auflösung unterbindenden Periodik des Ausgangsmodells. Mit dieser temporal-tektonischen Statik, die ein Gefüge klangräumlicher Bezüge entbindet und gleichsam gegen die Gefahr der Stagnation als "Andante" notiert ist, lädt die zwanzigste Variation Zeit meditativ auf und verrätselt sich zu einem Gebilde des spekulativen Ohrs. Dass hierbei Alterationen die Tonalität an manchen Stellen zu einem harmonischen Schwebezustand verunklären und porös werden lassen, schärft im tonalen System erneut die Ambivalenz zwischen Refugium und Fessel, ähnlich wie die "Poco-adagio"-Takte nach dem Ausbruchsversuch der Es-Dur-Fuge (T. 161ff.). So konstellieren sich die Diabellivariationen, ohne ihr zahlreichen extremen Eingriffen konfrontiertes Subjekt zum Verschwinden zu bringen, mitunter zu einer Entsubstantialisierung des Themas im Wechsel der Charaktermasken und damit zu einer Überschreitung der Ichgrenzen auch der Hörer. Dass aber diese Überschreitung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also am Ende des historischen Prozesses einer Verwandlung göttlicher Heils-, Erlösungs- und Transzendenzgewissheit in die Wahrheit der Vernunft und eine verinnerlichte Gefühlsreligion, das Individuum in seiner Autonomielast überfordert, ja rollenhaft zersplittert, ist die Hypothek seiner Weltimmanenz. Wie schreibt doch Friedrich Schlegel am 18. Dezember 1797 an seinen Bruder: "Ich kann von meinem ganzen Ich gar kein anderes echantillon geben, als so ein System von Fragmenten, weil ich selbst dergleichen bin." Beethoven-Notizen Den Prozess innerer Teleologie versteht Beethovens Komponieren als einen Diskurs, der seine Form produziert, um zugleich von ihr kanalisiert zu werden. Inhalt und Form sollen untrennbar durch- und miteinander vermittelt sein. Dass "alles durch jedes und jedes durch alles bestimmt wird", dass "jedes (...) nur durch das andre, und alles nur durch die eine, das Ganze durchdringende Kraft besteht", um das Organismusmodell in Wilhelm von Humboldts Version zu zitieren, bedeutet zudem, die Freiheit der Produktion als deren immanente Notwendigkeit zu entwickeln, um genau diese Notwendigkeit wiederum als Freiheit erscheinen zu lassen. Langeweile zu haben wird in einer Zeit des Aktionismus zum Makel. Das durch Erlebnisse animierte Ich begreift die Welt primär über das Erlebnis. Deshalb kontrastiert das Motiv der Langeweile und der „langweiligen Vorstellung” schon in Hegels Tagebuch der Reise in die Berner Oberalpen der aktiven Kraft und nutzbringenden Tätigkeit des Geistes (im Unterschied etwa zu Goethes Schweizer Reisen). Ob deshalb im Bereich der sogenannten klassischen Musik vor allem Beethovens Musik unserer ökonomischen Konditionierung so sehr entspricht, eine Musik, die dem „Geist (…) Beschäftigung” (Hegel, Tagebuch) und seiner Arbeit etwas zu tun gibt? Eine Musik, deren Motiv-und Themenbank Einlagen, Renditen und Verluste auf der Bahn einer zielfixierten Zeit verhandelt? Ist uns also Beethovens Musik nicht zuletzt über ihren ökonomischen Grund so nahe?
- Die andere Sprache
Vom Funkeln der Gärten und Schlösser bis zu den Lichtwundern der Traum- und Naturmirakel entfaltet Eichendorffs Imagination des Wunderbaren einen Zauber der Verwandlung, der das romantische Weltpanorama über den "praktischen Abgrund" frühindustrieller Nützlichkeit hinweg noch einmal aufleuchten lässt: im Schein einer letzten Illumination. Obwohl permanent beschworen, bricht sich diese Lichtmagie in der Zeitstruktur einer poetischen Sprache, die das "Plötzliche" der phantastischen Erscheinungen nur noch als flüchtiges Aufblitzen und Verdämmern fassen kann: als den ästhetischen Augenblick einer äußerst fragilen und artifiziellen Metaphorik des "Als ob". Zugleich durchmisst das ruhelose Ich die "wunderbar verschränkte Hieroglyphe" Natur im Vagantenturn des wandernden und irrenden Körpers, der verwirrt und trunken, marionettenhaft geziert, tanzend und fliegend, grimassierend oder in bizarren Kapriolen, vom Schwindel erfasst und erstarrt, erschauernd oder als Doppelgänger seiner selbst agiert. Deshalb auch wird in Eichendorffs raumzeitlichem Sensorium von Ferne, Ahnung und Sehnsucht das Verlangen des lyrischen Subjekts, von der Sprache der Natur gesprochen zu werden, immer wieder vom Kontrapunkt des "Seltsamen" und "Kuriosen" bis in die Gesten des Körpers hinein grundiert; deshalb auch lässt der Schleier der Fremdheit auch das Vertraute in die Dämonie einer sirenenhaften Natur umschlagen, die das zivilisationsfixierte Ich im Sog der Lockung aufzulösen droht und in geheimnisvollen Lichtchiffren widerstrahlt. Dass aber der ostinate Ton in Eichendorffs Poesie: das "Rauschen", als eine Sprache jenseits der Sprache und als eine der Bäche wie der Wasserkünste Natur und Kultur ebenso ineinander verrätselt wie der Kosmos der Himmelszeichen Wetterleuchten und Revolution, mag als Eichendorffs Versuch gelten, Licht- und Körperfigurationen als eine Meteorologie der Seele im Moment ihres Verlöschens zu lesen. Im Topos der schwärmerischen Nacht, der „Fremdlingin“, wie sie bei Hölderlin heißt, wird die Nacht zur Souffleuse des gelösten Augenblicks und verwandelt noch bei Eichendorff das Freie ins Offene. Erst wenn der Lärm des Tages verrauscht ist, wird das Rauschen der Nacht als eine Atemsprache der Natur hörbar, die Aura ihrer Träume, ihrer Wunder und Geheimnisse und ihrer Leidenschaft, von der es in Goethes Wilhelm Meister heißt, „Jeder Tag hat seine Plage, / Und die Nacht hat ihre Lust.“ Stimmen werden laut, die sonst nicht zu hören sind oder leicht überhört werden. Wie in der nächtlichen Szene von Mozarts Figaro, in der sich der Riss zwischen Natur und Kultur für Augenblicke schließt. Es ist die nächtliche Zeit, die sich dem Zufälligen, Beiläufigen, Gestreuten, Nutzlosen, Unwägbaren weit mehr öffnet und sich einer Ankunft im Prinzipiellen weit mehr verweigert als die Ökonomie des Tags. Kann Hegel das Allgemeine der Sprache noch gegen das Geschwätz der Meinung als Triumph des Geistes feiern, wird wenig später gerade das Dilemma, das Besondere nicht sagen zu können, zum ästhetischen Problem. Zudem treibt das Ökonomiediktat der alltäglichen Rede die poetische Opposition in eine Hermetik, die sich dem Kommerz der Sprache und seiner Zirkulation wohlfeiler Wortmünzen mit einer kompromisslosen Absage an den kommunikativen Gebrauchswert zu verweigern sucht. Dass sich zudem jedes Urteil entmächtigt, indem es seinen Wahrheitsanspruch aufgrund metaphysischer Leerstellen und eines enormen gesellschaftlichen Abstraktionspotentials oft nur noch zur schlechten Unendlichkeit von Einzelsätzen summieren kann, fördert die poetische Verzweiflung an der Sprache ebenso wie ihre ersehnte Transfiguration zu empirieferner Idealität. Dieses Changieren zwischen Sturz und Höhenflug, zwischen Nichts und Absolutheit lässt sich in Hofmannsthals Chandos-Brief und seiner Dimension des Abgrunds ebenso erfahren wie im Topos der "Leere" mit seinen Varianten der "Lücke" und des "Weißen" in Mallarmés "poésie pure". Es geht hier um jene andere, reine Sprache, die aufgrund der Einsicht in das Fiktive und zugleich Freie ihres Rapports schon bei Hölderlin die Dignität des poetischen Ausdrucks jenseits der Synthesis des Urteils zu erreichen sucht - bis hin zur Konsequenz von Schweigen und Verstummen. Dass Georg Büchner das hehre Trinitätsideal von Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit der irdischen Condition humaine und deren abgründigen Sozialfacetten konfrontiert, wurde von der germanistischen Forschung hinlänglich betont. Die Sichtweise freilich, die die Depotenzierung von Autonomie und Perfektibilität etwa in Dantons Tod nur dem Fatalismus ausgesetzt sieht oder die ironisch gebrochene Utopie in Leonce und Lena allein der Monotonie und dem Sinnlosen, vergisst zu leicht das diagnostische Potential in Büchners Pathographie als Kritik an der Unschärfe idealistischer Abstraktion. Zeigt doch beispielsweise in Büchners Woyzeck Kants moralischer Universalismus, der unbekümmert um Ständeprivilegien und Eigentumsverhältnisse jedes vernünftige Wesen gleich ausnahmslos unter Vertrag nimmt, in seiner bürgerlichen Abstraktion geradezu zynische Konturen. (Ein Zynismus, der auf Blatt 15 von Daumiers Les Gens de Justice exemplarisch vorgeführt wird.) Indem Büchner die Prinzipien der klassischen Poetik, insbesondere Schillers Ethos des "großen Stils", durch Sequenzen des Wahnsinns, des Anankasmus, der idée fixe, der Melancholie oder der Parodie unterhöhlt und indem das weltimmanente Jetzt in Büchners szenischer Dramenparataxe die teleologische Fernwirkung des Fortschritts als eine Gattungseuphorie des Aufschubs suspekt werden lässt, rückt das Dasein des Einzelnen als klassenspezifisch gebrochene, psychosomatische Existenz in den Blick. Heinrich von Kleist - Zeitstrukturen Mit dem Schwinden teleologischer Sinngarantien schärft sich die Irreversibilität der Zeit biographisch zur diesseitsfixierten und jenseitsresistenten Frist zufälliger Lebensfragmente. Seitdem hat sich die poetische Sprache an der Erfahrung der Endlichkeit zu messen und die gottähnliche Regie, die einst den literarischen Text auf kohärente Lesbarkeit hin ausrichtete, der Sprache selbst zuzumuten. Deren Dilemma, nämlich sprechen zu müssen ohne sprechen zu dürfen wie die souveräne Instanz des auktorialen Autors, zeigt sich bereits an diversen Zeitmodellen in Kleists Dichtung: etwa an Zeitmodellen, die die Spannung zwischen empirischer und ästhetischer Zeit und ihre Entmischung im Problem des Anfangens und Schließens austragen. Die dramaturgischen Motive dieser Zeitmodelle, etwa die der fixen Idee, der Manie und der Obsession, reihen sich einem Fundus ein, der den Entwurf der intelligiblen Autonomie verstört und mit ihr die Erweiterung des personalen "Homo noumenon" zur Kollektividee der Gattungsvernunft. Während sich Kants „Einheit der transzendentalen Apperzeption“ in der Koordinationsleistung des "Ich denke", das "alle meine Vorstellungen muss begleiten können" vor dem Reißen des Gedächtnisfadens und leerer, haltloser Gegenwart gesichert glaubt, zersetzt der Kantianer Kleist das Sinnmonopol der Identität, indem er es einer Wirklichkeit konfrontiert, deren Weltmisere umso drastischer in ebendieser Konfrontation aufscheint: Durch Zeitrisse des Zufalls, des Schocks, des Wunders oder des Einbruchs ungeheurer und unerwarteter Vorgänge im Namen einer Rhetorik des Plötzlichen, deren anarchische Risse die Sinn- und Moralsedimente einer auf Vernunft und Freiheit zielenden Gravitation des Weltgeistes in Frage stellen. Kleists Perforieren des Zeitkontinuuums und damit des Kontinuums der mnemonischen Synthesis formuliert Varianten der Subjektparalyse im Verwirrspiel der Täuschungen und Verwechslungen. Als subversive Gesten, die im Credo personaler Identität immer auch ein Stück verhärteter Charaktermaske aufdecken, werden diese Ekstasen des Außer-sich-Seins, der tragischen Kulmination und des Zusammenbruchs in das innerzeitliche Szenarium der Figuren eingezogen, um den Druck des Realen zu bezeugen und zu sprengen. So vor allem in den zwischen Wachen und Träumen changierenden somnambulen Sequenzen (bis hin zu solchen der Ohnmacht) als einer augenblickspräsenten Verschränkung vergangener, gegenwärtiger und künftiger Lebenslinien und Konfliktspuren im Binnenszenarium einer inneren Zeit, die - der realen Zeit verpflichtet - diese zugleich kontrapunktiert, um sie auszusetzen, anzuhalten, zu beschleunigen oder gegen ihre Irreversibilität Einspruch zu erheben. Kleist: Eine Verrätselung von Welt und Zeit, in der Wahrheit nicht selten zur Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen wird und dabei Zeit und Raum dezentriert und zur leeren Mitte hin öffnet; ein Symmetriebruch, wie er sich gleichzeitig in der Leere der "Desgracias Acaecidas en el Tendido de la Plaza de Madrid" von Goyas Tauromaquia (1816) findet.
- Sociologica
In einer Welt der Bestände und Speicher, der Informations- und Abbilddepots, der vernetzten Wachsamkeits-und Akkumulationsappelle, in einer Welt also, die sich als Tresor versteht, hat es das Flüchtige und Absichtslose, das Schwebende und Gleitende schwer. Der medial-digitale Zugriff ist seiner Intention nach zuinnerst fixierend, verfügend, terrestrisch, Ausdruck einer renditeversessenen Gesellschaft und darin das Gegenteil eines maritimen Sensoriums des Flüssigen, Flüchtigen, Grundlosen. Keinen sicheren Boden unter den Füßen haben, keine Dauerspuren des Besitzes gravieren können, dem Horizont des Offenen ausgesetzt sein: All dies ist zugleich der ästhetischen Imagination der Moderne verwandt, mehr jedenfalls als der Gründungs- und Begründungshabitus des Realitätsprinzips samt seiner Konkretions- und Vernutzungsmacht. Auch daraus dürfte eine der Bruchlinien zwischen der Kunst der Gegenwart und der Massenkultur resultieren. Die maritime Aufbruchsekstase Nietzsches und Baudelaires mit ihren Verlockungen des Freien, aber auch des unheimlich Grenzenlosen und Abgründigen führt direkt zu den Meeresapotheosen Debussys und Prousts. Debussys La Mer wäre demnach als eine Urszene Neuer Musik zu hören, als eine Musik gleich dem Meer, "die nicht wie die Sprache die Spur der Dinge trägt, uns nichts von den Menschen sagt, aber die Bewegungen unserer Seele nachahmt" (Proust, Freuden und Tage). Mit dem bösen Blick der Theorie ist es nicht getan. Manchen Theorien zur Wirkung der neuen Medien wäre etwas mehr von einer Kunst des kleinsten argumentativen Übergangs zu wünschen – gegen theoretische Übereilungen. Etwas mehr von der Offenheit zum analytischen Moderato: gegen den teleologischen Schwung der Euphorie und gegen den der Apokalypse. Der sanfte Wirklichkeitsterror: ein Verdampfen der Welt im Kult der Fakten. Idealisierung: ein mnemotechnisches Verfahren, bei dem so viel vergessen werden muss. In einer Welt des Imperativs zum lebenslangen Lernen kommt es nicht selten darauf an, das Lernen zu verlernen. Wenn Walther Rathenau in seinen Reflexionen zur Mechanisierung der Welt konstatiert: "Kein verwickelterer und schwierigerer Beruf lässt sich in zivilisierten Ländern erdenken als der des Einsiedlers", dann wäre diese These von 1918 heute mit der Einsicht zu flankieren: Und keine genialere Kunst als die, Zeit angstfrei verlieren zu können. Warum fällt es uns so schwer, weiter als bis zwei oder drei zu zählen? Weshalb lässt uns das magische Erbe des Dualismus und der dreifaltigen Dialektik nicht los? Warum denken wir immer noch und nur zu bereitwillig in Tag-Nacht-Kontrasten und verlieren darüber den Sinn für die Übergänge, für das Gleiten, für die Schwebe? Liegt darin das alte Erbe des ὠθισμός, des Agons, des Streits und der Konfrontation, mit dem sich nur zu gut in der Arena der Konkurrenzgesellschaft agieren lässt? Zählen wir als Funktionäre des Funktionalen also weiter als bis zur Zahl drei - zumindest zeitweise; auch wenn die binäre Logik in ihrer Reduktion von Komplexität auf theologisch-moralischen Spuren so überaus vorteilhaft, technisch effizient und praktikabel ist; auch wenn sie in einer Welt der Unübersichtlichkeit überschaubare Scheidungen und Wertungen verbürgt; auch wenn wir als Experten des Kampfes, erfahren im Arsenal der Widersprüche und Spaltungen, der Zweiheit, des Zwiespalt und der Verzweiflung, den Stand verlieren, sobald sich die Polaritäten im Strom der Verflüssigung zu transformieren und zu verwandeln beginnen. Wie sehr das Phänomen Stress als eines der Zeitraffung noch in vermeintlich unscheinbaren Details gegenwärtig ist, beweist allein schon die TV-Unsitte, keine Sendung mehr - bis hin zu Schauspiel und Oper - ihr Ende finden zu lassen. Der Horror vacui vor Zäsuren erstickt jeden Schluss durch rigorose Schnitte und Überblendungen mit dem ungeduldigen Verweis auf Anderes, Kommendes. Ausdruck einer konkurrenzierenden Quoten- und Eingemeindungsgesellschaft, der Innehalten, Ausklingen, Atmen-Lassen als Zeit- und Vermarktungslecks verdächtig werden. Zusammen mit dem Arbeitsprozess rastrieren die elektronischen Massenmedien als Taktgeber die Eigenzeit des Ichs. Auch hier genügt ein Blick auf die Programmschienen. Kein Thema ist zu komplex, dem nicht zumindest mit dem maximalen Zeitregelsatz von 55 Minuten beizukommen wäre. Reglementierte Zeitbudgets solcher Fasson sind Triumphe der Bürokratie und des Quételetschen Regelfalls über die Ausnahme, die erst durch den Regelfall zur Ausnahme wird, gestützt durch neurobiologische Gutachten, länger sei mit Aufmerksamkeit ohnehin nicht zu rechnen. Das Maß der kleinen Einheit zielt auf den umso größeren Konsum unterschiedlichster Erlebnisse. Indem solche Zeitgitter die subtilen Eigenzeiten von Menschen und Dingen zurechtstanzen, arbeiten sie einer Zeitbühne zu, die mit dem Erlebnis das Ereignis außer Kraft setzt. Es handelt sich um Ego-Bühnen, deren schnelle Sucht nach dem Event das Wartenkönnen auf ein Angesprochenwerden verhindert. Kommunikation wäre ein anderer Ausdruck für diese Verhinderung. Über die Instant-Mentalität schnellstmöglichen Konsums wird das Panorama "Welt" dem ständigen Wiederfinden seiner selbst zu einem Universum der Einfühlung, dessen Phänomene immer nur innerhalb der Echoräume des Erlebens antworten, nie aber selbst sprechen können. Dabei verkennt das genießende Ich, dass es das, was es für sich fordert, nämlich es selbst zu sein, dem Anderen verweigert. Enteignet aber diese Eigenheit das, was anders ist als sie selbst, muss sie selbst auf eine Zeit der Öffnung hin zum Transsubjektiven enteignet werden. Vielleicht ist deshalb Neue Musik so häufig eine Musik jenseits des persönlichen Enthusiasmus, als eine der Entwöhnung vom Gewohnten. Nähe und Distanz: sie zeigen sich auch in den Suizidforen des Internet und der zum Teil bis auf Ort und Stunde exakt präzisierten Ankündigung von Selbsttötungen, allerdings ohne eine letztendlich mögliche personale Identifizierung. Eine Art konkreter Anonymität. Die Zeit des Aufschubs mit ihrer von Arbeitsleben und Alterssicherung enorm hypertrophierten und zugleich lebensperspektivisch gedämpften Zukunftsorientierung und die intensivierte Zeit der Beschleunigung produzieren eine Ökonomie der Beschneidung. Sie hat Auswirkungen auf das Sensorium der Sinne, zumal auf das Zeitempfinden als einer quantitativ verfassten Funktion von Beschleunigung, für die der Raum zunehmend zum Hindernis wird. Vielleicht liegt in dieser Todesspur der Verflüchtigung ein Schlüssel für das Gefühl der Flüchtigkeit und damit des Fluchtmoments in der uns umgebenden Mobilität. Sicher liegt darin einer der Gründe, dass in der beschleunigten Konkurrenzgesellschaft die zwar präsente, doch unentwegt ins Private und hier wieder in ein betäubtes Angstbewusstsein verschobene Bürde des Sinnlosen, der Entfremdung und des Todes das Terrain für den elektronischen Kult des Medialen und für mediale Mythen ebnet: als nihilistischer Grund all dessen, wogegen sich noch Nietzsches Kraftakt im Entwurf des Übermenschen richtete. "δοκεῖ τε ἡ εὐδαιμονία ἐν τῇ σχολῇ εἶναι" (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1177b.4) Wenn Aristoteles die Muße, die scholê (σχολή), so hoch schätzt, dass er sie mit der Eudämonie in Verbindung bringt, dann liegt in dieser Wertschätzung wohl einer der schärfsten Kontraste zum Lebensprinzip heutiger Gesellschaften: Je mehr Zeit in Geld verrechnet wird, umso weniger bleibt Zeit für die Zeit, umso weniger bleibt Zeit, um Zeit zu haben. Die westliche Industriekultur und ihre als Erfolgsmodell weltweit exportierte Ökonomie der Rationalisierung ist primär eine Kultur der Akkumulation und des Gewinn bringenden Nutzens. Mit der Obsession des Homo oeconomicus erzeugt diese Kultur nicht selten eine Welt der Obstipation, eine Welt der falschen Fülle, eine Welt, deren massive, zudem medial potenzierte Zeitkompression massenhaft Depression erzeugt, während die Macht der Dinge dem Leben Leben aussaugt. Höchstes Prestige genießt, was produziert und damit konkretisiert und verdinglicht ist. Leere, Stille, Muße, jede Art von Verwertungsresistenz werden dieser Produktionslogik der Verwertung zu parasitären Hohlräumen, zu ungenutzten, nutzlosen und von der puritanischen Moral her ebenso sündig wie sträflich vernachlässigten Brachen. In diesem Überhören, Übersehen und Unbeachtet-Lassen des vermeintlich Nutzlosen praktizieren das moderne abendländische Bewusstsein und seine Realökonomie die Arroganz vom überlegenen Praxisprinzip des Nützlichen. Was könnte in einer Welt der rastlosen Produktion mehr beunruhigen als das Unverfügbare, das permanent verfügbar gemacht werden muss? Wäre deshalb nach Marx‘ Analyse des Tauschwerts die Aufmerksamkeit nicht verstärkt auf die Analyse des Gebrauchswerts, sprich auf die Bedürfnisse und ihre Manipulation zu richten?
- Goethe, Schiller oder das Antiklassische der Weimarer Klassik
Mag Goethes Spätwerk auch Affinitäten zur Idee der Zweckimmanenz und der Teleologieproblematik in Kants Kritik der Urteilskraft oder zum Einheits- und Dynamikgedanken in Schellings Philosophie der Natur oder dessen Weltseele-Schrift aufweisen: das Unerhörte seines poetischen Ausdrucks gründet gerade in der Differenz zur philosophischen Argumentationslogik. So sperrt sich Goethes Spätwerk und sein "paradox Utopisches, das ebendeshalb in sonderlich entlegenen, seltsamen, durchaus nicht arrondierten Formen umgeht" (Ernst Bloch), schließlich auch gegen die Ordnung klassifizierender Eingemeindungsversuche. Zumal gegen jene exegetischen Trennungs- und Vereinigungsvarianten von Kunst und Leben, Natur und Geist, hellenischer Antike und christlicher Neuzeit, Orient und Okzident, die im dualen Schematismus hinter der Komplexität des Gedichteten zurückbleiben. Ebenso nichtssagend bleibt der Terminus des Manierierten, mit dem das Lakonische und Elliptische oder der Zug zur Didaxe in Goethes später Lyrik belegt werden. Eher wäre die Rede vom altersweisen Mystizismus in ein Verständnis für die Lust der Überschreitung im Spätstil des Dichters zu übersetzen. In ein Verständnis dafür also, wie die artistischen Wortinnovationen etwa im Westöstlichen Divan sich an der Verwertungsmentalität der vom Zeitkritiker Goethe als "Halbkultur" inkriminierten Ära des frühen Industrialismus und seinem kommunikativen Sprachverfall reiben; oder wie die Produktivkraft des poetischen Eros als Energie der Verwandlung die effizienzfixierte "Unrast" des bürgerlichen Lebens und seiner gedankenlos erstarrten „Schnelligkeit" (Goethe) provoziert. Und doch ist nicht zu übersehen, was die orphische Dichtung des späten Goethe, vornehmlich in ihrer Naturmetaphorik und ihren meteorologischen Gleichnissen, an Entdämonisierung, Beschwörung und Stilisierung aufbieten muss: gegen den Schmerz der eigenen Vergänglichkeit, der von keinem Versöhnungsgestus zu tilgen ist, selbst wenn Goethes letzte Transgressions- und Transsubjektivierungsfiguren in der Feier des erfüllten Augenblicks die Endlichkeit von Welt und Leben stoisch zu überwinden scheinen. Goethes Motive des Wanderns und des Wanderers, angefangen von Wandrers Sturmlied bis hin zum wandernden Sarastro in der Fortsetzung des Zauberflötentextes und zum späten Roman der Wanderjahre, sind Figuren der Welterfahrung und der Gegenbewegung gegen die Gefahr der Erstarrung und des Sesshaften - und damit zugleich Charakterisierungen seiner Sprache: ihrer Verflüssigung, ihres Sich-Wandelns und Erneuerns im Zeichen des Proteischen, kurz: ihrer Wanderung in unbekannten Regionen, mögen Goethe im Unterschied zum romantischen Weltpanorama Zeitmessungen am ruhelosen Körper auch noch fremd sein. (Bemerkenswert, dass im Andante von Mozarts Sonate für Klavier und Violine A-Dur, KV 526, die Musik beinahe bis zum Schritt des exilierten Wanderers Schubertscher Prägung ausgreift.) Der zeitgenössischen Kritik am Charakter des Marquis Posa und seiner scheinbar inkonsequenten dramaturgischen Entfaltung antworten Schillers Briefe über Don Carlos mit einer bisweilen gnadenlosen Entzauberung seines Protagonisten. Sie dürfte das Klischee vom hohlen Ton des poetischen Idealismus gründlich stören. Verfolgt doch Schiller trotz der Verteidigung Posas und der Rechtfertigung seiner als unmotiviert beanstandeten Intrigen- und Opferlogik die Kollisionsspur von "Tugend und Weltlauf" in psychologischen Grenzgängen, die Kants ethische Physiognomie auf die Maske Robespierres hin durchlässig werden lassen. Daß Autonomie in Autismus umschlagen kann, wird ebenso unerbittlich analysiert wie die Allianz zwischen dem Rigorismus des Ideals und der despotischen Praxis seiner Einlösung. Wie verhalten sich nun aber Pathos und Ethos zur moralischen Autonomie der dramatis personae des Don Carlos, gemessen an der Adaption der Kantischen Analytik des Erhabenen in Schillers Konzeption des Tragischen; wie vermittelt sich das Wechselspiel von "Tugend", "Schwärmerei", "Liebe" und "Leidenschaft" zur Ökonomie der Affekte und zur tragischen Ironie des Don Carlos? Kann sich der Organismus des Dramas noch gegen die Prosa der Intrigenmaschinerie und deren gesellschaftliche Gewaltspur behaupten? Wird die Spannungsquadratur des Don Carlos zwischen Können, Sollen, Müssen und Dürfen nicht schon a priori auf der Basis einer moralischen Nötigung im Namen der Noumenon-Phaenomenon-Dichotomie Kants entworfen? Findet sich womöglich das "Reich des Nichts und des Todes", das Hegel der Wallenstein-Trilogie attestiert, bereits im Don Carlos? Fragen über Fragen also.
- Naturwissenschaft der Moderne
Der Autonomie-Entwurf des Subjekts seit Descartes war bis in die Wahrnehmung hinein eng an die klassische Widerspruchslogik gebunden, die sich viel auf ihre Zeitlosigkeit, auf ihre Unberührtheit vom Relativierungs- und Historisierungssog der fließenden Zeit zugute hielt, indem sie die Zeitspur der sprachlichen Folgerungen und Folgen in den "Wenn-dann"-Beziehungen, den "Und"- wie den "Oder"-Relationen mit ausdifferenzierten Syllogismen zu überlisten glaubte. Ähnlich war bei Newton und in der klassischen Physik die Zeit - trotz ihrer Absolutheit - aufgrund der Stabilität der Naturgesetze und ihrer Reversibilität gleichsam ein theologisches Ornament im rational fundierten ewigen Bau der Naturgesetze. Bis das "Tertium non datur" schließlich hinter den perspektivischen Fluktuationen der Phänomene und ihren verschiedenen Präsenzebenen zurückblieb. Hinter einer Komplexität also, der die zeit- und widerspruchsdurchlässige Flexibilität einer krausen, mehrdimensionalen Fuzzylogic weit mehr gewachsen ist. Zudem hatte die Ein- und Ausgrenzungsrationalität der zweiwertigen Logik zu lange vorexerziert, was es heißt, lediglich zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Norm und Abweichung unterscheiden zu können. Anders als die Unendlichkeit von Zwischenwerten, die den unmerklich feinen Differenzen und damit jener Nichtlinearität Rechnung trägt, in der Fluktuationen auf der Mikroebene enorme, unvorhersehbare Wirkungen auf der Makroebene bedingen, anders als diese Feindifferenzierung von Zwischenwerten also greift eine Zeitorganisation auf der Basis von Dualismen, Dichotomien, Polaritäten immer weniger. Es sind infinitesimale Werte, mit denen die Zeitmodelle der Moderne rechnen, Kräfte von Randbedingungen, minimalen Differenzen und Streuungen, die sich nicht auf Null einebnen lassen. Zur Geschichte der Mathematik als Geistesgeschichte Auch wenn entscheidende mathematische Perspektivwechsel nicht mit eindeutiger Zwangsläufigkeit in der Geistes- und Technikgeschichte ihrer Zeit zu verorten sind, sie stehen keineswegs außerhalb der Zeitbelange. Das Abarbeiten an der Lösung quintischer Gleichungen mit einer gedanklichen Akrobatik sondergleichen wäre in der Scholastik des Mittelalters undenkbar. Nachdem freilich die Lösung algebraischer Gleichungen höherer Ordnung, zumal die der kubischen durch Scipione dal Ferro und Niccolò Tartaglia in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Rahmen der experimentellen Renaissancewissenschaft gelungen war und schließlich nach gut zweihundert Jahren den Weg zu Lagranges und Cauchys Permutationsanalyse gebahnt hatte, vollzog sich mit Evariste Galois‘ Gruppentheorie ein Paradigmenwechsel erster Ordnung. Galois arbeitet sich nicht mehr am Einzelfall ab, also nicht mehr nur daran, dass es für Gleichungen fünften oder höheren Grades keine allgemeine Lösungsformel in Radikalen geben kann (wie schon Ruffini und Abel bewiesen), Galois entwickelt ein strukturelles Klärungsverfahren, das generell zu entscheiden erlaubt, ob eine Gleichung über Radikale zu lösen sei oder nicht. Dabei erinnert Galois‘ mentaler Habitus mit seiner Kombinatorik der Permutationen, mit seinen Ausleseprozessen der Untergruppen und seinem analytischem Spiel mit Wurzelmustern an zeitgenössische Strategieverfahren beethovenscher oder napoleonischer Couleur (Johannes Bauer, Mit der Grande Armée des Orchesters. Beethoven als Stratege). Galois’ Coup, mit einem Schlag über die Lösbarkeit zu entscheiden, ähnelt Analyse-, Kommando- und Ökonomieverfahren, die - mag es sich um Töne, Schlachtordnungen oder Gleichungen handeln - mit einer präzis kalkulierenden Hebelwirkung größtmögliche Wirkung erzeugen. Es geht um kognitive Bündelungen einer Vielzahl von Operationen und Kausalketten und um einen Duktus der Kürze und Effektivität, gleichsam um die Energie eines Verstandesblitzes mit enormer Aufhellungsintensität. „Sauter a pieds joints sur les calculs; grouper les opérations, les classer suivant leurs difficultés et non suivant leurs formes; telle est, suivant moi, la mission des géomètres futurs“; „Il ne faut pas confondre l’opinion que j’émets ici, avec l’affectation que certaines personnes ont d’éviter en apparence toute espèce de calcul, en traduisant par des phrases fort longues ce qui s’exprime très brièvement par l’algèbre, et ajoutant ainsi à la longueur des opérations, les longueurs d’un langage qui n’est pas fait pour les exprimer. Ces personnes sont en arrière de cent ans.“ (Évariste Galois, Manuscrits, Éditeur: Gauthier-Villars, 1908). Spricht hier nicht ein napoleonischer Stratege der Mathematik? Mit einem Vokabular, das um den Formenkreis von Wagnis, Zugriff, Intensität und um eine zügige Lösung von Schwierigkeiten kreist? Und um diese Notiz zur Ideengeschichte der Mathematik und deren Zeitbelange mit Galois selbst zu schließen: „Ici comme dans toutes les sciences chaque époque a en quelque sorte ses questions du moment: il y a des questions vivantes qui fixent à la fois les esprits les plus éclairés comme malgré eux et sans que [illis.] ait présidé à ce concours. Il semble souvent que les mêmes idées apparaissent à plusieurs comme une révélation.“ (Galois, ebd.) Für die mathematischen Belange und Fragen seiner Zeit aber war es eben Évariste Galois, der sie zur Reife brachte und damit das Tor zur Mathematik der Moderne aufstieß. Wie Beethoven die Strategie des Orchesters, wie Napoleon die Taktik der Armee, so hat Galois die Methodik der Mathematik revolutioniert und d‘un seul coup auf ein neues Niveau gehoben. Entropie Seit Sadi Carnots Réflexions sur la puissance motrice du feu von 1824 und seinen Berechnungen zum Wirkungsgrad von Dampfmaschinen und zur Relation zwischen Wärme und Arbeitsleistung gemäß dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik, nach dem Wärmeenergie und mechanische Energie unter Beibehaltung der Gesamtenergie wechselseitig ineinander umgewandelt werden können (bei Carnot noch auf der Basis eines unzerstörbaren Wärmestoffs); seit der Folgerung insbesondere aus dem mit der klassischen Mechanik nicht mehr fassbaren Carnotschen Kreisprozess, dass eine Grenze, ein Optimum der Umwandlung von Wärme in Energie nicht zu überschreiten ist, weil Wärme irreversibel von einem warmen zu einem weniger warmen Körper übergeht und ein Anteil an Wärme stets an die Umgebung abgegeben und für die mechanische Arbeit verloren wird; seit den daraus resultierenden Grundlagen des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik also und seiner zeitgerichteten Energieumwandlung wird die Effizienz geschlossener Systeme rissig. Vor allem mit Rudolf Clausius’ Verwerfung eines unzerstörbaren Wärmestoffs und seinem Begriff der Entropie, die in einem geschlossenen thermodynamischen System irreversibel zunimmt, bis sich die Temperaturen durch Wärmefluss ausgeglichen haben und keine Arbeit mehr geleistet werden kann; mehr noch mit der Verbindung von Entropie und Wahrscheinlichkeit in Boltzmanns statistischer Mechanik, die die phänomenologische Thermodynamik und ihre makroskopische Sicht der Energiezustände mikroskopisch auf den atomaren und molekularen Aufbau der Materie zurückführt, auf die Bewegung der einzelnen Atome als Massenpunkten eines Systems samt ihren regellosen, nur statistisch erfassbaren Stoßbewegungen. Damit wird die größte Wahrscheinlichkeit eines Systems und das Ende seiner irreversiblen makroskopischen Entwicklung Bedingungen der Wahrscheinlichkeitstheorie und des statistischen Gleichgewichts unterworfen. Dass Boltzmann sich an demographischen und sozialen Statistiken des Regelfalls orientiert hatte, wie schon zuvor Maxwells statistische Arbeiten zur Wärme- und Gastheorie an Adolphe Quételets sozialer Statistik des Durchschnittsmenschen und der «physique sociale», sei nur am Rande erwähnt. Passee ist damit längst nicht nur der Wunschtraum eines Perpetuum mobile, sondern ebenso die Mess- und Beobachtungsexaktheit der makroskopischen Physik und mit ihr die Omnipotenzfantasie des Newton verpflichteten Laplaceschen Dämons und seiner Vorstellung der präzisen Voraussagbarkeit von Natur und Universum mit einer gottähnlichen Verfügungsgewalt über Zeit und Raum aufgrund der Kenntnis aller zu einem gegebenen Zeitpunkt in der Natur wirkenden Kräfte und Positionen.
- Zur Geschichte der Moderne
Nachdem der newtonsche Zeitcontainer löchrig geworden ist, beginnt sich Zeit mit ihrem Ende als absolute und unbeschränkte Dauer auch und gerade ästhetisch in Kausalitätsrissen und Epiphanien zu brechen. Mit der Erosion einer als naturhaft verstandenen Subjektzeit wird das Ich-Bewusstsein als Maß der Zeit schließlich selbst extrem zeitabhängig. Wenn Proust die "mémoire involontaire" gegen die Steuerung der Identitätsregie setzt, das Nichtlineare, Nichtchronometrische also gegen die Kontinuitätsmaxime der Konvention, bedeutet das eine Aufwertung des Plötzlichen und des ekstatischen Moments im Namen des unberechenbaren Zufalls. Diese Spur der Kontingenz aber erzeugt die perspektivische Schichtung vergangener und gegenwärtiger Ich-Parzellen, die Simultanpräsenz getrennter Zeiten, die Verknüpfung gegensätzlicher Sphären, schließlich die Gegenwart der Eigenzeiten des Vor- und Unbewussten und des somatischen Sensoriums. Lichtenberg hält die "Wetter in seinem Kopf" aus, die der Esprit des Kombinationsgeistes entzündet. Daß der Witz zu Erfindungen führen kann, resultiert aus seiner Fähigkeit, verblüffend neue Relationen zwischen entlegenen Punkten und unvereinbar scheinenden Extremen herstellen zu können. Darin liegt eine der Varianten des Sympathiebegriffs des 18. Jahrhunderts. Bei Lichtenberg entfalten sich die Aphorismen der Sudelbücher im schnellen Wechsel und in frappierender Unberechenbarkeit zu einer riesigen Rhapsodie von Gedankenblitzen. Bei ihm dringt das Alltägliche in die Reflexion ein, wird das Somatische ernst genommen bis hin zur Überlegung, welche Auswirkung das Stehen oder Liegen auf das Denken und die Gedanken hat. Dieser bunte Wechsel konfiguriert sich zu einer Experimentalphysik der Reflexion. Ein Zustand der Einbildungskraft gleichsam noch vor der Regie der Synthesis der transzendentalen Apperzeption in Kants Kritik der reinen Vernunft. Selbst der linguistic turn ist bei Lichtenberg in der Überlegung zu finden, daß "unsere ganze Philosophie einer falschen Sprache einverleibt ist".
- Neue Musik
Jedes Sprechen über Musik macht Musik zum Gegenstand. Heideggers Versuch im Bereich der Dichtung, "die Sprache als die Sprache zur Sprache zu bringen", zeigt sich im Bereich der Musik sofort als Dilemma. Die Musik als die Musik zur Musik bringen; die Musik als die Musik zur Sprache bringen: diese beiden Varianten offenbaren den Querstand zwischen Musik und Sprache. Musik als Musik zur Sprache bringen, das war zumal seit den Zeiten des Historismus gängige Praxis. Was aber könnte es mit der Intention auf sich haben, die Musik als die Musik zur Musik zu bringen? Über Musik, über Neue Musik zu sprechen, ist das nicht geradezu absurd? Neue Musik wirkt der Deutungshoheit der Philosophie gegenüber apotropäisch. Dem Übergriff des Begriffs wird sie zu einer Art ästhetischer Medusa, die die Aussagelogik versteinert. Ignoriert Hermeneutik diese Gegebenheit der Distanz, wird sie zum leeren Spiel oder zur Gewalt der Vereinnahmung. Der Begriff muss reflektieren und aushalten, dass er infolge der Satzstruktur von Aussage und Urteil auf Begründung und Gründe ausgeht, Neue Musik aber weit mehr auf das Grundlose und die Aufhebung des Satzes vom Grund. Deshalb kann der begriffliche Diskurs der Hermeneutik nur approximativ, nur fragmentarisch sein, sich selbst als sein eigener Subtext hinterfragend; eher einer nomolytischen als einer nomotethischen Logik verpflichtet. Über Neue Musik schreiben und sprechen heißt, sich bewusst zu machen, dass dies mit den Mitteln einer begrifflich vorentschiedenen Aussagelogik erfolgt - nach dem Satz vom Widerspruch, nach dem der Identität und des Grundes. Nötig wäre deshalb eine subtile Selbstzermürbungsarbeit der Logik mit der Erkenntnis, dass ihr Ideal der Wahrheit dem aisthetischen Logos der Musik gegenüber zu grob, zu restriktiv ist. Auch mit Gründen und Begründungen kann man auf Grund laufen. Wenn schon der eng mit der griechisch abendländischen Tradition des Ziel-Gedankens verbundene Satz vom Grund in allen Belangen des Realen dominiert, soll wenigstens im Bereich der Kunst als einem "Labor des Lebens" (John Cage) eine andere Erfahrung des Denkens und der Dinge möglich sein: ohne das Fundament des konnektiven Begriffs, ohne das Grundgesetz der Begründungen. Kennt das grammatikalische System der Aussagesätze keine Leerstellen, indem es alle Sätze miteinander verbindet, war in ähnlicher Weise die Substanz der Geschlossenheit als eine der funktionalen Verweisungen lange Zeit hindurch die Basis tonaler Musik: als eine spezifisch ästhetische Ausformung des Satzes vom Grund. Dieses sprachähnliche System der Geschlossenheit hebt Neue Musik auf und lässt jenseits der Ordnung des Begründeten im Grundlosen, wie es scheint, das Chaos des Abgründigen erfahrbar werden. Der „Abgrund“ ist aber „weder das leere Nichts noch eine finstere Wirrnis, sondern: das Er-eignis“ (Martin Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1978, S. 28). Das Abgründige der „Grundlosigkeit“ ist demnach „nur für denjenigen eine Leere und dann ein blankes Nichts, der im Denken nur auf Gründe aus ist“ (Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Wege ins Ereignis, Frankfurt am Main 1994, S. 278). Was aber vermöchte andere Zeitspielräume zu öffnen als die Abgründigkeit des Ereignisses, sein Ver-sagen gegenüber dem Denken in Gründen und dessen Ursache- und Wirkungshierarchien? Lassen wir also das abgründig Unverfügbare der Neuen Musik ein, ohne Ziel und ohne Grund, diesseits und jenseits vom musikalischen Logos und seiner metaphysisch basierten Sinnbahnung der Wiederholung sowie einer Nicht-Wiederholung, die ohne Wiederholung nicht denkbar ist. Neue Musik verwandelt das Ideal des Schönen in einen Korridor des Offenen. Wie zeitgenössisches Komponieren die Überschreitung der Idee des Schönen als der traditionell verbürgten Garantin des Vollkommenen reflektiert, wird am Spätwerk Morton Feldmans deutlich: An einer Musik der Umwertung des Ästhetischen zum Aisthetischen und der Transformation der Idee der Wahrheit zum Sensorium der Wahrnehmung. Schönheit und Wahrheit verlieren den Nimbus des Absoluten, sobald sich die Dramaturgie des Subjekts auf ein kompositorisches Denken jenseits der Ich-Ästhetik von Einfühlung und Projektion hin entgrenzt; ein kompositorisches Denken, das mit Foucault im Anschluss an Heideggers „Humanismusbrief“ ein Komponieren im Zeichen des „verschwundenen Menschen“ genannt werden kann. Indem jedoch Neue Musik als Dämpfung der Sinnrenditen des Subjekts stets auch ästhetische Metaphysikkritik ist, löst sie den Kanon des Wahren und Schönen mitunter in die Unberechenbarkeit des Ungeheuren und des Ereignisses auf. Musik öffnet sich jenen viel beredeten transhumanen Tendenzen, die allzu voreilig mit Inhumanität verwechselt werden. In den Antistrukturen des Unwiederholbaren und des Zufalls Neuer Musik geht es nicht mehr um die Gedächtnistrassen des Vergleichens, Unterscheidens, Vergessens und Erinnerns, sondern um Epiphanie jenseits musikalischer Logizität. Musik öffnet sich dem Unverfügbaren. Gegen die Metaphysik der Wahrheit als einer Wahrheit sinnstiftender Wiederholungen beschreibt die Nicht-Wiederholbarkeit aleatorischer Formen eine rätselhafte Figuration zwischen der Einmaligkeit des Ereignisses und einer Serie des Gleichen. In solchen Verläufen des Unvorhersehbaren weicht der die innere Einheit des Selbstbewusstseins organisierende Sinn der Zeit einer Dauer der Identitätsleere. Der Einwand, in eben dieser Dezentrierung liege die inhumane Tendenz Neuer Musik, argumentiert deshalb bereits auf der Metaebene einer Abwehr aus zeitoptimierend funktionalistischen Gründen, aus Gründen einer Idee der Zeit ohne jede Absenz. Die Zersplitterung der absoluten Zeit Newtons in die Eigenzeiten der Einstein'schen Relativitätstheorie findet Parallelen auch in der Neuen Musik: in Form einer Zeittheorie offener Systeme, die mit Wahrscheinlichkeit, Zufall und statistischen Werten experimentieren. Dieses Abstraktwerden der Zeit bedeutet zwar den Abschied von intuitiven Zeitvorstellungen, eröffnet aber im Rahmen neuer Zeitmodelle zugleich neue Zeiterfahrungen: etwa durch die Brechung der Schicksalsmacht Zeit in einer Musik der variablen Formen. Damit zeigen sich im veränderten Verhältnis zwischen objektiver Zeitstruktur und subjektiver Erlebniszeit Überschreitungen herkömmlicher Rezeptionsmodelle, die die Zeitformen der Neuen Musik zu Erkundungen im Unbekannten werden lassen. Mit der Bühne des subjektivierten Ich begann sich Musik an der Wiederholung, am Ritornell, am "ritorno" als dem eingängigsten Mittel der Rückkehr des Ichs zu sich selbst zu orientieren. Lange Zeit war deshalb die individuelle Physiognomie des Melodischen, ihr Charakteristikum der Wiederholung und des Wiedererkennens Garantin für diese Selbstvermittlung im Akt des Hörens. Als säkulare Erbschaft der göttlichen causa sui in der Einheit des Ich=Ich und der Identität des Selbstbewusstseins bedeutet der Titel „Subjekt“ Prinzip und Fundament der Weltauslegung. Mit ihrer Aversion gegen Wiederholungen destruiert Neue Musik dieses Fundament in Richtung einer transsubjektiven Überschreitung und entzieht ihm Grund und Boden hin zum Grund- und Bodenlosen. Sie verweigert dem Ich-Entrepreneur die Synthesis der Perzeption, das percipere und capere, das Erfassen, Aufnehmen und Besetzen, das Ergreifen, Erobern und Kapern von Welt. Und sie verweigert damit zugleich den Ritorno, die Rückkehr, das Retour des Ich zum Ich und seine gedächtnisstabilisierende Tradition. Daraus resultiert das Stigma des Inhumanen, das Neuer Musik angelastet wird, aber auch ihre Emphase der Verwandlung und Befreiung; Befreiung verstanden als eine Entlastung von der Herrschafts- und Kontrollattitüde einer überforderten Subjektpotenz. Das geschlossene System und die Konstanz der Naturgesetze garantieren in Zeiten der klassischen Physik und ihres Determinismus - bis hin zum allwissenden Laplaceschen Dämon - jene Absolutheit als Spiegel und Bestätigung eines gottebenbildlichen Subjekts, die schließlich im Ereignisraum des Wahrscheinlichen und in den Zonen des Unbestimmten und Unentscheidbaren der statistischen Thermodynamik samt ihrer Entropie-Modelle ihre Grenze findet. Ist es doch die Instanz der irreversiblen Zeit, die die reversible der klassischen Mechanik und ihre Verwechselbarkeit von Vergangenheit und Zukunft zu einem Sonderfall relativiert. Im Modell geschlossener Systeme liegt auch das Tertium comparationis etwa zwischen Lagranges Mécanique analytique (1788) und der tonalen Funktionsharmonik, sofern in geschlossenen Systemen und ihren Bindungskräften keine strukturelle Energie verloren gehen kann. Im System der Funktionsharmonik organisiert die Erhaltungsgröße der musikalischen Struktur und ihrer kompositorischen Möglichkeiten den Freiheitsgrad der Tonkombinationen als permanente Umwandlung im Rahmen einer konstanten Gesamtenergie. Deshalb muss im System klassischer Tonalität das System innerhalb des Systems kompositorisch zur Einzigartigkeit des einzelnen Werks entsystematisiert und durch systemerodierende Grenzüberschreitungen immer wieder irritiert werden. Zugleich macht das Gesetz der Systemhomogenität - ähnlich Newtons absoluter Zeit -, innerhalb der Zeitstruktur der tonalen Grammatik voneinander unabhängige Eigenzeiten undenkbar. (Selbst Mozarts ebenso geniale wie radikale Überlagerung von 3/4-, 2/4- und 3/8-Takt-Sequenzen zu einer heterogenen Zeitschichtung „senza alcun ordine” in der Tanszene des Don Giovanni-Finales, die bis an den Rand der musikalischen Ordnung führt, bleibt der funktionsharmonisch organisierten Zeitstruktur eingebunden.) Wie in Lagranges Formalismus der klassischen Mechanik Energiekonstanz und Homogenität der Zeit verschwistert sind, so ist auch in der Struktur der Funktionsharmonik Zeit, das heißt der Grund der Zeit, kein brisant anstehendes oder zu lösendes Problem. Im Unterschied zur Einheitszeit der klassischen Tonalität ermöglichen Kompositionen Neuer Musik dagegen markante Eigenzeit-Profile als spezifische Werkgestalt. In Neuer Musik, in der komplexe Mikroprozesse mit der Entropie als energetischer Zustandsgröße statistisches Gewicht erlangen, wird Zeit als Eigenzeit zu einem von jedem Einzelwerk zu lösenden Problem. Geht es doch in der Offenheit und Selbstreferenz der Werke einer gleichsam thermodynamisch inspirierten Neuen Musik um keine energieerhaltenden Systeme mehr, sondern um offene Strukturen mit dissipativen Kräften, die in das Komponierte energetische Verluste - Rupturen, Lecks, Leerstellen einlassen. Im Unterschied zur zeitenthobenen Unsterblichkeitsphantasmagorie des klassischen Werks und seiner temporalen Homogenität geht in das statistische Gefüge der Entropie und in die Mikrozustände des zufallsaffinen Werks Endlichkeit ein, eine Spur an Todesbewusstsein und Zeitverfallenheit der Musik. Daher handelt es sich in zahlreichen Kompositionen Neuer Musik überwiegend um Variationen der Entropie und ihrer Zustandsgröße, somit um Mikrozustände des Komponierten und ihrer Phasenräume, die als Wahrscheinlichkeitprozesse zu hören sind, also als Pluralität komplexer Einzelstimmen und ihrer Partikel. Das ästhetische Sensorium muss somit die Tradition auch darin verlernen, von einer klaren Diskretion der Einzelstimmen auszugehen. Entscheidend bleiben die statistischen Phasentrajektorien und die Energie eines vieldimensionalen Phasenraumvolumens, weniger die Einzeltrajektorie individueller Stimmen. Deshalb erzeugen Ensembles mit komplexen Freiheits- und Ereignisgraden auf der makroakustischen Ebene infolge ihrer Dichte immer wieder ein Quantum Überdeterminiertheit, das heißt - als Rauschen der Information – die Ortlosigkeit chaotischer Fülle. Dass freilich die Zeit- und Sprachstruktur der klassischen und der Neuen Musik zudem - philosophisch gesprochen - dem Satz vom Grund und seiner Aufhebung eingebunden bleibt, ist offenkundig. Von Beginn an steht Neue Musik - gleichzeitigen philosophischen Tendenzen analog - in einer spezifisch ästhetischen Auseinandersetzung mit dem „Satz vom Grund“. Dessen Gründungs- und Begründungsmacht - „nichts ist ohne Grund“ - manifestiert sich musikalisch am nachhaltigsten in der austarierten Werkeinheit zur Zeit der tonalen Epoche. Das heißt in der geschlossenen Unveränderlichkeit von Teil und Ganzem, in den Konsequenz- und Kausalitätsgeboten kompositorischer Logik und - erinnert sei an Mozarts abgründigen Musikalischen Spaß - in den dieser kompositorischen Logik zufolge erst möglichen Regelverstößen. Auch wenn für Schopenhauer Musik den „Satz vom Grund“ ausdrücklich entmächtigt, bleibt dessen Schatten gleichwohl im Innern jener Kompositionen Mozarts und Rossinis präsent, die dem Philosophen um 1820 das Erlebnis solcher Enthebung vermitteln. „Nichts ist ohne Grund“. Orientiert an diesem anthropologisch fundierten Grundgesetz abendländischer Metaphysik und Praxis - einem Gesetz von Folgerichtigkeit, Zusammenhang und Notwendigkeit -, kultiviert auch Musik einen Sinnfundus an Wahrheit. So korrespondieren die organisch durchgeformten Werke aus der Epoche der Dur-Moll-Tonalität und ihre symbolisch-gestische Syntax aufs Engste mit der Identität des Selbstbewusstseins. Mit dem also, was die Philosophie seit Descartes mit der Einheit des Subjekts als einer Einheit von Begründungen zu fassen sucht. Auch wenn sich dieser Sinn- und Begründungsfundus im musikalischen Metier stets musikspezifisch, das heißt mimetisch und logiksubversiv verschattet: in begründeten Ordnungen selbst begründet zu sein, im Grund der Werke sich selbst zu finden, wird zum ästhetischen Kanon schlechthin. Erst Neue Musik treibt mit ihren antirhetorischen, antinarrativen, antipsychologischen Dezentrierungen die Auflösung des „Satzes vom Grund“ metaphysikkritisch ins Innere der Struktur. Erst jetzt kündigen Sinn und Wahrheit ihre in der mnemonischen Souveränität des Subjekts gegründete Allianz auf. Mag auch die hochgerüstete Konstruktion serieller Musik ihrer Produktion nach zum letzten Mal und bis in den letzten musikalischen Parameter hinein eine extreme Probe auf den „Satz vom Grund“ leisten, ihrer Rezeption, ihrem Hören nach löst sich jeder ihrer komponierten Begründungszusammenhänge ins Grundlose auf. Darin repräsentiert die Serialität und ihr Bruch zwischen Konstruktion und sinnlicher Erfahrung, zwischen Produktion und Rezeption, den Übergang von einer metaphysisch bestimmten zu einer nachmetaphysischen Moderne. Vom Grund zum Grundlosen, vom Begründeten zum Unbegründeten, zum Abgründigen. Entgegen der Rasanz einer immer eiligeren, ungeduldigeren Durchmusterung von Zeit und Welt wird Halberstadt, der Ort einer auf 639 Jahre entgrenzten Aufführung von Cages Orgelstück As slow as possible zu einem anderen Planeten. Als wäre an Cage zu lernen, Dauer in anderen, eher unverfügbaren Zeitmaßen zu denken und zuzulassen. Im Unterschied zu zenbuddhistisch orientierten Lesarten kann Cages 4´33 auch von Nietzsche, Mallarmé, Proust und Artaud her verstanden werden: Als eine Paramusik gegen das Entscheidungsdogma Musik oder Nicht-Musik; als eine »technique du blanc« gegen die funktionale Übermacht einer sinn- und damit horror-vacui-codierten Welt; schließlich als eine Irritation der Ichschranken in der haltlosen Offenheit von Stille und Leere. So unterläuft Cages 4´33 die Repräsentation eines dem Stück vorausliegenden Sinns, sensibilisiert für plurale Eigenzeiten und den Zufall und demontiert für Momente die Filter der omnipräsenten subjektpsychologischen Zeit. Erst seitdem sich die griechisch-christliche Deutungshoheit in Philosophie und Ästhetik im Lauf des 19. Jahrhunderts zu entzaubern begann - ihre Spaltungs- und Ausschlussfiguren des Schönen und Hässlichen, ihre Forderungen nach Finalität und Geschlossenheit, ihr Kult des Subjekts mit seiner Ich-Rhetorik und Willensemphase und seinen mentalen und affektiven Zentren -, erst dann konnte mit dieser Entzauberung und Entdramatisierung jener west-östliche Dialog in Gang kommen, der mittlerweile auch in zahlreichen zeitgenössischen Kompositionen Wirkung zeigt: Nicht in Gestalt aparter Chinoiserien und einer asiatischen Klangexotik, sondern als strukturelle Nähe des Komponierten zu fernöstlichen Denk- und Kunsttraditionen. Erst diese strukturelle Korrespondenz aber macht als Formenkreis der Entsubjektivierung hörbar, was die abendländische Willensemphase bislang übertönt hat: das Sich-ereignen-Lassen in einer Musik der Ich-Abstinenz und der Schwebe, die inmitten der Sinnkompressionen und der Informationsdichte einer vernetzten Welt gerade durch die Fülle des Ausgesparten irritiert und fasziniert. Stille etwa bis hin zur Leere zuzulassen bedeutet eine Irritation durch das Unverfügbare, nicht Bestimmbare, eine Irritation, die nicht umstandslos in den Katalog unserer gängigen Projektionsmuster und die Standards unserer antrainierten ökonomischen Weltsicht zu übersetzen ist. Das Unverfügbare aber ist zugleich das Offene in der Tradition von Prousts "mémoire involontaire", Joyces "epiphany", Heideggers "Lichtung". Wäre im Rahmen eines imaginären Konzerts ein instrumentales Nachspiel zu Lachenmanns "Musik mit Bildern" Das Mädchen mit den Schwefelhölzern auszuwählen, Mark Andres Orchesterstück …auf…III schiene dafür prädestiniert. Auch bei Andre geht es um Zonen des Unberührten, um Frei- und Zwischenräume, um »unerwartete innere Klangwelten«(1). Auch Andre setzt auf die Sensibilisierungskraft der Aisthesis in einem Tableau mikroakustischer Ereignisse. Und wenn Andres mikroakustische Rhizome, verstärkt durch den Einsatz von Computerprogrammen, die Vernetzung und Zerstreuung jenes Entwurfs ernst nehmen, der bislang unter dem Titel »Subjekt« Glanz und Elend auf sich zog, dann stellt sich auch hier die Musik der gesellschaftlichen Systemrealität, ohne dabei - ähnlich wie Lachenmann - die Ausdruckspur des Subjekts umstandslos dem Moloch abstrakter Prozesse preiszugeben. Deshalb immer wieder die Zersetzung der computergenerierten Formationen und damit die Eingriffe in die Autorität des Rechners. Deshalb auch die Durchquerung der polyvalenten Faltungsverläufe mit einer eher makroakustischen Sinntransparenz, etwa in Form rhythmisch akzentuierter Felder oder in Form einer Typologie von Impuls und Antwort, deren Wechselwirkung durch die weiträumige Anordnung des Schlagzeugs unterstützt wird. Zugespitzt könnte man bei Andre von einer Fortsetzung der Intentionen Lachenmanns mit anderen Mitteln sprechen, sofern beide Komponisten Entwürfe ins Offene formulieren und dadurch die Ordnung des Realen provozieren. Andres Erkundung unbekannter Regionen im unentwegten Wechsel unterschiedlicher Texturen und Klangräume ist jedenfalls mit den dialektischen Grenzpolen von Subjekt und System nicht mehr adäquat zu kartographieren. Zudem verlangt die äußerst variable Verschränkung, Fragmentierung und Interpolation algorithmisch organisierter Tonhöhen mit und in einem Universum »unharmonischer, harmonischer und geräuschhafter Klänge«(2) ein Hören außerhalb jeder einheitszentrierten Wahrnehmung. Aufgehoben werden mnemonische Gewohnheitsrechte, wie sie etwa Musik im Nahbereich des Ego konserviert, die vor allem eines nicht will: Verwandlung als Entwöhnung vom Gewohnten. Setzt Monoakustik auf ein Ohr der Mitte, um von hier aus den musikalischen Diskurs zu fokussieren, dann hält Andres Polyakustik das Hören mit multidimensionalen Perspektiven, Mehrfachcodierungen und vielschichtigen Kreuzungen transversal vernetzter Wege in Atem. Zentrum und Rand besagen in solchen rapiden Fluktuationen kaum noch etwas, zumal sich Andre bewusst ist, dass Komplexität nicht ohne chaotische Ressourcen auskommt, will sie dem Anspruch einer wahrhaft komplexen Ordnung aus Zufall und Steuerung genügen. Zugleich gelingt Andre das Kunststück, mit der ikonoklastischen Aura seiner komponierten Epiphanie, die aus dem Unhörbaren kommt und ins Unhörbare verschwindet, jede Abbildlichkeit und sämtliche bildgebenden Verfahren von Verinnerlichung und Projektion außer Kraft zu setzen, ohne doch der gestischen Semantik von Stoß und Ruptur, von Sog und Steigerung die Wirkung eines seismischen Körpers zu nehmen. Vielleicht weil dies die einzig wahre musikalische Metapher von der wunderbarsten aller Metamorphosen ist, der der Auferstehung nämlich, auf die Andres Orchesterstück …auf…III anspielt: körperlich zu erahnen zwar und doch unter dem Gesetz des Bilderverbots. Lachenmanns und Andres Kunst der Sensibilisierung versteht Transfiguration als eine andere Figuration des Gegebenen. Es geht nicht um Verklärung, sondern um Klärung nach Maßgabe einer ästhetisch geschärften Sicht auf die Conditio humana der Gegenwart - und dies mit den Mitteln einer musica terrestris. Insofern lässt sich die religiöse Dimension in Andres Musik durchaus säkular fassen. Verwandlung, die mit dem brechen will, womit sich die Gewöhnung im Gewohnten isoliert, tendiert zu einer Pfingstzeit auf Erden. Und liegt nicht gerade in der Verstörung des Normierten und der Verstörung des Heroentums des Bezwingens und Behauptens, des Expandierens und Akkumulierens über alles Maß hinaus die Brisanz einer Musik in Zeiten des sensuell-kognitiven Umbaus menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob im Zug der weltweiten Wachstums- und Verwertungsideologie der technisch traktierte Mensch und sein absehbarer schleichend genetischer Umbau zu einer android-hybriden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Nutzung eder Restnatur führt oder nicht? Was wäre folglich von Kunst mehr zu verlangen, als dass sie uns trifft? Womöglich wie in Lachenmanns "Musik mit Bildern" mit der Synästhesie einer akustischen Erscheinung: So, als würde durch die Risse in der Mauer verhärteter Konventionen ein unbekanntes, mit einer unerhörten Musik in Szene gesetztes Sternbild aufleuchten - vergleichbar dem Lichtzauber der Schwefelhölzer in der Hand des Mädchens vor tödlich kalten Hauswänden - ein Sternbild, rätselhaft in seiner Unverfügbarkeit und doch mit der geheimen Pracht einer Chiffre der Hoffnung. Sie erst könnte den Topos der Auferstehung in Andres Orchesterstück und den der Himmelfahrt in Lachenmanns Musiktheater in ein ebenso mythisches wie aufklärerisches Menetekel verwandeln, das uns bewusst macht, wie sehr das Problem des Deus absconditus, des verborgenen Gottes, mittlerweile zu einem Problem des verborgenen Menschen, des Homo absconditus geworden ist. 1 Mark Andre,Werkbeschreibung »...auf... III«, in: Programmheft der Donaueschinger Musiktage 2007. 2 Ebd. Lachenmanns Musik ist keine Musik der Schwebe, dafür ist sie zu willensbestimmt, zu voluntaristisch, zu absichtsbetont, zu eindeutig, zu aufgerüstet, zu metaphysisch-existenziell, zu abendländisch - trotz ihrer Destruktion des musikalischen Platonismus und seiner Idee des reinen Tons und trotz der Sho-Episode im Mädchen mit den Schwefelhölzern. Lachenmanns Musica negativa ist eine Musik der Fülle und des Vollen, in starkem Kontrast zur fernöstlichen Schwebe des Weder-Noch, des Lassens, des „wu wei“. Sicher, sie bricht Strukturen auf, sie schneidet tief in den Sprachgrund - aber sie komponiert noch die Leere, die Stille als eine Qualität des Maximums. Deshalb lässt Lachenmanns Musik keine Leere zu, sie überfällt und strengt an. Bleibt Lachenmanns Musik zudem mit ihrem Ausschlussmodus gegenüber allem, was auch nur annähernd vertraut klingt, mit ihrer Intention, um jeden Preis anders sein zu wollen, nicht umso stärker - gleichsam ex negativo - an die Tradition gebunden? Als eine hochgerüstete Musica exclusiva, die streckenweise ereignislos-monoton bleibt, eben weil sie unentwegt Ereignisse präsentiert? Lachenmanns Destruktion ästhetischer Normen, seine verfremdeten Spiel- und Artikulationstechniken begreifen "Schönheit" als eine radikale "Verweigerung des Gewohnten". Der auf seine materiale Seite hin befreite Ton erzeugt über die Transformation gängiger Schönheits- und Natürlichkeitsbegriffe eine neue Dimension der Erkenntnis: nämlich die, wie sehr die europäische Musik aufgrund ihres Reinheits- und Schönheitsideals selbst Fragment war. Das Inkalkulable Neuer Musik unterläuft die ichfixierte Gedankenarbeit und mit ihr den subjektzentrierten Begriff des Sinns. Zielt das Bewusstsein des Cogito auf Identifikation, auf ein "das ist", dann wäre diese Identifikationsregie das Erste, was sich eine Begegnung mit Neuer Musik abzugewöhnen hätte. Dass bei ihr die an der tonalen Musik entwickelten Hör- und Analyse-Modelle nicht mehr zureichen, resultiert nicht zuletzt aus der engen Bindung dieser Modelle an den Sprachcharakter der Musik. Die syntaktische und syntaxähnliche Qualität von Sprache und Musik aber war es, die über alle Unterschiede hinweg semantische Analogien zuließ. So kommunizieren in der Epoche der Tonalität Musik und Sprache über ihr affektiv gestisches Idiom. Symbolisch aufgeladen kann Musik ihrer "uralten Verbindung mit der Poesie" wegen als eine Sprache des "Inneren" aufgefasst werden. Sofern nämlich die "›absolute Musik‹" zu einer "ohne Poesie schon zum Verständnis redenden Symbolik der Formen" und des "inneren Lebens" wird und die "musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist" (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band, Viertes Hauptstück, Aph. 215). Noch Wittgenstein vergleicht "musikalische Themen" und "Sätze" in der Hoffnung, die "Kenntnis des Wesens der Logik" könnte zur "Kenntnis des Wesens der Musik" führen. (Ludwig Wittgenstein, Tagebücher 1914-1916, Schriften I, Frankfurt am Main 1980, S. 130) Bis zum Stadium der Neuen Musik war Komponieren an die Naturzeit des Körpers gebunden, an die Rhythmen von Herzschlag und Atmung, die sich über die Symmetrien und Asymmetrien taktgebundener Notenwerte in langsamere oder schnellere Bahnen der Affekte umsetzen (Ruhe - Erregung - Schmerz). Es ging um Spannung und Entspannung, um Dissonanz und Konsonanz, um Emotion und Ratio nach der Idee des Subjekts als animal rationale. Vom Eros in Mozarts Musik zu sprechen, liegt auf der Hand, aber vom Eros in der Neuen Musik? Wo bleibt die Naturzeit des Körpers in der Neuen Musik? Wo der Pulsschlag, wo die organische Bewegung oder die somatisch-rhythmischen Facetten von Beschleunigung und Verlangsamung? Wo das Tänzerische, wo das Gefühl? Das also, was die sogenannte Klassik und die populäre Musik für sich beanspruchen? Was geschieht mit dem Körper im zeitgenössischen Komponieren? Sicher, es gibt - etwa bei Nietzsche - den Verdacht gegen die Magie und das Verschlingende des Rhythmus, gegen den Takt der Eingemeindung, gegen den Tritt der Masse. Geht es demnach der Neuen Musik eher um Entfesselung als um Fesselung, eher um einen seismischen, arrhythmischen Körper als um dessen gestisch rhythmische Modellierungen? Oder begleitet, ja ratifiziert die Musik der Gegenwart die technische Zurichtung des Homo faber? Wird Neue Musik zu einer Kunst des Übergangs in Zeiten eines langsamen kognitiv-sensuellen Umbaus des menschlichen Daseins? Wer wüsste schon, ob auf lange Distanz ein Umbau des technisch traktierten Menschen zu einer androiden Verbindung von Chip und Zelle und zur biomachinalen Verwertung jeder Restnatur ansteht. Schon Nietzsches Kälteapotheosen geben - noch im metaphysischen Milieu - Auskunft über eine Welt, in der dem Einzelnen inmitten der Wüste des "letzten Menschen" die Bürde der Selbsttranszendenz aufgelastet wird, nachdem Leben und Tod ihren transzendenten Sicherungsgrund verloren haben und einzig auf ein befristetes Diesseitsbiotop verwiesen sind. Zugleich eröffnet die Rede von der Unmenschlichkeit des Menschen und vom Inhumanen des Humanismus den Prozess über die anthropozentrische Verblendung des Homo sapiens. Provokant gefragt: Ist Neue Musik womöglich eine von Nietzsches "letztem Menschen"? Ist sie eine des Übergangs, eine der Destruktion und des Aus- und Freiräumens von Tradition für eine kommende Musik des Unbekannten? Lachenmanns Parole "Die Musik ist tot", seine Intention, mit seinen Kompositionen die "magische Funktion" der Musik zu "brechen", könnte dafür sprechen. Auch wenn in Lachenmanns expressiven Stößen und Schocks immer noch das metaphysische Erbe der Katharsis nachwirkt, die Absicht aufzurütteln, sich nicht mit dem abzufinden, was ist. Ein Gestus des Aufrüttelns, ein Tremendum also, das Lachenmanns Musik grundsätzlich von Kompositionen wie dem Spätwerk Feldmans unterscheidet. Oder bringen uns bei all den Fragen und Offenheiten Heideggers Gedanken über die sogenannte "abstrakte Kunst" weiter? Die „gegenstandslose axiomatische Form des wissenschaftlichen Denkens steht heute vor unabsehbaren Möglichkeiten. Dieses axiomatische Denken ist bereits dabei, ohne daß wir dies merken und in seiner Tragweite durchschauen, das Denken des Menschen so zu verändern, daß es sich dem Wesen der modernen Technik anpaßt". Es gilt dabei zu bedenken, "inwiefern der Mensch dieses Zeitalters nicht nur der Technik unterworfen ist, sondern inwiefern er dem Wesen der Technik entsprechen muß, inwiefern sich in dieser Entsprechung ursprünglichere Möglichkeiten eines freien Daseins des Menschen ankündigen. Die technisch-wissenschaftliche Weltkonstruktion entfaltet ihre eigenen Ansprüche auf die Gestaltung aller Bestände, die in einer solchen Welt an ihr Licht drängen. Darum hat im Bereich dieser technisch-wissenschaftlichen Weltkonstruktion das, was man mit einem ungemäßen Titel «abstrakte Kunst» nennt, seine legitime Funktion". (Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, S. 41) Dämpft die gemäßigte Moderne Neuer Musik das vermeintlich Antihumane zugunsten menschlicher Proportionen, indem sie die Allianz zwischen Affekt und Effekt, indem sie Zitate, Mischungen, Gesten, Pathosformeln, kurz: das Repertoire der Subjektrhetorik kultiviert: was spräche dann für das rigoros hermetische Werk, das sein maßloses Maß darin findet, sich so weit als möglich von der Rückbindung an Bekanntes zu entfernen, um sein Ereignis flüchtig und gleich einer kaum lesbaren Spur im Abgründigen aufgehen zu lassen? Das Medusenartige so vieler Werke der Neuen Musik überzieht die Hörer wie der Schrei eines gorgonischen Schreckbilds.(1) Erzeugen solche Kompositionen nicht zu weiten Teilen ein versteinertes Publikum oder eines von perseushaftem Zuschnitt? Ein Publikum, das das ästhetische Tremendum mit dem Schild aggressiver Abwehr oder dem Spiegel einer Blendung aus Gleichgültigkeit erledigt, gleichsam enthauptet? Was, vom Visualprimat der Sprache her gesprochen, als der furchtbare Blick der Neuen Musik empfunden wird: verweist dieser Blick nicht auch auf den Komponisten als einen Arzt der Kultur, nachdem Nietzsche diesen Status vorrangig dem Philosophen reserviert hatte? Auf den Komponisten, dessen Musik sich nicht mehr als emotionale Dienstleistung versteht, sondern eher auf eine Überschreitung egomaner Bastionen zielt? Verweist dieser Blick also dem mythologischen Strang nach als Wunschbild nicht auf jene Macht des Asklepios, der dem Zeugnis des Apollodoros zufolge Tote zum Leben erwecken konnte - und dies eben mit dem Blut der Gorgo Medusa?(2) Und wäre dann im Ineinander von Versteinerung und Erschütterung, von Erstarrung und Abwehr, von Tod und Leben nicht eben jene musikalische Dosis Gift vonnöten, die das Publikum schockhaft dem Ereignis aussetzt, um eine Spur der Überschreitung in den Schacht nüchtern routinierter Funktionalität fallen zu lassen? Wo aber gäbe es für den optisch und akustisch konditionierten Menschen der technischen Gegenwart noch eine Empfänglichkeit für das Ereignis? Wird in einer medial gefilterten Welt der Erfahrung das ästhetische Ereignis nicht zum Event, das erlebnismäßig verbucht oder vergleichgültigt wird? Wie also steht es um das Ereignis im Bereich der Musik? 1 Zum furchterregenden Geräusch der Gorgonen vgl. Pindars Zwölfte Pythische Ode. 2 Asklepios „wurde ein geschickter Wundarzt, übte seine Kunst sehr eifrig und rettete nicht nur einige vor dem Tod, sondern weckte selbst schon Verstorbene auf. Er hatte nämlich von Athena das aus den Adern der Gorgo geflossene Blut bekommen, wovon er das aus den linken Blutadern geflossene zum Verderben, das aus den rechten zum Heil der Menschen anwandte. Durch das letztere weckte er die Toten auf“. Apollodoros, Arkadische Sagen, 3, 120.
- Philosophie
Wie sehr gerade die abendländische Denk- und Metaphysiktradition in der indogermanischen Grammatik und Syntax und im griechischen Alphabet begründet liegt, wurde immer wieder betont. Jeder Satz ist hypotaktisch gefügt (vgl. die ὄνομα-ῥῆμα-Diskussion seit Platon und Aristoteles), jeder Satz wird aufgrund seines Subjekt-Prädikat-Objekt-Korsetts zu einer Zieleinheit und drängt aufgrund seiner geschlossenen Struktur auf die Wahrheit der Eindeutigkeit, während etwa der Diskurs des Chinesischen schwebend, mehrdeutig fließend verläuft, abseits vom hierarchischen Konzept der Beugungen und strikten Regeldirektiven. Gleichwohl Nietzsches Abrechnung mit der ontologischen Verblendung der Philosophie und ihrem "Mißverständnis des Leibes" die Fröhliche Wissenschaft ausdrücklich als ein "jasagendes Buch" versteht, sind die Aporien und Ambivalenzen der "gaya scienza" kaum zu übersehen. Auch wenn die Fiktionalisierung der Wahrheit in der "Zeichen-Convention" der Sprache die neue "Heiterkeit" der Nietzscheschen Reflexion zum Sprechen bringt, konfrontiert bei Nietzsche das Befreiungspotential vom Tod Gottes die Destruktion der moralischen "Entwertung des Lebens" einer Schockerfahrung, die mit der Zerstörung der "metaphysischen Hinterwelten" das "werteschaffende" Ich immer wieder einer leeren Offenheit aussetzt und im Gegenzug einer neuen Moral des "Übermenschlichen" zutreibt. Die Anstrengung dieser Auflösung der Wahrheits- und Moral-Koordinaten sowie des Ausbruchs aus dem Erkenntnislabyrinth und dem Zirkel des Gesetzes wird in der Meeres-Metaphorik der Fröhlichen Wissenschaft als eine Psychonautik von Aufbruch, Wagnis und Gefahr thematisiert, wobei sich die melancholische Spur des Verlusts der tradierten Metaphysik in der Rhetorik des Aphorismus als einem Instrument methodischer Introspektion bricht. In den Überwindungsfiguren dieser Rhetorik schärfen sich Entgrenzung und Einsamkeit, Pathos und Passion zu einem Ort der Obsession, an dem Nietzsches "physiologische" Entthronung des Götzen Metaphysik einer gottlosen Sprache den Weg zu bahnen hofft, einer Sprache, in der zumal das dichterische Subjekt der Moderne den toten Gott zu beerben hat. Nietzsche benennt wohl am schonungslosesten die Last einer Existenz nach dem Zerfall des ethikotheologischen und vernunftteleologischen Überbaus, die mit der Verwandlung der Zeugenschaft des "alten Gottes" zum "großen Auge" der Introspektion einer inquisitorischen Praxis erliegt: einer Vivisektion der Selbstbeobachtung, die, nach außen projiziert, zugleich aufs engste der Diagnose des zivilisatorischen Status quo korrespondiert: "verurteilt zu dir selber", "zur eignen Steinigung", und zur "Heilung aus dir selbst". Mit dieser Odyssee im Labyrinth des gottlos-gottfixierten Subjekts im 19. Jahrhundert und seiner Epochensignatur des Übergangs öffnet sich die Szene des poète maudit zur exzentrischen Bahn des Ästhetischen: zu konstatieren an Heines "großem Weltriß", der die "ganze Janitscharenmusik der Weltqual" im Innern des geschundenen Selbst zum Klingen bringt; beschwert von der Bürde des "Dichtermärtyrtums", "jakobinisch unerbittlich die Gefühle zerschneiden" zu müssen; zu konstatieren an Baudelaires zwischen "animalité" und "spiritualité" entfesseltem Drama von Exzeß und Exorzismus mit dem Einbruch der schlechten Unendlichkeit des "ennui"; zu konstatieren schließlich auch an der Bedeutung des Schmerzes als analytischem Erkenntnismedium bei Nietzsche. Und auch das gehört zum Drama des poète maudit, dass der Künstler als Dichter und Philosoph mit den Masken des Dandys, des Märtyrers, des Narren oder des Bürgerschrecks zwar eine Gesellschaft attackieren kann, in der sich das Ideal des genus humanum zur Masse und "Herde" entzaubert hat, gleichwohl aber gezwungen ist, die Wunde seines sozialen Exils destruktiv nach innen zu treiben. Die Rolle des Körpers und der diätetischen Bändigung in den zahlreichen Krankheits- und Genesungschiffren dieses künstlerischen Wechselspiels von Schwermut und Sarkasmus lässt vielleicht am besten erkennen, mit welchen Mitteln (etwa der temporalen Ruptur und der aphoristischen Ellipse) Heines, Baudelaires und Nietzsches Textsequenzen des Wahnsinns, des Schmerzes, der Einsamkeit, der Halluzination und des Hasses die ästhetische Immanenz und den philosophischen Diskurs als Minen der Desillusionierung sprengen, um dem neuen Sensorium des Schocks standzuhalten: dem Schock der industriellen Lebenswelt ebenso wie dem Schock der künstlerischen Konfrontation im gesellschaftlichen Abseits. Nietzsches Zarathustra verlangt eine Lektüre gegen den Rezeptionsschutt des Ressentiments. Verstellen doch trotz seriöser Exegesen immer noch philiströse Kurzsichtigkeit und vitalistische Borniertheit den Blick auf ein Werk, das - aufgrund seiner Funktionalisierung zum Steinbruch aphoristischer Beliebigkeiten - oft mehr die Vorurteile seiner Leser- und Nichtleser aufdeckt als seine eigenen Intentionen. Dass Nietzsches "Buch für Alle und Keinen" das Gesetz der Diskursscheidung zwischen Philosophie und Literatur ignoriert und übertritt, macht seinen Rang aus. Kann doch mit Blick auf das Fragile seiner aphoristischen Textur und deren zentrifugale Tendenzen das Unternehmen Zarathustra aus der Intention heraus gedeutet werden, auch und gerade nach der Destruktion der metaphysischen Trinität von Gott, Wahrheit und Sprache weiterzusprechen. Dabei resultiert die poetische Rhetorik des Werks aus dem Wagnis, sich von der philosophischen Argumentationslogik zu befreien, ohne an Stringenz zu verlieren, mehr noch: um an Stringenz zu gewinnen. Zum adäquaten Stilmittel dieser Überschreitung und ihres Balanceakts wird dabei die Figur der Metapher unter drei Aspekten: als poetische Transformation des Begriffs; als Medium der Einigung des Disparaten; als Verschränkung von Sagen und Nichtsagen. Dieses poetische Organon macht zugleich einen zentralen Motivstrang des Zarathustra erfahrbar: den der Umwertung und Auflösung der Moral-Koordinaten von Gut und Böse, von Schuld und Versagung und ihrer raumzeitlichen Metaphorik des Oben und Unten, des Früher und Später in den Verwechslungen der Gleichnisrede. Eine solche Lesart kann das Verständnis fördern, warum sich die heroische Attitüde Nietzsches in der "azurnen Einsamkeit" des Monologs bricht und warum sich dieser Monolog selbst immer wieder zum gestischen Körper des Wanderers und seiner Melancholie verdichtet. Vor allem aber kann eine solche Lektüre für jene Zwischentöne sensibilisieren, mit denen die Sprache des Zarathustra die Lehre vom Übermenschen und den Gedanken der ewigen Wiederkunft spricht, um den Zeitzwang des diskursiven Begriffs mit der poetischen Suspension des Augenblicks ungeachtet aller Dissonanzen und Brüche zum Einstand zu bringen. Nietzsches provokantes Diktum: "als ob Moral übrig bliebe, wenn der sanktionierende Gott fehlt!", schärft mit rückwirkender Prägnanz den neuralgischen Punkt jener Fatalismus-Phobie, die die Entmächtigung und Auflösung der göttlichen Sinninstanz um 1800 bestimmt. Zugleich entäußert sich die Erosion der Vernunft- und Wahrheitsgründe des ethikotheologischen Weltmodells zur Dynamik eines Sogs, in dem sich Faszination und Schrecken mischen und neben der Angst des Verlusts das Wagnis einer neuen Freiheit aufscheint. Hegels geschichtsmächtige Theodizee der Immanenz, die der Melancholie des "Gott-selbst-ist-tot" aus dem säkularen Weltgeistmodell eines "spekulativen Karfreitags" heraus antwortet, steht als theologisch gesichertes Erbe noch abseits des Gottestraumas und Gottesdramas bei de Sade, bei Kant, Jean Paul und Hölderlin mit ihren ambivalenten Figuren des Schocks, des Aufbruchs und des Unbekannten, die nicht selten Radikalität und Beschwichtigung verschränken: Bei de Sade, dessen Apotheose des Verbrechens und der Demontage eines zum Vorurteil bagatellisierten Gewissens gerade seiner manischen Hasstiraden wegen an den "ridicule fantôme" einer absurden Gottheit gebunden bleibt (La Vérité; La nouvelle Justine; Histoire de Juliette); bei Jean Paul, der sich den Schauer des Atheismus nur im kathartischen Irrealis des Traums gestatten kann (Siebenkäs, „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“); bei Kant, der trotz seines erkenntniskritischen Transzendenz-Tabus das Prinzip des "moralischen Weltherrschers" zum regulativen "Als ob" und zum Postulat der praktischen Vernunft dekretiert [Kritik der reinen Vernunft (Transzendentale Dialektik, 2. Buch, 3. Hauptstück); Kritik der praktischen Vernunft (Dialektik der reinen praktischen Vernunft, 2. Hauptstück, V-IX)]; schließlich bei Hölderlin (Hyperion; Patmos; Dichterberuf; Brot und Wein), der mit seiner kunstvollen Störung der Hypotaxe das theokratische Sinnverlangen des Urteils in Frage stellt und seine Dichtung einer Offenheit zwischen Götterferne und Götternähe aussetzt. Schlegels Ironisierung der Form, Schopenhauers Reflexion zur Aufhebung des Satzes vom Grund, Kierkegaards Relation zwischen dem "Plötzlichen" und "Gesetzlosen", Baudelaires Strukturgesetz der Ruptur, Nietzsches sardonisches Lachen: in ihrer Subversionsarbeit verdichten sich diese Motive zum Abgesang auf das Ende der teleologischen Idee. Wagners und Nietzsches antiteleologische Tendenz zeigt sich bei Baudelaire in der Umwertung der moralischen Zeitordnung, z. B. im Gedicht Abel et Caïn aus den Fleurs du Mal, oder in der Umkehrung der Utopie, so in Un Voyage à Cythère. Es geht darum, mit den Urteilen Gottes Schluß zu machen, indem der Kontext von Zeit - Diskurs - Moral - Finalität und Urteil gesprengt wird. Demontage und Transformation des Hegelschen Systems ratifizieren eines der großen Konkursverfahren der Philosophiegeschichte. Geht es doch bei der Entmächtigung des transhistorisch Absoluten um eine Zersetzung des philosophischen Ideals selbst. So in Kierkegaards Erstlingsschrift Entweder-Oder von 1843. Sie unterläuft im Maskenspiel der Pseudonyme die strenge Arbeit des Gedankens durch aphoristische, romanhafte und essayistische Strukturen, die sich im Bündnis mit der Absage an transsubjektive Entlastungsinstanzen jeglicher Couleur zu einer Reflexionsarena im Zeichen des Interessanten und Paradoxen formieren. Von dieser Zerrüttung der vernunftteleologischen Konzeption und ihrer Homogenitätsgarantien her ist Kierkegaards Entweder-Oder als ein frühes Dokument der Zerrissenheit im Asyl der Moderne zu verstehen: als ein virtuoser Exkurs über Zeit und Zeitlichkeit. Deren dämonische Präsenz im Formenkreis des Erotischen und Tragischen unter dem Bann von Schwermut und Verzweiflung beschreibt zusammen mit ihrer diätetischen Bändigung die Kontrastbewegung zentrifugaler und zentripetaler Lebenskräfte. Die Erschütterung dieser De- und Rezentrierung aber liegt im offenen Versuch, ob der Auflösung des traditionellen Identitätssubjekts im haltlosen Lebensdrama von Zufall, Zerstreuung, Langeweile, Lebensekel, Vergänglichkeit und Tod ein ethischer Gestus antworten kann, der die Gattungsspur von Geschichte und Freiheit als souveränen Entwurf in den Binnenraum des je eigenen, individuellen Daseins einzieht, um die exzentrische Bahn von Kierkegaards "ästhetischer Existenz" in einem ethischen, gar religiösen Selbst zu stabilisieren. Gesagtes / Ungesagtes "Die Grenze] wiederum besteht darin, daß der Denker sein Eigenstes selbst nie sagen kann. Es muß ungesagt bleiben, weil das sagbare Wort aus dem Unsagbaren Bestim- mung empfängt." Martin Heidegger „Im Gesagten bleibt immer etwas ungesagt.” Zhuangzi Dem durch Profit- und Optimierungswillen geschulten Einverleibungs- und Selbstbehauptungshabitus des Ego fällt es schwer, Nähe und Ferne in ihrer Eigenständigkeit wahrzunehmen und zuzulassen. Mit der Tendenz zur Pleonexie, zu der schon von Platon und Aristoteles kritisierten πλεονεξία als dem Drang zu einem ständigen Mehr-und-mehr-besitzen-Wollen, wird jeder zum Besatzer seiner selbst: Ein vom Besitz Besessener, dazu angehalten zunächst einmal sich selbst zu besitzen. Ausgesetzt der Dauerrhetorik von Akkumulationsappellen wird die Gelassenheit des Unterlassens zur schweren Kunst. Besatzer wie Besitzer heißen im Griechischen nicht umsonst despótes (δεσπότης). Wie soll dem Willen zur Effizienz, der von der Verwertungsmaschine Welt dazu angehalten wird, Beute, Gewinn zu machen, das Unverfügbare begegnen? Wie inmitten der Abbildmanie des Visuellen und der Nachrichtenflut der Information das Undarstellbare? Wie inmitten des Übermaßes an Zeichen und Botschaften das Ereignis? Kann sich Leere noch ereignen, das Leerwerden, die kénosis (κένωσις), wenn die Differenz zu dem, was ist, zunehmend verschwindet und mit ihr die Distanz zu einer omnipräsenten Mediendominanz? Philosophie und Kunst als Entwürfe einer immanenten Transzendenz haben einen schweren Stand. Das Nutzlose als Fülle des Nichts bleibt verkannt und bedeutet kaum mehr als pure Provokation. Dazu kommt, dass die philosophische Begrifflichkeit und ihr Anspruch des Begreifens immer noch überwiegend auf dem System der zweiwertigen Logik und ihrer grammatikalischen Bahn basieren. Sie stabilisieren die Kriterien der Schlüssigkeit, des Richtigen und Falschen, sie setzen Widersprüche in Szene, stabilisieren sie oder lösen sie in neue Gegensätze auf. Ein Instrumentarium, angemessen einem Subjekt, das noch als Subjekt eines jeden Aussagesatzes seine Objekte prädikativ in Gang hält. Wie sehr indes trotz aller Differenzierungskünste eine vom Logos apophantikos der Aussagelogik gesagte Welt immer auch eine versagte Welt ist, hat nicht erst Heidegger bewusst gemacht. Schon Nietzsche sensibilisiert dafür, dass die erkenntnisprägende Gesetzgebung der Aussagelogik, ihre Satz- und Besatzungstechniken, der Moderne nur unter Vorbehalt angemessen sind, mag ihr Geltungsanspruch auch noch so selbstbewusst auftreten. Der Hellhörigkeit für die Bestätigungs- und Abwehrrhetorik des Begriffs, seine Zu- und Abschreibungen, bleibt das sophistische Element im gängigen philosophischen Diskurs unüberhörbar. Dass die Gedanken bereits „ihrer reinen Form, der logischen Stringenz” nach ‹unfrei› sind, „Zwang, dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Denkenden, der es erst durch Konzentration sich antun muss”, verweist bis in den wissenschaftlichen Regelkanon hinein auf die Nötigung des Denkens, das ‹abwürgt›, „was nicht in den Vollzug des Urteils hineinpaßt” (Adorno, Negative Dialektik, GS 6, Frankfurt am Main 1973, S. 232f.). Kommt die Tiefe des aussagelogisch Nicht-Fassbaren, Unwägbaren demnach erst zum Vorschein, wenn sich die „Idee der Logik [...] im Wirbel eines ursprünglicheren Fragen [auflöst]”?(Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, S. 37). In einem Purgatorium der Begriffslogik, eben weil die Logik, „la pure logique”, unfähig ist „à trancher les questions d’éxistence”?(Proust, Recherche, Le côté de Guermantes I, Paris 1954, S. 289). Denn „daß die Aussage der Ort für wird, ist mit das Befremdlichste in ihrer Geschichte, trotzdem uns das für geläufig gilt.” (Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main 1989, S. 358). Auch Sprache repräsentiert, unabhängig von ihrem idiomatischen Wandel, über die grammatikalischen Bahnen ein geschlossenes System, das das Gesagte im Gesagten zugleich versagt. Die Besatzungskraft des Satzes den Dingen und der Welt gegenüber, im Gesetz der Aussagelogik kanonisiert zur Satzung von Wahrheit, versagt im Gesagten vor allem die Erfahrung des Grundlosen, des Abgrunds, der Leere, des Nichts. Von dieser Besatzungskraft des Satzes als dem Gesetz und dem gesicherten Besitz von Ich und Welt zu entsetzen, den Satz zum Sprung werden lassen, um, so Heidegger, den Grund des Satzes zum Abgrund werden zu lassen, löst Unverständnis und Abwehr aus. So begegnen auch Heideggers Grenzgänge zwischen Denken und Dichten zumeist einer verständnislosen oder ironisierenden Abwehr. Eröffnen diese Grenzgänge doch von der Tradition der Philosophie her einen referenzlos abgründigen Diskurs, der die Netze und Fallstricke der Logik zu zerreißen beginnt. Die vom Satz des Widerspruchs regierten Dualismen werden kraftlos, in ihrer Rationalität irrational. Indem Sprache Furchen durch das logische Terrain legt und die Worte gegen die Regeln der Aussage bindungslos werden lässt, beginnt sie den Abgrund in Richtung einer Philosophie jenseits aussagelogischer Begrifflichkeit ahnen zu lassen. Heideggers Versuch, mit der Aussagelogik gegen die Logik der Aussage zu denken (vergleichbar Adornos Intention, „mit dem Begriff gegen den Begriff zu denken”), um die Metaphysik der zweiwertigen Logik und den Sinn-Sog, das Mikrotelos eines jeden ihrer Sätze zu zermürben und im "Wirbel eines ursprünglicheren Fragen" aufzulösen, führt zu einem Diskurs der Schwebe, der - vordergründig betrachtet - ein Bündel an Tautologien produziert. Dass das Ding dingt, die Welt weltet, das Ereignis ereignet und das Sein das Sein ist, sind Einsprüche gegen den aussagelogischen Zuschnitt des Begriffs, seine Macht des Zugriffs, des Aufschubs und der Übereilung. Deshalb geht es in Heideggers Denken immer auch um das Grundlos-Abgründige, um das Ungesagte als des Versagten, um das Unhörbare, schließlich um ein Denken der Sigetik, der Stille und des Schweigens. Für Heidegger ist der „Ab-grund“ als „Weg-bleiben des Grundes“ zugleich „Versagung des Grundes“. „Versagung aber ist nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüngliche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung.“ „Ab-grund ist die zögernde Versagung des Grundes“, in der sich die „Leere“ als „Lichtung“ zeigt und mit dieser „Lichtung“ zugleich die „Zögerung“ als Verbergung. So ist das „Wegbleiben des Grundes […] die erste Lichtung des Offenen als der . Die Leere indes ist die „Fülle des Noch-unentschiedenen“, das „Ab-gründige, auf den Grund, die Wahrheit des Seins, Weisende“. „Abgrund ist nicht das Nein zu jedem Grund wie Grundlosigkeit, sondern das Ja zum Grund in seiner verborgenen Weite und Ferne“. „Der Abgrund ist so wenig wie die zögernde Versagung; beides zwar, unmittelbar () gemeint, enthält ein , gleichwohl ist die zögernde Versagung das erste und höchste Aufleuchten des Winkes. Ursprünglich begriffen west in ihr freilich ein . Aber es ist das ursprüngliche Nicht, das zum Seyn selbst und somit zum Ereignis gehört“. [Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt am Main 1989, S. 379ff.] Was bedeutet nun aber Heideggers Entwurf des Abgrunds und des Ereignisses für den Bereich der Kunst? Wie wäre eine Kunst jenseits des Ideenrepertoires von Subjekt und Objekt, von Metaphysik und Humanismus zu denken? Und wie verhält sich Heideggers „Ereignis” zu Adornos Theorie des Nichtidentischen? „Je weniger gegenständlich gedacht, desto erscheinender (…) sind seine Werke“, notiert der späte Heidegger zur Malerei Paul Klees, einer Malerei, die Klee selbst unter die Devise stellt: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (Paul Klee, Schöpferische Konfession, S. 76.). Liegt in Heideggers Entwurf des Abgrunds und des Ereignisses demnach nicht ein äußerst gewichtiges Plädoyer für die sogenannte abstrakte Malerei? Ein Plädoyer auch für das, was Neue Musik heißt? (Vgl. Johannes Bauer, Das Ungeheure und die Gelassenheit. Martin Heideggers Nähe zur Neuen Musik) Nach Heidegger ist das Gründen und Begründen in Grundsätzen wie dem "Satz vom Grund" ein Charakteristikum abendländischer Metaphysik. Grundsätzliches aber geht auf einen letzten Grund, der selbst nicht mehr durch einen äußeren Grund begründbar ist. Gott als Ursache seiner selbst hat demnach nichts mit Gott zu tun, wohl aber etwas mit dem vorstellend begründeten Erklären der Metaphysik. Genau diesen zunehmend weltflüchtigen Gott beerbt das Subjekt der Neuzeit deshalb konsequent als Zentrum der Welt. So gründet der humanistisch verbrämte Anthropozentrismus im Streben nach absoluter Begründung und deren obsessivem "Warum?". Heidegger spricht in den Beiträgen von der "Sigetik" als einer Kunst und einer Art Metalogik des Schweigens (σιγή, σιγᾶν) im Unterschied zur tradierten Logik der Metaphysik. In Anlehnung an Heideggers Neologismus wäre auch an eine Kunst der "Rhegmatik" (ῥῆγμα) zu denken; an eine Destruktion der sich als organisch und homogen stilisierenden zweiwertigen Logik durch Risse und Nähte, durch ῥήγματα und ῥαφαί. In ihr ginge es nicht mehr um gerade Linien und Schnittpunkte, nicht mehr um ein Koordinatennetz der Effizienz, sondern um krause Verästelungen und Verläufe, um gekappte Verbindungslinien und offene Enden, um Rupturen, Ränder und Grenzgänge, die das logisch verknotete Gewebe auflösen – ähnlich wie Blitze Feuerrisse und Lichtnähte über den Himmel ziehen, ein fein ziseliertes Lichtgeäder, das plötzlich (ἐξαίφνης) unkalkulierbar zündet, "hereinbricht" (ῥηγνύναι) und in der Physiognomie der Welt für Augenblicke einen Riss, einen Bruch, eine Spalte, eine Kluft (ῥῆγμα, χάος, χανεῖν) aufbrechen lässt. Die metaphysisch inspirierte Logik inkriminiert Verstöße, die sie doch eigentlich erst ermöglicht. Verstöße, ob etwas zu früh kommt oder zu spät, ob etwas unbegründet, nicht ausgewiesen, nicht verknüpft ist. Sobald sich aber die Ordnung der Logik als Ordnung der Dinge unterschiebt, "erzeugen sich (…) Logik und Grammatik (…) eine Welt, in der sie recht haben" (Michel Serres).
- Kunst
Das Serielle der Serie inszeniert Verschiebungen im zeitlichen Mikrobereich. Eine Arbeit der Zeit mit der Spur des kleinsten Übergangs. Ein Kontinuum der geringsten Differenz, gleitend oder mit Sprüngen eines minimalen Dazwischen. In den Serien Warhols, On Kawaras, Opalkas oder Feldmans zeigt sich erst im äußerst fein geeichten Nacheinander so etwas wie eine Statik der Veränderung. Am Gewicht der Serie in der Kunst der Moderne lässt sich ablesen, dass ihre Intentionen weniger in der Einmaligkeit individueller Physiognomien als vielmehr in den Verschiebungen weg vom Besonderen einer unverkennbaren Gestalt liegen. Erst in der seriellen Reihung, im fließenden Rapport wird hinter der Folge des nahezu Gleichartigen die Spur des Unverwechselbaren fast schon als Arroganz ahnbar. Dass, wie Nietzsche konstatiert, die zeitlich aufgewendete Arbeit in Geistes- und in schöpferischen Dingen nicht unbedingt etwas über deren Substanz und Gelingen aussagt, belegt als frühes Beispiel die schnelle Produktionsweise in Turners Spätwerk. Keine noch so extensive Maldauer wäre in der Lage, die Qualität und das Momentum von Turners chromatischen Eruptionen zu überbieten. Der Ikonoklasmus der als "abstrakt" charakterisierten Malerei verweist auf keinen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Malerei erst zu Repräsentierendes. Wie die Neue Musik verwandelt auch die sogenannte abstrakte Malerei das Ideal des Schönen in einen Entwurf des Offenen, der die Ordnung des Realen perforiert und mit ihr eine säkularisierte Theologie des Sinns quer durch alle Lebensbereiche. Zu viel logisch codierter Sinn aber, zumal in der Variante einer funktionalistischen Sinnsättigung, verhindern die Erfahrung des Unverfügbaren als Unverfügbarkeit unserer selbst, einer Unverfügbarkeit, die nichts anderes bedeutet, als dass wir unserer selbst nie zur Gänze habhaft werden können, eben weil wir nicht der Grund unserer selbst sind.
- Mozart
Im Unterschied zum Ethos in Schillers Dramatik und Beethovens Symphonik, ihrer Ökonomie und ihren Affektfiltern im Dienst des Ideals sowie ihrer methodischen Stringenz setzt der künstlerische Eros Mozarts und Goethes auf eine Kunst der Verschwendung jenseits der Allianz von Ethik und Ästhetik. In Mozarts Musik geht es trotz aller melancholischen Facetten weit mehr um die Durchlässigkeit eines epikuräischen Stoizismus als um ein Standhalten unter tragischen Vorzeichen. Das "Corriam tutti a festeggiar" wird zum generellen Leitmotiv seines desintegrativen Formdenkens, deren sinnlich-strukturelles Motivrepertoire und seine Impressionen nicht sofort von der Regie des kompositorischen Ich nach den Regeln eines heroischen Charakters organisiert werden, vielmehr das flüchtige Ich allererst konturieren. Alles aber, was schon die Zeitgenossen an Goethes und Mozarts Lockerheit der Struktur, an ihrem verschwenderischen Umgang mit Einfällen und Gedanken kritisieren, sind Einwände seitens der Willensinstanz des ethischen Charakters. Wie Goethe kommt es Mozart darauf an, Vielfalt zuzulassen. Mozarts und Goethes Genius des Spiels setzt auf keine Letztbegründungen. Es gibt für Goethe und Mozart keine absoluten Werte, auch nicht die von Sprache und Wahrheit. Beide setzen auf Mischung, auf das Einlassen des Ungeschiedenen, Polymorphen. Genau auf jenes Moderne also, das Kritiker wie Wilhelm von Humboldt oder Hans Georg Nägeli monieren, dessen bürgerlich-philiströse Affektökonomie Mozarts "Geniefehler" rügt, "durch Kontraste zu wirken" und Mozarts "Stilunfug", seine "Züge einer widerwärtigen Stillosigkeit" anprangert. Nägeli vermisst an Mozart trotz dessen "Genialität" die "wahre Stilgröße", um diesen Makel schließlich aus "Mozarts Charakter und Lebensweise" abzuleiten: Mozart war "zu eilfertig, wo nicht zu leichtfertig, und komponierte, wie er war."[1] Ähnlich Humboldt, der in Goethes Wahlverwandtschaften "Schicksal und innere Notwendigkeit" vermißt, den Mangel an "poetischer Stimmung", um die prosaischen Tagesreste "in ein Ganzes gehörig zu verschmelzen"[2]. [1] Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung des Dilettanten, Darmstadt 1983, S. 157 ff. [Erstausgabe 1826] [2] Wilhelm von Humboldt an seine Frau, 6. 3. 1810. Entscheidend sind bei Goethe und Mozart die vermischten Genres, am offenkundigsten in Faust II und im Don Giovanni. Aber es gibt verdecktere Beispiele. Wer könnte etwa im zweiten Satz aus Mozarts G-Dur-Klavierkonzert KV 453 säuberliche Affektscheidung betreiben? Wird für Schiller und Beethoven die Entmischung relevant, der Rigorismus des Ideals als ein Ausscheiden, Abtrennen, Säubern, kurz: ein Kult des Reinen im Abspalten des Niederen vom Hochsittlichen, stiftet bei Mozart die komplexe Freiheit der einzelnen Elemente, die affektive Spannung des Einzelnen den Zusammenhang, ohne einem Zentralismus der Idee unterworfen zu sein. Eines der Mißverständnisse in der Rezeption Mozarts liegt in seiner Annäherung an Beethovens Ethos. Am deutlichsten zeigt sich dies im Unverständnis des "lieto fine" des Don Giovanni. Man will den tragisch-reinen Mozart des 19., nicht den komplexen, wandelhaften des 18. Jahrhunderts. So, wie d'Alembert von der zeitgenössischen Philosophie als von einer "Experimentalphysik der Seele" spricht; so, wie Goethe in Howards Ehrengedächtnis ein verstecktes atmosphärisches Gleichnis seiner Sprache entwirft, die des "Schleiers Falten sammelt, sie zerstreut, / Am Wechsel der Gestalten sich erfreut"; so, wie Diderots Beweglichkeit des Denkens gegen fixe Prinzipien den an der Bühne des Wirklichen orientierten Perspektivenwechsel propagiert, so liegt der Äther von Mozarts Imagination in der Logik des Subkutanen, im rhapsodischen Wechsel der Motive und Affekte und ihrer Verwandlung. Seine Rhetorik des Unerwarteten ist eine im Fluss diskreter Seelenzustände, auch wenn Mozarts Musik kein "Triebleben der Klänge" komponiert. Warum sind die experimentellen Szenarien und Versuchsanordnungen der Psyche wie in Così fan tutte oder den Wahlverwandtschaften samt ihren symmetrisch-asymmetrischen Konstellationen bei Goethe und Mozart denkbar, nicht aber bei Schiller und Beethoven? Weil der Triumph des Geistes und der Willensfreiheit narzisstisch gekränkt vor den Triebtableaus von Passion, Leidenschaft und Natur zurückschreckt? Bei Mozart und Goethe führt die Einsicht in die flüssigen Konturen von Person und Personalität ins Innere ihres musikalischen und poetischen Denkens. Der Wechsel und die Überlagerung der Affekte und Charaktere, ihre Fülle und Flüchtigkeit, korrespondieren insofern mit dem Bewußtsein des 18. Jahrhunderts, als hinter diesem Wechsel keine ethische Zentralinstanz steht, die ihre Souveränität erst durch die Beherrschung und vernunftgesteuerte Regie der Seelen- und affektiven Triebzustände beweisen muss. Es handelt sich dabei um jene spätaufklärerische Moderne, in der David Hume den menschlichen Verstand als eine rasante Folge von Eindrücken und Vorstellungen begreift. Als ein "Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen", die "einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind". Auch Mozarts und Goethes Intention liegt es fern, die poetische, die musikalische Komposition und ihr Geschehen an die deduktive Motivkandare zu nehmen. Die Parataxe des Geschriebenen und Komponierten soll durch kein monistisches Formgesetz voreilig gezähmt werden. Mit dieser Verweigerung einer straffen Direktive öffnet sich die ästhetische Konfiguration zur Freiheit des Paradoxes, Form ohne die Gewalt der Formung zu realisieren. Solche libertären Züge sind Programm bei den subversiven Aufklärern des 18. Jahrhunderts bis hinein ins Psychologische. Lichtenberg spricht von der menschlichen Seele als von einem "Chamäleon, das mit jedem Augenblick seine Farbe verändert"[1], indes der junge Goethe in persona auf Caroline Herder beinahe selbst "wie ein Chamäleon" wirkt. Und schließlich Diderot, der "im Verlauf eines Tages hundert verschiedene Gesichter" haben konnte, "je nachdem womit ich mich befasste. Ich war heiter, traurig, träumerisch, zärtlich, heftig, leidenschaftlich, begeistert". War es Spinoza, der die Unverfügbarkeit des Zufalls auf einen "Mangel unserer Erkenntnis"[2], auf die Überforderung eines beschränkten Verstandes zurückgeführt hat, dem die sich kreuzenden Kausalketten unmöglich als Ganzes fassbar sind, so kreisen die Schriften des von Goethe hochgeschätzten Diderot um den Zusammenhang aller irdischen, bis in kleinste, unbedeutendste Regungen hineinreichenden Wirkkräfte und um das Vergessen ebendieser verwickelten Kräfte in einer als Zufall kaschierten Unwissenheit. Diderot ist es auch, der die philosophischen Entwürfe von "Individuum" und "Subjekt" in die "Summe einer Reihe von Tendenzen" auflöst, eingebettet in den regulativen Kosmos der Natur, einer Natur der moralischen Indifferenz, in der sich Gut und Böse unentwirrbar vermischen und moralische Urteile fragwürdig werden. Wer sind wir denn, so Diderot, wir, die "wir immer wir selbst und doch nicht eine Minute lang dieselben sind"? ("Tout s'est fait en nous parce que nous sommes nous, toujours nous, et pas une minute les mêmes.") Überdies erinnert das Aussetzen der Tragödiendramaturgie im zweiten Teil des Faust an den Einspruch gegen ein tragisches Ende in Mozarts Dramma giocoso Don Giovanni. Don Giovanni - ein Dramma giocoso also und - trotz der Wiener Fassung von 1788 und ihrer eventuellen Streichung der Scena ultima - keine Opera seria. In Mozarts Werkverzeichnis findet sich gar das Wort "Opera buffa". Auf die Höllenfahrt des Verführers folgt das Schluss-Sextett nach dem Motto, "das Leben geht weiter". Shakespeare vergleichbar fügt sich Mozarts großes Welttheater keinem fixierten Gattungsbegriff und keiner Renditewirkung des Ethos. Mozart und Goethe dürfte die tragische Fasson des Entweder-Oder als pure Abstraktion vom komplexen Tableau der Welt- und Lebensbühnen erschienen sein. (Deshalb verwundert die Verwunderung Wolfgang Hildesheimers über Goethes Präferenz für Mozart als dem einzig denkbaren Komponisten des Faust.) Das Tragische ist ethisch fundiert, auch wenn es die Moral von Gut und Böse übersteigt und die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit sogar moralisch indifferent formulieren kann. Während Beethoven, zumal symphonisch, auf dem ethischen Tremendum der Läuterung insistiert, setzen Mozart und Goethe auf das ästhetische Tremendum des "Schauders", der laut Goethes Faust der "Menschheit bestes Teil" ist. Mozarts Musik kennt keine Erinnerung als rückwirkende Verklärung der Vergangenheit, wohl aber Präsenz, Verwandlung, Entschwinden und Wiederkehr. Dies hängt - wie bei Goethe - mit der Bedeutung des Jetzt in seiner Musik zusammen, die von keiner Sehnsucht nach einem verlorenen Ideal weiß, von keiner Vertröstung auf Künftiges und von keiner Verklärung des Vergangenen auf Kosten des Gegenwärtigen. Das tragische Zero wie etwa im ersten Satz von Beethovens Neunter Symphonie und deren Ideenpostulat in Richtung Finale ist Mozart fremd. Eher schon ist Mozarts Musik - von keinem Ideal des Sollens belastet - eine Art affektives und intellektuelles „Nullsummenspiel", das Lichtenberg für ein überaus "wichtiges Spiel" hielt, weil es ein Spiel ist, bei dem man weder gewinnen noch verlieren kann. [1] Lichtenberg, Schriften und Briefe III, München 1968, S. 577. Auch Goethe spricht von den Farben als einem "Urchamäleon" ständig wechselnder Metamorphosen. [2] Baruch de Spinoza, Ethik, Hamburg 1976, S. 35. [3] Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1971, S. 145f. Mozart und Goethe korrespondieren darin, dass sie unentwegt artistische Risiken eingehen, ohne abzustürzen. Die gewagten Wortnuancierungen im West-östlichen Divan und in Goethes Spätstil insgesamt sind der traumwandlerischer Sicherheit in Mozarts harmonischen Wagnissen zu vergleichen. Um für solche Wagnisse ein Ohr zu bekommen, genügt es an die kompositorischen Missgeschicke des Trivialen, Komischen und Lächerlichen zu erinnern, die Mozart im Musikalischen Spaß (KV 522) demonstriert. [Auf die Verwandtschaft zwischen Musik und Dichtung verweist übrigens auch Alfred Einstein: Mozart "übernahm eine fertige Sprache und sagte mit ihr, sie neu kombinierend, ihre Worte umdeutend, alt-neue und bekannt-unbekannte Dinge. So wie ein großer Dichter sich auch mit den fünfundzwanzig Lettern des Alphabets begnügt und keine neuen Wörter erfindet und dennoch das Ungeahnte sagt". (Einstein, Mozart, Frankfurt/Main 2005, S. 181) Wobei gerade im Fall Goethes von Bedeutung ist, wie sehr dessen Dichtung von Wortschöpfungen in untrennbarer Wechselwirkung mit der Imagination des "Ungeahnten" lebt. (Dazu: Johannes Bauer, „Gleichgebahnte Wege nach allen Seiten“. Goethes musikalisches Denken, in: Andreas Ballstaedt, Ulrike Kienzle, Adolf Nowak (Hg.), Musik in Goethes Werk. Goethes Werk in der Musik, Schliengen 2003, S. 89-113)] Ist Schillers Sprache wie diejenige Beethovens über weite Strecken investigativ, dann diejenige Goethes und Mozarts konfigurativ. Während bei Beethoven und Schiller oft genug das Argusohr der Überwachung und der Machinalisierung der Motive und Themen im Namen der ethischen Idee dominiert, setzen Mozart und Goethe auf den Gestus des Lassens. Das ist ihre Einsicht in das Verhängnis der Form und deren Moral und Unmoral. Wenn auch Form das "Glas" ist, "wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur an das Herz der Menschen zum Feuerblick sammeln", so hat doch "jede Form" auch "etwas Unwahres" (Goethe, Schriften zur Kunst).