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- Johannes Bauer, Abgründiges in Bachs Instrumentalmusik
Johannes Bauer "Alle unsere Fundamente bersten" Abgründiges in Johann Sebastian Bachs Instrumentalmusik Südwestrundfunk (2008) Blättert man in der unüberschaubar gewordenen Literatur zu Johann Sebastian Bach, stößt man auf ein Kaleidoskop von Bezügen, nur auf einen nicht: auf den zwischen Bach und Pascal. Nicht einmal auf eine sporadische Erwähnung des Philosophen in den Registern. Wie sollte man auch. Wurde Pascal nicht gut 60 Jahre vor Bach geboren, ein Franzose, ein Katholik, ein Jansenist? Und was Bach betrifft: Vermutlich hat er nie eine Zeile Pascals gelesen. Auch wenn jene Deutungsroutine weitgehend überwunden scheint, die geistesgeschichtliche Wahlverwandtschaft lediglich bei chronologischer Deckung zulässt: Immer noch werden zeitliche Übereinstimmungen verabsolutiert, mögen es oft genug auch nur solche dem Buchstaben nach sein. Würde man etwa auf eine exakte philosophische Zeitgenossenschaft zu Bach achten, noch dazu auf eine geographisch gestützte, müsste die Wahl auf den Hallenser Philosophen Christian Wolff fallen. Seine Lebenszeit weicht nur minimal von derjenigen des Komponisten ab. Und zweifellos ließen sich zwischen Wolffs Vernunft-Metaphysik und Bachs spekulativen Kompositionsverfahren Parallelen finden. Ob aber Wolffs Rationalismus bei einer Musik wie der folgenden weiterhilft? Bspl. 1: Bach, Präludium und Fuge e-Moll (BWV 548) Verstörender könnte Bach die Meisterschaft seiner kontrapunktischen Rationalität nicht unterbrechen als durch jene toccatenhaft irrlichternden Tonwirbel, die die Tektonik der e-Moll-Orgelfuge BWV 548 durchbeben. Quasi improvisatorische Passagen sprengen das Prinzip der Geschlossenheit und jede formal „prästabilierte Harmonie“. Und dies mit einer überbordenden Verve, die den Einsatz des Fugenthemas zweimal regelrecht überrollt. Die Einheit der Musik gerät an eine Grenze, die auch die philologische Auskunft von der Mischung fugaler und konzertanter Strukturen nicht ins Vertraute eingemeinden kann. Bach treibt hier Extreme ineinander, als sollten Form und Technik der Fuge auf ihre historische Gültigkeit und Belastbarkeit hin geprüft werden. Was aber ist es, das in diese Musik einbricht? Ist es die reine Spielfreude? Oder hat diese Irritation zudem etwas mit der Condition humaine der frühen Moderne zu tun? Entgegen den Geborgenheitssüchten der Bach-Gemeinde hatte Theodor W. Adorno schon 1951 das Klischee kritisiert, dem gemäß sich in Bach „mitten im aufgeklärten Jahrhundert nochmals die traditional verbürgte Gebundenheit, der Geist der mittelalterlichen Polyphonie, der theologisch überwölbte Kosmos offenbaren“ würden. Obwohl doch schon „die einfachste historische Reflexion [...] gegen das historistische Bild Bachs misstrauisch machen [sollte]. Zeitgenosse der Enzyklopädisten, starb er sechs Jahre vor der Geburt Mozarts, zwanzig nur vor der Beethovens“. Adornos Beharren auf der „Emanzipation des Subjekts“ in Bachs Musik lässt nach den Bedingungen dieses Subjekts in einer porös gewordenen theologischen Weltordnung fragen. Wie steht es demnach um die neue Diesseitsmündigkeit und um die ästhetische Reflexion ihrer Zumutungen und Wagnisse? Bachs kompositorische Grenzgänge und Entgrenzungen jedenfalls sind nicht zu überhören. Sie widerlegen den Einwand, so nochmals Adorno, „Bach habe [...] von jenem Zeitgeist [der Subjektivität] nichts erfahren als den Pietismus der Texte seiner geistlichen Werke“. Enthielt doch gerade der „Pietismus [...] die Kräfte derselben Aufklärung in sich [...], der er sich entgegensetzte. Das Subjekt, das [...] kraft reflektierter ›Innerlichkeit‹ der Gnade meint habhaft werden zu können, ist bereits aus der dogmatischen Ordnung entlassen und auf sich selbst gestellt, autonom in der Wahl der Heteronomie“. Einer der scharfsinnigsten Diagnostiker dieser Heteronomie aber ist Blaise Pascal. Nicht nur dass Pascals Reflexion einer Welt, die im Stand der Unerlöstheit auf Gnade verwiesen ist, mit protestantisch beseelten Bibelexegesen und markanten Motiven in Bachs Kantaten korrespondiert. Man denke nur an die Sujets der Weltentsagung und der gefühlsinspirierten Christusverehrung. Auch und vor allem Pascals Auseinandersetzung mit den Spannungen zwischen Vernunft, Gefühl und Glauben ermöglicht es, einige Züge Bachs besser zu verstehen. Sind es doch diese Spannungen, die die „Emanzipation des Subjekts“ in vielfältigen Varianten prägen; etwa als der von Pascal thematisierte Widerstreit zwischen „raison“ und „cœur“, zentriert um ein traumatisches Sinnbild der Neuzeit: um das des Abgrunds. Pascal und der Abgrund. Bach und Pascal. Aber auch Bach und der Abgrund? Lassen wir einmal die ausdrücklich zur Sprache gebrachte Abgrund-Thematik in Bachs Kantaten beiseite. Wie steht es mit dem Motiv des Abgründigen in Bachs Instrumentalkompositionen, einer Musik ohne Textprogrammatik also? Etwa in der Orgel-Fantasie G-Dur , deren hohes, von einem fünfstimmigen „Gravement“ getragenes Pathos im Stil französischer Orgelmessen über einem verminderten Septakkord auf cis jäh gestaut wird und nach einer Generalpause „lentement“ in einer endlos sinkenden Girlande von Arpeggien zerrinnt? Bspl. 2: Bach, Fantasie G-Dur (BWV 572) Wirkt die Reihung dieser gebrochenen Akkorde und ihre lose Verbindung durch zumeist harmoniefremde Töne nicht wie eine Verselbständigung des Formverlaufs, die den kompositionslogischen „Satz vom Grund“ nach und nach aufhebt und sich ins grundlos Abgründige zu verlieren droht? Bevor nämlich die äußerst dissonante Chromatisierung in einer Schlusskadenz aufgelöst wird, gleitet das Ostinato des Pedals sieben Takte lang abwärts. Mag der Bass danach auch auf dem Orgelpunkt der Dominante insistieren: seine Zugkraft bleibt wie ein unheimlicher Sog präsent, der das figurative Laufwerk unaufhaltsam nach unten zieht. Wird hier die Grammatik der Musik und mit ihr der Geist des Rationalismus nicht auf etwas Vernunftresistentes hin durchlässig, auf eine sich selbst überlassene Eigendynamik, die der formenden Kraft des kompositorischen Subjekts Grenzen setzt? Auch in Bachs Orgel-Fantasie g-Moll erzeugt die Pedal-Skala eine schlundartige Tiefenwirkung. Im Widerspiel der Bass-Region mit den gegenläufigen chromatischen Oberstimmen und ihrem machtvoll anwachsenden Stimmen-Crescendo spreizt die Komposition die Energielinien der Höhe und der Tiefe zu einer ins Offene aufklaffenden Klammer. Zusammen mit der leeren Mitte, die von der Expansion des Klangraums konturiert wird, entziehen diese Takte mehr als nur den tonalen Boden. Das rhetorische Mittel der Sequenz fordert hier unerbittliche Konsequenz: Eine unwägbare Drift in entlegene, tonikafernste Bereiche greift von g-Moll über f-Moll und es-Moll nach des-Moll aus. Durch ges-Moll, die folgerecht nächste Region mit der Vorzeichnung von 9b, wäre die Grundtonart endgültig aufgehoben, würde die Harmonie nicht abrupt nach g hin abgebogen: eine Grenzsituation, die durch ihr Wendemanöver in letzter Minute die schockhafte Verunsicherung der Hör-Erwartung freilich nicht aufheben kann. Bspl. 3: Bach, Fantasie und Fuge g-Moll (BWV 542) Der Abstieg in Bachs g-Moll-Fantasie ist Teil einer Dramaturgie extremer harmonischer Mittel, das heißt einer Dramaturgie chromatischer Rückungen und enharmonischer Umdeutungen, die ungeheure Modulationsstrecken raffen oder unkalkulierbare Richtungswechsel und Abweichungen der Tonart in Szene setzen. Und er ist Teil eines von Figuren der Musica poetica durchzogenen Labyrinths der Passionen, ohne dass diese Figuren programmmusikalisch zu entschlüsseln, gar mit sakralem Firnis zu überziehen wären. Bspl. 4: Bach, Fantasie und Fuge g-Moll (BWV 542) Bachs g-Moll-Fantasie - ihre hochchromatisch erhitzte, leidenschaftliche Rezitativ-Deklamation im Wechsel mit kontemplativ verinnerlichten, polyphonen Zwischenspielen; ihre nach der Ordnung von „Rede“, „Gegenrede“ und „Bekräftigung“ organisierte Faktur, die doch zugleich äußerst zerklüftet ist: durch solche Extreme erzeugt Bachs Musik eine unvermittelte Mitte zwischen Ratio und Emotio, die dem Abgründigen Raum gibt. Was aber Mitte und Abgrund in einer Zeit der Dämmerung des theologischen Dogmatismus bedeuten, lässt sich am prägnantesten bei Pascal erfahren: „Was ist denn schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu begreifen. [...] Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er gezogen ist, wie die Unendlichkeit, von der er verschlungen ist. Was bleibt ihm also anderes übrig, als dass er einen Schein von der Mitte der Dinge wahrnimmt, in ewiger Verzweiflung, weder ihren Anfang noch ihr Ende zu erkennen? [...] Das ist unser wahrer Zustand. In ihm sind wir unfähig, sicher zu wissen und absolut nichts zu wissen. Wir treiben über einen weiten Mitten-Raum dahin, stets unsicher und schwankend [...]. Wir verbrennen vor Sehnsucht, einen festen Ort und ein endgültiges bleibendes Fundament zu finden, um einen Turm darauf zu erbauen, der sich bis ins Unendliche erhebt; aber alle unsere Fundamente bersten und die Erde tut ihre Abgründe auf.“ So also sieht Pascals anthropologische Messung aus: der Mensch ein „être intermédiaire“, ein Mittelwesen, ein Wesen der Kontingenz, ein lebendes Paradoxon, ausgesetzt einem Kosmos, „dessen Mittelpunkt überall und dessen Umfang nirgends liegt“. Und immer wieder Pascals Rede von der unheimlichen Regie des Zufalls: „Der Zufall gibt die Gedanken, der Zufall nimmt sie. Es gibt keine Kunst sie zu bewahren oder zu erwerben.“ Der Mensch: für Pascal ein zwischen die Extreme des Unendlichen und des Nichts verspanntes Wesen, das in seinem Innern den Abgrund der Leere trägt. Wie aber wäre diese Leere zu ertragen, wenn nicht mit der Betäubungswut eines Divertissements, das Pascal unnachgiebig anklagt, weil es die Zerstreuungssüchtigen „sorglos in den Abgrund“ laufen lässt? Zumal doch diese Leere aus einem „Glück“ resultiert, das durch den Sündenfall vernichtet wurde, aus einem Glück mithin, „wovon uns nichts blieb als eine Narbe und eine große Leere, die der Mensch nutzlos mit allem, was ihn umgibt, zu füllen trachtet“. Indes kann doch „nur ein unendliches und unwandelbares Wesen [...] den unendlichen Abgrund erfüllen, das ist Gott selbst“. Der Abgrund der Leere und der Abgrund des Zufalls: zwei der schwindelerregenden Unergründlichkeiten in Pascals Gedankenwelt, die das zerbrechliche Zwischenwesen Mensch zum Sprung in den Glauben bewegen können. Natürlich wäre es unsinnig, Bachs abgründige Stellen illustrativ auf Pascal zu beziehen. So als wollte Bach mit religiöser Strenge die gnadenlose, rein aus sich zu bewirkende Souveränität des Subjekts in ihrer Ohnmacht entlarven und theologisch rückbinden. Weit mehr zeigt sich die pascalsche Ambivalenz des Subjekts bei Bach durch den religiösen Schatten hindurch als die Erkundung einer neuen Freiheit: Mit Blick auf jene beunruhigende und zugleich verheißungsvolle Vakanz, die ein zunehmend weltflüchtiger Gott hinterlässt. Eine Vakanz freilich auch, deren Erfahrung zwischen Aufbruch und Melancholie changiert. Faszination und Schrecken legieren sich, wenn die Transzendenz schwindet und im Bindungslosen die Sehnsucht nach vermeintlicher Geborgenheit aufkommt. Melancholie. Auch sie repräsentiert - zusammen mit dem Bodenlosen und Zufälligen, mit dem Sinnlosen und Triebhaften - eine Facette des pascalschen Abgrunds. Lässt indes nicht auch Bachs frühe a-Moll-Fantasie an eine melancholische, an eine melancholisch-sanguinische Konstellation denken, um mit Begriffen der alten Temperamentenlehre zu sprechen? Und dies in einer Musik rhythmisch-akkordischer Mikromotive, die trotz ihres Bindungsstrangs ungewöhnlich athematisch wirkt. In einer Musik, deren planlos schweifende Harmonien, entbunden zur Lethargie der Wiederholung, den schwermütig lastenden Ausdruck dieser Takte bedingen; den Ausdruck einer Stagnation, aus der erst ein wie besessen nach oben drängendes Impulsostinato befreien kann. Bspl. 5: Bach, Präludium (Fantasie) a-Moll (BWV 922) Eine ähnlich exzentrische Bahn der Abschweifung beschreibt die disproportionale Cembalokadenz im ersten Allegro des Fünften Brandenburgischen Konzerts . Dieser 65 Takte lange solistische, oder sollte man besser sagen: solipsistische Parcours mit seinen capriccio- und toccatenhaften Zügen entbindet das Gedächtnis nach und nach vom Motivrepertoire des Satzes. Passagen eines Diskurses an der Peripherie des Diskurses beginnen frei zu flottieren, Passagen, deren Kaskadenbrandung samt Gegenwendung an den Tiefen- und Höhenexkurs der a-Moll-Fantasie erinnern. Nach dem Taumel des Abstiegs und dem darauf folgenden mühsamen Aufstieg verbeißt sich das Cembalo obsessiv in die Festigung der horizontalen Balance auf dem Orgelpunkt A, bis die Reformulierung der thematischen Substanz und die Rückkehr ins Orchestertutti der Sukzession wieder Halt geben. Bspl. 6: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5 (BWV 1050) Bachs kompositorische Randgänge wirken umso verstörender, je unvermittelter sie innerhalb eines oft engmaschig vernetzten Tonsatzes Raum greifen. Es sind vor allem Bachs tiefenperspektivische Skalen, die im Zeitalter des Rationalismus das Andere, Dunkle der Vernunftsymmetrie samt ihrer Erschütterung durch die Asymmetrie der Affekte ausloten. Der Abstieg in die Katakomben des Geistes und der Seele jedoch ist so vielgestaltig wie jene Exkursionen in die Fundamentbereiche, die die jüngeren Zeitgenossen Bachs und die frühen Tiefenforscher der Generation nach ihm unternehmen. Laurence Sternes „Grundwasserstrom“, Giambattista Piranesis Carceri , Johann Georg Hamanns „Höllenfahrt der Selbsterkenntnis“ oder Georg Christoph Lichtenbergs Traumexegesen sondieren mit ihren Bohrungen in den Triebgrund des Geistes die Brechung der gottverklärten Vernunft im Spiegel irdischer Leidenschaft. Das Ich erprobt den Blick an der Nacht des Unbewussten, an dem also, was schon Leibniz die „dunklen Vorstellungen“ nennt. Es ist dieser Reiz des bislang Verfemten und Rätselhaften, der auch Bach fasziniert. Etwa im a-Moll-Präludium BWV 894 , das nach einer dicht gearbeiteten Durchführung wie selbstvergessen in virtuose 32stel-Passagen ausufert: Bspl. 7: Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894) Nicht anders das Spiel der sich kreuzenden Hände im zweiten Teil der Giga aus Bachs B-Dur-Partita , das sich einem Gefälle aus verminderten Septakkorden überlässt, bevor ein gegenläufiger Motivimpuls die Musik wieder festigt. Bspl. 8: Bach, Partita B-Dur, Giga (BWV 825) Weit ausladender und mit einem kühnen Schematismus hat Bach das Modell aus der B-Dur-Partita im frühen g-Moll-Orgel-Präludium durchgeführt. Hier gleitet eine Sequenz aus verminderten Septakkorden mit selbstläuferischem Eigensinn durch alle zwölf Töne der chromatischen Skala abwärts. Erst der Dominant-Orgelpunkt wendet einen Abstieg, der seine Drift gegen Ende durch verkürzte Stufenwechsel beschleunigt, wieder zum lebhaft figurierten Aufstieg. Mögen sich auch Anfang und Ende der Sequenzkette in der Dominante treffen: die Beharrlichkeit der lückenlos durchmessenen Stufenfolge gerät zur Faszination am Material und seinem enharmonischen Verwandlungszauber, unbekümmert um die Kategorien von Vielfalt und kompositorischer Meisterschaft. Bspl. 9: Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535) Es war August Halm, der solche Stellen mit dem Begriff einer „passiven Musik“ zu fassen suchte. Trotz der Hochschätzung dieser von Halm auch „selbsttätig“ genannten Musik als eines kompositorischen Kontrasts war die Ratlosigkeit anlässlich der soeben gehörten Takte des g-Moll-Präludiums beträchtlich. Was das Ungewöhnliche, nicht zu Kategorisierende an Bachs Musik ausmacht, lässt sich an Halms Wortwahl ablesen. Etwa wenn von einer „Geduldsprobe für den Zuhörer“ die Rede ist und davon, dass Bach hier „zu viel getan oder vielmehr zu viel geschehen lassen“ habe. Oder wenn die Sequenz nach einem „Maß“ beurteilt wird, das „abschreckt“, das heißt nach einem Maß des Maßlosen, das kein „Entrinnen“, keine „Gnade“ kennt. Unter dem Eindruck des ›Einförmigen‹, ›rein Mechanischen‹, ›Langatmigen‹ schließlich dann Halms Frage, „ob Bach hier nicht mit einem Experiment verunglückt“ sei. Ist es demnach wirklich zu gewagt, bei einer Musik wie der des g-Moll-Präludiums von einer delirierenden Passage zu sprechen? Sofern man Delirium, der Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts entsprechend, als eine Symptomatik der Abweichung versteht, als eine Abweichung von der „lira“, von der Furche, vom gebahnten Weg? Delirium also als ein „de lira ire“, als ein Verlassen der geraden Linie? Auch im g-Moll-Präludium sinkt die Musik ins Ungewisse unterer Regionen ab. Auch hier streift sie die Nähe der Kontemplation zur Melancholie und zum Wahnsinn, wie ihn das Jahrhundert der Logik, das siebzehnte, in einer weiten Bedeutung der Befunde zu fassen suchte: nämlich als einen Ausfall an Zielgerichtetheit. Rückerinnerung und Vorahnung verlöschen. Die Wahrnehmung bleibt punktualisiert im Gegenwärtigen gefangen. Sofern personale Identität aber Rückkehr zu sich selbst verlangt, macht der Zustand des Insichversunkenseins laut Hegel das „Allgemeine in jeder Art von Verrücktheit“ aus. Natürlich ist Bachs Musik der Abweichung keine des Wahnsinns. Wenn aber der Irrsinn, der geplant irrende Sinn der Musik - oft genug ohne Motivbindung an den Kontext des Satzes - die koordinierende Einbildungskraft aufweicht, dann reflektieren solche Verfahren immer auch den Konfusionsschock des neuzeitlichen Subjekts und seine wechselhafte Befindlichkeit der Seele. Seit der Spätscholastik muss die christliche Offenbarung durch innerweltliche Sinnentwürfe beerbt werden, vorrangig durch die Anverwandlung der göttlichen Attribute von Allmacht und Allwissenheit an die Souveränität eines Subjekts, das seiner Methodenstrenge schließlich auch die Existenz Gottes unterwirft. Mag Descartes’ fundamentaler Zweifel zunächst nur umso solider einer gottfundierten Weltinterpretation zuarbeiten: Seine Courage einer philosophischen Gewissheitsradikalität wird zum Portal für den Einzug der Transzendenz in die Immanenz einer Welt, die in eine des Geistes und der Körper zerbricht. Von nun an wird dieser Bruch zur Wunde des Säkularisierungsprozesses und seiner geistsinnlichen Paradoxien. Und wieder sind es Pascals Pensées , die solche Paradoxien mit detektivischer Hellsicht aufspüren. „Welche Chimäre ist denn der Mensch! Welche sonderbare Erscheinung, welches Chaos, welcher Gegenstand des Widerspruchs! Richter über alle Dinge, schwacher Wurm von Erde, im Besitz des Wahren, voll von Ungewissheit, Preis und Auswurf des Universums! Wenn er sich rühmt, erniedrige ich ihn, wenn er sich erniedrigt, rühme ich ihn und widerspreche ihm immer, bis er begreife, dass er ein unbegreifliches Monstrum ist.“ Um Paradoxes geht es auch in Bachs Chromatischer Fantasie . Um das Paradox, Form ohne die Gewalt der Formung zu realisieren, und um die paradoxe Vermittlung von satztechnischer Konstruktion und expressiver Wirkung. Verwundert es noch, dass auch die Klangwogen der Fantasie kurz nach Beginn sturzartig absinken und den Tonraum vertikal ausloten? Bspl. 10: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll (BWV 903) Nach dem flüssigen Toccata-Ton dann eine zerklüftete Melodik mit rasch wechselnden Einfällen und bizarrer Überraschungsharmonik. Indem Bach den Kadenzteil der Fantasie zum wortlos opernhaften Vokal-Rezitativ auflädt - hochchromatisch, mit Seufzermotiven, enharmonischen Coups und furiosem Reißwerk - komponiert er eine sprechende und doch von jeder verbalen Einengung befreite Szene mit breiter Affektnuancierung. Bspl. 11: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge Mag die ebenso melancholische wie schmerzhaft erregte Klage der Fantasie auch relativ konstant bleiben: Der Kontrast zwischen Toccata- und Rezitativ-Teil sowie die Affektschattierungen innerhalb des von Laufwerk und ariosen Einschüben durchsetzten Rezitativs lassen im Ausdruck des Umherirrens bereits ein Epochenthema der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anklingen. Nämlich das Thema von der Flüssigkeit des Subjekts - ein Projekt vor allem der um 1710 geborenen Generation eines Diderot, Hume oder Sterne. Abgesehen davon, dass auch Pascals Pensées aphoristisch angelegt sind, sprunghaft, unmethodisch und angepasst ihrem Sujet, dem wandelhaften Ich: Nicht weniger als mit Pascals rhapsodischer Diagnostik kommuniziert das Wechselhafte und Flüchtige der Charaktere in Bachs Chromatischer Fantasie mit der Moderne jenes 18. Jahrhunderts, dem der Philosoph David Hume den menschlichen Verstand als eine rasante Folge von Eindrücken und Vorstellungen enträtselt; als ein „Bündel oder Kollektiv verschiedener Perzeptionen [...], die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind“. Wie von der vorgreifenden Vergangenheit Pascals, so fällt auch rückwirkend von der Ära Diderots her Licht auf Bachs Komponieren. Mit dem Ende der gottgegeben „absoluten, wahren und mathematischen Zeit“, die für Isaac Newton noch „gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand“ dahinströmt, beginnen Dauer und Kontinuität fragil zu werden. Was in Laurence Sternes Tristram Shandy die organische Erzählzeit zersetzt, basiert auf Modellen der Abschweifung und der Assoziation sowie auf massiven Kausalverstößen. Ähnlich nimmt sich in Bachs Chromatischer Fantasie die Macht der Formung im Kommen und Gehen der „Gemütsbewegungen“ zurück. Der barocke Zentralaffekt, seine Beständigkeit in Tonart und Charakter, wird brüchig, sobald Bachs rhapsodische Imagination das Fantastische der Fantasie entzündet. Sie ermöglicht eine Libertinage der Einbildungskraft, deren losgelassene Sprache das Subjekt in den Effekt seiner Affekte auflöst. Etwas wie eine Musik des Schaums wird hörbar. Eine ungebundene, diskontinuierliche Musik mit dem Verwandlungszauber des verminderten Septakkords und einem Fundus an Trugschlüssen und enharmonischen „Betrügereien“, die zeitgenössische Abhandlungen als ein Charakteristikum des Fantasie-Typus rühmen. Und es ist diese auf Unberechenbarkeit angelegte Musik, deren Zufallsspur uns wieder zum Motivkreis des Abgrunds zurückbringt. Bspl. 12: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge Und doch bleibt die Chromatische Fantasie jenem wohltemperierten System integriert, das den Transfer der Harmonien sichert und noch die gewagtesten Passagen in der tonalen Syntax verankert. Wie Pascal trotz seiner Bevorzugung der „raisons du cœur“ und ihrer gottempfänglich affektiven Kraft den klaren „Geist der Geometrie“ und des Verstandes für unabdingbar und die Symmetrie zum Ideal des seelischen Gleichgewichts erklärt, so wird auch das entregelte Rezitativ der Chromatischen Fantasie von einer äußerst durchdachten, wenngleich nahezu unhörbaren konstruktiven Balance getragen. Auch Bach organisiert den Strudel der Emotionen nach rationalen Kriterien, auch bei ihm schärft sich die Logik als Pathologik zu einer Logik des Pathos, die die Affekte erst zum Sprechen bringt. Deshalb sind es auch immer wieder austarierte Ordnungsmuster, die bei Pascal wie bei Bach zum Echoraum göttlicher Resonanzen werden. Verbirgt sich der entschwindende Gott womöglich in der planvollen Disposition und Ökonomie der Musik als einem seiner letzten Refugien? Bachs Chromatische Fantasie wird in ihrer konstruktiven Affektrhetorik zum Zeugnis für die frühe Geschichte und Passion des Subjekts, das Pascal in seiner Verspanntheit zwischen Vernunft und Leidenschaft diagnostiziert. „Im Menschen ist ein innerer Krieg zwischen der Vernunft und den Leidenschaften. Er könnte einigen Frieden genießen, wenn er nur die Vernunft ohne die Leidenschaften oder nur diese oder jene hätte. Aber da er beide hat, kann er nicht ohne Krieg sein, denn er kann nicht Frieden haben mit dem einen ohne im Krieg zu sein mit dem andern. So ist er immer geteilt und mit sich selbst im Streit.“ Was Pascal und Bach verbindet, sind ihre Messungen der Stimmungen und Verstimmungen und der Endlichkeitsfähigkeit einer auf potenzielle Allmacht verpflichteten Subjektivität, der der Glaube an die religiöse Transzendenz nicht mehr unverbrüchlich gegeben ist. Inmitten dieser wachsenden Jenseits-Verschattung aber konturiert sich die frühmoderne Conditio humana von Macht und Ohnmacht, von Steigerung und Sturz besonders drastisch. Es sind Bachs Abstiegs- und Aufstiegsfiguren, die eine symbolische Chiffre dieser Kondition liefern: Die Katabasis ins Abgründige und die Anabasis aus dem Abgründigen samt der zumeist orgelpunktartigen Konsolidierung der wiedergewonnenen Basis. Es handelt sich um Doppelungs- und Spaltungsfiguren, die sich im Formenkreis des Widerstreits zwischen Tätigkeit und Kontemplation, zwischen Divertissement und Melancholie brechen. So wie in Bachs Fünftem Brandenburgischen Konzert . In dessen erstem Satz nimmt eine 30-taktige Pianissimo-Partie, ausgehend von fis-Moll, die kompositorische Komplexität zurück, um sich vom Geist der variativen Arbeit und vom motivisch-thematischen Verbund zu lösen: ein eher statisches Feld, meditativ, motivmonoton, ziellos, eine schwebende Partie der Absence und der gestauten Zeit. Und auch hier wieder ein Absinken des Basses über 14 Takte bis zum Kontra-H, ein Absinken, das auch die Oberstimmen erfasst. Schließlich dann die Aufhebung des Sogs und deren Absicherung durch den Orgelpunkt auf E, kombiniert mit einer Aufwärtsbewegung in den Celli und im Cembalo. Kombiniert aber auch mit einer hochdissonant beginnenden, fast bedrohlich akzentuierten Trillerkette von Flöte und Violine als einer Art Tremor und Erzittern in der Tradition der Spannungsfiguren des „Stile concitato“. Die Musik spannt sich von innen her, chromatisch changierend, um den Zirkel der Sequenz in Richtung Ritornell und damit auf die Konsistenz des Satzes hin zu durchbrechen. Bspl. 13: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5, 1. Satz Vom Kontext her entschlüsselt sich die Enklave dieser getupften Klangfläche als ein Refugium des meditativen Habitus innerhalb einer Dramaturgie des operativen Geistes. Bachs Musik lässt ein, was die idealistische Philosophie als eine Störung der Einheit von Einbildungskraft und Verstand, als Gedankenflucht, gar als eine Überwältigung des Denkens durch den Gegenstand problematisieren wird. Ruhe, fern jeder produktiv verwandelnden Tätigkeit und Gedächtnisarbeit, wird im Fünften Brandenburgischen Konzert mit einer leicht melancholischen Färbung zur Disposition gestellt. Aber auch - inmitten einer schwindenden Transzendenz und darin Pascal wahlverwandt - mit einem Hang zur Leere. Auf welche Weise also kann der „Dieu caché“, der „verborgene Gott“, noch antworten? Und wie müssen die Sensoren und Sensorien beschaffen sein, um seine Winke und Zeichen zu empfangen? Pascals Erfahrung vom Universum jedenfalls lässt ahnen, wie der leere Raum auf Signale hin abgehört wird. „Le silence éternel de ces espaces infinis m´effraie.“ „Das ewige Schweigen der unendlichen Räume, das schaudern macht“, wird zu einer Art Detektor der negativen Stille in einer zunehmend entgöttlichten Welt. Erinnern wir uns, dass schon geraume Zeit vor Pascal und Bach in Gutenbergs Bibeldruck mit beweglichen Lettern das göttliche Wort in Silben- und Buchstabenkombinationen zerfällt. Und erinnern wir uns, wie Shakespeares Sprachspiele, seine berüchtigten puns, jede Verstandessicherheit in den Hinterhalt des Absurden treiben. Solche Erosionen durchsetzen die theologisch gerundete Erzählung der Welt mit den Rissen der Kontingenz. Und was die Aufklärung betrifft: je heller das Licht der Vernunft zu strahlen beginnt, umso dunkler werden die Schatten. Den Schrecken des Amorphen jedenfalls kann das allzu Geformte und Genormte am wenigsten verleugnen. Übrigens kommt auch Pascal an einer Stelle der Pensées auf die Orgel zu sprechen: „Man glaubt ganz gewöhnliche Orgeln zu berühren, wenn man den Menschen berührt. Es sind in der Tat Orgeln, aber seltsame, veränderliche, wandelbare, deren Tasten nicht nach den Stufen der Tonleiter angeordnet sind. Diejenigen, die nur auf den gewöhnlichen Tasten zu spielen verstehen, können keine Akkorde hervorbringen. Man muss wissen, wo die Tasten sind.“ Bach wusste es. Seine kompositorischen Grenzgänge legen Zeugnis davon ab, wie die „orgues bizarres, changeantes et variables“ zu spielen sind: gegen die Konvention und mit dem Ohr am „inneren Krieg zwischen Vernunft und Leidenschaft“, dem auch Pascal unentwegt nachgespürt hat. Denn, so der Philosoph Schelling, ein anderer Experte des Abgründigen: „Noch immer liegt im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden.“ Bspl. 14: Bach, Pièce d’Orgue G-Dur (BWV 572) Musikbeispiele Bspl. 1: Bach, Präludium und Fuge e-Moll (BWV 548) [Tr. 6, 1´26 - 2´39] [1´13] (Helmut Walcha) [Deutsche Grammophon 463 017-2] Bspl. 2: Bach, Fantasie G-Dur (BWV 572) [Tr. 9, 6´30 - 8´52] [2´22] (Helmut Walcha) [Deutsche Grammophon 463 017-2] Bspl. 3: Bach, Fantasie und Fuge g-Moll (BWV 542) [Tr. 10, 3´54 - 4´29] [0´35] (Helmut Walcha) [Deutsche Grammophon 463 017-2] Bspl. 4: Bach, Fantasie und Fuge g-Moll (BWV 542) [Tr. 10, 3´54 - 5´20] [1´26] (Helmut Walcha) [Deutsche Grammophon 463 017-2] Bspl. 5: Bach, Präludium (Fantasie) a-Moll (BWV 922) [Tr. 5, 1´30 - 3´05] [1´35] (Alfred Brendel) [Philips 420 832-2] Bspl. 6: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5 (BWV 1050), 1. Satz [Tr. 4, 7´51 - 9´43] [1´52] (Musica Antiqua Köln / Reinhard Goebel) [Archiv Produktion 431 702-2] Bspl. 7: Bach, Präludium und Fuge a-Moll (BWV 894) [Tr. 4, 4´20 - 5´00] [0´40] (Christiane Jaccottet) [Intercord 830.884] Bspl. 8: Bach, Partita B-Dur (BWV 825), Giga [Tr. 8, 1´21 - 2´03] [0´42] (Maria João Pires) [Deutsche Grammophon 447 894-2] Bspl. 9: Bach, Präludium und Fuge g-Moll (BWV 535) [Tr. 6, 0´59 - 2´21] [1´22] (Wolfgang Stockmeier) [Art & Music 20.1540] Bspl. 10: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge d-Moll (BWV 903) [Tr. 6, 0´00 - 0´58] [0´58] (Alfred Brendel) [Philips 420 832-2] Bspl. 11: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge [Tr. 6, 2´47 - 5´36] [2´49] (Alfred Brendel) [Philips 420 832-2] Bspl. 12: Bach, Chromatische Fantasie und Fuge [Tr. 6, 6´09 - 7´25] [1´16] (Alfred Brendel) [Philips 420 832-2] Bspl. 13: Bach, Brandenburgisches Konzert Nr. 5, 1. Satz [Tr. 1, 3´15 - 4´47] [1´32] (English Chamber Orchestra / Benjamin Britten) [DECCA 443 847-2] Bspl. 14: Bach, Pièce d’Orgue G-Dur (BWV 572) [Tr. 14, 7´47 - 9´43] [1´56] (Andrea Marcon) [Hänssler Edition Bachakademie CD 92.090]
- Datenschutz | jo-bauer-philosophie
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- Johannes Bauer, Subjekt und System in Adornos Musikästhetik
Im Angesicht der Sphinx Subjekt und System in Adornos Musikästhetik Les "blancs" en effet, assument l'importance Mallarmé, Un coup de dés , Préface Seit der spätnominalistischen Zersetzung des theologischen Ordo muß bürgerliche Rationalität dem Auflösungsprozeß der Transzendenz aus eigener Kraft standhalten: in welt- und immanenzträchtigen Sinnentwürfen, die das Telos christlicher Offenbarung zu beerben haben. Schon im "omnia ubique" des Nikolaus von Kues schwingt in antifeudaler Emphase jener Bewältigungsakt der frühen Moderne mit, der das Entschwinden des göttlichen Signifikanten mit dessen mundaner Omnipräsenz im Namen einer neuen Anthropologie zur Deckung zu bringen sucht.(1) Ihre gegen den Monotheismus eines absoluten Mittelpunkts gerichtete Intention entband das Partikulare vom Blick des hierarchischen Gefälles, ohne es ins Mindere oder Leere fallen zu lassen.(2) Das markanteste Phänomen solcher Säkularisierung repräsentiert wohl die Aufhebung der Suisuffizienz des summum bonum im Identitätsdogma neuzeitlicher Subjektivität. Dessen ästhetische Tragweite wird offenkundig, sobald das profanierte Theologumenon der causa sui seine Zeit- und Gedächtnisstrategien zur Wirkung bringt. Entwirft sich doch der Einheitsgedanke des Person-Begriffs in Korrespondenz zur Gattungsvernunft gemäß einer Fortschrittseuphorie, die als Allianz von Finalität und Ethos schließlich mit Beethovens Symphonik ihren musikalischen Höhepunkt als einen der bürgerlichen Kunst schlechthin erreicht. Was Kant als die innerste Zelle neuerer Mentalitätsgeschichte formuliert hat, die possessive Kontinuität des "Ich denke" , das "alle meine Gedanken (muß) begleiten können" (3), benennt als "durchgängige Identität des Selbstbewußtseins"(4) das ökonomische Fixum einer subjektzentrierten Zeit, der auch die Entwicklung der Musik seit dem stile rappresentativo bis in die jüngste Vergangenheit hinein verpflichtet bleibt: ihr Sprach- und Ausdruckscharakter ebenso wie die Telos-Dramaturgie ihrer Formen. Über den zerrütteten Status des Subjekts in der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts hat sich Adorno keine Illusionen gemacht. Gleichwohl verstehen sich seine musikphilosophischen Reflexionen als eine Gratwanderung zwischen der kompromißlosen Entzauberung des Subjektmonopols und dem Einspruch gegen eine defätistische Aufkündigung des Subjektmoments in einer bis zur potentiellen Nichtigkeit des einzelnen verwalteten Welt. Dieses Beharren Adornos auf dem Punkt einer radikalen Identitätskritik, die die Ethik idealistischer Provenienz überschreitet und dennoch an einem letzten Rest von Subjektethos im Zeichen des Mimetischen festhält, stellt der Musik der Gegenwart mit Blick auf das ästhetische principium individuationis eine ihrer entscheidenden Fragen: welche Auswirkung hat der Zerfall der subjektexpressiven Idiomatik auf die Möglichkeit zeitgenössischen Komponierens? Adorno hat stets moniert, das Verlöschen der Subjektspur als Hinfälligkeit und Gleichgültigkeit des Ausdrucks zu verbuchen, nie aber hat er restaurativ bezweifelt, daß die serielle und postserielle Musik das "Expressionsideal irreversibel überholt"(5) habe. So antwortet die "gegenwärtige Rebellion gegen das Subjekt" auf das Faktum, "daß die jüngste Geschichte, die fortschreitende Entmächtigung des einzelnen Individuums bis zur drohenden Katastrophe des Ganzen, den unmittelbaren Ausdruck von Subjektivität mit Eitelkeit, mit Scheinhaftem und Ideologischem überzogen hat. Das Subjekt (...) hat schließlich selber als ephemer sich entblättert. Während es so tut, als wäre es der Schöpfer der Welt, oder der Weltgrund, ist es, englisch gesagt, fake , bloße Veranstaltung dessen, der sich aufwirft, sich aufspielt, während an ihm real kaum mehr etwas liegt. (...) So wenig Musik, Kunst überhaupt, bar des subjektiven Moments gedacht werden kann - sie muß eben jener durch den Ausdruck sich bespiegelnden und damit allemal affirmativen Subjektivität sich entschlagen, die der Expressionismus geradewegs von der Neuromantik ererbte".(6) Subjektivität desillusioniert sich zur transitorischen Kategorie der Geschichte. Was Adorno deshalb als die "paradoxe Schwierigkeit aller Musik heute" eruiert, den "Verlust objektiv vorgegebener musikalischer Sprache", bedeutet für den Formenkreis des Postexpressionismus zunächst nichts Geringeres als den "Zwang", eine "eigene Sprache sich erst (...) schaffen" zu müssen, "während Sprache als seinem Begriff nach auch jenseits und außerhalb der Komposition Stehendes, als ein sie Tragendes, nicht aus dem puren Willen des Einzelnen sich schaffen läßt"(7). Daß die abendländische Musik seit der Organalpraxis der Notre-Dame-Schule und der frankoflämischen Kontrapunktik dem gesellschaftlichen Prozeß von Rationalität und Rationalisierung im Sinne Max Webers eng verbunden bleibt, hat den Materialbegriff Adornos entscheidend beeinflußt(8). Sofern nämlich Musik an der Aufklärung teilhat, an Geist und Kritik, bedingt das Anwachsen ihrer immanenten Reflexion als "Herrschaft über bloß Natürliches" und damit als Anwachsen ihrer "Subjektivierung und Humanisierung" zugleich ihre "Sprachwerdung"(9). Der "Sprachcharakter" von Musik ist daher Adorno zufolge seiner Genese nach "doppelten Wesens". Systematisch und transsubjektiv, wenngleich subjektoffen aufgrund seiner "Verfügung über das Naturmaterial", bleibt er substruktiv immer auch dem Erbe des "Vorrationalen, Magischen, Mimetischen"(10) verpflichtet. Indem jedoch die Versprachlichung der Kompositionen deren mimetische Qualität über eine zunehmende Subjektivierung und Psychologisierung in Konvention wie in Ausdruck verwandelt, ist der okzidentalen Musik damit ihr Widerspruch gesetzt. "Je mehr sie, als Sprache, den Ausdruck als Nachahmung eines Gestischen, Vorrationalen in die Gewalt nimmt und verstärkt, um so mehr arbeitet sie zugleich auch, als dessen rationale Bewältigung, an seiner Auflösung."(11) Mit der rigorosen Aufhebung des Idiomatischen um des "reinen, unverdinglichten, unvermittelten Ausdrucks willen" sieht sich die zeitgenössische Musik schließlich der Aporie gegenüber, des "Ausdrucks selbst nicht mehr mächtig" zu sein. Für Adorno bleiben deshalb Ausdrucksgestus, Sprachcharakter und Subjektspur der Musik untrennbar einander legiert. Entsprechend seiner Kritik am neuzeitlichen Wissenschaftsideal und dessen Leitdogma, Objektivität resultiere einzig aus der Eliminierung des Subjekts, gilt ihm als unverrückbar, "daß die Emanzipation der Musik von der Sprache jener nicht gelingen kann, indem sie (...) sich vermeintlich vorsprachliche Strukturen zum Modell nimmt und einbildet, es rede aus ihr das Sein, wenn nur das Subjekt aufhört zu reden"(12). Zudem ist Adornos Absage an den Mythos des Ersten jegliches Material immer schon vermittelt: sedimentiertes gesellschaftliches Bewußtsein im Rohzustand. Daher auch seine auf Marx reflektierende Zurückweisung jeglicher Art kompositorischer Materialvergötzung, die den "Gesetzen von Natur" zu folgen scheint, "während die Materialordnungen, die sich kosmisch gebärden, selber bereits das Produkt menschlicher Veranstaltungen sind (...). Verblendet erhebt man ein von Menschen Gemachtes zum Urphänomen und betet es an, der authentische Fall des Fetischismus"(13). Sind nach Adorno Kunstwerke das "verborgene gesellschaftliche Wesen, zitiert als Erscheinung"(14), dann führt, sofern das Wesen erscheinen muß, um mit Hegel zu reden(15), die Aura des Geistes der Kompositionen zu deren technischer écriture. Solche Akzentuierung der Faktur als der Matrix des Wahrheitsgehalts läßt mit dem Formalismus traditioneller Hermeneutik zugleich auch, indem sie Form als "sedimentierten und modifizierten Inhalt"(16) denkt, sämtliche Widerspiegelungstypologien einer Reduktion von Ästhetik auf Soziologie hinter sich. Das Gesellschaftliche der Kunstwerke ist vielmehr "nicht nur ihre Anpassung an auswendige Desiderate von Auftraggebern oder vom Markt sondern gerade ihre Autonomie und immanente Logik. Wohl erwachsen ihre Probleme und Lösungen nicht jenseits der gesellschaftlichen Normsysteme. Aber sie erringen gesellschaftliche Dignität erst, indem sie von diesen sich entfernen; die höchsten Produktionen negieren sie"(17). Gesellschaft manifestiert sich in den Kompositionen als fait social, um sich mit deren Autonomie zur Transzendenz gesellschaftlicher Empirie zu wandeln, zur Suspension von Naturbeherrschung durch äußerste Anspannung der ästhetischen Konstruktion. So kritisiert die mimetische Rationalität der Kunst die der ökonomischen Wirklichkeit als eine partikulare und irrationale selbstvergessener Mittel. Kunst als eine Praxis jenseits der Praxis dekuvriert deren realen Bann im "Einspruch gegen das Organisationsprinzip selbst, gegen Herrschaft über innere und auswendige Natur"(18). Adornos an der Struktur des Werks, seinem Zeitkern wie seiner Autonomie ausgerichteter Begriff einer Vermittlung von Musik und Gesellschaft kontrastiert deshalb Kunstsoziologien von der Fasson klarer Gesellschaftspositionen und Klassenstandpunkte vor allem als eine Absage an die Direktive der Aussage. "Die krude Zurechnung zu Klassen und Gruppen ist bloß assertorisch (...). Bis heute hat es Musik nur als ein Produkt der bürgerlichen Klasse gegeben, das in Bruch und Gestaltung die Gesamtgesellschaft zugleich verkörpert und ästhetisch registriert. (...) Vollends die privaten politischen Gesinnungen der Autoren stehen meist mit dem Gehalt der Werke bloß im zufälligsten und unmaßgeblichsten Zusammenhang."(19) Kehrt in "großer Musik" Gesellschaft wieder, so stets "verklärt, kritisiert und versöhnt, ohne daß diese Aspekte mit der Sonde sich trennen ließen". "Als dynamische Totalität, nicht als Reihung von Bildern wird große Musik zum inwendigen Welttheater"(20). So gilt der Beethoven des heroischen Stils Adorno zwar als der Repräsentant einer Musik, die in virtuoser Dialektik die Erzeugung des Formgesetzes aus Freiheit als deren Notwendigkeit suggeriert, nach Hegels Terminologie also Allgemeines und Besonderes zum Einstand zwingt. Um den Preis jedoch, aufgrund einer nahezu instrumentellen Brechung des Materials zugleich auch die Gewalt der Totale zu stabilisieren. Nach Adornos Theorem des Pakts zwischen Subjektivismus und Verdinglichung(21) führt die "Dynamisierung der ästhetischen Formen durch den Subjektivierungsprozeß" stets ein "Maßloses und Zerstörendes" mit sich. Denn "Form, die gänzlich vom formenden Subjekt in die Gewalt genommen ist, verewigt zugleich dessen Gewalttat. Das souveräne, seiner bloßen Naturbestimmung entrückte Subjekt ist ungebändigter Natur wahlverwandt; in der Autonomie kehrt die Barbarei wieder, die sie mit der Forke vertilgte, bei Beethoven wie bei Fichte. Daß die integral durchgestalteten Kunstwerke dem Schein von Organismen sich nähern, nähert sie zugleich dem brutal Naturwüchsigen"(22). Gesellschaftliche Widersprüche dokumentieren sich für Adornos ästhetische Diagnostik als Probleme der Form. Von deren Logizität her akzentuiert er in Perspektive auf den bürgerlichen Antagonismus von Dynamik und Statik auch den Reprisenfokus bei Beethoven(23). Basiere doch dessen Wahlverwandtschaft mit dem idealistischen Sublimierungskodex auf dem als Endzweck der Gattung projizierten bürgerlichen Prinzip von Ich und Arbeit und seiner ethisch legitimierten Aufspreizung zum absoluten: mit Ausblendung jener sozial unteren Sphäre, die Kants erkenntnistheoretische Konnotation von Sinnlichkeit und Pöbel verräterisch präzis bestimmt hat(24). Wird die Reprise "ebensowohl durch den dynamischen Verlauf herbeigeführt, wie sie ihn als sein Resultat nachträglich gleichsam rechtfertigt", so hat Beethoven "in dieser Rechtfertigung (...) tradiert, was dann unaufhaltsam über ihn selbst hinaustrieb. Der Einstand des dynamischen und statischen Moments aber koinzidiert mit dem geschichtlichen Augenblick einer Klasse, welche die statische Ordnung aufhebt, ohne doch selbst der eigenen Dynamik fessellos sich überlassen zu können, wenn sie nicht sich selbst aufheben will (...). Daß aber die immanente Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft diese sprengt, ist in Beethovens Musik, die höchste, als Zug ästhetischer Unwahrheit eingeprägt: was ihm als Kunstwerk gelang, setzt durch seine Gewalt auch als real gelungen, was real mißlang, und das affiziert wiederum das Kunstwerk in seinen deklamatorischen Momenten"(25). So rechnet Adorno das "formalistische Residuum"(26) der Beethovenschen Reprise fast ausnahmslos der Semantik von Affirmation, Zwang und Herrschaft zu, sofern es das "Resultat der Dynamik, des Werdens, als die Bestätigung und Rechtfertigung des Gewesenen"(27) präsentiere: mit einem Gestus, der den Akt der "Legitimation"(28) zuweilen der "Gewalt des repressiv Niederschmetternden"(29) verschränke. In der Reprise bleibe Musik somit als "Ritual der bürgerlichen Freiheit, gleich der Gesellschaft, in der sie ist und die in ihr ist, der mythischen Unfreiheit hörig"(30). Über Hegels Heteronomiekritik schärft Adornos Musikphilosophie die Konstruktion der Bewegung aus den Sachen gegen die Abstraktheit ästhetischer Dikta, indem sie mit der medialen Struktur der Phänomenologie des Geistes ernst macht und den "Vorrang des Objekts"(31) in Wahlverwandtschaft zu Nietzsches Gedanken vom "Leitfaden des Leibes"(32) seinem Naturgrund nach interpretiert. Hinterlassen die "Wunden des Geistes" bei Hegel keine "Narben"(33), bleibt für Adorno "Leiden auf den Begriff gebracht, stumm und konsequenzlos"(34). Gegen Hegels System-Macht des Vergessens(35) steht Adornos Eingedenken des Traumas und seine Insistenz auf dem sinnlichen Moment des Ausdrucks in der Tradition der Mnemosyne Hölderlins. Daß für Adorno "Synthesis (...) die Losung des Idealismus"(36) ausmacht, "große Musik" hingegen als "begriffslose Synthesis"(37) zu sich kommt, variiert diese Differenz im Spannungsverhältnis von Musik und Philosophie. Der erkenntniskritische Impuls, daß der Gedanke auf sein materiales Substrat verwiesen, "kein Sein ohne Seiendes"(38) sei, intendiert nichts Geringeres, als daß, was als Geist und Vernunft firmiert, seiner eigenen physischen Matrix innewerde. Wenn Adorno ästhetisches Verhalten einmal als die "Fähigkeit, irgend zu erschauern", als das "vom Anderen Angerührtsein" präzisiert, ein "Bewußtsein ohne Schauer" dagegen als das "verdinglichte"(39), setzt er die Motivtradition jenes frisson fort, den schon Goethes Faust als Lebenselixier des "Schauderns" preist: als Lysis eines tödlichen "Erstarrens"(40), dem der homo oeconomicus der Moderne im Kaltsinn des Kalküls und der Phantasielosigkeit verfiel. Konkretisieren läßt sich diese mimetische Spur wider das Pandämonium zerstörter Empathie an Adornos Strawinsky-Studien, die um den Befund von "Entseelung"(41) und Verdinglichung kreisen. Ob Strawinskys Kompositionen "objektiv falsches Bewußtsein" produzieren oder nicht; ob sie sich "mit dem Opfer" identifizieren oder "mit der vernichtenden Instanz"; ob sie womöglich gar eine "gelungene" Imago der "Entmächtigung des Subjekts" gegenüber dem "mörderischen Kollektiv"(42) repräsentieren, muß Adorno zufolge zunächst einzig von der Faktur und von der Erfahrung her geklärt werden, daß "etwas an Strawinskys Musik immanent nicht [stimmt]"(43). Stets nämlich "sympathisiert" das "ästhetisch Schlechte mit der Ideologie. Immanente Mängel von Kunst sind Male gesellschaftlich falschen Bewußtseins"(44). Die Bedingung kompositorischer "Transzendenz" - "daß sie in jedem Augenblick geworden ist und ein Anderes, als sie ist: daß sie über sich hinausweist"-, bleibt als "Einspruch gegen Mythos und immergleiches Schicksal, gegen den Tod selber" auch für eine Musik "im Stand objektiver Verzweiflung"(45) verbindlich. "Freiheit selbst ist ihr immanent notwendig"(46). Von dieser Sicht her hat Strawinsky die "musikalische Pflicht der Freiheit verleugnet". "Während vermöge der puren Zeitform seine Musik weitergeht (...), geht sie, als prinzipiell nur aus Wiederholungen montierte, nicht weiter. Ihr Gehalt verkehrt sich."(47) Strawinskys Repetitionen boykottieren Adornos Ausdrucksmodell nach die Vermittlung musikalischer Ereignisse und deren durch "Qualitäten des Vorher, des Nachher, des Jetzt und ihrer Relationen"(48) artikulierten Zeitverlauf. Wird Strawinsky die "Zeit selber, als bloße, losgelassene Vergängnis zum Unheil, und sie ästhetisch zu eskamotieren zum Phantasma von Rettung"(49), wäre im Unterschied dazu das "organische Ideal" der Musik "nichts anderes als das antimechanische; der konkrete Prozeß einer werdenden Einheit von Ganzem und Teil, nicht ihre bloße Subsumtion unter den abstrakten Oberbegriff und danach die Juxtaposition der Teile"(50). Adornos Argumentation im Fall Strawinskys zeigt, wie deren hermeneutische Praxis immer schon gegen jede positivistische Deskription vom kritischen Sensorium geleitet wird. Scheint deshalb einer der maßgeblichen Einwände Adornos gegen Strawinsky - dessen Stereotypien verstießen gegen die im Wechsel des Neuen sich entwickelnde Temporalität von Musik - auf eine apriorische Vorentscheidung zu setzen, dann nur so lange, als deren materiale Basis in Adornos Mimesis-Verständnis ausgeblendet bleibt(51). Nicht die "Konzeption eines Ausweglosen"(52), sondern deren Abwehr in den Fesseln statischer Iterationen nämlich trieben Strawinskys Kompositionen der Affirmation des Mechanischen zu. Als physiognomische Entfaltung seiner Theorie des "Ausdrucks", der "allemal aus dem Leiden des Subjekts am Objekt hervorgeht"(53), diagnostiziert Adorno gerade in der "Ausdrucksfeindschaft" das "sinnfälligste Moment von Depersonalisierung bei Strawinsky" und seiner "impassibilité"(54). So wird trotz des Ausdrucks des Ausdruckslosen die Absage an den expressiven Habitus "unwahr und reaktionär", indem die "Gewalt, die damit dem Individuellen widerfährt, unmittelbar als Überwindung des Individualismus erscheint"(55). Anders als die Schockbewältigung beim "mittleren Schönberg" durch "Angstbereitschaft" und Subjektbewahrung akzeptiere Strawinskys Elimination des Individuierten, "daß die Schocks nicht sich zueignen lassen. Das musikalische Subjekt verzichtet darauf, sich durchzuhalten, und begnügt sich damit, die Stöße in Reflexen mitzumachen. (...) Das [aber] ist das innerste Pseudos des Objektivismus: die Vernichtung des Subjekts durch den Schock wird in der ästhetischen Komplexion als Sieg des Subjekts und zugleich als dessen Überwindung durch das an sich Seiende verklärt"(56). Strawinskys "Trick, Selbsterhaltung durch Selbstauslöschung, fällt ins behavioristische Schema der total eingegliederten Menschheit" und überführt den Komponisten der "permanenten Regression" in Adornos Analysen als einen "Exekutor" des "Fortschritts zur negativen Geschichtslosigkeit"(57). Bereits bei Hegel zersetzt der Druck der sozialen Antagonismen das Ideal des ästhetischen Organismus und treibt die Versöhnungsarbeit des Geistes zur Prosa des Begriffs. Daß sich Hegels Philosophie als Palliativ gegen die dissoziativen Kräfte der bürgelichen Gesellschaft entwirft, indem die Allgegenwart und Rastlosigkeit ihrer Vermittlungspräsenz darauf abzielt, keinen Teil des Systems in die Isolation und damit in einen letalen Separatismus fallen zu lassen, ist nur eine andere Facette solcher Empiriebewältigung. Diese Hypothek schreibt sich bei Adorno als Kategorie des Ernstes über die Figuren der "Stimmigkeit" des Kunstwerks und seiner "Zerrüttung" in der Moderne fort. Auch in Adornos Ästhetik der neuen Musik hat jegliches Komponierte den realen Widersprüchen verpflichtet zu bleiben. "Die Unmenschlichkeit der Kunst muß die der Welt überbieten um des Menschlichen willen. (...) Die Schocks des Unverständlichen, welche die künstlerische Technik im Zeitalter ihrer Sinnlosigkeit austeilt, schlagen um. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen."(58) Adorno hat das Ethos ästhetischer Differenz niemals aufgegeben. Noch das späte Diktum von der "Grundfarbe schwarz" aller "radikalen Kunst heute"(59) akzentuiert deren pathographischen Erkenntnischarakter als äußersten Kontrast zum goutierbar Angenehmen(60). Hat Musik etwas mit Wahrheit und Erkenntnis zu tun, steht es ihr nicht frei, sich unbekümmert zur Chronique scandaleuse des Weltlaufs und seinen Katastrophen zu verhalten. Unter Rekurs auf das Dissonanzmotiv Hegels, Kunst müsse sich um ihrer Authentizität willen auf die "Prosa der Welt"(61) einlassen, und in Korrespondenz zu Benjamins Allegoriebegriff wandelt sich dieser Gedanke bei Adorno zur Idee von der Reflexionskraft des "zerrütteten Kunstwerks", das "mit seiner Geschlossenheit die Anschaulichkeit preis[gibt] und den Schein mit dieser. Es ist als Gegenstand des Denkens gesetzt und hat am Denken selber Anteil: es wird zum Mittel des Subjekts (...). Das geschlossene Kunstwerk nimmt den Standpunkt der Identität von Subjekt und Objekt ein. In seinem Zerfall erweist sich die Identität als Schein und das Recht der Erkenntnis, die Subjekt und Objekt einander kontrastiert, als das größere, als das moralische. Die neue Musik nimmt den Widerspruch, in dem sie zur Realität steht, ins eigene Bewußtsein und in die eigene Gestalt auf. In solchem Verhalten schärft sie sich zur Erkenntnis"(62). Das Moment der "Kunstfeindschaft"(63) in der Rebellion der Moderne gegen das republikanische Organismuskonstrukt(64) zersetzt die Homöostase des Ganzen und seiner Teile vom Typus des Aristotelischen "anankeion"(65) als scheinhafte Subsumtion. Die dialektische Zweck-Mittel-Relation von Teil und Ganzem entpuppt sich parallel zum Zerfall des philosophischen Systemgedankens als ein vom Imperativ der Form veranstaltetes Harmonieideal, das die Antagonismen der gesellschaftlichen Arena Lügen strafen. Daß Beethoven im "Molto vivace" der Neunten Symphonie , auf der rhetorischen Ebene des Gattungssubjekts also, ästhetische Zeit drastisch in die empirische implodieren läßt, den Scheincharakter des Werks punktuell sprengt und damit die Konstruktion ähnlich der Parekbase Schlegels ironisiert, bedeutet einen frühen, wenngleich symptomatischen Putsch gegen die Mnemonik des Homogenen und ihre Aura der Geschlossenheit(66). Sobald die unberechenbaren Marktdiktate der Konkurrenzökonomie im Horizont politisch enttäuschter Hoffnungen, manifest im depressiven Erwartungsriß von Französischer Revolution und Restauration, die Rudimente säkularer Theodizee zum Verschwinden brachten, zerging mit dem Konkurs des Perfektibilitätsmodells und seiner Fortschrittskomponente auch die sinnorientierte Dialektik von Zufall und Notwendigkeit. Deren Stabilisierung über die Garanten von Vernunft und Freiheit im Hegelschen Begriffskosmos wird von Kleists Erschrecken über das Zerreißen der Kausalitätsketten unter Verkehrung der Kriterien von Gut und Böse kontrapunktiert(67). Das historisch zunehmend von Unwägbarkeit und Kontingenz erschütterte, auf dem Satz vom Grund basierende Notwendigkeitsdogma beginnt sich als Allmachtsphantasie einer Subjektivität zu demaskieren, deren Sicherheitsverlangen unter paranoidem Einfluß steht. Ästhetisch kommt die Einsicht zum Tragen, das dem Eigentumsbegriff kongruente, die Interpretation der Welt im Synthesisverbund der Urteile meisternde und darin sich jederzeit präsente Bewußtseinskontinuum von dessen zielgerichteter Identifikationsarbeit zu entbinden, müsse nicht zwangsläufig - wie in den Erkenntniskonzeptionen von Descartes bis Schopenhauer - dem Wahnsinn anheimfallen. Dieser liege womöglich umgekehrt in der alten Geschlossenheitsdoktrin. Als schließlich Mallarmés Coup de dés 1897 schockhaft und befreiend zugleich die finale Dramaturgie und ihre eindimensionale, ichzentrierte Leserichtung samt ihrem Assoziationsstrom aufbrach und zersplitterte - simultan etwa zu vergleichbaren Tendenzen Eric Saties in der Musik -, legte die scheinbare Willkür seiner polyvalent gestreuten Syntax die Zufälligkeit des identitätsfixierten Erzählkanons bloß. Zudem ließ die Umwertung der Dignität zwischen dem Schwarz der Zeichen und dem Weiß der leeren Seitenpartien jene Differenz offenbar werden, die bislang vom signifikativen und narrativen Sinngötzen der Literatur und seiner Repräsentanz von Welt zum Verschwinden gebracht wurde: das Weiße enthüllte sich als der Grund, der Schrift erst zur Erscheinung, zum Sprechen und zum Verlöschen brachte. Mallarmés musikinspirierte Entgrenzungen, die mittelbar oder in direktem Einfluß insbesondere wieder auf musikalischem Gebiet Wirkung zeigten: in der Aufhebung der Rangordnung von Ton und Stille bei Cage etwa oder in Form der Improvisationsschneisen, die Boulez und Stockhausen in die geschlossene Faktur der Kompositionen trieben, überschreiten im objektivierten Werk das poetische Ich und sein Formgedächtnis um der Vielfalt einer Konstellation willen, die die Ökonomie des Diachronen zur "vision simultanée de la Page"(68) potenziert. Bleibt Mallarmés manisches Umkreisen der Zufallsthematik an den Traum vom "oeuvre pure" gebunden, mit dem "sprechenden Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überläßt"(69), und mit dem Vorrang des geformten Materials, der das dichterische Subjekt im Dickicht der Zeichen zum Verschwinden bringt, dann bricht diese Intention jenseits der "persönlich-enthusiastischen Satzführung"(70) die temporalen Verfügungs- und Einschränkungsgesten des auktorialen Autors und den Verzögerungsfilter seiner kausalen Selektionsmechanismen auf. In der Moderne antwortet solche Jetztemphase dem Ruin einer subjektdramatischen Zeit, deren Homogenität, zumal als Index der Gattungsvernunft, nur über jene Ausschlußmechanismen gewährleistet werden konnte, die Adornos Idealismus- und Sy-stemanalysen etwa im Kontext seiner Beethoven-Reflexionen aufgedeckt haben(71). Zugleich schreibt Adorno selbst die gewaltkritische Dehierarchisierung des frühbürgerlichen "omnia ubique" in der Variante des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" fort, um darin mit Tendenzen der zeitgenössischen musikalischen Avantgarde zu konvergieren, am auffälligsten wohl mit Stockhausens "Momentform". Auch bei Adorno richtet sich der antihierarchische Impuls gegen die Moral einer Mnemonik, deren Taxinomie von Wichtigem und Unwichtigem, von Richtigem und Falschem die an den Erkenntnisbaum gebundene Scheidung von Gut und Böse tradiert, um über dualistische Wertungsraster purifizierte Sinnstrukturen zu erzeugen. Adorno wie Stockhausen geht es um Präsenz und Intensität(72). So bestimmt Adornos Forderung nach "Abschaffung des Unterschieds von These und Argument" dialektisches Denken dahingehend, "alle Brückenbegriffe, alle Verbindungen und logischen Hilfsoperationen, die nicht in der Sache selber sind", aufzuheben: "in einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen"(73). Geht Hegels Formalismusschelte als eine am bloß Gesetzten und sein Struktiv, "daß die Methode mit dem Inhalt, die Form mit dem Prinzip vereint sei"(74), auf solche Dichte aus, um sie aufgrund des Subjekt-Primats schließlich doch zu unterlaufen, dann beabsichtigt Adorno, die "letzten Spuren des deduktiven Systems zusammen mit der letzten advokatorischen Gebärde des Gedankens zu beseitigen"(75). Die Aussetzung des behauptungs- und begründungsdistinkten Diskurses und seiner Vermittlungshierarchie(76) macht als mimetisches Ingenium das Ästhetische an Adornos Theorie und ihre Nähe zur Musik des radikalen Nominalismus aus. Auch diese tendiert mit der Tilgung sämtlicher Schematismen zu "Verfahrungsarten, in denen alles, was geschieht, gleich nah ist zum Mittelpunkt"(77). So zielt Stockhausens "Momentform" auf Strukturen, die den Begriff der Dauer überwinden wollen, auf Strukturen also, die im Unterschied zum Stufenschema der finalen Form "sofort intensiv sind und (...) das Niveau fortgesetzter 'Hauptsachen' bis zum Schluß durchzuhalten suchen; (...) in denen nicht rastlos ein jedes Jetzt als bloßes Resultat des Voraufgegangenen und als Auftakt zu Kommendem, auf das man hofft, angesehn wird, sondern als ein Persönliches, Selbständiges, Zentriertes, das für sich bestehn kann; Formen, (...) in denen die Konzentration auf das Jetzt - auf jedes Jetzt - gleichsam vertikale Schnitte macht, die eine horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen bis in die Zeitlosigkeit, die ich Ewigkeit nenne: eine Ewigkeit, die nicht am Ende der Zeit beginnt, sondern in jedem Moment erreichbar ist(78). Allerdings droht mit dem Verwischen der Subjektspur zugunsten einer abstrakten "Konstruktion des Ganzen" die wiederholungsresistente Permanenz des Unverwechselbaren und Einmaligen einer Agonie der Leere und monotonen Geschlossenheit zu verfallen. Sind doch Kompositionen mit der Aufhebung des "Unterschieds von Essentiellem und Akzidentellem (...) in allen ihren Momenten" eben immer auch "gleich nahe zum Mittelpunkt". "Es gibt keinen unwesentlichen Übergang mehr zwischen den wesentlichen Momenten, den 'Themen'; folgerecht überhaupt keine Themen und in strengem Sinn auch keine 'Entwicklung'"(79). Vom statischen Aspekt des Systems her weist dieses kompositorische Integral Analogien zum "totalen Funktionszusammenhang"(80) einer ihren Zwecken nach irrationalen Gesellschaft auf, die bar des Scheins der Dynamik anankastisch erstarrt. "Schließlich gibt es ein Maß an System (...), das als universale Abhängigkeit aller Momente von allen die Rede von Kausalität als veraltet überholt; vergebens die Suche danach, was innerhalb einer monolithischen Gesellschaft Ursache gewesen sein soll. Ursache ist nur noch jene selbst. (...) Jeder [sc. Zustand] hängt horizontal wie vertikal mit allen zusammen, tingiert alle, wird von allen tingiert. (...) In der totalen Gesellschaft ist alles gleich nah zum Mittelpunkt."(81) Die Parallele zur Zwölftontechnik wird deutlich, sobald Adorno deren Wesen als ein "geschlossenes und zugleich sich selbst undurchsichtiges System" charakterisiert, in welchem die "Konstellation der Mittel unmittelbar als Zweck und Gesetz hypostasiert wird". "Die Gesetzlichkeit, in der sie sich erfüllt, ist zugleich eine bloß über das Material verhängte, die es bestimmt, ohne daß dieses Bestimmtsein selber einem Sinn diente"(82). So reduziert sich "Stimmigkeit" auf das Ideal "mathematischen Aufgehens"(83), während Adornos Gedanke, das Werk sei um so "sprechender", "je vollkommener" es "durchgebildet" sei, "Durchbildung" als die "inhaltliche Organisation des Werdenden" gerade im schärfsten Gegensatz zu "mathematischer Notwendigkeit"(84) versteht. Daß deren "Reinheit (...) immer zum kompositorischen Mangel" wird, "meldet das Bedürfnis der integralen Gestalt nach dem helfenden Subjekt an"(85), das eben von der "Ordnung der Zwölftontechnik (...) virtuell (...) aus[gelöscht]"(86) wird. Der Kreis zu den Strawinsky-Essays schließt sich, sofern dem "rationalen System" schließlich die Meisterschaft des kompositorischen Subjekts erliegt(87), das doch das "einzige Moment von Nichtmechanischem, von Leben [ist], das in die Kunstwerke hineinragt (...). So wenig Musik dem Subjekt gleichen darf (...) -, so wenig darf sie ihm auch vollends nicht gleichen: sonst würde sie zum absolut Entfremdeten ohne raison d'être"(88). Während Adorno die heroische Zeit der freien Atonalität als eine souveräne Emanzipation des Ausdrucks gegen die Allgemeinheit der schal gewordenen tonalen Sprachmuster reflektiert, versteht sich seine Kritik des Objektivismus als eine an der Unterwerfung unter das "übermächtige, sinnlose Dasein", fern der "Kraft des Subjekts"(89). Deshalb bleibe "auch das von Cage lancierte Zufallsprinzip (...) so ichfremd wie sein scheinbares Gegenteil, das serielle; auch es gehört unter die Kategorie der Entlastung des geschwächten Ichs. Der reine Zufall bricht zwar die sture ausweglose Notwendigkeit, aber ist dem lebendigen Gehör so äußerlich wie diese. (...) Statistische Allgemeinheit wird zum ichfremden Gesetz der Komposition"(90). Im Verflüssigen der Abstraktionen des trennenden Verstandes repräsentiert Hegels Kantpolemik ein theoretisches Modell, das Adornos Philosophie aufgreift und weitertreibt, ohne auf die Synthesis von Versöhnung setzen zu können: als eine Entlarvung der Schematismen des verdinglichten Bewußtseins und der Korrespondenz seiner Extreme im irrationalen Bodensatz instrumenteller Vernunft. Deren Diagnose bestimmt unter Engführung von Erkenntnis- und Gesellschaftsanalyse auch Adornos Arbeiten zur neuen Musik, die im Gedanken vom Umschlag einer Ratio manischer Naturbeherrschung in mythische Verblendung entscheidend mit der Dialektik der Aufklärung kommunizieren(91). Grundlegend bleibt die Pathographie der arbeitsteiligen Separierung von Ratio und Mimesis in ihren dichotomischen Facetten von Zeichen und Bild, Begriff und Anschauung, Wissenschaft und Kunst. "Als Zeichen kommt das Wort an die Wissenschaft; als Ton, als Bild, als eigentliches Wort wird es unter die verschiedenen Künste aufgeteilt (...). Als Zeichen soll Sprache zur Kalkulation resignieren, um Natur zu erkennen, den Anspruch ablegen, ihr ähnlich zu sein. Als Bild soll sie zum Abbild resignieren, um ganz Natur zu sein, den Anspruch ablegen, sie zu erkennen."(92) "Ratio ohne Mimesis" aber "negiert sich selbst", reduziert Denken zur "Tautologie"(93). Der Exorzismus gegen Imagination und Ausdruck schlägt in Barbarei um, der Objektivismus lükkenloser Konstruktion befördert das "in aller Kunst als deren Bedingung lauernde chaotische Moment". "Totale Materialbeherrschung und die Bewegung aufs Diffuse hin"(94) konvergieren. Zugleich gerät die Heteronomie von "entfremdeten Regeln", "bar der Spannung zum Subjekt, ohne die es Kunst so wenig gibt wie Wahrheit"(95), in ihrer Hypertrophie zur "gewalttätigen und äußerlichen Totalität, gar nicht so unähnlich den politischen totalitären Systemen"(96). Kompositionen unter dem Bann einer musikalischen Logik, von der das "Subjekt, dessen Freiheit die Bedingung avancierter Kunst ist, ausgetrieben wird", verselbständigen sich zur schicksalhaften "Höllenmaschine"(97). Immer wieder betont Adorno unter Berufung auf Ligeti, das serielle Konstruktionsprinzip laufe der Eliminierung des mimetischen Niveaus wegen Gefahr, in Willkür und Naturwüchsigkeit umzuschlagen, der entfesselte Zufall des Aleatorischen dagegen in blinde Notwendigkeit(98). Nicht anders gerinne der zu Ende gedachte "musikalische Nominalismus, die Abschaffung aller wiederkehrenden Formeln"(99), als totale Dynamik zur Statik(100). So wird ästhetisch virulent, was Adorno gesellschaftspolitisch als die Dialektik einer "zunehmenden Beherrschung äußerer und innerer Natur" ausmacht. "Indem sie das Viele reduziert, potentiell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche, in Statik. (...) Die Immergleichheit der Dynamik ist eins mit ihrem sich Zusammenziehen auf Monokratie."(101) Daß Adorno konsequent an der mimetischen Rationalität musikalischer Kompositionen, an ihrer diagnostischen Position und am Einspruch des ästhetischen Ingeniums festgehalten hat, brachte ihn in Gegensatz zu einer Musiktheorie und -praxis, der das affektive Subjektprivileg und das Formgedächtnis seines musikalischen Denkens als eine Mnemonik der Hierarchien und des Funktionalismus verdächtig wurden. Im Namen strukturalistischer Theorien sowie vor allem der Arbeiten Foucaults und Lyotards sucht in dieser Demontage des Subjekts prototypisch das subversive Lachen Nietzschescher Aphoristik dem Systemernst Hegels zu antworten. Ratifiziert wird der Abschied vom tragischen Theater der Philosophie, von seinen Wahrheits- und Moralkulissen und den Requisiten des "homo dialecticus"(102). Seitdem Marx' historisch-ökonomische Analytik und Nietzsches Erkenntniskritik die transhistorischen Stilisierungen der Metaphysik aufgedeckt und deren Geltung durch die Enttarnung ihrer zivilisa-tionsbedingten Genesis als eine ontologische Unterstellung entzaubert hatten, verlor sich mit dem geschichtlichen Ferment die apriorische Würde auch jeglicher temporaler und mentaler Strukturen. Namentlich Nietzsches Anatomie der kulturalen Instanz als der Trägerin und Garantin mnemonischer Rituale versuchte deren Mnemotechnik auf eine Enkaustik hin transparent werden zu lassen, die "im Schmerz das mächtigste Hilfsmittel (...) erriet". "Niemals" nämlich ging es "ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nötig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen"(103); verschworen dem "Gefühl der Schuld"(104) und dessen Herkunft aus dem "Vertragsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner" analog der "Äquivalenz von Schaden und Schmerz"(105). Dringt diese terroristische Spur als sublimierter Moral- und Hierarchiekodex noch in die musikalische Ökonomie als "Abhandlung von Prioritätsverhältnissen in der Zeit"(106) ein, dann können Cages oder Feldmans Kompositionen als die bisher radikalste Aufhebung der seit der "Seconda pratica" gefeierten Mnemonik und ihrer Affekt- und Wertungsprinzipien gelten. Treibt der zur Kontrollinstanz des Gewissens verinnerlichte göttliche Blick über den ästhetischen Schöpfungstopos der Frührenaissance zum Nominalismus einer Moderne, in der jedes Werk als seine eigene Gattung von den Argusaugen und Argusohren des Künstlers vollkommene Durchbildung zum stimmigen Integral verlangt, dann subvertiert und transformiert Cage diesen Imperativ als die Tyrannei einer Musik, die das subjektfixierte Hörideal durch die Abweichungen hindurch in der kompositorischen Schuld einer auf Identität, auf Beherrschbarkeit vereidigten Motiv- und Themenarbeit und der sie affirmierenden Formanten halte. Gegen die verdinglichte Reproduktion des Wiederholbaren und die geronnene Schrift der Notation proben Cages Improvisations- und Zufallstableaus unter einem Minimum an Direktiven die Einlösung des emphatisch Neuen(107). Gilt der Negativen Dialektik der Vereinnahmungs- und Ausgrenzungsfuror wie die Subsumtionsmanie des Systems als der "Geist gewordene Bauch", "Wut" als die "Signatur eines jeglichen Idealismus"(108), so bleibt der Synthesisgedanke und seine Geschlossenheitsintention in Adornos Hermeneutik der Form ebenfalls ein wenn auch transitorisches Moment für den Index des Repressiven. Trotz der Bedeutung des konstruktiven Integrals als der Artikulation des Beredten bewahrt Adorno, was Nietzsches genealogischer Blick für die reproduktiver Not entstammenden Zurichtungs- und Bändigungsmuster des Logos noch unter dessen ästhetischer Maske aufgespürt hatte: die Sensibilität für die Formung als Vivisektion, deren Praktiken eine Gewalt des Ausschlusses in Szene setzen. Das "schuldhaft Herrschende" in den Artefakten, die Amoralität, mit der "Kunst in die Schuld des Lebendigen [gerät]", indem sie "Schnitte durchs Lebendige" legt, getrieben zu "verstümmeln"(109), um zu artikulieren, bleibt nach Maßgabe der Dialektik der Aufklärung der Kontrapunkt zur suspensiven Kraft künstlerischer Mimesis. Die Herrschaft des Einen als der Triumph über das entmächtigte Viele, zu dem sich der monotheistische Konstruktionsbegriff abendländischer Rationalität zuspitzt, die Einsicht zumal in die Unmöglichkeit einer "bruchlosen und gewaltlosen Einheit der Form und des Geformten"(110), schärft sich bei Adorno zu deren "Melancholie"(111). Unter Verabsolutierung des Prokrusteshaften(112) ästhetischer Organisation gegen ihr Herrschaft sistierendes Potential kann Cage schließlich von Frankreich her als der "erste große Musiker des Vergessens"(113) gefeiert werden, in Wechselwirkung mit einer Rezeption, der es laut Charles anstünde, sich zu "entmemorisieren". "Bis jetzt war der Musik, unter anderem, aufgegeben, das Gedächtnis zu üben. Man forderte dem Zuhörer immer akrobatischere Gedächtnisübungen ab (...). Cage nun entdeckt den musikalischen Augenblick wieder als etwas freudiges und nomadisierendes"(114). Richtet sich indes Adornos Kritik des Vergessens, vornehmlich über den ethischen Grund seiner Ästhetik, gegen die barbarische, weil irrationale Rückkehr des als Trauma der Geschichte Verdrängten, dann nicht zuletzt infolge einer zur Geschichtslosigkeit tendierenden Vernunft der Effizienz, die im Funktionalismus sozialer Amnesie "zunehmend die Kraft zur Mnemosyne ein[büßt]". "Ahistorizität des Bewußtseins" aber ist mit bürgerlicher Ratio notwendig verknüpft, mit der des "universalen Tauschs, des Gleich und Gleich von Rechnungen, die aufgehen, bei denen eigentlich nichts zurückbleibt; alles Historische aber wäre ein Rest". Am Ende wird "Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert (...). Entäußert in der gegenwärtigen Phase die Menschheit sich der Erinnerung, um kurzatmig in der Anpassung ans je Gegenwärtige sich zu erschöpfen, so spiegelt darin sich ein objektiver Entwicklungszug. Wie Statik gesellschaftliche Bedingung des Dynamischen ist, so terminiert die Dynamik fortschreitender rationaler Naturbeherrschung teleologisch in Statik(115). Deshalb reklamiert Adorno den Anspruch des Eingedenkens wider das verordnete Vergessen für die Kunst als "Zuflucht des mimetischen Verhaltens"(116). Sie wird zum "Gedächtnis des akkumulierten Leidens"(117), dem die moderne Musik in der Tradition einer somatisch gewendeten Ästhetik des Erhabenen folgt: als eine Kunst des Standhaltens gegen den Verblendungszusammenhang einer perennierenden "Vorgeschichte" des Zwangs, deren mythischer Grund sich zur Naturgewalt einer Ökonomie des Todes verrätselt. "Die Kunstwerke versuchen sich an den Rätseln, welche die Welt aufgibt, um die Menschen zu verschlingen. Die Welt ist die Sphinx, der Künstler ihr verblendeter Ödipus und die Kunstwerke von der Art seiner weisen Antwort, welche die Sphinx in den Abgrund stürzt. So steht alle Kunst gegen die Mythologie."(118) Demnach dürfte Entscheidendes für die kompositorische Praxis wie die musikästhetische Theorie nach Adorno davon abhängen, ob Musik den ethischen Gestus im Bewußtsein unerlöster Geschichte und damit von Wahrheit/119) transformieren kann, ohne ihn abstrakt durch die Restauration neuer Subjekt-Szenarien oder die vermeintliche Progressivität einer sterilen ars mechanica zu negieren. Letztlich also davon, ob eine Spaltung der Trinität des Schönen, Wahren, Guten, zumal der Legierung des Ethischen und Ästhetischen, im Sinne Kants gegen den holistischen Wahrheitsrapport Hegels ohne Regression möglich ist. Zielt Lyotard auf eine Musik jenseits der Alternative von Logosaskese und Trieblust, auf eine Musik, die "weder Schein, musica ficta , noch mühselige Erkenntnis, musica fingens [ist], sondern: wandelbares Spiel von Klangintensitäten, parodistische Arbeit von Nichts, musica figura "(120), dann bleibt zu fragen, wie weit eine solche prima vista paradoxe Auferstehung Kants im Geiste Nietzsches trägt; eine Forderung also, die unbekümmert um die ethische Konnotation des Ästhetischen triebenergetische Musikkonzepte des 'interesselosen Wohlgefallens' lanciert(121). Muß aber eine Musik, die den Subjektgedanken der großen bürgerlichen Kompositionsrhetorik hinter sich gelassen hat, notwendig zur Gewalt des Bestehenden überlaufen? Womöglich zu einem neuen Historismus verkommen, dem im Gleichschritt mit der Akkumulationsrasanz einer verwertungsbesessenen Ökonomie alles im Supermarkt der Musikgeschichte als neue Beliebigkeit verfügbar wird?(122) Abgesehen davon, daß auch bei Cage das kompositorische Subjekt trotz äußersten Rückzugs immer noch als letztes Inszenierungsmoment der Objektivation fungiert, kann die Antwort darauf nur die Musik selbst geben. Obwohl Adorno nie die Idee preisgab, Kunstwerke, explizit die der Moderne, stünden "gespannt gegen das Entsetzen der Geschichte", entsprechend deute auch die moderne Musik auf das "gesellschaftliche Unwesen"(123), spricht er bereits zu Beginn der vierziger Jahre davon, daß neue Musik "keine Ideologie mehr" sei. Richtet sich hier der Gedanke, das Ästhetische der Werke müsse "nicht in der Lösung seiner Fragen und nicht einmal notwendig in der Wahl der Fragen selber (...) auf die Gesellschaft"(12$) reflektieren, in erster Linie gegen herkömmliche Realismusnormen, so entwirft rund zwanzig Jahre später der programmatische Essay Vers une musique informelle unter Variation Valérys die "Gestalt aller künstlerischen Utopie heute" unmißverständlich als den Versuch, "Dinge [zu] machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind"(125). Damit wird eine Imagination innerviert, die das Pathos der Distanz zeitgenössischer Musik zu einer gleich produktiven wie luxurierenden Phantasie des Ästhetischen gegen den Konkretismus der Warenwelt und fern jedem Dingkult entbinden möchte: jenseits der Scheidung von engagierter und autonomer Kunst und mit einer transsubjektiven Verwandlung des Subjekt-Ethos(126). So wie dies in den präzis komponierten, funktional entregelten und zu einer neuen Ordnung jenseits der Ordnung verzauberten Konfigurationen Morton Feldmans Ereignis wird: gegen die Hierarchien der Zeit und der Klänge, gegen die Form-Imperative und die Subjektdramaturgie einer gerade auch von der außereuropäischen Tradition her maßlos-dominanten Rhetorik des okzidentalen Ich samt der Theatralik seiner Ausdrucksmasken(127). Während sich das meiste sogenannter Gegenwartsliteratur unter Ausbeutung der verbalen Bedeutungsebene in einem vom Kommerz gegängelten obszönen Sinn-Geschwätz des Erzählens verliert, vermag radikale moderne Musik als "Widerpart der Wortsprache" eben auch als "sinnlose zu reden"(128). Deshalb ist "unter den Motiven eines vielleicht Kommenden, die heute an der Musik sich gewahren lassen, (...) nicht das letzte das ihrer Emanzipation von der Sprache, die Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens - eben dessen, was der Begriff des Namens, wie sehr auch unzulänglich, umreißen wollte; die Überwindung musikalischer Naturbeherrschung durch deren Vollendung hindurch"(129). Anmerkungen 1 Unter Aufnahme antiker, neuplatonischer und mystischer Traditionen findet sich dieser Gedanke im Werk des Cusaners vor allem in der Formulierungsbreite der "Omnia in omnibus"- und "Totum in partibus"-Topoi (De docta ignorantia ; De filiatione Dei ; De ludo globi ; De non-aliud ). Gleichwohl Cusanus Gott als das kategorial nicht faßbare absolutum ineffabile zum unaufhebbaren Relat der Schöpfungsidee der explicatio Dei sowie des "Deus (...) totus in omnibus" (Apologia doctae ignorantiae ) erklärt, markiert die pantheistische Spur des "Deus est absque diversitate in omnibus, quia quodlibet in quolibet" (De docta ignorantia ) zusammen mit einer zur "infinitas finita" entgrenzten Welt die neuzeitliche Umkehr im Ortungs- und Wertungsverhältnis von Transzendenz und Immanenz. Als Folge dieses antischolastischen De- und Rezentrierungsprozesses transformiert sich die republikanische Tendenz des räumlich und zeitlich akzentuierten "omnia ubique" und "omnia simul" zur kritischen wie affirmativen Repräsentanzfigur bürgerlicher Systemrealität. Begleitet wird diese Lesart von zahlreichen Diskursen zur Position des Zentrums: als dessen immanente Allgegenwart, als parataktische Konfigura-tionsmitte oder als äquidistanter Attraktor in der Vermittlungsdichte des "Gleich nah zum Mittelpunkt". Trotz aller Differenzen der Figurenvielfalt bleibt die säkularisierte Zentrumsproblematik des ens a se ohne interpretatorische Klitterung oder Retheologisierung als ein Schwerpunkt der philosophischen und künstlerischen Reflexion im Zug der kopernikanischen Wende erkennbar: vom "centrum spatii immensi statuetur ubique" und "tutta in tutto" Giordano Brunos, von der Leibnizschen Monadologie ("toute Monade un miroir de l'univers"), der Mediationspräsenz der Arbeit des Begriffs bei Hegel und seiner Deutung des Kunstschönen im Sinnbild des "tausendäugigen Argus" einer "durchgängigen Beseelung (...) an allen Punkten" über das "große Zugleich" in Novalis' Naturphilosophie, den "Mitte"-Gedanken in Nietzsches Zarathustra , das Blickmotiv von Rilkes "Archaischem Torso Apollos" oder die Suspension des "alles ist überall" der Abelonenepisode des Malte Laurids Brigge bis zu den jetztbestimmten Intensitätsmodellen Adornos und Stockhausens. Mit dem Unterschied allerdings, daß die Thematik des "omnia ubique" bei Adorno ihrer monadischen Selbstgenügsamkeit enthoben ist und zu einem Atopos des Bilderlosen tendiert, der angesichts einer gegen ihr Emanzipationspotential verhärteten, profithörigen Ökonomie im Zeichen des Mangels und der Krisen und ihrer bürokratischen Stabilisierung ästhetisch wie soziologisch seiner positivistischen Immanenz wie seiner utopischen Transzendenz nach gedacht wird: als sinnleere Statik einer Kunst des "Gleich nah zum Mittelpunkt" und als deren vom Aufschub der Vermittlung und des Akzidentellen befreite Intensität ebenso wie als Sog der "totalen Gesellschaft" und als deren virtuell in der Omnipräsenz der Widersprüche liegende, den durchkapitalisierten Funktionalismus desintegrierende Transformationsenergie. 2 Nikolaus von Kues, De docta ignorantia , in: Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften , Hg. Leo Gabriel, Bd. I, Wien 1982, S. 393. 3 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft , Hg. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 140. 4 Ebd., S. 145. 5 Theodor W. Adorno, Vers une musique informelle , in: Quasi una fantasia , GS 16, S. 502. 6 Ebd., S. 502f. 7 Adorno, Schwierigkeiten , in: Impromptus , GS 17, S. 262f. 8 Vgl. dazu Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 409. 9 Adorno, Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik , in: Theorie der neuen Musik , GS 18, S. 160. 10 Ebd., S.161. 11 Ebd. 12 Adorno, Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik , GS 18, S. 162. 13 Adorno, Das Altern der Neuen Musik , in: Dissonanzen , GS 14, S. 159. Umgekehrt korreliert der Kritik am ontologischen Rückfall die am Effekt als der Verselbständigung der Mittel und technischen Details gegenüber der musikalischen Logik, eine Kritik, die Adornos Wagner- und Strauss-Rezeption mit seiner Analyse kulturindustrieller Produktionen als kleinster gemeinsamer Nenner verbindet (vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung , GS 3, S. 146f.). 14 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 124. 15 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II , Werke in zwanzig Bänden, Hrsg. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1969, Bd. 6, S. 124. 16 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 210. 17 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 417f. 18 Ebd. 19 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 123. 20 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 413. 21 Adorno hat diese Relation etwa an Kant unter dem Aspekt skizziert, "daß durch den ansteigenden Prozeß der Verlegung der Erkenntnissubstanz aus dem Gegenstand in das auf sich selbst reflektierende Subjekt gleichsam dem Objekt immer mehr entzogen wird, daß es immer mehr als ein Starres, Verhärtetes zurückbleibt" (Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie , Frankfurt/M. o. J., S. 218). Zur Partizipation des "subjektiven Vermitteltseins" der Kunstwerke am "universalen Verblendungszusammenhang von Verdinglichung" vgl. Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 252. 22 Adorno, Strawinsky. Ein dialektisches Bild , in: Quasi una fantasia , GS 16, S. 398. 23 Vgl. etwa Adorno, Drei Studien zu Hegel , GS 5, S. 366; Ästhetische Theorie , GS 7, S. 363; Mahler. Eine musikalische Physiognomik , GS 13, S. 241f.; Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 412f.; Der getreue Korrepetitor , GS 15, S. 198f.; Kriterien der neuen Musik , in: Klangfiguren , GS 16, S. 189; Fragment über Musik und Sprache , in: Quasi una fantasia , GS 16, S. 253; Form in der neuen Musik , in: Musikalische Schriften III , GS 16, S. 612f. 24 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht , Werke in zwölf Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XII, S. 433, sowie Johannes Bauer, Souverän und Untertan. Kants Ethik und einige Folgen , in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, Nr. 34/35 (1990), S. 47ff. 25 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 417. 26 Ebd., S. 412. 27 Adorno, Mahler , GS 13, S. 241. 28 Adorno, Form in der neuen Musik , GS 16, S. 612. 29 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 412. 30 Adorno, Mahler , GS 13, S. 241. 31 Vgl. Adorno, GS 6, S. 184-207; GS 7, S. 217, 248-253, 382-384; GS 10.2, S. 741ff. 32 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884-1885 , Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hrsg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York 1980, Bd. 11, S. 565, 635, 638. 33 Hegel, Phänomenologie des Geistes , WW Bd. 3, S. 492. 34 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 35. 35 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes , S. 590f. 36 Adorno, Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins , in: Noten zur Literatur , GS 11, S. 486. 37 Ebd., S. 471. 38 Adorno, Negative Dialektik , GS 6, S. 139. 39 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 489f. 40 Johann Wolfgang Goethe, Faust II , Goethes Werke in 14 Bänden, Hg. Erich Trunz, München 1976, Bd. III, S. 193. 41 Adorno, Strawinsky. Ein dialektisches Bild , GS 16, S. 403. 42 Ebd., S. 385. 43 Ebd., S. 386. 44 Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie , GS 14, S. 418. 45 Adorno, Strawinsky. Ein dialektisches Bild , GS 16, S. 387. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 387f. 48 Ebd., S. 388. Daß Adorno den Anspruch qualitativ artikulierter Zeit auch für die Avantgarde nach 1945 beibehält, belegt sein Aufsatz Vers une musique informelle , GS 16, S. 518: "Das zeitlich Aufeinanderfolgende, das die Sukzessivität verleugnet, sabotiert die Verpflichtung des Werdens, motiviert nicht länger, warum dies auf jenes folge und nicht beliebig anderes. Nichts Musikalisches aber hat das Recht auf ein anderes zu folgen, was nicht durch die Gestalt des Vorhergehenden als auf dieses Folgendes bestimmt wäre, oder umgekehrt, was nicht das Vorhergehende als seine eigene Bedingung nachträglich enthüllte. Sonst klaffte die zeitliche Konkretion von Musik und ihre abstrakte Zeitform auseinander." 49 Adorno, Strawinsky. Ein dialektisches Bild , GS 16, S. 388. 50 Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 526f. 51 Zum Problem "präskriptiver Kategorien" in Adornos Versuch über Wagner sowie der Philosophie der neuen Musik vgl. Martin Zenck, Phantasmagorie - Ausdruck - Extrem. Die Auseinandersetzung zwischen Adornos Musikdenken und Benjamins Kunsttheorie in den dreißiger Jahren , in: Adorno und die Musik. Studien zur Wertungsforschung , Bd. XII, Hg. Otto Kolleritsch, Graz 1979, S. 202ff. 52 Adorno, Strawinsky. Ein dialektisches Bild , GS 16, S. 387f. 53 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 162. 54 Ebd., S. 161f. Deshalb nähern sich zahlreiche Problematisierungen von Adornos Materialverständnis, die seine Theorie des Ausdrucks und deren begrifflich irreduzibles Leidmoment unberücksichtigt lassen, häufig einer einseitigen Debatte um Adornos angeblich aporetisches Fortschrittsmodell der ästhetischen Produktivkräfte (vgl. etwa Peter Bürger, Vermittlung - Rezeption - Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft , Frankfurt/M. 1979, S. 87ff., oder Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida , Frankfurt/M. 1991, S. 159ff.). 55 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 163. 56 Ebd., S. 145. 57 Ebd., S. 153 u. 179. 58 Ebd., S. 125f. 59 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 65. 60 Bezeichnenderweise zitiert die Philosophie der neuen Musik folgenden zentralen Satz der Hegelschen Ästhetik als Motto: "Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern (...) mit einer Entfaltung der Wahrheit zu thun." 61 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I , WW Bd. 13, S. 199. 62 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 118f. 63 Ebd., S. 118. 64 Vgl. dazu exemplarisch Kants Typologie des "Organismus", demonstriert an einem solchen "Produkt der Natur" und seinem "organisierten und sich selbst organisierenden Wesen", "in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist", erweitert schließlich zur "Analogie" zwischen den "Naturzwecken" und der "Organisation" des "Staatskörpers". "Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloß Mittel, sondern zugleich auch Zweck, und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und seiner Funktion nach, bestimmt sein" (Kant, Kritik der Urteilskraft , WW Bd. X, S. 322f.). 65 Aristoteles, Poetik , Hrsg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29: "Ferner müssen die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen." 66 Vgl. dazu Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung. Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie , Pfaffenweiler 1992, S. 119ff. 67 Exemplarisch dafür sind Kleists Briefe aus dem Jahr 1801 an Wilhelmine von Zenge mit ihren ostinaten Äußerungen über das "blinde Verhängnis", den "Zufall", den 'unbegreiflichen Willen', der "über die Menschengattung waltet", und mit ihrer Verzweiflung über die Aporie der Moral inmitten der 'tausendfältig verknüpften und verschlungenen Dinge der Welt' (Heinrich von Kleist, Briefe , München 1964, S. 170, 207, 209). 68 Stéphane Mallarmé, Un coup de dés, Préface , in: Mallarmé, Sämtliche Dichtungen , München 1992, S. 222. 69 Mallarmé, Verskrise , in: Mallarmé, Sämtliche Dichtungen , S. 285. 70 Ebd. 71 Auch das nachgelassene Beethoven-Fragment Adornos (Beethoven. Philosophie der Musik , Hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1993) zeigt deutliche Spuren dieses Totalitätsverdikts im Sinn einer "Kritik des heroischen Klassizismus". Damit soll jedoch in keiner Weise die leitmotivische Bedeutung Beethovens in Adornos Musikästhetik relativiert werden, eine Bedeutung, auf die hinsichtlich der Philosophie der neuen Musik Carl Dahlhaus aufmerksam gemacht hat (Dahlhaus, Zu Adornos Beethoven-Kritik , in: Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Hrsg. Burkhardt Lindner und W. Martin Lüdke, Frankfurt/M. 1979, S. 504). 72 Vgl. Adorno, Musikalische Schriften I-III , GS 16, S. 589, 623, 662f., wo das Motiv des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" ausdrücklich mit dem der "Präsenz in jedem Augenblick" und dem der "Intensität" verbunden wird, schließlich mit dem Begriff einer Musik, "in der die Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks (...) die Gestaltung nach Erwartung und Erinnerung überwiegt". 73 Adorno, Minima Moralia , GS 4, S. 78. Anläßlich der Disposition der Ästhetischen Theorie besteht Adorno gegen die Gradation induktiver und deduktiver Verfahren und deren argumentativen Aufschub auf der parataktischen Fügung von "gleichgewichtig[en] Teilkomplexen", die "konzentrisch angeordnet" in ihrer "Konstellation", nicht in ihrer "Folge" die Idee ergeben, gruppiert "um einen Mittelpunkt", "den sie durch ihre Konstellation ausdrücken" (zit. n. d. Editorischen Nachwort zu Adornos Ästhetischer Theorie , GS 7, S. 541). Generell kann vom Ende der Metaphysik her das Modell der Konfiguration als der diskursiv entfaltete Fragmentcharakter verstanden werden, nachdem die schwindende Kohäsionskraft des göttlichen Signifikanten Schrift wie Sprache in ein seinen Partikularurteilen nach infinites Schreiben und Sprechen mit der Physiognomie des Bruchstückhaften entlassen hatte. So zeigt sich schon bei Nikolaus von Kues die Dialektik der Zentrierung und Dezentrierung, sofern die monadische Allgegenwart des Mittelpunkts im "omnia ubique" zugleich den Gedanken eines Mittelpunkts sensu stricto ad absurdum führt. "Neque etiam est ipsum mundi centrum plus intra terram quam extra, neque etiam terra ista neque aliqua sphaera habet centrum." (Nikolaus von Kues, De docta ignorantia , S. 392f.). Das Paradox der Moderne, mit der Sprache gegen die Sprache zu sprechen, "mit Begriffen auf[zu]sprengen, was in Begriffe nicht eingeht" (Adorno, Noten zur Literatur , GS 11, S. 32), mit der Musik gegen die Musik zu komponieren, schließlich: in der Gesellschaft gegen die Gesellschaft zu existieren, ist nur ein anderer Ausdruck für den circulus vitiosus der Immanenz, in dem Fragmentcharakter und geschlossenes System miteinander korrelieren. Übrigens verstehen sich auch Stockhausens "Momentformen" als solche, die "immer schon angefangen haben und unbegrenzt so weitergehn könnten" (Karlheinz Stockhausen, Momentform. Neue Zusammenhänge zwischen Aufführungsdauer, Werkdauer und Moment , in: Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Köln 1963, Bd. I, S. 199). 74 Hegel, Wissenschaft der Logik I , WW Bd. 5, S. 66. 75 Adorno, Minima Moralia , GS 4, S. 78. 76 Vgl. dazu auch Adorno, Einleitung zu Benjamins Schriften , in: Noten zur Literatur , GS 11, S. 578: "Denn die Benjaminsche Idee in ihrer Strenge schließt wie Grundmotive so auch deren Entwicklung, Durchführung, den ganzen Mechanismus von Voraussetzung, Behauptung und Beweis, von Thesen und Resultaten aus. So wie die Neue Musik in ihren kompromißlosen Vertretern keine 'Durchführung', keinen Unterschied von Thema und Entwicklung mehr duldet, sondern jeder musikalische Gedanke, ja jeder Ton darin gleich nahe zum Mittelpunkt steht, so ist auch Benjamins Philosophie 'athematisch'. Dialektik im Stillstand bedeutet sie auch insofern, als sie in sich eigentlich keine Entwicklungszeit kennt, sondern ihre Form aus der Konstellation der einzelnen Aussagen empfängt. Daher ihre Affinität zum Aphorismus." Entsprechend sind auch dem Essay "alle Objekte gleich nah zum Zentrum (...): zu dem Prinzip, das alle verhext" (Adorno, Der Essay als Form , GS 11, S. 28). 77 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 228. 78 Stockhausen, Momentform , S. 198f. Das Motiv einer in jedem Zeitpunkt präsenten Ewigkeit findet sich gleichfalls als eine Lesart des "omnia ubique" im Trialogus de possest des Nikolaus von Kues (Philosophisch-theologische Schriften Bd. II, S. 292f.), als der Gedanke nämlich, "quomodo (...) non repugnare aeternitatem simul totam esse in quolibet puncto temporis". 79 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 61. Im Fall der Zwölftonmusik und ihres Anspruchs, "in all ihren Momenten gleich nah zum Mittelpunkt zu sein" (ebd., S. 73), entäußert sich die Zwitterhaftigkeit von harmonischer Deterritorialisierung und traditionellem Formkanon zur spannungsvollen Diskrepanz zwischen dem hermetischen Integral des Reihenmodells und der Extensität kompositorischer Entwicklung. Die dadurch trotz der Systemstatik der Zwölftontechnik freigesetzte Dynamik des Bruchs aber desavouiert nach Adorno als eine der "Not der Fortsetzung" (ebd.) und "bloßen Ableitung" die Intention, "wahrhaft in jedem Augenblick gleich nah zum Mittelpunkt sich zu halten", und läßt sie als "Möglichkeit der formalen Artikulation erscheinen". "Das Abfallen aller Zwölftonmusik nach prägnanten Reihenexpositionen spaltet sie in Haupt- und Nebenereignisse", ähnlich dem Verhältnis von Thema und Durchführungsarbeit (ebd., S. 98). Das bedingt letztlich den Konflikt zwischen der formenden Geste des Komponisten, ihren im Werk objektivierten Ausdrucksfacetten, und dem "absichtsvoll-generellen, fast gleichgültigen Zuschnitt der früheren Zwölftonthematik" (ebd.) als eine unversöhnliche Kluft zwischen System und Imagination. 80 Adorno, Negative Dialektik , GS 6, S. 73. 81 Ebd., S. 265. 82 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 67. 83 Ebd. 84 Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 527. 85 Ebd. 86 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 70. 87 Ebd., S. 68. 88 Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 527. 89 Adorno, Das Altern der Neuen Musik , GS 14, S. 165. 90 Adorno, Schwierigkeiten , GS 17, 270f. 91 So kann Dahlhaus gar von der Philosophie der neuen Musik als von einem Exkurs zur Dialektik der Aufklärung sprechen (Carl Dahlhaus, Vom Altern einer Philosophie , in: Adorno-Konferenz I983 , Hrsg. Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1983, S. 137). 92 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung , GS 3, S. 34. 93 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 489. 94 Ebd., S. 228. 95 Adorno, Das Altern der Neuen Musik , GS 14, S. 159f. 96 Ebd., S. 161 97 Ebd., S. 161f. 98 "György Ligeti hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß im Effekt die Extreme der absoluten Determination und des absoluten Zufalls zusammenfallen" (Adorno, Schwierigkeiten , GS 17, S. 270f.). 99 Adorno, Philosophie der neuen Musi k, GS 12, S. 77. 100 "Absolute, in sich unterschiedslose Dynamik würde abermals zu einem Statischen" (Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 518). 101 Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien , in: Soziologische Schriften I , GS 8, S. 235. 102 Vgl. Michel Foucault, Schriften zur Literatur , Frankfurt/M., Berlin, Wien 1979, S. 121, sowie insbesondere auch das letzte Kapitel der Ordnung der Dinge . Daß die "Kategorie des Subjekts" als "Kern einer Interpretation der Gesellschaft der Entfremdung" mit der 'Zeugenschaft' der Kunst, schließlich als Zentrum der "gesamten Theorie des Ausdrucks" für Adorno "unkritisiert" bleibe, stabilisiere in dessen Denken Lyotard zufolge die dialektische Falle (Jean-François Lyotard, Adorno come Diavolo , in: Lyotard, Intensitäten , Berlin o. J., S. 36.). Dagegen würde erst die Aufgabe des überlieferten Repräsentationsmodells und der Subjekttheorie zur Verabschiedung des ethischen Instrumentariums und seiner Antagonismen führen. "Wir haben gegenüber Adorno den Vorteil, in einem Kapitalismus zu leben, der energischer, zynischer, doch weniger tragisch ist. Er macht alles zur Repräsentation (...). Die Parodie tritt an die Stelle des Tragischen, die Libido zieht ihre Besetzungen von der Bühne zurück" (ebd., S. 36f.). 103 Nietzsche, Zur Genealogie der Mora l, Kritische Studienausgabe Bd. V, S. 295. 104 Ebd., S. 318. 105 Ebd., S. 298. 106 Heinz-Klaus Metzger, John Cage oder die freigelassene Musik , in: Musik-Konzepte, Sonderband John Cage , München 1978, S. 8. Metzger argumentiert in seinem Aufsatz unter anderem mit Adornos Minima Moralia -Aphorismus "Moral und Zeitordnung". 107 Zum letalen Index von Schrift und Zeichen im Zusammenhang von Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen vgl. Platon, Phaidros , Sämtliche Werke in zehn Bänden, Hg. Karlheinz Hülser, Bd. VI, Frankfurt/M. 1991, S. 135ff., sowie Jacques Derrida, Grammatologie , Frankfurt/M. 1974, S. 120ff. 108 Adorno, Negative Dialektik , GS 6, S. 34. 109 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 217. 110 Ebd., S. 219. 111 Ebd., S. 217. 112 Vgl. ebd. 113 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los , Berlin 1979, S. 43. 114 Ebd., S. 43f. 115 Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien , GS 8, S. 230f. An Kafka wird evident, etwa in der Erzählung vom "Urteil", wie eine patriarchale Schuld-Mnemonik das Gedächtnis des Sohnes zersetzt und damit verhindert, ihrem Bann zu entrinnen: mehrmals und mit tragischer Konsequenz fällt das entscheidende Wort vom "Vergessen". Steht dieses Motiv in der literarischen Tradition des Vater-Sohn-Konflikts, so tritt auch reflexionsgeschichtlich - nun im Zeichen einer Überwindung - der Zerfall der Hegelschen Weltexegese als der Summe eines hermeneutischen Übervaters in eine mnemonische Spannung zum genealogisch-kritischen Denken des 19. Jahrhunderts: zur Erinnerungsarbeit gleichsam einer Philosophie der Söhne gegen die amnestischen Leerstellen im System des absoluten Geistes; in Feuerbachs Religionskritik ebenso wie in Marx' Ökonomie- oder Nietzsches Erkenntnis- und Moralkritik. 116 Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 86. 117 Ebd., S. 387. 118 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 125f. 119 Vgl. Adorno, Negative Dialektik , GS 6, S. 29: "Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit." 120 Lyotard, Intensitäten , S. 46f. 121 Dahingestellt sei, inwieweit sich nicht doch das Ethos einer ihren Exegeten nach repräsentanzlosen Musik durchsetzt, so daß etwa das Klavierkonzert von Cage, das "als Gesetz unerbittliche Zufälligkeit sich auferleg[t]", "dadurch etwas wie Sinn: den Ausdruck von Entsetzen" empfängt (Adorno, Ästhetische Theorie , GS 7, S. 231). Da somit der demolierte Sinn nicht zwangsläufig in Positivismus umschlägt, kann dieses Zitat als ein Beispiel der Ambivalenz Adornos Cage gegenüber gelten. Daß aber obige Stelle den Eindruck erweckt, "als habe Adorno die wahren Dimensionen der Cageschen Anarchie nicht erkannt" (Hans-Klaus Jungheinrich, Die "Ästhetische Theorie" - wiedergelesen , in: Nicht versöhnt. Musikästhetik nach Adorno , Hg. H.-K. Jungheinrich, Kassel 1987, S. 51), kann in dieser Ausschließlichkeit nur behauptet werden, wenn die Dialektik zwischen der kompositorischen Intention und ihrer ästhetischen Objektivation außer acht bleibt. 122 Zur Kritik dieses neuen Pluralismus im Kontext "objektiver Amnesie" und einer "Barbarei des Vergessens" vgl. Martin Blumentritt, Adorno, der Komponist als Philosoph , in: Musik-Konzepte 63/64 (Theodor W. Adorno. Der Komponist ), München 1989, S. 8ff. 123 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S. 124f. 124 Ebd. 125 Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 540. Vgl. Paul Valéry, Windstriche , Frankfurt a. M. 1971, S. 94: "Das Schöne erfordert vielleicht die sklavische Nachahmung dessen, was in den Dingen unbestimmbar ist." 126 Diese Implikation dürfte im Fall Adornos relativieren, was Albrecht Wellmer (Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno , Frankfurt/M. 1985, S. 63) als das "Auseinanderreißen von Semiotik und Energetik" einer "reinen Wahrheitsästhetik" bei Adorno und einer "rigorosen Wirkungsästhetik" bei Lyotard kritisiert, um statt dessen das "ästhetische Objekt" als ein "Kraft- und Spannungsfeld, aber auf der Ebene des Sinns" zu begreifen und als einen "Sinnzusammenhang, dessen verstehender Nachvollzug einer Abstrahlung von Energie gleichkommt: Kunst als zweite Natur, aber eine Natur, die zu sprechen beginnt". 127 Ob aber eine "informelle Musik" des radikalen "Odi profanum" gemäß Adornos Forderung, daß "innerhalb der totalen gesellschaftlichen Verblendung (...) nur das seinen richtigen gesellschaftlichen Ort [hat], was der Kommunikation aufsagt" (Adorno, Vers une musique informelle , GS 16, S. 538), den letzten Rest ihrer Anpassung und ihre Ohnmacht ertragen kann, bleibt offen. Womöglich bestätigt sie gerade im Betrieb des Komponierens, gleichsam hinter dem Rücken der Produzenten, Hegels These vom Vergangenheitsstatus der Kunst. Dies wäre dann der prozessual gesellschaftliche Kontrapunkt zu Bulthaups Urteil: "Der Versuch, Musik zu retten, unterwirft sie der Ideologie, der Affirmation des Bestehenden, sie preiszugeben verriete mit seiner Objektivation das Bedürfnis der Subjekte, das mit dem Bestehenden nicht sich zufrieden geben kann. So bleibt die Musik auf der Strecke." (Peter Bulthaup, Ernstfall und Allotria. Überlegungen zum Verhältnis von Reflexion und Kunst , in: Musik-Konzepte 63/64: Theodor W. Adorno. Der Komponist , S. 7). Ferner mag nicht verwundern, daß Morton Feldman, ohne auf Adornos Gedanken vom Barbarischen einer Lyrik nach Auschwitz zu rekurrieren, davon sprach, "daß es nach Hitler vielleicht keine Kunst mehr geben sollte. (...) Es war Heuchelei, ein Wahn weiterzumachen, denn jene (sc. ästhetischen) Werte haben sich als wertlos erwiesen. Es fehlt ihnen die moralische Basis. Und was sind unsere Moralbegriffe in der Musik? Sie sind begründet in der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts" (Morton Feldman, Earle Brown, Heinz-Klaus Metzger, Aus einer Diskussion , in: Musik-Konzepte 48/49: Morton Feldman , München 1986, S. 154). Zu erinnern bleibt jedoch, daß Adorno immer wieder Vorstellungen und Tendenzen einer falschen "Abschaffung der Kunst" zurückgewiesen hat. 128 Adorno, Philosophie der neuen Musik , GS 12, S.121. 129 Adorno, Über das gegenwärtige Verhältnis von Philosophie und Musik , GS 18, S. 162.
- Johannes Bauer, Denotationen – Detonationen. Sensorium Neue Musik
Denotationen - Detonationen Sensorium Neue Musik Als Gilles Deleuze und Félix Guattari mit dem Denkmodell vom Rhizom die philosophische Diskussion vor rund fünfundzwanzig Jahren in Aufregung versetzten, trafen sie einen Nerv des Zeitgeistes. Schnell entfaltete das Bild vom mittelpunktslos wuchernden Spross- und Wurzelwerk ein seinerseits wildwüchsiges Eigenleben quer durch die unterschiedlichsten Theorie- und Lebensbereiche. Eine Art Wundermittel zur Auflösung jener hierarchischen, von Grund auf dualistisch und kausal ausgerichteten Baumform schien gefunden, an der sich abendländisches Denken und Handeln überwiegend orientiert hatten. Auffällig ist dabei, dass Deleuzes/Guattaris Philosophieren viel mit dem gemeinsam hat, was das Repertoire der Neuen Musik als Verfahren der Dezentrierung, der variablen Form oder der Eigenzeit kennt. Eine Affinität zwischen Musik und Philosophie, die zu denken gibt. Musik bedeutet Sublimierung, wenn auch nicht nur. Mehr noch ist sie ein eigenständiges Wahrnehmungs- und Erkenntnismedium, eingebunden in die Arena ihrer Zeit. Mag auch mittlerweile kein Weltgeist mehr zu verstehen geben, was und wie zu komponieren sei. Im Gegenteil: Ex-cathedra-Ästhetiken wurden angesichts der vielfältig legitimen Ausdrucksweisen zeitgenössischen Komponierens auf ihren Zeitkern hin durchlässig. Neue Musik ist keineswegs mehr auf das »Entsetzen der Geschichte« und das »gesellschaftliche Unwesen« einzuschwören, ohne deshalb gleich der Qualität nach abzustürzen. Nach der Aufhebung der Dissonanzpflicht spricht Helmut Lachenmann nicht umsonst von der »Heiterkeit« seiner Musik. Zu lange war es in der Nachfolge Adornos üblich, der Neuen Musik ein gutes Gewissen zu verschaffen, indem man sie zum schlechten der Gesellschaft erklärt hat. Nicht selten mit der Folge, entscheidende Konsequenzen des ästhetischen Experiments zu unterschätzen, etwa die im Ausloten von Gedächtnis und Imagination, einem der Zentren Neuer Musik. Galt Musik lange als eine hohe Schule der Gedächtniskunst, historisiert zeitgenössisches Komponieren die Souveränitätsmuster der Ars memoria, indem sie das Wechselspiel von Erinnerung, Erwartung und Wiederholung der Erosion des Bewusstseins als vierter Kraft einlagert. Auf diese Weise überlistet die Musik Morton Feldmans die Ordnungsfunktion des Gedächtnisses, bis es zu vibrieren beginnt. In der unmerklich zwischen Wiederholung und Differenz changierenden Textur der Mikrovarianten laufen die erkennungsdienstlichen Hörgewohnheiten ins Leere. Kohärenz wird unterhöhlt, weil sie ihre Inkohärenz mitproduziert. Eine Legierung, die »between categories« die ichzentrierte Erkenntnisapparatur verunsichert, weil das Ohr gewohnt ist – ungeachtet solch feinmaschiger Klangstoffe ohne dramaturgische Muster – auf der Makroebene von Großformaten zu hören. Körper Neue Musik irritiert Hörgewohnheiten aus dem Umstand heraus, dass Bewusstsein und Gedächtnis nicht mehr in einem göttlichen Grund verortbar sind; auch nicht in der säkularisierten Version eines Subjekts, das die göttliche Regie aufnimmt, um sich Welt und Dingen als Grund der Identität unterzuschieben. Zeitgenössisches Komponieren zieht daraus die Konsequenz, Bewusstsein und Gedächtnis da, wo sie porös werden, auf ihren materialen Grund hin durchlässig werden zu lassen, auf den Körper als Erkenntnisfaktor: Eine Kritik am Leitsatz der metaphysischen Tradition, unmöglich könne die Sinnenwelt vor dem Denken bestehen. Damit wird Musik zu einem Korrektiv der These vom Verschwinden der Realität in einem »Hyperraum der Simulation«. Natürlich geht auch die Neue Musik nicht mehr vom Einheitsbegriff der Person aus. Natürlich ist auch für sie das Subjekt zugleich eine Schnittmenge in der Textur des Systems, aber eben auch ein Schnittpunkt von Affekten, Wünschen, Leidenschaften. Sie weiß, dass der Rede von den Patchwork-Biografien, von den »cross-cutting identities« und vom plural entgrenzten Subjekt der Ich-Kern zu leicht aus dem Blick gerät. Immer noch verlaufen die jeweiligen Erfahrungsprozesse zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen, mögen in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft auch zunehmend multiple Psychen gefordert sein. Und immer noch sucht sich so etwas wie Ich-Identität zu konservieren – mit ihren Blockaden und Ressentiments, aber auch mit ihrem widerständigen Bewusstseins- und Gefühlspotenzial. Deshalb lässt sich Neue Musik weder den Triebgrund von Individuum und Gesellschaft noch die Präsenz von Erfahrung und gesellschaftlicher Praxis ausreden. Freilich zeigt schon Pascals Erkenntnis vom Schweigen des Universums, wie der leere Raum auf Signale hin abgehört wird. Kann der verborgene Gott überhaupt noch antworten? Etwa dem Blick ins Innere des eigenen Seelenlebens mit dem Riss zwischen Körper und Geist? Auf diesen Grunddualismus der Moderne reagiert Neue Musik, indem sie die theologisch tradierte und hierarchisch gewichtete Polarität von Geist und Körper gleichsam zu einer Begegnung kritischer Massen werden lässt. Hochexplosiv, wenn sie miteinander in Berührung kommen; etwa in den komponierten Atemgeräuschen einer pneumatischen Musik. Die Verflüssigung des Somatischen und Intelligiblen entzieht dem Befehlston auf der Kommandobrücke des Geistes die Legitimation. Die somatische Spur wird zum Sprachgrund. Für die Neue Musik ist der Körper mehr als nur Körper. Das aber hat Auswirkungen auf die Topographie des Bewusstseins. Zeitgenössisches Komponieren hat kaum mehr etwas mit dem Cogito Beethovens zu tun, das sich mit dem Argusohr des Konstrukteurs in die Tektonik versenkt, um in gottgleicher Supervision einen musikalischen Kosmos zu erzeugen, dessen Motto lauten könnte: ›Sprich rein, sprich ökonomisch‹. Ein Motto, geeignet als Richtlinie einer Ordnung des Erlaubten und Unerlaubten und verwandt Descartes’ Leitkategorien des »clairement et distinctement«: Purifizierter Ton versus Geräusch mit einer Idee des Stils als der Organisation legitimierter und legitimierbarer Tonverbindungen. Anders die Strukturen Neuer Musik, die die Ökonomie des Diachronen überwuchern und das kompositorische Subjekt im Dickicht der Textur zum Verschwinden bringen. Musik wird anonym und produziert Unberechenbares, vergleichbar der Erfahrung, die Kausalketten der Welt nicht mehr von einem archimedischen Punkt aus überschauen zu können. Stattdessen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wie in Isabel Mundrys Streichquartett no one mit seinen asynchronen Zeitverläufen. Ein Rhizom à quatre unterschiedlicher Eigenzeiten und Fließgeschwindigkeiten. Schrift Sprengt Neue Musik den purifizierten Ton, demontiert sie die Filter von Klarheit und Unterschiedenheit, dann hebt ihr panakustischer Diskurs selbst noch die Schriftlogik der Notation auf. Längst wurde auch musikalisch relevant, was bei Mallarmé als variable Typographie die herkömmliche Schriftökonomie unterminiert, die den Blick und das Gedächtnis linear zügelt: Mit dem Zeilenprogress als Zeremonienmeister des Gedankens und einer syntaktischen Verkettung zugunsten starrer Seitensymmetrien. Cage etwa denotiert den Notentext und seine Richtungskonstanten in der Solostimme des Klavierkonzerts auf eine Weise, die die »Gutenberg-Galaxis« auch der Musik hinter sich lässt. Neue Musik heißt insofern auch eine neue Wahrnehmungssemiotik im Auf- und Umbrechen hochbetagter Notations- und Zeichenformationen mit der Abkehr von der Vermittlungshierarchie diachroner Kausalität und ihren zielgerichteten Formationen. Stattdessen eher eine akausale Energetik der Musik, die davon absehen kann, jede Schicht müsse signifikant und subjektiv sein. Zum ersten Mal kann Musik selbst die Ordnung der Zeit variabel halten und den aristotelischen Werkorganismus hinter sich lassen. Seitdem der newtonsche Zeitcontainer brüchig geworden ist, können auch in der Musik Teile umgruppiert werden oder verschwinden, ohne dass das Ganze aus den Fugen geraten müsste. Hat das Komponieren und Hören funktionsharmonisch tonaler Musik etwas von einer Art Unternehmertum an sich, verwiesen auf einen Fonds der Motiv-, Themen- und Akkord-Depositorien, zielt Neue Musik auf die Transformation von Effizienz und Ertrag. Schon indem sie ein Kontinuum affektiver Erlebniszeit verweigert. Vor allem aleatorische Unwägbarkeiten werden vom Erfahrungsrecycling des wiederholbaren Werks aus zur narzisstischen Kränkung. Denn erst der Zusammenhang von Ordnung und Ortung, von organisierter Struktur und richtiger Platzierung gewährleistet jene Erkennbarkeitsmuster, die Sicherheit garantieren. Orientierung: schon das Wort verweist auf ein Zentrum, auf den Osten als Ort des Sonnenaufgangs, darauf also, die Himmelsrichtungen nach der Sonne zu bestimmen. Wollte man im Bild bleiben, wäre Neue Musik demgegenüber eher eine Musik der Sterne, eine der Konstella tion. Seit der Renaissance leistet gerade das Universum der Sterne einem mittelpunktslosen All Vorschub. Vor allem bei Nicolaus Cusanus und dessen »omnia ubique« jenseits der Wertung nach Zentrum und Peripherie. Es gibt nicht mehr den vor allen anderen ausgezeichneten erd- oder sonnenhaften Mittelpunkt. Solche monarchischen Modelle werden zunehmend republikanisch unterlaufen; durch Modelle, die den Mittelpunkt überall und nirgends propagieren und damit den Begriff des Mittelpunkts aufheben. Kein Wunder, dass Hegel in der anarchischen Streuung der Sterne den Zufall lauern sah. Von Hegels Position innerhalb der tonangebenden Tradition abendländischen Denkens her wird manches am Problemfeld Neuer Musik verständlicher. Das heißt von der Denk- und Hörtradition der Hypotaxe her, orientiert an kausalen oder kausalähnlichen Verkettungen und der Über- und Unterordnung von Teilstrukturen. Im Unterschied zu den Bei- und Nebenordnungen der Parataxe und ihrer Offenheit für das, was nicht im logischen oder organischen Korsett der Theorie oder des Werks aufgeht: Offenheit für das Zufällige, Beiläufige, für Streuungen und Konstella tionen. Für Hegel dagegen verweigert sich die Vielheit der Sterne dem »Streben (...) nach einem Ort als Mittelpunkt«. Anders als der Zentralismus des Sonnensystems sind die Sterne für den Philosophen des Geistes nichts weiter als ein »Licht-Ausschlag«, eine Art Krätze des Firmaments, und ebenso wenig »bewundernswürdig« wie eine »Menge von Fliegen«.(1) Sinn Die Behauptung, Neue Musik entziehe sämtliche Orientierungsmöglichkeiten, begreift ihr Inkalkulables lediglich als Sabotage von Sinn. Zielt indes das Bewusstsein des Cogito auf Identifikation, auf ein »das ist«, dann wäre dieser Identifikationszwang das Erste, was sich die Begegnung mit Neuer Musik abzugewöhnen hätte. Dass bei ihr die an der tonalen Musik entwickelten Hör- und Analyse-Modelle nicht mehr zureichen, resultiert aus der engen Bindung dieser Modelle an den Sprachcharakter der Musik. Die syntaktische und syntaxähnliche Qualität von Sprache und Musik aber war es, die über alle Unterschiede hinweg semantische Analogien zuließ. So kommunizieren in der Epoche der Tonalität Musik und Sprache über ihr affektiv gestisches Idiom. Symbolisch aufgeladen kann Musik ihrer »uralten Verbindung mit der Poesie« wegen als eine Sprache des »Inneren« aufgefasst werden. Sofern nämlich Musik zu einer »ohne Poesie schon zum Verständnis redenden Symbolik der Formen« und »des inneren Lebens« wird.(2) Inzwischen ist der Machtapparat sprachlicher Formationen samt ihrer subjektzentrierten Sinnspur selbst ins Visier der Kritik gerückt. Gerade auch von Seiten der Sprachkompositionen Neuer Musik. Deren transsubjektive Ressourcen liegen eben darin, sich nicht um den Bedeutungsballast der Wortsprache und um die Logik des Widerspruchs kümmern zu müssen. Darum also, was Kants »Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können«, an Notwendigkeit und Einheit von Erfahrung und Selbstbewusstsein braucht. Seitdem sich die theologische Ordnung im Namen welthaltiger Erfahrung aufzulösen begann, musste das Schwinden christlicher Offenbarung durch diesseitige Sinnentwürfe ausgeglichen werden: Unter Verwandlung der göttlichen Substanz und ihrer Attribute von Allmacht und Allwissenheit zur Idee der Einheit und Autonomie von Person und Gattung samt deren Zeit- und Gedächtnisstrategien. Und wie die Kunst die Religion, so beerbt der Gral der Form die göttliche Regie. Die Substanz der causa sui säkularisiert sich zum Organismus des Werks. Doch bereits Nietzsche diagnostiziert den Glanz und das Elend neuzeitlicher Subjektivität als ein Ineinander von Freiheitseuphorie und Angstschüben. Im Bewusstsein der Moderne legieren sich Faszination und Schrecken, sobald im Taumel der Freiheit die Sehnsucht nach vermeintlicher Geborgenheit aufkommt. »Dass der ›alte Gott tot‹ ist«, lässt zwar den »Horizont wieder frei« erscheinen; und doch »kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass [...] es nichts Furchtbareres gibt, als Unendlichkeit«.(3) Bezieht man diese Ambivalenz auf das Schwinden einer verbindlichen musikalischen Sprache, dann hat sich inzwischen die Skepsis verloren, die dieses Schwinden lange Zeit begleitet hat: zugunsten einer Öffnung für die Vielfalt. Bezieht man diese Ambivalenz aber auf das Hören Neuer Musik, dann dominiert in weiten Kreisen nach wie vor die Angst über die Lust am Neuen: die Angst vor dem Unbekannten, weil insgeheim nur allzu Bekannten. Komplexes Hören bedingt die Aufhebung eines einheitlichen Hörzentrums. Multidimensionale Perspektivenwechsel, Mehrfachcodierungen, Schnitte sind Mittel einer Poly-Akustik unendlich sich gabelnder Wege, angemessen einer transversal vernetzten Welt. Setzt Mono-Akustik auf ein Ohr der Mitte, um von hier aus den musikalischen Diskurs auf das Subjekt hin zu fokussieren, hält Poly-Akustik das Hörbewusstsein äußerst flexibel, um es in rapidem Wechsel verschiedensten Positionen und Anforderungen zu konfrontieren, bei denen die Begriffe Zentrum und Rand kaum noch etwas besagen. Neue Musik steht im Bund mit einer Logik der Imagination, für die Offenheit nicht zwangsläufig Chaos bedeutet. Ihre Autonomie ist für Widersprüche sensibilisiert, ohne sie ständig mit dem Firnis einer Bewältigungsrationalität überziehen zu müssen. Neue Musik muss nicht unentwegt die Mechanismen der Kontrolle und der Selektion nach Sinn und Unsinn, Wichtigem und Unwichtigem, Erlaubtem und Verbotenem erzeugen, um über die dualistische Moral von Gut und Böse Sinn zu erzeugen. Erst die Freisetzung vom theologischen Ort ermöglicht eine Logik der Obsession, die in den unterschiedlichen Verfahren der Neuen Musik zum kleinsten gemeinsamen Nenner wird. Spiegel Die Unwägbarkeiten des funktionalen Lebens verlangen nach Kompensation. Nach Gefühl und Bestätigung inmitten der Flexibilitätsgebote und der Konfusion von Identitäten und Rollen. Dass im massenmedialen Musikkonsum alles, was nicht tonal und rhythmisch geeicht ist, Angst und damit Aggression und Abwehr auslöst, ist Symptom eines Narzissmus, der Musik als Dienstleistung am Ego und dessen überschaubarem Nahbereich einsetzt. Als Jacques Lacan zwischen einem »leeren« und »vollen Sprechen« unterschied, hatte er als »parole vide« jenen selbstsicheren Diskurs im Blick, der im Glauben an seine Wahrheit und Geschlossenheit die Spuren narzisstischer Verblendung systematisch ausblendet – im Unterschied zur »parole pleine«, der »harten Arbeit eines Diskurses ohne Ausflüchte«.(4) Spricht man, Lacan paraphrasierend, von einem ›leeren und vollen Hören‹, wäre das leere eines, das ständig nur das Echo seiner sinncodierten Erwartungen hören will. Während Neue Musik Ausschlusspraktiken aufhebt – bis hin zum Einlassen von Geräusch, Körperhaftem, Zufall und Stille – , schottet sich das narzisstische Hörbewusstsein gegen die imaginative Kraft der Neuen Musik ab. Dass Erosionen des Bewusstseins bewusstseinserweiternd und die Abwesenheit von Prinzipien befreiend sein können, bleibt dem ästhetischen Narzissmus fremd. Bei ihm treibt der Hunger nach affektiver Bestätigung das stete Sich-Wiederfinden des Ich an, um unter der Maskierung von Altbekanntem den Reiz des Neuen zu spüren: eine Autonomie auf der Heteronomie des Objekts. Die Spiegelfunktion von Musik ist eine Erscheinung, die von der Genese des neuzeitlichen Subjekts nicht zu trennen ist. Noch Josquins kontrapunktische Tektonik basiert auf dem Prinzip der »Varietas«, dessen ständiger Verwandlung narzisstische Nuancen fremd sind. Deshalb wird Josquins Musik über die Jahrhunderte hinweg Stockhausens Idee der »Momentform« vergleichbar. Eine Musik weder des Gefühlskults noch des Aufschubs, sondern eine, in der jedes Jetzt Mittelpunkt ist. Die Spiegelwände, die das musikalische Subjekt zwischen 1600 und 1900 seiner eigenen affektiven Ortung wegen aufgezogen hatte, werden blind, sobald die teleologische Idee in Konkurs geht. Noch die Kritik am Urteil und an der Sprache resultiert aus dieser Krise der Teleologie, sofern jedes Urteil selbst ein Stück Teleologie ist. Ebenso wird der Einheitsgedanke der Person als teleologischer Habitus unhaltbar. Gegen solche Dezentrierungen sträubt sich der Narzissmus mit einer blockadenhaften Konservierung personaler Identität, meist nach dem Muster von Investition und Rendite. Dieser Entwicklungsroman in den Köpfen nach dem Maß einer harten Selbstbehauptung aber ist es, der der Neuen Musik am meisten Widerstand entgegensetzt. Neue Musik weigert sich, die eingefahrenen affektiven Muster weiter zu bedienen und eine Subjekt-Idee fortzuschreiben, die seit 400 Jahren einen Teilaspekt zum Subjekt schlechthin stilisiert hat: Den Teilaspekt von Herrschaftstechniken, die nach innen gehen, und von ökonomisch erzwungenen Selbstbehauptungsstrategien, flankiert vom Kompensationsressort der Gefühle. Vermutlich wurde das tragisch-heroische Subjekt musikalisch aus dem Grund substanzlos, weil der Subjekt-Gedanke schon von seinem Ursprung her zu groß ausstaffiert worden war. So vollzieht Neue Musik eine Gratwanderung: Was sind die Phantomschmerzen einer zu Recht hinfälligen Ideologie des Subjekts, was seine berechtigten Belange? Kafkas Schweigen der Sirenen als Logbuch der Neuen Musik gelesen, könnte darauf verweisen, dass die Sirenen schweigen, weil Musik künftig weder die Sirenen der Verführung noch die der Gefahr nötig hat. Ihr Experiment könnte nur noch sich selbst verpflichtet und gerade dadurch in der Lage sein, Welt zu reflektieren. Sicher ist, dass Neue Musik ihre Fahrt an keiner Stelle falscher Sicherheiten wegen abbrechen kann. Sicherheitsfantasien wären ihr Tod, weil sie vergessen, dass Moderne und Wagnis seit Kant Synonyme sind. Musik und Philosophie wandeln sich zu Expeditionen in unbekannte Kontinente der Erfahrung und des Wissens. Neue Musik eicht das Ohr auf neue Tiefenschärfen: durch die Zermürbung von Hör-Klischees. Ihre Detonationen werden zu Denotationen starrer auditiver Sinnmuster. Verstörung von Sinn-Normen aber bedeutet eine Verstörung von Macht-Normen. Was aus dieser Verstörung werden soll, muss Neue Musik nicht bekümmern. Sie ist keine praktische Philosophie. Eher eine »Art Labor, in dem man das Leben ausprobiert«.(5) Experimente, Modelle sind ihr Metier. Als Rimbaud vom »Unbekannten« sprach und vom Wagnis des Dichters, »durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen«, band er dieses Wagnis an die Aufkündigung der etablierten Subjektidentität: »JE est un autre«.(6) Ob dieser Zusammenhang nicht auch einiges, womöglich alles für das Komponieren Neuer Musik besagt? Anmerkungen 1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie II, Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970ff., S. 80ff. 2 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (KSA Bd. 2), München/Berlin/New York 1980, S. 175. 3 Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft (KSA Bd. 3 ), S. 574. 4 Jacques Lacan, Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Frankfurt am Main 1975, S. 84ff. 5 John Cage, Silence, übs. v. Ernst Jandl, Frankfurt am Main 1987, S. 54. 6 Arthur Rimbaud, Briefe und Dokumente, hg. v. Curd Ochwadt, Heidelberg 1961, S. 23 u. 240.
- Johannes Bauer, Erprobungen des Unverfügbaren
Unverfügbares Moderne Malerei und Neue Musik - Erprobungen des Unverfügbaren Das Unverfügbare im Fluss der Wolken; das Ziel- und Grundlose ihrer Wandlungen; die Verführung des betrachtenden Ich, sich auf das Unberechenbare einzulassen - im Gleiten einer Sinnschwebe, frei von bildhafter Sinngebung. Der Ikonoklasmus der als "abstrakt" charakterisierten Malerei verweist auf keinen vorausliegenden Sinn mehr, auf nichts Abwesendes und durch die Malerei erst zu Repräsentierendes. Wie Neue Musik verwandelt auch die Malerei der Gegenwart das Ideal des Schönen in Entwürfe des Offenen, die die Ordnung des Realen provozieren und damit das Verlangen nach Regelung und Überschaubarkeit im Namen einer säkularen Theologie des Sinns quer durch alle Lebensbereiche. Ungünstige Zeiten also für das Ereignis, dessen Qualität des Unverfügbaren den Wunsch von Wahrnehmung und Verstand nach Sinnsättigung irritiert? Vielleicht hilft die Einsicht, dass Sinn, zu viel logisch codierter Sinn, zu viel postulierter Zusammenhang unfrei machen, ja als Kult des Maximums überfordern kann, indem zumal die Sinn-Codierung durch Effizienz und Funktionalität die Erfahrung des Unverfügbaren als Unverfügbarkeit unserer selbst verhindert. Abrüstung im individuellen Leistungs- und Optimierungsprogramm heißt zu verstehen, dass wir unsrer personalen Monade nie zur Gänze habhaft werden können, eben weil wir nicht der absolute Grund unserer selbst sind. Ästhetische Praxis als Einübung in ein weniger entfremdetes Leben? Warum nicht? Allerdings nur bis an die Grenze, ab der Malerei und Musik selbst zu einem singulären, begriffsresistenten Ereignis werden.
- Johannes Bauer, Der Komponist Nicolaus A. Huber
Denotationen Detonationen Von der musikalischen Entschlüsselung der Welt Der Komponist Nicolaus A. Huber (DeutschlandRadio Berlin, 2001) Bspl. 1: Informationen über die Töne e-f [Tr. 4: 0´00´´-4´00´´][4´00´´] »Er ging eines Abends, eines nebligen Abends, durch Eccles Street (...). Eine junge Dame stand auf den Stufen eines jener braunen Backsteinhäuser, die die reinste Inkarnation der irischen Paralyse zu sein scheinen. Ein junger Herr stützte sich auf den rostigen Gitterzaun des Unterhofs. Wie Stephen auf seiner Suche da vorüberkam, hörte er die folgenden Gesprächsfetzen (...): Die junge Dame – (diskret und schleifend im Ton) ... O ja ... ich war ... in der ... Kir ... che ... Der junge Mann – (unhörbar) ... Ich ... (wieder unhörbar) ... ich ... Die junge Dame – (weich, leise) ... O ... Sie sind mir ... aber ... ein sehr ... schlim ... mer ... Diese Trivialität brachte ihn auf den Gedanken, viele solcher Momente in einem Epiphanien-Buch zu sammeln. Unter einer Epiphanie verstand er eine jähe geistige Manifestation (...). Er glaubte, dass es Aufgabe des Schriftstellers sei, diese Epiphanien mit äußerster Sorgfalt aufzuzeichnen, da sie selbst die zerbrechlichsten und flüchtigsten aller Momente seien. Er sagte (...), die Uhr am Ballast Office sei einer Epiphanie fähig. (...) Stell dir meine flüchtigen Blicke auf diese Uhr als das Getaste eines geistigen Auges vor, das seine Vision auf einen ganz bestimmten Brennpunkt einzustellen versucht. In dem Moment, in dem der Brennpunkt da ist, ist das Objekt epiphaniert. Und genau in dieser Epiphanie finde ich die dritte, die oberste Qualität der Schönheit. (...) Ich bin lange nicht dahinter gekommen, was der Aquinate [mit dieser dritten Qualität] meinte (...), aber ich habe es gelöst. (...) Zunächst erkennen wir, dass der Gegenstand ein integrales Ding ist, dann erkennen wir, dass er eine organisierte zusammengesetzte Struktur ist (...): schließlich, (...) wenn die Teile auf den einen fixen Punkt eingestellt sind, erkennen wir, dass er das Ding ist, welches er ist. (...) Die Seele des gewöhnlichsten Gegenstands, dessen Struktur sich durch diese Blickeinstellung zeigt, scheint uns zu strahlen. Der Gegenstand vollbringt seine Epiphanie.« Mit dem Helden in Joyces Stephen Hero gilt es schließlich auch den Ton gegen den Hörsturz einer akustisch überreizten Welt in seine »Epiphanie« kommen zu lassen. Es gilt, ihn der Reizmaschinerie des Gewohnten zu entziehen und einer Wirkungsästhetik, die das Hören den Effekten des Spannenden, Langweiligen, Interessanten, Angenehmen unterwirft: die Taubheit des Hörens beseitigen, um den Ton wieder erlebbar, erfahrbar zu machen: darum geht es in Nicolaus A. Hubers Streichquartett Informationen über die Töne e-f . Das Tonhöhenmaterial meines Streichquartetts Informationen über die Töne e-f besteht zur Hauptsache aus diesen Tönen e und f. Andere Tonhöhen, die hinzukommen, dienen nur dazu, e und f durch eine bestimmte Umgebung ein bestimmtes Licht zu geben. Durch die ständige Präsenz der beiden Töne (in verschiedenen Lagen, Dauern, Farben, Lautstärken) ist man gezwungen, nachdem eine Art Entreizung eingetreten ist, die Töne neuartig zu hören und sich ihrem Wesen reiner zu nähern: Sie kommen in ihre ›Epiphanie‹ (Thomas von Aquin, Joyce). So wie Joyce ein virtuoses Repertoire sprachtechnischer Mittel einsetzt und vielschichtige Beziehungsnetze entrollt, um schlagartig Offenbarungen auszulösen, so bringt Huber durch kleinste Differenzen und subtile Beleuchtungsarten, durch »Überschneidung großer Frequenzbereiche« und durch Verwischungen bis hin zum »totalen und chaotischen Glissando« und in den »subinstrumentalen Bereich« die Töne e und f zu ihrer »Epiphanie«. Verdichtete Zeit, um im alltäglichen Bombardement der Klänge und Geräusche das unhörbar gewordene Besondere wieder hörbar zu machen. All das hat mit Erfahrung zu tun, mit dem Vertrauen auf Erfahrung und historisches Gespür. Aber ist dieses Vertrauen nicht eine Illusion, eine ästhetische Überschätzung in einer medialen Welt der Simulation, deren Kurzzeitgedächtnis auf Dauer jede Zeugenschaft unterläuft? Was ist sicher? Wem kann man noch trauen? Wo sind die Plätze für Identität? Welches Handeln ist möglich? Hubers kompositorisches Denken nimmt die Extremtheorien der modernen Gesellschaft ernst. Die von Jean Baudrillard etwa mit ihren Thesen vom Ende der Geschichte und vom Verschwinden der Realität in den Informations- und Kommunikationsnetzen einer Telekratie, in der Dinge und Zeichen längst in die Zirkulation eines Selbstläufertums geraten sind. In diesem Zustand absoluter Freisetzung und Ortlosigkeit zeitigen die Ereignisse keine Konsequenzen mehr, sondern entkoppeln sich voneinander wie das Original von der Reproduktion. Ich habe kürzlich von Baudrillard »Das Jahr 2000 findet nicht statt« gelesen. (...) Baudrillard spricht [darin] von einem Verschwinden der Geschichte. Er gebraucht zum einen das Bild von der die Anziehungskraft überwindenden hohen Fliehgeschwindigkeit, bei der alle Ereignisse durch einen »totalen Verbreitungs- und Zirkulationsschub« in einen »Hyperraum der Simulation« geschleudert und so ihrer nötigen Wachstumszeit (telekommunikativ) beraubt werden; und zum anderen gebraucht er das physikalische Bild vom schwarzen Loch, dessen große Dichte nichts mehr entweichen lässt, Ereignisse also keine Geschichtskraft mehr entfalten können. Das schwarze Loch ist die »schweigende Mehrheit« mit ihrer »gewaltigen Gleichgültigkeit«, die alles schluckt. (...) In solcher Totalvernetzung ist das emphatische »Wir«-Sagen obsolet geworden. Auf welche Weise Huber die Welt der Simulationen und Doubles reflektiert, lässt sich am Orchesterstück To »Marilyn Six Pack« von 1996 erfahren. Das Werk bezieht sich auf Warhols Siebdruckserie The Six Marilyns von 1962, dem Todesjahr Marilyn Monroes. Huber interessieren an Warhol die multifokale Bildkomposition, bei der mehrere gleichgewichtige, oft auch völlig identische Bilder zu einem Bild gehören, sowie die Möglichkeiten struktureller Wiederholung, bei der, im Sinne dezentralen Komponierens, die Kategorien Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit nicht außer Kraft gesetzt werden. Um den Aspekt der Wiederholung als Nicht-Zusammenhang zu realisieren, entwirft Huber das Stück als ein Projekt aus drei Stück-Sphären . Nämlich 1. der live gespielten Partitur; 2. der Wiedergabe des aufgezeichneten Orchesterstücks über acht Filtereinstellungen unterschiedlicher Qualität; 3. der medial reproduzierten zeitgefalteten Version des Originals in Form gestückelter, übereinander geschichteter und zeitversetzter Tonbandschleifen, so genannter Loops. Den Aufführungsmöglichkeiten mit ihrem Wechsel zwischen der Live-, Filter- und Schleifenversion des Werks und ihren hintersinnig kommentierenden Lautstärkeversionen zwischen fanfarenartiger Präsenz und diffuser Klangumgebung korrespondiert eine medial gedoubelte Technik der Überblendungen und Schichtungen. Dezentriert, was die Aufhebung eines einheitlichen Hörzentrums anbelangt, und doch zugleich auf eine komplexere Wahrnehmung als die eines einheitlichen Hörzentrums hin erweitert. Multidimensional in Form vereinter Schnitt- und Perspektivenwechsel. Huber nennt solche simultanen Verschränkungen ein Vermeiden des zufälligen, einheitlichen Augenblickseindrucks und ein Prinzip der »Mehrfachdarstellung« eines Gedankens. (...) Dieses Prinzip ist ineinander geschoben, verwoben, getrennt, zeitlich ge- oder verstreut, in verschiedenen Graden der Annäherung und Entfernung usw. leicht vorstellbar, das heißt auch fasslich. Kann man darin keine Haupt- und Nebensachen mehr ausmachen, kein Verschmelzendes, kein Erzählendes etc., dann taucht ein neues Hören auf. Sonst Zusammenhängendes steht sich jetzt plötzlich nur noch gegenüber. Bspl. 2: To »Marilyn Six Pack« [CD 1 / Tr. 2: 3´21´´(aufbl.)–7´11´´] [3´50´´] Es geht also musikalisch um veränderte Wahrnehmungstechniken in Parallele und im Unterschied zu den veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmungstechniken. Huber kommt es darauf an, mit der Fluktuation der musikalischen Struktur auch die der Gesellschaft im Blick zu behalten: in Richtung ihrer Veränderbarkeit. Musik wird damit zu einem Gebilde, das aus unzählig verschiedenen, unabhängigen und verschiedenzeitigen Bewegungen sowie aus den unübersehbar vielen Gründen und Ursachen dafür gefügt ist, so wie das in einer komplexen menschlichen Gesellschaft der Fall ist. Musik als Irritation gewohnter Hörzentren in Richtung eines feiner geeichten Sensoriums. Eine Musik, deren Verwandlungskraft im Spiel der Differenzen Struktur erzeugt, Erosionen, aber auch Weitungen des Bewusstseins. Und wie immer bei Huber sind die Serien der Loops, der Spiegelungen und Doubles auch Exkurse zum Problem der Zeit, ihren Faltungen, Dehnungen, Verschränkungen und Stauchungen. Zeit wird zur Spur des Vergleichens. Gedächtnis in der Überlagerung von Erinnerung, Vergessen und Wiederholung zur Sonde der Wahrnehmung in einer Textur der Verdopplungen und Multiplikationen. Wiederholung wird zum Fremden, Zusammenhang Sprengenden. Gleiches enttarnt sich als Verschiedenes, Verschiedenes als Gleiches. Was ist in der Verschränkung von Live-Aufführung und medialer Wiedergabe Original, was Reproduktion? Wird die Frage nach dem Original in der Simulationspotenz des Werks gegen die Zeit und quer durch die Zeiten nicht sinnlos? Was bedeutet in der Vernetzung simultan geschichteter Loops noch Gegenwart? Was Erfahrung? Was die Erfahrung von Gegenwart? Was Anwesenheit und Abwesenheit? Nimmt die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung so wie in Warhols Serien die Abbilder der Abbilder nicht etwas Trugbildhaftes an? Allerdings ohne im Trugbildhaften aufzugehen? Allein schon weil Hubers multifokale Musik stets noch auf die Wahrnehmung und das körperpräsente Bewusstsein der Hörer bezogen bleibt? Hubers To »Marilyn Six Pack« ist ein Werk der Poly-Akustik. Eine Klangwelt ohne Zentrum, ein Klangkosmos unendlich sich gabelnder Wege - ist es nicht herrlich - so viele Wege zu hören!! : Abenteuer der Wahrnehmung und der Erkenntnis, aufregend nicht zuletzt aus dem Grund, weil wir selbst ständig in einer solchen Art Weltuniversum leben. Es gibt nicht mehr den vor allen anderen Punkten ausgezeichneten subjektzentrierten Mittelpunk. Stattdessen: Dezentrierung jenseits der Wertung nach Zentrum und Peripherie, ein »Alles ist überall« und die Aufgabe, die einzelnen Phänomene (...) als emanzipiert in dem Sinne (zu begreifen), dass sie wirklich jederzeit auftreten können. Reagiert Hubers Musik auf die Welt der Simulation, reagiert sie zugleich darauf, wie wir noch die fortschreitenden Verwüstungen unseres Körpers durch unzählige (mediale) »Körperprothesen« (akzeptieren). Auch das Hören hat seine Geschichte. Eine Geschichte, die mittlerweile weitgehend der Anpassung an elektronische Apparaturen und Audioprothesen parallel läuft. Auch damit hat sich Huber beschäftigt. Sei es mit dem Zusammenhang zwischen dem alltäglichen Musikkonsum über Lautsprecher und der »Verkümmerung« des »Empfindens für die Qualität RAUM«. Sei es mit der dazugehörigen Simulation, insofern »Lautsprecher RAUM bereits in ihrer Sende-Information simulieren«. Welche Auswirkungen hat das alles auf das Hören, Spielen und Komponieren von Musik? Verlangt solch reglementierte Musikerfahrung vom Komponieren Neuer Musik nicht in erster Linie die Sprengung von Hör-Klischees, um dem Ohr eine neue Tiefenschärfe zu eröffnen? In Hubers Œuvre jedenfalls finden sich zahlreiche solcher Sprengungen des Gewohnten. Detonationen in der Art von Denotationen, Ausbrüche als Unterbrechungen allzu glatter Übergänge und voreiliger Sinnstiftungen. Und wenn die Verstörung von Sinn-Normen eine Verstörung von Macht-Normen bedeutet, spricht alles dafür, ein Fidelio (zu) werden, der als braver Junge auftritt, um im entscheidenden Augenblick die Pistole zu ziehen! Bspl. 3: Eröffnung und Zertrümmerung [Tr. 4: 0´00´´–2´00´´] [2´00´´] Das gigantische elektronische Netzwerk fungiert seinem innersten Impuls nach als eines der Zeitüberlistung. Als ein Verlangen schnelligkeitstrainierter Zeittriumphe nach Zukunftsgegenwart. Die Verschränkung der Zeiten auf den Daten-Highways will die Irreversibilität von Naturzeit überwinden. Dass sich indes vor dem elektronischen Reproduktions- und Simulationszauber die Verwundbarkeit und der Naturgrund menschlicher Existenz umso drastischer abheben, liefert einen der Impulse von Hubers Musik. Wenn Außenwelt manipulierbar, Realität simulier- und ersetzbar wird, Krisen die Öffentlichkeit verwüsten, intensivieren sich die Werte des Privaten, möchte man Nahbereich und Innenwelten nicht der Antastbarkeit preisgeben. Das Ich bleibt gern im Übersichtlichen, entfernt sich höchstens eine Aussicht weit. Natürlich geht auch Huber nicht mehr naiv vom Einheitsbegriff der Person aus. Natürlich stellt auch er sich der personalen Zersplitterung im Funktionalismus einer vernetzten Welt. Natürlich ist auch für ihn das Subjekt eine Schnittmenge, ein Knoten in der Textur des Systems. Aber Huber will sich von der Macht des Simulationszaubers nicht zur Ohnmacht überreden lassen. Immer noch sind die Einzelwesen keineswegs automatenhaft entmündigt. Immer noch verlaufen die einzelnen Erfahrungsprozesse zu verschieden, als dass sie in grauer Uniformität aufgingen, mögen in einer extrem arbeitsteiligen Gesellschaft zunehmend auch multiple Psychen gefordert sein. Immer noch wird im so genannt Privaten der Ich-Kern als letzte Identitätsbastion konserviert – mit all seinen Illusionen und Borniertheiten, aber auch mit all seinem widerständigen Oppositionspotenzial. Hier setzt Hubers Musik an. Zwar sind die von Baudrillard verhandelten Themen auch die von Hubers Komponieren: Themen wie die der Präsenz von Körper, Erfahrung, Subjekt, Geschichte und gesellschaftlicher Praxis in der Welt der modernen Mediengesellschaft. Aber Baudrillards Befunde sind für Huber lediglich »Teilwahrheiten« in der Hoffnung, dass Geschichte als bewusst vollzogener Akt gestaltbar ist und Weg und Schutz zum besseren Verstehen und Handeln bleibt. Die Komponisten haben ja immer noch mit Leuten zu tun, die im Alltag stehen. (...) Es gibt (...) ein starkes Leben des Alltags, einen sehr stabilen Ich-Kern. Sicher, zu der von Baudrillard diagnostizierten ›Totalfreisetzung‹ gehören die Macher, die Simulierer, die Vernetzer der Interessengruppen. Dennoch lässt sich Hubers Musik durch alle Brechungen hindurch weder die Präsenz des Körpers noch die des Ich-Kerns ausreden. Schon gar nicht von einer diagnostizierten Agonie des Realen. Denn: Was Baudrillard (...) beschreib(t), ist ja auch ein Lebensbündel von Gefühlen, Trieben, Verhaltensmustern, Reaktionen usw. Man sucht nach (privaten) Freiräumen, wo eigenes Leben noch wuchern kann, wo Identitäten, gewachsene Subjekt-Echtheiten sich noch ausbilden, zumindest festmachen lassen. (...) Diesen Bereich der Überschau- und Bestimmbarkeit (...) habe ich »Nahbereich« genannt. Bspl. 4: Beds and Brackets [Tr. 3: 2´06´´– 4´20´´] [2´14´´] Hubers Beds and Brackets für Klavier (und Tonband) aus dem Jahr 1990 verstehen sich als Erkundungen dieses »Nahbereichs«. Sie konzentrieren sich auf die »Einbeziehung des Körpers«. Und auf die Differenzierungsmöglichkeiten dieser Einbeziehung in Form dialektischer Wechselwirkungen zwischen Körper und Bewusstsein »jenseits der bekannten Körpersprache«. Das Nahbereichsmodell in »Beds and Brackets« hat mehrere Konstituenten: die Reichweite beider Arme, das Paarige, das Alleinige, die Entsprechung von Rechts=hoch und Links=tief sowie deren Vertauschung, die Abmessungen der Flügelklaviatur (...), die Schwere der spielenden Organe (Arm, Hand, Finger) und ihre Art des Durchmessens des Tastenraumes, die Transformierung der Raumidee in musikalische Erlebnisräume und Distanzräume verschiedenster Art.(...) Die jeweiligen Töne werden aus der 88-tastigen Klaviatur aufgrund von Bewegungsentwürfen abgerufen, deren Streckenmaße und Geschwindigkeiten, multipliziert mit den jeweils zu bewegenden Organ(gewicht)en, Ton und Harmonik charakterisieren. Welche Konsequenzen ergeben sich interpretatorisch und der Rezeption nach – bis hinein in die Wahrnehmungsveränderung der komponierten Struktur –, wenn die Hände in gegenläufigen Bewegungsentwürfen und abweichend vom gewohnten Bewegungsradius über die Klaviatur geführt werden? Wenn beispielsweise die rechte Hand abwechselnd den höchsten und tiefsten Ton spielt, die linke den zweithöchsten und zweittiefsten und so weiter? Wie wirken sich »wandernde Fingersätze«, Änderungen in der »Abwechslungsgeschwindigkeit beider Hände« und in der »Repetitionsgeschwindigkeit des Handpaares« auf die strukturelle Wahrnehmung aus? Huber dynamisiert zudem den »Nahbereich« der Zuordnung zwischen dem Körper des Spielers und dem des Instruments zu »Nähebereichen«. Vor allem um durch das Einlassen von »Fremdkörpern« perspektivische Weitungen, Nähe-, Distanz- und Auflösungsgrade des »Nahbereichs« zu erreichen. Distanz- und Entfernungsmomente des Spielers zum Instrument beispielsweise, vom Schließen des Klavierdeckels bis zu Aktionen im hinteren Teil des Flügels. Bis wir uns schließlich mit Statement zu einem Faustschlag Nonos am »elementarsten Punkt« von Beds and Brackets befinden. Kurz vor seinem Tod war ich mit Nono zusammen in einer Kompositionswettbewerbs-Jury. Während dieser Tage schlug er manchmal mit der Faust schwere, massige Rhythmen elementarster Proportion auf den Tisch. ffff. Diese Befreiungsschläge hafteten die ganze Zeit während der Arbeit an »Statement« in meinem Gedächtnis. Sie waren ganz aus dem Nahbereich des Machens und Wahrnehmens geboren. Als Stück im Stück bedeutet dieser Abschnitt die größte kompositorische Entfernung. as Rhythmusmodell von Statement basiert auf einem Takt aus Beethovens Appassionata . Nun muss der Pianist den heftigsten und direktesten Nahkontakt zur Klaviatur einnehmen. Alles ist mit einem beidarmig und ffff auszuführenden Cluster, ohne Zusatzdifferenzierung, zu spielen. Bspl. 5: Beds and Brackets [Tr. 3: 11´59´´-14´52´´(ab 14´50´´ausbl.)] [2´53´´] Dieser Punkt des äußersten Exhibitionismus schlägt [schließlich] um ins extreme Gegenteil (...). Im Folgenden augmentiert der körperliche Nahbereich ein zweites Mal, schlägt um in »Umgebung«, wobei dem weitesten Raum (...) die einsamste und zarteste Musik (entspricht) - die Findung des intimsten, konzentrischen Ich-Punktes. (...) Im Optimalfall sollen Fenster und Türen des Konzertsaales geöffnet und wieder geschlossen werden. Bspl. 6: Beds and Brackets [Tr. 3] Huber sieht den »Nahbereich« keineswegs als heile Insel. Das verdeutlichen schon die Trübungen, Weitungen, Sprengungen und Irritationen bis hin zum Einlassen von Umweltgeräuschen gegen Ende von Beds and Brackets. Das verdeutlichen aber auch die Momente, in denen der Zeitverlauf des Stückes ›die Nahbereichswahrnehmung durch Wiederholung verwirrt‹. In der Partitur zeigen nummerierte Klammern (Brackets) das jeweilige Notentextfragment an, das an einer anderen Stelle in den musikalischen Verlauf eingeschoben werden soll, und zwar so, als würde es zum ersten Mal erklingen. Es geht also nicht um psychisch-dynamische Weiterspinnung, sondern um eine live simulierte Wiederholung von Vergangenem, als wäre es gar nicht vergangen. Die komponierten Erfahrungsprozesse in Beds and Brackets verstehen den Körper als Erkenntnisfaktor. Im Sinn einer Kritik an einem der Leitsätze der metaphysischen Tradition, die Sinnenwelt könne vor dem Denken nicht bestehen. Im Sinn einer Kritik aber auch an jenen Spielarten intellektueller Melancholie, der sich Erfahrung und Denken allzu schnell unter der Kolonisierungsgewalt teletechnischer Klischees auflösen. Auch wenn Hubers Erkundung des Nahbereichs »Zeitsimulation (Brackets ), Raumsimulation und ein zeitweises Verlassen des Stücks« einschließt: entscheidend bleibt die reale Präsenz des Körpers. Und damit die subjektive Basis in einer variablen Raum-Zeit-Geometrie. Huber wuchert mit dem Pfund des Körpers und der Sinne auf intelligenteste Weise: nach Art einer widerständigen Produktivkraft gegen deren telematische Verspannung. Im Unterschied zu theoretischen Abhandlungen, die den Körper nicht in ihre Texte integrieren, sondern nur über ihn philosophieren können, lässt sich Hubers Musik den Triebgrund von Gesellschaft und Individuum nicht ausreden. Mag dieser Triebgrund noch so verschüttet oder entstellt sein. In meiner kompositorischen Arbeit gibt es viele Aspekte des Körperlichen. Ihre Einbeziehung hat mir stets bei dem Versuch geholfen, bestimmte Probleme und Fragestellungen zu bewältigen. Stets noch gibt es so etwas wie Schmerz, Angst, Leidenschaft. Sieht Baudrillard alles im Taumel der Simulation versinken, erkennt Huber, dass nicht zuletzt das entstellte Leben den Entertainment- und Sensationsamok der Erlebnisgesellschaft schürt. Und er weiß, wie schnell jedes Katastrophendiktum zum dogmatischen Salto mortale Dennoch: Hubers »dezentrales Komponieren« behält die Differenz im Blick. Kompositorisch heißt das, um es nochmals zu sagen, die Modelle von »Gleichberechtigung, Unabhängigkeit und Gleich-Gültigkeit«. »Gleichgültigkeit«, das heißt: »gleich-gültig«, »nicht mehr aus einer Wurzel heraus gedacht«. »Es gibt keine Zentren!« mehr. Passee die Ausschlussprinzipien in Form erster Gründe mitsamt ihrer hierarchischen Wertung nach Haupt- und Nebensachen. Im Unterschied zum Patchwork des Unterschiedslosen, Gleichgültigen in den Rayons einer Konsumideologie, in der alles unterschiedslos nebeneinander rangiert. Ein Anything goes der Indifferenz, das weder befreit noch emanzipiert ist, sondern Macht nur umso unangefochtener, verschleierter funktionieren lässt. Wie die avancierte Philosophie seit Nietzsche kreist Hubers musikalisches Denken um die emanzipatorische Kraft einer antihierarchischen Dezentrierung und einer neue Perspektiven eröffnenden »Zusammenhanglosigkeit«. Diesem Moment nach ist auch noch Hubers Technik der rhythmischen Modulation eine Technik der Differenz. Unbekümmert um die Identität eines Grundmodells, das sich hinter den jeweiligen metrischen Masken als Grund durchhält. Der Grund der Identität wird nicht drapiert, er löst sich in die Offenheit produktiver Serien auf. Und doch beharrt Huber nicht weniger auf den Spuren der Identität. Zumal über das Konzept der Dialektik, insbesondere der von Quantität und Qualität. Richtige Handhabung der Dialektik von Quantität und Qualität verlangt, überall nach dem Fortschrittlichen zu suchen, es hervorzuholen, Unabgegoltenes und Überschüssiges im Sinne der Gegenwart als Zukunft der Vergangenheit schärfend zu mobilisieren. Dialektik mit ihren Auflösungs- und Vereinigungsenergien lässt bei Huber in den Blick geraten, was zwischen der Welt der Dezentrierung und dem psychischen Subjekt-Reservoir der Wünsche, Leidenschaften und Sehnsüchte vermittelt: das Moment des Körpers nämlich. Von hier aus entpuppen sich Hubers Rhythmuskompositionen als eine ästhetisch wie politisch widerständige Legierung von Identität und Differenz und von Unabgegoltenem. Hubers Rhythmuskompositionen sind aperiodisch sich fortzeugende Verwandlungen und Dekonturierungen, die sich immer wieder zu festeren Kernen konturieren, oft genug zu dem, was Huber als »Intonationen« bezeichnet. Die (...) von mir entwickelte Technik der »Rhythmuskomposition« ging von einem ganzheitlichen Weltbild aus, in dem Kopf und Körper nicht getrennt sein sollten. Sie gab auch den Erscheinungsformen des Tones neue, vorwärtstreibende Qualität: Tonhöhen wurden primär als Rhythmusträger verwendet, (...) ihrer traditionellen harmonischen und melodischen Gestaltbildungsfunktion wurde eine neue Dimension hinzugefügt. Die Idee des aktivierenden Körperrhythmus führte (...) zu einer genau kalkulierten Tempogestaltung als Ausdruck eines bestimmten, gesetzten Menschenbildes. Alle diese Konzeptionen und Werkausformungen dienten der kritischen Befreiung, der aufgeklärten Entfaltung, gehorchten dem Prinzip der Hoffnung auf Erkenn- und Veränderbarkeit der Welt durch Ich und Wir. In Hubers Oboenstück Vor und zurück etwa sind alle rhythmischen Verhältnisse aus einem Modell von Beethovens 13. Diabelli-Variation abgeleitet und bestimmend für den musikalischen Zusammenhang durch folgende variable Teilaspekte: »Länge des Grundmodells, Zahl der Anschläge innerhalb des Modells, Proportion der Anschläge und Pausen im Modell«. Einer Variante der rhythmischen Modulation zufolge werden nun die Elemente, kurz-lang, (...) zunächst in sich als Tonmenge und Tonlänge dauernd verändert, bis nur noch kurze Töne übrig bleiben, die sich zu lang-kurz mit neuer musikalischer Charakteristik hinentwickeln. Das Phänomen Körperrhythmus ist (...) dabei ebenfalls weitergetrieben, indem zum einen der geblasene Tonrhythmus des Instruments in den gestampften Fußrhythmus des Spielers umschlägt und zum anderen sich Körperliches als Anstrengung des Spielers auf Lippen, Atem und Hand auswirkt, die dem Ton einmalig-individuelle »Menschen-Klangfarbe« aufmoduliert. Bspl. 7: Vor und zurück [Tr. 2: 11´53´´–14´00´´] [2´07´´] Immer auch kreist die metrische Verwandlungsenergie in Hubers Rhythmuskompositionen um die Aspekte »Vor-Schein und Anstoß«, Feuer und Disziplin«. Und um eine politische Rhetorik mit kollektiver Intention. Etwa im Posaunenstück presente , in das musikalische Allgemeinplätze wie Fanfare oder Jazzfloskel strukturgebend einbezogen und in dem Elemente des »Moorsoldatenlieds« zum Appell werden; zu »etwas, das die Allgemeinheit angeht und fordert«. Bspl. 8: presente [Tr. 1: 10´04´´–11´45´´] [1´41´´] Die von Huber entwickelte Rhythmuskomposition ist nicht zuletzt eine Art politischer »Kommunikationstechnik«, körpergrundiert, mit einer »Fülle rhythmisch-musikalischer Bedeutungsebenen« und »verschiedenen Material- und Ausdruckssphären«. Anknüpfend an den »Ausdrucksreichtum der individuellen, subjektiven Innenwelt« der großen bürgerlichen Musiktradition und an die Errungenschaften der Arbeiterkultur«. Rhythmus ist artikulierte Zeit, verweist auf die Trennungs- und Vereinigungsregie der Zeit. War Rhythmus lange Zeit mit der Idee insistierender Durchgängigkeit und einer suggestiven Gewalt verbunden, die den Hörenden eine »magische Schlinge« umwirft, geht es Huber um einen »Rhythmus, der frei und ›aufgeklärt‹ den Körper erfassen soll«: elastisch, vorwärtstreibend, aperiodisch. Nietzsches Gedanke vom Rhythmus als einer »elementaren Überwältigung« mit der »unüberwindlichen Lust, nachzugeben, mit einzustimmen«, wird von Huber gegen den Strich gebürstet. Hubers Konzept der Rhythmuskomposition basiert auf dem fortzeugenden Prinzip einer permanenten Verwandlung ins Offene, um »durch allmähliche quantitative Veränderungen eines Ausgangsmodells ein qualitativ anderes Zielmodell (zu) erreichen«, das erneut verflüssigt wird. Aperiodische Serien einer rhythmisch-metrischen Modulation, die sich immer wieder zum somatischen Puls konkretisiert. Indem Huber die traditionelle Blockade gleich bleibender Taktmetrik samt ihrem hypnotischen Getriebe sprengt, gewinnt er zugleich neues Terrain für das, was er »Intonationen« nennt: »kollektive, mit körperlichen Bewegungen verbundene Sprachelemente«; »sprechende Rhythmen«, »die in Tonfall, Proportion, Anschlagszahl und gestischem Impuls bekannten Rufen und Parolen politisch fortschrittlicher Bewegungen entsprechen« bis hin zum »Einbeziehen fortschrittlicher Lieder«. Rhythmische Modulation, das Verfahren der kontinuierlichen quantitativen Veränderung bestimmter musikalischer Größen und der Umschlag in eine andere Qualität(,) ist aufklärende Dekompositions-Zeitspanne, in der, sozusagen vor den Ohren des Hörers, aus einem Ding die verschiedenen Seiten gleichsam »herausgedreht« werden und nicht als unversöhnliche Gegensätze erscheinen. Die »rhythmische Modulation« ist demnach nicht die in der bürgerlichen Musikkultur häufig anzutreffende Technik des Übergangs und der Überleitung, eher ein musikalisches Drehen.(...) Rhythmuskomposition negiert nicht durch Zerstören oder Verdrängen, Rhythmuskomposition erbt, indem das Positive der Vergangenheit in ihr aufgehoben ist. Produktivkraft Rhyhtmus: Durch sie wird bei Huber der Körper selbst zu einem Moment der Sprache, mitunter gar zum Sprachgrund. Zur Membran zwischen Innen und Außen. Zumal im Ausdruck des Atmens. Kein Wunder, dass Huber einer der herausragenden Atem-Komponisten der zeitgenössischen Musik ist. Bspl. 9: Nocturnes [Tr. 4: 15´40´´(zügig aufbl.)–21´20´´(=Ende)] [5´40´´] Nocturnes ist ein Atemstück. Der erklärende Untertitel »Die Nacht ist tief an Geflüster und Widerhall« stammt aus dem Roman »Tyrann Banderas, Roman des tropischen Amerika« von Ramón del Valle-Inclán (...). Gebunden an eine Matrix sehr privater Erlebnisse (...), ist das Atmen selbst etwas einmalig Individuelles, aus dem Inneren Kommendes und gleichzeitig auf die Außenwelt Reagierendes und Einwirkendes. Rhythmus und Klang des Atmens verrät und verbirgt zugleich, steht zwischen Innen und Außen, ist Nacht-Metapher für Konspiration und verborgenes Handeln in vielen lateinamerikanischen Romanen. Auch wenn in Nocturnes der Atem nicht als Geräusch, sondern als Impuls und Metapher der »sinnheischenden Klangatmung« einer »reinen Instrumentalmusik« integriert ist: hörbar wird, wie Huber dem pneumatischen Formenkreis der zeitgenössischen Musik ein entscheidendes Element zubringt. Nämlich – neben all den Facetten von Respiration und Inspiration – das der Konspiration, durchaus als Widerstandsmoment begriffen. Ein Widerstandsmoment, das die abschließende Bagatelle von Nocturnes in Gestalt des »kämpferisch gedachten Tanzrhythmus zweier brasilianischer Modelle« zündet: »Atemstöße einer nach außen gehenden musica popular«: Bspl. 10: Nocturnes [Tr. 4] Atmen ist für Huber das nur wenig verfälschbare Elementare, Wesenskern psychischer Disposition. (...) Heißer Atem bedeutet größte Nähe, vegetatives Atmen offenes Selbstsein, allein nach dem Gesetz des Atmers, aber immer Brücken der Erkenntnis bildend zwischen dem Inneren des Ichs des Einen und des zuhörenden Anderen. Atmen: »Nacht-Metapher für Konspiration und verborgenes Handeln«. – Nächtliches spielt in Hubers Werk eine herausragende Rolle. Ob in Nocturnes , in Demijour oder in Hölderlins Umnachtung . Oder in der Vokalkomposition Sein als Einspruch : Dieses von den Rändern der Sprache her komponierte Stück könnte auch mit ›Atmen als Einspruch‹ überschrieben werden. Eine wie durch einen Schleier abgedämpfte Semantik in einer bis auf den Triebgrund der Sprache und ihr pneumatisches Fundament hin freigelegten Musik. »Gedanken der Nacht (...) langsam denk ich euch auf.« Mit den Atemsequenzen dringt ein Stück Empirie ins Werk ein. Pneumatische Vehemenz, die vom Hunger nach Leben in einer Ökonomie der Beschneidung spricht. Atmen als Souffleur des befreiten Augenblicks. Trotz des Überschreitens individueller Erkennbarkeit reicht Atmen in die individuelle Existenz hinein wie keine Sprache sonst. Atmen: Ausdruck einer Sprache der Gattung, vor- und übersprachlich zugleich. Atmen - das Individuellste und Allgemeinste zugleich. Bspl. 11: Sein als Einspruch [Tr. 11: 1´24´´–3´29´´(ab 3´27´´ausbl.)] [2´05´´] »Magier und Chirurg«. So hat Helmut Lachenmann einmal den Komponisten Nicolaus A. Huber charakterisiert. Verflüssigung wäre ein Kennzeichen seiner Musik. Fühlung aufnehmen mit der geschichtlichen Ladung des Klangs, um Vorurteile im Hörbewusstsein aufzulösen. Vorurteile im Sinn von Urteilen, die nicht mehr von der Erfahrung der Zeitbelange flüssig gehalten werden. Denn: Komponieren ist nicht einfach eine Sache von akustischer Struktur, sondern auch eine Sache von Denkstruktur. Orientiert an der Analyse von Wahrnehmung und Erfahrung. Schließen wir uns am Ende also wieder Stephen Dädalus an, auf seinem Gang durch Dublin, um zuzuhören, wie er diese analytische Intention zur Sprache bringt: »Was wir durch Schwarz symbolisieren, symbolisiert der Chinese vielleicht durch Gelb: jeder hat seine eigene Tradition. Griechische Schönheit lacht über koptische Schönheit, und der Indianer verhöhnt sie beide. Es ist so gut wie unmöglich, alle Traditionen zu versöhnen, wohingegen es keineswegs unmöglich ist, die Rechtfertigung für jede Form der Schönheit, die je auf Erden angebetet wurde, zu finden, indem man nämlich den Mechanismus der ästhetischen Wahrnehmung untersucht, ob die nun rot, weiß, gelb oder schwarz gekleidet daherkommt. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass der Chinese ein anderes Verdauungssystem hat als wir, obwohl unsere Speisen völlig unähnlich sind. Das Wahrnehmungsvermögen muss in Aktion erforscht werden.« Bspl. 12: Informationen über die Töne e-f [Tr. 4, 11´31´´(aufbl.)–12´58´´(=Ende)][1´27´´] Musikbeispiele Bspl. 1: Nicolaus A. Huber, Informationen über die Töne e-f (BVHAAST CD 9407) Bspl. 2: Huber, To »Marilyn Six Pack« (col legno WWE 20008) Bspl. 3: Huber , Eröffnung und Zertrümmerung (telos 018) Bspl. 4: Huber, Beds and Brackets (col legno AU 31821) Bspl. 5: Huber, Beds and Brackets Bspl. 6: Huber, Vor und zurück (AM 1224-2) Bspl. 7: Huber, presente (telos 018) Bspl. 8: Huber, Nocturnes (col legno AU 31821) Bspl. 9: Huber, Sein als Einspruch (col legno WWE 20031) Bspl. 10: Huber, Informationen über die Töne e-f
- Johannes Bauer, Resonanzen zwischen Neuer und Alter Musik
Resonanzen zwischen Alter und Neuer Musik Zur Diagnose nicht nur der Musik der Gegenwart Dass der gängige Konzertbetrieb auf lediglich 200 Jahre Musikgeschichte fixiert bleibt, scheint wenig zu irritieren. Zumal die Werke von Bach bis Debussy gemeinhin als Musik schlechthin gelten. Von diesem Fokus aus wirken die Bereiche der sogenannten Neuen und Alten Musik wie eine esoterische Randkunst für Spezialisten. Dazu kommt, dass sich die Kompositionen etwa der frankoflämischen Schule des 15. Jahrhunderts und die der Zeit nach 1945 meist kompromisslos von der melodisch orientierten Gefühlsdramatik der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts absetzen. Was aber bedeuten die Parallelen zwischen Alter und Neuer Musik und ihre Ferne zur affektbetonten, subjektzentrierten Ästhetik der klassischen Epoche? Zumal mit Blick auf eine nicht nur musikorientierte Diagnose der Gegenwart? Resonanzen zwischen Neuer und Alter Musik Deutschlandfunk, Atelier neuer Musik 2012 Bspl. 1: Guillaume Dufay, Adieu m`amour Bspl. 2: Mathias Spahlinger, adieu m`amour (hommage à guillaume dufay) Alte und Neue Musik: ihrer Terminologie nach zunächst nichts weiter als zwei allzu plakative Begriffe, um die Musik vor Bach und die nach Schönberg geschichtlich einzuordnen und auf Distanz zu halten. Was könnte demnach eine Gegenüberstellung dieser beiden Stilepochen mehr bedeuten als eine Konfrontation von Gegensätzen? Wenn Mathias Spahlingers adieu m`amour Guillaume Dufays gleichnamigem Rondeau über einen Zeitraum von rund 520 Jahren hinweg antwortet, verstört diese Antwort zunächst durch ihre Absage an eine erkennbare Variation des historischen Vorbilds. Spahlingers Komposition für Violine und Violoncello begegnet dem Werk des frankoflämischen Meisters mit einem Affront des Ungewohnten. Ihre diffizilen und extravaganten Grifftechniken scheinen die Unerreichbarkeit einer fremden Tradition bis in die Spielweise hinein festzuschreiben. Sobald freilich Spahlingers tastende Spurensuche einige Konturen von Dufays Rondeau wie verschattet anklingen lässt, schärft sich seine Hommage zu mehr als einem bloßen Ausdruck historischer Ferne. Es ist, als würde mit der Aura einer längst vergangenen Epoche der Musik deren Aktualität umso hörbarer. Worin liegt nun aber die Aktualität etwa der frankoflämischen Musik des fünfzehnten Jahrhunderts für die Musik der Gegenwart? Liegt sie womöglich in einer wechselseitigen Korrespondenz - trotz der Kluft zwischen der theologisch bestimmten Ära der Alten und der säkularisierten Welt der Neuen Musik? In einer Korrespondenz etwa, sofern Alte wie Neue Musik auf Abstand zu zielgerichteten Zeitmodellen und zur Affektdramatik der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts gehen? Liegt diese wechselseitige Korrespondenz also, kurz gesagt, in der Entfernung zur Subjekt- und Ich-Rhetorik der klassisch-romantischen Epoche? Sollte es sich aber um eine strukturelle Wahlverwandtschaft zwischen Alter und Neuer Musik handeln, welche Folgerungen ergeben sich dann aus dieser Wahlverwandtschaft für eine Diagnose der Gegenwart? Zunächst ist jedoch zu fragen, was der Begriff des Subjekts bedeutet, der im Lauf dieser Sendung die Nähe zwischen Alter und Neuer Musik als eine Art Gegenmodell präzisieren soll. Ist es doch - so die These - gerade die Subjektferne der Alten wie der Neuen Musik, die die jahrhundertelang etablierte theoretische, praktische und ästhetische Präsenz der Subjekt-Idee als historisch erfahrbar werden lässt. Philosophisch kann vom Selbstverständnis des Menschen als Subjekt erst dann gesprochen werden, wenn in einem fortschreitenden Säkularisierungsprozess Wissenschaft und Technik mit mathematischem Kalkül und maschinell gesteigerten Produktivkräften den irdischen und himmlischen Kosmos entzaubern und dem Denk- und Machbaren in Theorie und Praxis unterwerfen. Erst wenn sich mit Beginn der Neuzeit der Mensch als Zentrum der Schöpfung begreift, kann sich ein selbstbewusstes Subjekt der Welt als Objekt gegenüberstellen. Bis schließlich auch die Kunst ihre Grundsätze im Geschmacksurteil des rezipierenden Ichs findet. Wenn aber Subjektsein heißt: der Mensch wird innerhalb einer als Fortschritt gedachten Geschichte zur universellen Begründungsinstanz der Welt, mit der Welt als Spiegel seiner Bestätigung, dann entziehen sich Alte und Neue Musik genau dieser Spiegelfunktion. Ihre Kompositionen, die „frei“ sind vom Prinzip des „individuellen Geschmacks“, um John Cage zu zitieren, lösen sich nicht im Verstandes- und Gefühlsspektrum der Ich-Identität als ihrem letzten Grund auf. Bspl. 3: John Cage, String Quartet in Four Parts John Cage, String Quartet in Four Parts : Eine Musik der Stille, ohne Konflikte, ohne Höhepunkte, ohne emotionale Erregung. Erreicht wird diese Ruhe durch Cages Verfahren, seinem Streichquartett eine Sammlung von Akkorden unbekümmert um deren musikalischen Zusammenhang zugrundezulegen. Erst diese Weigerung, die Klänge nach den Regeln einer harmonisch schlüssigen Folgelogik zu verbinden, entlässt die Musik aus ihrem gewohnten Korsett von Spannung und Entspannung. Mag auch der vorletzte Satz als Kanon komponiert sein: mehr als dieser Rückgriff auf ein frühes Formprinzip ist es die Bindungslosigkeit, die Cages erstes Streichquartett Strukturen der Alten Musik angleicht. Auch Alte Musik kennzeichnet ein weitgehend offener Verlauf der Stimmen, bevor der Sog einer homogenen Zeitvorstellung spätestens seit dem Frühbarock sämtliche Größen der kompositorischen Grammatik miteinander vernetzt und final ausrichtet. Hört man beispielsweise die Instrumentalfassung von Matteo da Perugias Ballade Le greygnour bien aus der Zeit um 1415, so wird klar, wie weit ihr rhythmisch und gegenrhythmisch verwickeltes Stimmgefüge noch von einer Folgelogik der Klänge entfernt ist. Bspl. 4: Matteo da Perugia, Le greygnour bien Die relativ ungebundenen bis freien Stimmverläufe in Kompositionen des frühen 15. Jahrhunderts und solchen der Neuen Musik basieren auf einem Zeitmodell ohne zielorientiertes Gefälle. Zielorientiert aber heißt zumeist auch lösungsorientiert, wie die oft triumphal-finalen Schlüsse klassischer Sonaten und Symphonien belegen. Im Unterschied zu solchen Zielorientierungen, die auf die Zeitregie des Ichs abgestimmt bleiben, konzentrieren sich weite Bereiche der Alten wie der Neuen Musik mehr auf das Komponierte selbst als auf Hör-Erwartungen. Wohl deshalb trifft der Vorwurf des allzu Experimentellen und Intellektuellen die Alte Musik nicht weniger als die Neue, wenn auch mit verschiedener Heftigkeit. Woraus resultiert nun aber dieser Eindruck des Artifiziellen und Intellektuellen? Ein entscheidender Faktor liegt sicher im Feinbereich der rhythmischen Werte. Denken wir nur an die subtilen Kompositionskünste um das Jahr 1400, die der Stilperiode der „Ars subtilior“ ihren Namen geben. Hier unterlaufen nicht selten komplizierte metrische Relationen im Verhältnis 7:3, 8:5 oder 9:8 ohrgerechte Hörbelange. Aufgezeichnet in einer ex-travagant verfeinerten Notenschrift, erzeugen die Mikrowerte der Tondauern permanente rhythmische Verschiebungen bis hin zur Aufhebung eindeutiger metrischer Proportionen. So im Kanon Le ray au soleyl des Johannes Ciconia, geschrieben um 1370, und seiner vertrackten Polyrhythmik. Bspl. 5: Johannes Ciconia, Le ray au soleyl Dass freilich auch Kompositionen unserer Tage gerade durch ihre feinrhythmische Konstruktion sicheren Boden entziehen, ist ein Gemeinplatz. Oder wie wäre der Eindruck von Claus-Steffen Mahnkopfs Gitarrenstück Mikrotomie und dessen „polyphoniegesteuerter Komplexität“ sonst zu beschreiben? Auch hier handelt es sich um eine vielfältig disparate Schichtung von Stimmverläufen, die dementsprechend in „vier metrisch und im Tempo divergierenden Systemen“ notiert ist. Bspl. 6: Claus-Steffen Mahnkopf, Mikrotomie Johannes Ciconias Le ray au soleyl und Claus-Steffen Mahnkopfs Mikrotomie : Zwei Kompositionen, die über ihre rhythmischen Finessen hinaus bewusst machen, wie wenig Alte und Neue Musik auf eine geschlossene narrative Dramatik und deren Affektkurven setzen. Damit heben sich beide Stilepochen von jener „dramatischen, finalen Form“ ab, die Karlheinz Stockhausen mit Blick auf eine Musik der Gegenwart schon 1960 als nicht mehr zeitgemäß kritisiert hat. Für die Musik der Avantgarde sind erzähldramatische Verläufe mit ihren >zwingenden Fortsetzungen, schlüssigen Konklusionen, logischen Anschlüssen, starken Kontrasten, aufregenden Spannungen und endgültigen Schlüssen< obsolet geworden. Nicht dass Alte und Neue Musik affektlos und frei von jeder Rhetorik wären. Die rhetorischen Figuren der frankoflämischen Meister, geschweige denn die eruptive Gestik der Neuen Musik, die ohne die Affektgeschichte der letzten 400 Jahre nicht zu denken ist, sprechen eine andere Sprache. Und doch ist es der Abstand zu einer Ästhetik der narzisstischen Einfühlung, der Alte und Neue Musik einander annähert. Hören wir im Unterschied zu dieser Einfühlungsästhetik einen Ausschnitt aus Johannes Ockeghems Missa Prolationum . Um 1450 entstanden, entfaltet sich die gesamte Komposition aus einem Doppelkanon in unterschiedlichen Metren. Bereits diese kontrapunktische Bravour macht klar, wie streng Ockeghem der musikalischen Immanenz verpflichtet bleibt. Vor allem aber wird hörbar, wie wenig Ockeghem mit der Subjekt-Ästhetik der Empathie zu tun hat. Seine Musik kennt weder das melodiebetörte Spiegel-Ich noch die Sprache von Stimmung und Empfindung. Kein Wunder, dass Ockeghem dem am klassischen Musikfundus geschulten Ohr oft als anonym und abstrakt gilt. Beurteilte nicht auch Ernst Bloch Ockeghems Kunst als eine der >harten Stimmführung<, als „unsangbar, ausdruckslos, melodienlos und künstlich“? Bspl. 7: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum Die Distanz der Missa Prolationum zur gewohnten Affekt- und Gedächtnisregie resultiert maßgeblich aus Ockeghems Verfahren der „Varietas“. Varietas, Vielfalt aber bedeutet nichts weniger als eine fortwährende Umformung der musikalischen Substanz unter Tilgung jeglicher Schematik und Wiederholung. Weit mehr auf das Unregelmäßige als auf das Regelhafte ausgerichtet, wirkt Ockeghems Messe wie ein fortlaufender Diskurs des Unerwarteten, bis hinein in die asymmetrischen Vokallinien und den ständigen Wechsel des Rhythmus. Entscheidend ist jedoch, dass der athematische Duktus der Missa Prolationum weder die Ordnungsmuster der Wiederholung noch die des Kontrasts oder der Variation kennt, die dem Hören erst Kontinuität als Identität sichern. Ockeghems Verwandlung dagegen umkreist weniger die Identität als vielmehr die Intensität eines in sich bewegten und doch zeitlosen, gleichsam ewigen Jetzt. Jeder Moment dieser Musik ist gleich nah zum Mittelpunkt, ja selbst Mittelpunkt. Damit ergeben sich Parallelen zwischen Ockeghem und Karlheinz Stockhausens „Momentform“ als einem zentralen kompositorischen Entwurf der Gegenwart. Handelt es sich doch auch bei der „Momentform“ um eine Musik, die „sofort intensiv“ ist und „ständig gleich gegenwärtig das Niveau fortgesetzter ›Hauptsachen‹ bis zum Schluss durchzuhalten“ sucht. In ihr, so Stockhausen, macht die „Konzentration auf das Jetzt - auf jedes Jetzt - gleichsam vertikale Schnitte“, die die „horizontale Zeitvorstellung quer durchdringen bis in die Zeitlosigkeit, die ich Ewigkeit nenne: Eine Ewigkeit, die nicht am Ende der Zeit beginnt, sondern in jedem Moment erreichbar ist“. Bspl. 8: Karlheinz Stockhausen, Gesang der Jünglinge Die Intensität des Jetzt bei Ockeghem und die Intensität der Momentform bei Stockhausen ergeben sich aus der Dichte des Augenblicks, die zugleich eine Dichte der Musik ist. Diese Dichte - als Prinzip der Varietas bei Ockeghem, als Prinzip unentwegt „fortgesetzter Hauptsachen“ bei Stockhausen - hält die subjektive Einfühlung in Schach. Mag in Ockeghems Chansons auch eine frühe Ich-Emphase hörbar werden: seine großen Messen sind frei von jeder psychologischen Dramaturgie. Deshalb ergeben sich von Ockeghems vor- und zugleich transsubjektiver Sakralmusik her zahlreiche Bezüge zur Gegenwart, etwa zu Brian Ferneyhoughs Missa Brevis von 1969; Bezüge in erster Linie, was die Fülle einer äußerst heterogenen und damit welthaltigen Polyphonie anbelangt. Und dies trotz der Radikalität einer Moderne, die bei Ferneyhough Stimmen und Worte in extreme Grenz- und Artikulationsbereiche treibt. Stehen Ockeghem und Ferneyhough, Alte und Neue Musik damit nicht - über die Jahrhunderte hinweg - für ein Komponieren, das als unverfügbares Ereignis das Einfühlungs-, das Projektions- und Identitätsverlangen des Ichs dämpft und zum Schweigen bringt? Bspl. 9: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum, Kyrie Bspl. 10: Brian Ferneyhough, Missa brevis, Kyrie Sinngebung ist eine anthropologische Konstante. Allerdings bricht sich diese Konstante in geschichtlichen Varianten. So gewinnen etwa erst im 16. Jahrhundert die musikalischen Topoi von Melodie und Thema an Einfluss. Erst mit der neuzeitlichen Idee des Subjekts entwickelt sich auch das Sinngebot einprägsamer melodischer Phrasen und prägnanter musikalischer Themen. Dass die Begriffe Thema und Subjekt musiktheoretisch schon früh austauschbar werden, ist deshalb kein Zufall. Das Subjekt als Thema der musikalischen wie der sozialen Bühne versteht sich ja als das Gesetzte, das seinen Charakter durch sämtliche Gefährdungen hindurch behauptet und dadurch den Beweis seiner Identität liefert. Die Subjektferne Alter und Neuer Musik resultiert demzufolge auch aus einer Abwesenheit der Affektdramaturgie des Melodischen. Erzeugt doch musikalisch erst das Wiedererkennen unverwechselbarer Sequenzen und Motive den Identitätsspiegel des Subjekts. Während diese Gedächtnisstütze des Melodischen in zahllosen Sakralwerken Alter Musik so gut wie keine Rolle spielt, wird sie in zeitgenössischen Kompositionen regelrecht demontiert. So setzen sich Tom Johnsons Rational Melodies von 1982 entschieden vom Gefühlskontext der Melodie ab, um, den Erläuterungen des Komponisten zufolge, „weder meine Emotionen auszudrücken noch die der Hörer zu manipulieren“. Stattdessen geht es um eine eher arithmetische Suche nach „additiven, isorhythmischen, verdoppelnden […] (Ton-)Reihen“, ausgerichtet an Strukturen, nicht an persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Schließt Johnson damit nicht an Praktiken der Alten Musik an? Bspl. 11: Tom Johnson, Rational Melodies, Nr. 9 Melodischer Subjektferne wie in Johnsons Rational Melodies begegnen wir häufig auch in Kompositionen des 14. Jahrhunderts. Oder wo fänden sich zum Beispiel in Guillaume de Machauts isorhythmischem Hoquetus David charakteristische Melodieprofile? Bspl. 12: Guillaume de Machaut, Hoquetus David Dass Alte und Neue Musik inmitten des allgemeinen Credos „Musik ist Gefühl!“ ins Abseits geraten, verwundert nicht, auch wenn die Bestimmung von Musik als einer primären Kunst der Emotionen nur trägt, solange wir uns auf eine spätere Phase der dur-moll-tonalen Empfindungswelt beschränken. Dass das Melodische für lange Zeit ein machtvoller Gefühlsverstärker und Ich-Multiplikator war und sein wird, steht außer Zweifel. Aber eben nur für lange, keineswegs für alle und keineswegs zu jeder Zeit. Deshalb irritieren Alte und Neue Musik den Unterhaltungsmarkt der Gefühle und des Gefühligen, der zunehmend Sinne und Erfahrung blockiert. Indem sie sich dem Sog der Erlebnismusik entziehen, demonstrieren sie, dass Musik nicht durchweg auf ihre Rücksicht gegenüber individuellen Lust- und Unlustempfindungen zu verpflichten ist; trotz der Erwartung, die da lautet: Musik muss ein Spiegel sein, Musik muss mein Spiegel sein, in dem ich mich bespiegeln, in dem ich mich bestätigen kann. Mag es nach mehreren Jahrhunderten auch anders scheinen: die abendländische Epoche des Subjekts ist durch und durch geschichtlich. Diesen Zeitkern machen im Bereich der Kunst gerade die subjektfernen Stadien Alter und Neuer Musik bewusst; abgesehen davon, dass seit den Errungenschaften der Aufklärung mit ihren ökonomischen, technischen und künstlerischen Emanzipationsschüben zunehmend auch das Gewaltpotenzial in der Geschichte des Subjekts und seines Autonomie-Ideals als historischer Sprengsatz offenbar wurde. Allem voran eine rigorose Naturbeherrschung, auf die die Neue Musik ihrerseits mit einem Aufstand des Körpers reagiert, bis hin zum Schrei und zur materialgefärbten Unreinheit der Töne. Gleichwohl gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich die technische Vernunft der Moderne auf eine ökologische Vernunft hin weitet. Ob der transsubjektive Impuls Alter und Neuer Musik dabei eine Rolle spielen kann? Zumindest wird von der Möglichkeit einer solchen Kursänderung her verständlicher, warum Neue Musik so sehr auf der Aufhebung der Ich-Blockaden und ihrer Fixierung auf den Status quo besteht. Auch und vor allem dann, wenn Neue Musik auf eine späte Periode Alter Musik trifft, die, wie bei Carlo Gesualdo um 1600, bereits ich-melodisch durchdrungen ist. Und so löst sich denn in Caspar Johannes Walters Gesualdo-Komposition L´Infinito auf ein Gedicht Giacomo Leopardis die Poesie der Worte immer wieder in „einzelne Vokale und Konsonanten“ auf - stimmungswidrig gleichsam und entgegen jeder Innerlichkeitsästhetik. Und wenn bei Leopardi schließlich die unsteten Gedanken im „Unermesslichen“ versinken und Walters Musik dabei an Gesualdos oft wie ruhelos komponiertes chromatisches Schweifen erinnert, dann wird dieses Versinken, dieser >sanfte Schiffbruch<, dieser >dolce naufragar<, auch zu einem Sinnbild der Musik: Als könnten derzeit die Klänge - inmitten einer Flut an Ich-Musik - nur durch den Untergang ihrer melodischen Fracht neue, unbekannte Ufer erreichen. Bspl. 13: Caspar Johannes Walter, L´Infinito Indem jedoch Alte und Neue Musik die Epoche des Subjekts von der Ästhetik her geschichtlich verorten, ermöglichen sie uns zugleich ein neues Hören des melodischen Passionatos und der als klassisch-romantisch eingestuften Musik mit ihren grandiosen Gefühls- und Bestätigungsritualen. Jetzt erst können Drama, Konflikt und Leidenschaft mit anderen Ohren wahrgenommen werden. Keineswegs weniger intensiv, aber bei weitem nicht so nostalgisch, so absolut. Liegt in dieser geschichtlichen Verortung nicht auch eine gelöste, heitere Perspektive, von der in Carlo Gesualdos Sechstem Madrigal-Buch gesungen wird? Und zudem nicht auch eine Freiheit? Die Freiheit nämlich, feiner, offener, hellhöriger hören zu können und zu ahnen, was anders wäre als das bekannte Spiegelsubjekt und sein Zentralismus. Bspl. 14: Carlo Gesualdo, Al mio gioir il ciel si fa sereno Musikbeispiele Bspl. 1: Guillaume Dufay, Adieu m`amour [Tr. 9, 0´00 - 1´23][1´23] (Studio der Frühen Musik, Andrea von Ramm, Thomas Binkley EMI Classics 8 26493 2) (LC 06646 / EAN 7 2438264932 8) Bspl. 2: Mathias Spahlinger, adieu m`amour (hommage à guillaume dufay) [Tr. 3, 5´51 - 7´33][3´24] (Ensemble Recherche ACCORD 206222) (LC 00280 / EAN 3 229262062220) Bspl. 3: John Cage, String Quartet in Four Parts [Tr. 3, 1´50 - 4´28][2´38] (Arditti Quartett mode records mode 27) (LC 01923 / EAN 7 6459300272 7) Bspl. 4: Matteo da Perugia, Le greygnour bien [Tr. 8, 0´00 - 1´05][1´05] (Early Music Consort of London, David Munrow Virgin Classics 7243 5 61284 2 2) (LC 7873 / EAN 7 2435612842 2) Bspl. 5: Johannes Ciconia, Le ray au soleyl [Tr. 12, 0´34 - 1´46] [1´12] (Ensemble Project Ars nova New Albion Records NA 048) (LC 03456 / EAN 0022551004825) Bspl. 6: Claus-Steffen Mahnkopf, Mikrotomie [Tr. 7, 2´42 - 4´50 (ab 4´40 ausbl.)][2´08] (Jürgen Ruck Baldreit-Edition / Südwestfunk 1995) Bspl. 7: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum [Tr. 10, 3´31(zügig aufbl.) - 7´04][3´33] (The Clerks´ Group, Edward Wickham Gaudeamus CD GAX 550) Bspl. 8: Karlheinz Stockhausen, Gesang der Jünglinge [Tr. 4, 10´38 - 13´08] [2´30] (Stockhausen Verlag 3) Bspl. 9: Johannes Ockeghem, Missa Prolationum, [Tr. 9, 2´47 - 3´57][1´10] (The Clerks´ Group, Edward Wickham Gaudeamus CD GAX 550) (EAN 0743625055023) Bspl. 10: Brian Ferneyhough, Missa brevis, Kyrie [Tr. 7, 1´23(zügig aufbl.) - 2´15][0´52] (Neue Vocalsolisten Stuttgart, Manfred Schreier col legno 20030) (LC 07989 / EAN 5099702003025) Bspl. 11: Tom Johnson, Rational Melodies, Nr. 9 [Tr. 9, 0´00 - 1´09 (ab 1´00 ausbl.)][1´09] (Eberhard Blum [(hat[now]ART 6133) (LC 6048 / EAN 7619925613320) Bspl. 12:Guillaume de Machaut, Hoquetus David [Tr. 20, 0´00 - 1´13 (ab 1´06 ausbl.)] [1´13] (Early Music Consort of London, David Munrow Polydor 453 185-2) (LC 0113 / EAN 0 2894531852 3) Bspl. 13: Caspar Johannes Walter, L´Infinito [Tr. 6, 1´44(zügig aufbl.) - 3´34][1´50] (Neue Vocalsolisten Stuttgart, Manfred Schreier col legno 20031) (LC 07989 / EAN 5099702003124) Bspl. 14: Carlo Gesualdo, Al mio gioir il ciel si fa sereno [Tr. 12, 0´00 - 2´16][2´16] (Collegium Vocale Köln, Wolfgang Fromme CBS Maestro M2YK 46467) (LC 0149 / EAN 5099704646725)
- Johannes Bauer, Écriture und Ethos in Adornos Theorie der Neuen Musik
Der Essay basiert auf einem Vortrag anläßlich der Forschungstagung Adornos Kritische Theorie der Moral an der Berliner Humboldt-Universität 1994 Seismogramme einer nichtsubjektiven Sprache Écriture und Ethos in Adornos Theorie der musikalischen Avantgarde © Johannes Bauer, Ecriture (2016), 33 x 30 cm, Acryl auf Papier Il s'agit d'arriver à l'inconnu par le dérèglement de tous les sens. Rimbaud Adornos späte ästhetische Arbeiten konfigurieren sich um die Idee der "écriture"(1) und der "Schrift"(2) als eines ihrer Zentren. Mit Blick auf das Problem, wie Musik als Entfaltung von Wahrheit zu denken sei, möchte ich deshalb den Topos vom "Schriftcharakter"(3) der musikalischen Avantgarde einigen Leitmotiven der Ästhetik Adornos als Gegenimpuls konfrontieren, zumal dem von der Kunst als "Gedächtnis des akkumulierten Leidens"(4). Ich möchte zeigen, daß sich in Adornos Musik-Essays der sechziger Jahre punktuelle Transformationen seiner Ästhetik finden: von einer Ästhetik des "Schmerzes und der Negativität"(5) hin zu einer Überschreitung des ethisch fundierten Wahrheitsgehalts als der Expression des "reinen Unmenschlichen"(6). Seit längerem wird an Adornos Ästhetik ein dogmatischer Zug kritisiert: ein "normativer Modernismus"(7), den die künstlerische Praxis als veraltet hinter sich gelassen habe. Der "elitäre Exorzismus" in Adornos "Moderne-Erzählung" wurde als eine "modernistische Mythologie" verdächtig, die vieles von dem, was in den nach-avantgardistischen Künsten des letzten halben Jahrhunderts zutage kam, aus dem Ensemble legitimer moderner Ausdrucksformen ausschließe(8). Nicht jeder aber, der außerhalb der "Dissonanzpflicht" gegen "Konsonanztabus" verstoße, sei darum schon ein "Mitläufer der falschen Totalität". Vom "Verhängnis der Welt" könne man schließlich "auf sehr verschiedene Weise wissen"(9). Zweifellos wird der postulatorische, nicht selten prohibitive Gestus der Schriften Adornos zur Musik der Gegenwart von einem ethischen Movens des Urteils in Gang gehalten, etwa dem gegen eine eilfertige Angleichung der Musik an wissenschaftlich-technische Verfahrensweisen. Wobei Adornos Reflexionen durchweg mit ontologie- und gesellschaftskritischen Motiven koinzidieren, so in der These vom Umschlag der reinen Materialintention in Naturwüchsigkeit. Nicht selten jedoch entgrenzt sich die ästhetische Theorie Adornos auf einen Horizont hin, vor dem der Kontext des Standhaltens im Ausdruck ungemilderten Leidens zu oszillieren beginnt. Eine dieser Entgrenzungen formuliert der Aufsatz Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei von 1965. Adorno geht in dieser Arbeit davon aus, daß die Musik der Moderne und der Avantgarde "um so deutlicher (spricht), je tiefer sie in sich selbst durchgebildet" ist, indes ihre "Sprachähnlichkeit" mit dem "Fallen der Mitteilung" steige. "Schrift" wird Musik gerade durch den "Verzicht aufs Kommunikative", das "in Wahrheit Unsprachliche", weil "bloß subjektiv Gewollte". So prägen die Rigorosität der Konstruktion und ihre antisymbolische Tendenz das Werk der Avantgarde "zur Schrift aus seiner eigenen Sprache". "Das Abbrechen der Intention durchs Herstellen des Gebildes - das >Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind< - verleiht dem Werk seinen Zeichencharakter."(10) Im "Bruch zwischen Zeichen und Bezeichnetem" aber transformiert sich Musik zu einer "veränderten Gestalt des Expressiven", "unabhängig von der signifikativen Beziehung auf ein Auszudrückendes" und einem "sich ausdrückenden, mit sich identischen Subjekt". Hier geht es nicht mehr um den Spiegel des "synthesierenden Ich" und seine Selbstmächtigkeit in Material und Gestalt. Musik wird vielmehr zum 'Schema' einer "nichtsubjektiven Sprache", der, weil "nicht unmittelbar gegenwärtig und möglich", etwas "Abgebrochenes, Hieroglyphisches" eignet. Die "Schriftzüge" der Werke indes markieren als "Seismogramme von Unwillkürlichem" den Durchbruch "früher mimetischer Verhaltensweisen". Frei von den "Konventionen" der "ästhetischen Zeichensysteme", die das "mimetische Moment" immer auch "gefälscht" haben. Musik, die solchermaßen ihrem "Impuls sich überläßt, hat Affinität zum reinen Ausdruck". Wie "écriture" in Musik erst entbunden wird durchs "Absterben ihrer nachahmenden Momente" bis hin zu denen der "traditionellen Expressivität", so ist Musik erst in der "écriture" vermöge des "beherrschten Naturmaterials (...) frei", "ihrem mimetischen Impuls rein nachzugeben"(11). Obwohl der "Schriftcharakter" aufgrund eines "fernen, auch vorwegnehmenden Erzitterns bei Katastrophen" als "seismographisch" bezeichnet wird, sich somit auch hier die Präsenz einer Philosophie im Schatten des Verhängnisses zeigt, ist der referierte Passus einer, an dem sich die Ästhetik Adornos am weitesten öffnet. Die Struktive von Erkenntnischarakter und Wahrheitsgehalt und ihr Reflexionsgrund im Zeichen der "Dunkelheit und Schuld der Welt"(12), die Allianz von Mnemonik und Ethik, selbst der expressive Habitus des artistischen Subjekts werden vom gestischen Sprachmodell der Musik her auf dessen transsubjektives Dereglement hin überschritten. Daß die "Unmenschlichkeit der Kunst (...) die der Welt überbieten (muß) um des Menschlichen willen", wie noch die Philosophie der neuen Musik (13) fordert, spannt sich auf eine meditative Dimension des 'reinen, beredten Naturlauts'(14) hin. Indem Musik "mit menschlichen Mitteln das Sprechen des nicht Menschlichen realisieren" will und "befreit vom dinghaft Störenden" zum "reinen Ausdruck" wird, nähert sie sich einem "Unbekannten", das Adornos Musikästhetik für einen Augenblick ihrer Unerbittlichkeit im "Begriff des Ernstes"(15) enthebt. Daß sich Adorno über die Brisanz dieser Überlegungen im klaren war, zeigt die häufige Konnotation der "Kündigung des ästhetischen Sinns" mit der Aufhebung der "äußeren und inneren Abbildlichkeit der Kunstwerke"(16). Entlastet doch das Moment des Bilderlosen Musik vom Ethos des "zerrütteten Kunstwerks"(17). Dessen Physiognomie, die in der Moderne "gespannt gegen das Entsetzen der Geschichte"(18) steht, wird schon in der Philosophie der neuen Musik durch den Satz gemildert, daß neue Musik "keine Ideologie mehr"(19) sei. Zusammen mit dem Gedanken, das Ästhetische der Werke müsse "nicht in der Lösung seiner Fragen und nicht einmal notwendig in der Wahl der Fragen selber (...) auf die Gesellschaft"(20) reflektieren, entwirft der Essay Vers une musique informelle schließlich die "Gestalt aller künstlerischen Utopie heute" als den Versuch, "Dinge [zu] machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind"(21). Hier begegnet dieses Leitmotiv als Resümee einer programmatischen Schrift also zum zweitenmal, um im Szenarium der zeitgenössischen Musik eine gleich produktive wie luxurierende Phantasie des Ästhetischen zu innervieren; jenseits der Scheidung von engagierter und autonomer Kunst und mit einer Abrüstung des Subjekt-Ethos zugunsten eines "Vorrangs des Objekts"(22). Obwohl Adorno die "Emanzipation" der Musik "von der Sprache, die Wiederherstellung gleichsam ihres lautlichen, intentionslosen Wesens" mit der Idee des "Namens" als der "Überwindung musikalischer Naturbeherrschung durch deren Vollendung hindurch"(23) in Zusammenhang bringt, hat er der Verwirklichung dieses Potentials vom Limes des Mnemonikers her letztlich doch mißtraut. So sehr Adorno auch für die Experimente der Avantgarde offenbleibt, so sehr dominiert seine Arbeiten bis zuletzt das Gravitationszentrum einer Ästhetik des Subjekts. Seine Interpretation der anarchischen Tendenzen des Zufalls oder der positivistischen Blindheit als eines Überläufertums zum krud Empirischen schreibt dabei bis in die Ästhetische Theorie hinein die Diagnostik der Dialektik der Aufklärung fort. Ich möchte nur das von Adorno des öfteren unter Berufung auf Ligeti thematisierte wechselseitige Umschlagen des Seriellen und des Aleatorischen erwähnen(24), dessen Analyse sich als eine des immanenten Übergangs der Extreme von Notwendigkeit und Zufall, Totalität und Desintegration, Ordnung und Chaos, Objektivität und Subjektivismus am Formenkreis der zivilisatorischen Trennungsmanöver von Geist und Natur des Dialektik -Buchs von 1944 orientiert. Vielleicht läßt sich deshalb Adornos Verhältnis zur Musik der Avantgarde auch am besten mit dem Bild vom "Fühlhorn der Schnecke", dem "Wahrzeichen der Intelligenz" aus der Dialektik der Aufklärung charakterisieren: als eine Bewegung des Sich-Annäherns und Zurückzuckens im Erfahrungs- und Erkenntnisbereich von Irritation und Reflexion(25). Noch in seinen späten Schriften insistiert Adorno auf der Forderung, das "Unbekannte" müsse sich "durchs Subjekt hindurch" und durch die Reflexionsinstanz der Form bestimmen; selbst wenn es sich hier nicht mehr um die possessiven Strategien eines mnemonisch omnipräsenten künstlerischen Subjekts handelt, sondern eher um dessen mediale Präsenz. Das "nominalistische Kunstwerke" bedarf "stets wieder des Eingriffs der lenkenden Hand"(26). Ebensowenig verzichtet Adorno auf das "Postulat der Durchbildung", und sei es auch nur, daß die "formende Hand dem Material am zartesten nachtastet"(27). Die Tradition des Organismus-Gedankens bleibt selbst bei dessen scharfer Problematisierung als Widerstand gegen die letalen Male des Werks wirksam. Bis zuletzt wird die Idee des "spekulativen Ohrs" als die reflexiv-mimetische Fähigkeit des artistischen Sensoriums festgehalten. So heißt es 1966 über die "Objektivität" der "jungen Komponisten", sie behielte die "Spur des Willens derselben Subjektivität, die sich dabei ausschloß, die Spur von Zufälligkeit und Unverbindlichkeit"(28). Im extremen Nominalismus der zeitgenössischen Musik sei hingegen immer noch, wenn auch als einzige, die zunehmend eliminierte Möglichkeit der Selbstversenkung des Gehörs in die idiomatischen, übergreifenden Momente (offen), deren Reservoir das Subjekt ist. (...) Formgefühl heißt: der Musik dorthin nachhorchen, wohin sie von sich aus will; (...) Dazu bedarf es aber der äußersten subjektiven Anspannung. Das spekulative Ohr ist das einzige Organ der unverbürgten Objektivität.(29) Die Intention, im "Vorrang des Objekts" diesem mimetisch beizustehen, setzt Adorno gegen die Systemgewalt heteronomer Prinzipien, die als kompositorische Entlastungsmomente die Imagination aufkündigen und sich damit in ihrem Totalitätsanspruch als partikular erweisen. Zu groß ist Adornos Bedenken vor der positivistischen Erstarrung, als daß er auf die Permanenz des Subjekt-Ingeniums verzichten könnte. Ein Werk aber, das den Rätselcharakter seiner Schrift aufkündigt, ist für Adorno letztlich auch eines, das die Negation des Sinns nicht mehr als sinnvoll formuliert respektive seine Sinnleere als sinnvoll affirmiert. Denn "im Kunstwerk hat die Negation des Sinnes ihr Recht einzig als ihrerseits sinnvolle"(30). Solcher Perspektive nach ist Adornos Positivismuskritik eine der Tautologie des Faktischen(31). Bedarf Kunst stets des "ihr Heterogenen, um es zu werden", so wird "der Gegensatz des Kunstwerks zur Objektsphäre (...) produktiv, das Werk authentisch allein dort, wo es diesen Gegensatz immanent austrägt"(32). Ginge der "Musik das expressive Moment, das eines Ausdrucks ohne festes Auszudrückendes einfach ab", "wäre der Schriftcharakter verloren. Das Werk regredierte (...) aufs Vorkünstlerische, es knisterte nicht mehr"(33). Zwar notiert Adorno zur "Dissoziation von Sinn und Ausdruck" in der neuen Musik, daß "Subjektivität" als der "Träger des Ausdrucks" in der traditionellen "nicht dessen letztes Substrat" sei: "wie das Ende, so greift der Ursprung der Musik übers Reich der Intentionen, das von Sinn und Subjektivität hinaus"(34). Dennoch thematisiert Adorno als äußerste Grenze der Avantgarde den möglichen Indifferenzpunkt von Positivismus und Utopie im Moment des Bilderlosen: ein Menetekel des Tilgens und Verlöschens der Subjektspur im kollabierenden Ineinanderstürzen der Extreme und ihrem Verschwinden im Zwielicht des Geschichtslosen. Korreliert doch die Aura des Bilderlosen als das große ästhetische Versprechen im Schriftcharakter der jüngsten Moderne einer "bilderlosen Realität". Sie aber ist das "vollendete Widerspiel des bilderlosen Zustands geworden", "in dem Kunst verschwände, weil die Utopie sich erfüllt hätte, die in jedem Kunstwerk sich chiffriert"(35). Kein Künstler jedoch "kann mehr vorwegnehmend das Antagonistische zum Sinn versammeln, so wie die gleichzeitige, verhärtete Gesellschaft kein Potential einer richtigen absehen läßt. Die Kraft des Einspruchs hat sich zusammengezogen in die sprachlose, bilderlose Gebärde"(36). "Nur durchs bilderlose Bild der Entmenschlichung" hält die neue Musik das "Bild eines Menschlichen" fest(37). Fraglich bleibt für Adorno, ob sich die vom Entsetzen stigmatisierte Physiognomie des Standhaltens der neuen Kunst lösen kann, ohne zur grinsenden Grimasse zu werden: angesichts des Grauens von Auschwitz und der obszönen Gleichzeitigkeit der gesellschaftlichen Antagonismen eine Physiognomie der "geschlossenen Augen und zusammengebissenen Zähne"(38). Denn "um inmitten des Äußersten und Finstersten der Realität zu bestehen, müssen die Kunstwerke (...) jenem sich gleichmachen. Radikale Kunst heute heißt soviel wie finstere, von der Grundfarbe schwarz"(39). Wenngleich Adorno einräumt, daß in der "Verarmung der Mittel, welche das Ideal der Schwärze (...) mit sich führt", "auch das Gedichtete, Gemalte, Komponierte (verarmt)"; ja daß die "schwarze Kunst Züge (trägt)", die in ihrer Endgültigkeit die "geschichtliche Verzweiflung besiegelten" und deshalb von der Perspektive einer befreiten Gesellschaft her "ephemer" sein mögen, bleibt für ihn das "Unrecht, das alle heitere Kunst, vollends die der Unterhaltung begeht, (...) eines an den Toten, am akkumulierten und sprachlosen Schmerz"(40). Dieser Gedanke führt ins Zentrum Adornoscher Ästhetik, zumal in das seiner Philosophie der Musik. Denn für Adorno bleibt die unabdingbare Dialektik zwischen der kompositorischen Imagination und der Mnemonik des Werks der archimedische Punkt seines Denkens: als Schärfung der Mnemonik zu zivilisationskritischer Anamnesis und Mnemosyne aus dem Geist der Faktur gegen die Verdinglichung im Vergessen. Ist doch "alle Verdinglichung (...) ein Vergessen"(41), "inhuman" darin, "weil das akkumulierte Leiden vergessen wird"(42). Das Stigma einer letalen Lethe kennzeichnet das Wesen einer zur Geschichtslosigkeit tendierenden instrumentellen Vernunft, die die "Kraft zur Mnemosyne ein(büßt)". Am Ende wird gegenwartshörig "Erinnerung, Zeit, Gedächtnis von der fortschreitenden bürgerlichen Gesellschaft als irrationale Hypothek liquidiert"(43). Deshalb reklamiert die Ästhetische Theorie den Anspruch des Eingedenkens für die Kunst als "Zuflucht des mimetischen Verhaltens", als "Gedächtnis des akkumulierten Leidens"(45). Wie die Lähmung der Reflexion im Vereisen von Erfahrung so arbeitet für Adorno auch die Destruktion des Formgedächtnisses der Mortifikation des Vergessens zu: als Tilgung von Erinnerung und Antizipation über das Aussetzen zumal einer vom Subjekt her artikulierten musikalischen Zeit. Wohl kein Beispiel taucht in Adornos Musikschriften direkt oder in Anspielung so oft auf, wie das der Partitur eines jungen Komponisten, die in ihrer mathematisch durchkonstruierten Notwendigkeit den Kriterien qualitativer Zeitorganisation nach absolut sinnlos erschien(46). Adornos Begriff des musikalischen Sinns bleibt dagegen an die subjektiv reflektierte Instanz der Form gebunden; genauer: an die ethisch fundierte Mnemonik des Werkcharakters und ihre Brechung gesellschaftlicher Episteme. Das Kräfteparallelogramm des Werks entfaltet sich zwischen den Formanten Sprache, Subjekt, Zeit und Sinn. Entsprechend thematisiert die Einleitung in die Musiksoziologie die Differenz zwischen der älteren neuen Musik, "in der das Leiden des Subjekts die affirmativen Konventionen abwirft, und der jüngsten, in der für dies Subjekt und sein Leiden schon kaum mehr Platz ist", in welcher "Angst" in "kaltes Grauen" umschlägt, "jenseits der Möglichkeit von Gefühl, Identifikation und lebendiger Zueignung"; in ein "Grauen" allerdings, das "präzis auf den gesellschaftlichen Zustand" reagiert. Solche "Abdankung des Subjekts" in der jüngsten Musik "verbirgt sich im formalen Apriori, der technischen Verfahrungsweise": als Triumph der heteronomen Struktur über das Besondere. So gewinnt die Rationalität ihr Irrationales, das katastrophisch Blinde. Unter der vorgedachten, zugleich opaken und widerstandslosen Allgemeinheit wird der hörende Mitvollzug (...) unmöglich. Die Zeitdimension, deren Gestaltung die überkommene musikalische Aufgabe war und in der richtiges Hören sich bewegte, wird aus der Zeitkunst virtuell eliminiert. Ebenso werden die bis heute geachteten Unterschiede von Musik, Dichtung und Malerei (...) herabgemindert, als wären sie solche bloßer Stoffe; der Vorrang des Ganzen, der "Struktur", macht sich gleichgültig gegen die Materialien. (...) Vollkommene Integration (wird) dem Integrierten hart angetan, Herrschaft, nicht Versöhnung.(47) Ist Adornos Kritik an der "Abdankung" und "Austreibung" des "Subjekts"(48) soziologisch von der Erfahrung des NS-Faschismus und des Stalinismus, schließlich des autoritären Charakters und seiner Herdenmentalität in der modernen Massengesellschaft nicht zu trennen, so bestimmt seine Philosophie des originären Werks ästhetisch eine Intention Hegels: die nämlich, das Artefakt selbst als Subjekt zu begreifen. Die der Logik des Denkens verschwisterte mnemonische Kohärenz der Kompositionen aber, Garantin ihrer Logizität und Identität, hebt sich seit dem Verlust des gestischen Sprachcharakters der Musik auf. Cages aleatorische Verfahren insbesondere, aber auch - als Vermittlung von Notwendigkeit und Zufall - Boulez' Dritte Klaviersonate oder Stockhausens Klavierstück XI mit der Variabilität seiner neunzehn Formteile setzen mit der Kausalität des geschlossenen Werks zugleich dessen Einmaligkeit außer Kraft. Die auktoriale Schöpfungsrelation zwischen Werk und Komponist kommt an ihr Ende. Nach 1945 transformiert die Avantgarde gerade die possessive Mnemonik des tonalen Formgedächtnisses als eine Spur des "Ich denke", das "alle meine Vorstellungen (muß) begleiten können"(49), und ihre gewichtige Rolle noch in der Zwölftonkomposition zu einer zunehmend akausalen Energetik. Adorno ist sich gleichwohl bewußt gewesen, wie sehr monotheistische Relikte in der Regie des künstlerischen Autors wirksam sind; wie sehr ein ethisches Moment über die Methoden der Schlüssigkeit als säkularisierter göttlicher Blick des ästhetischen Produzenten in die Stimmigkeit der rechten Form eingeht und wie sehr die Mnemonik als Selbstreflexion des werkhaften Subjektcharakters Züge des Zwanghaften trägt. Damit Musik der "Norm von Logizität"( genüge, muß sie danach trachten, gänzlich zu stimmen, lückenlos sich zu fügen, Totalität zu werden. (...) Je dichter sie gewoben ist, je weniger ihre Organisation Einspruch und Abwendung des Gehörs duldet, um so autoritärer wird ihre eigene Erscheinung. Ihre absolute Bestimmtheit in sich selbst ähnelt sie der Erscheinung des Absoluten an.(50) So hat "jede auf Totalität angelegte Musik (...) ihren theologischen Aspekt"(51). Adorno schärft hier den Organismus des Werks über den objektiven "innermusikalischen Zwang"(52) zur rhetorischen Diktatur des Unbedingten. Daß dessen Gewalt im Schein des Formintegrals immer auch suspendiert wird, betont Adorno allerdings ebenso entschieden. Anstelle zahlreicher prominenter Passagen mag dies eine weniger bekannte demonstrieren, die kunst- und gesellschaftstheoretische Axiome zur Engführung bringt. Die Organisation des musikalischen Kunstwerks, seine "Rationalität", ist zuinnerst selbst ein Tauschverhältnis (...). Die Moral des Kunstwerks, nichts schuldig zu bleiben, will den Wechsel honorieren, den der erste Takt unterschreibt. Homöostase wird zur Forderung immanenter ästhetischer Ökonomie. Analog wäre eine vom Tausch befreite Gesellschaft eine, die ihn zugleich insofern erfüllte, als sie nicht länger den Schwächeren im Tausch etwas vorenthielte; der vom Täuschen geheilte Tausch wäre Tausch nicht länger. Entschlüge Musik sich der Idee solcher Gerechtigkeit (...), so würde sie amorph, opferte Logik und Stimmigkeit und überantwortete sich dem bloßen Zufall, der schlechten Irrationalität.(53) Zeitverhältnisse werden zu Schuldverhältnissen, die ästhetische Rechenschaftspflicht zur Ökonomie des Komponierten, die von der mimetischen Logizität des Werks im "Schein der Versöhnung"(54) der realen Pression enthoben wird. Es ist dies freilich auch eine der Stellen Adornos, die durch die Legierung von Ästhetik und Gesellschaftstheorie den Blick für wegweisende Transformationen der neuen Musik verstellen und verhindern, die Aufhebung der rememorablen Mnemonik und ihrer Logik der Stimmigkeit als emanzipatorisches Potential wahrzunehmen. Zentrale Kompositionen der Avantgarde haben nämlich gezeigt, daß die ästhetische Leerstelle des Subjekts keineswegs mit dessen realer Entmündigung draußen, geschweige denn mit einem Zero an rezeptiver Phantasie und Reflexion gleichgesetzt werden muß. Vielmehr nimmt neue Musik, die diesen Namen verdient, die gesellschaftliche Polyphrenie bis hin zur Deterritorialisierung des Subjekts auf, um sie in Richtung dessen zu transzendieren, was Adorno einmal die "opferlose Nicht-Identität des Subjekts"(55) genannt hat. Wenn Cage, Feldman oder Stockhausen Interpreten und Hörer freilassen, indem sie sie von der immer auch zwanghaften présence d'esprit des musikalischen Denkens nach dem Modell der logischen Kontroll- und Wachsamkeitsgebote entbinden, bedeutet das nicht automatisch eine vom mnemonischen Imperativ aus gewertete regressive Dekonzentration. Statt dessen wäre von einem "spekulativen Ohr" auch der Rezipienten zu reden(56). Zumal sich die Werke selbst, wie etwa die Structures Ia von Boulez und Cages Music of Changes , im Prozeß des Hörens ihres seriellen und aleatorischen Extrems entäußern und wechselseitig zu neuer Sprache und Expressivität umschlagen. Abgesehen davon, daß wohl keine Musik ohne jeglichen Rest von Sprachähnlichkeit und Subjektimpuls denkbar ist, muß sich ebensowenig eine zwangsläufige Relation zwischen dem gesellschaftlichen und musikalischen Systembegriff nach den Gesetzen einer Dialektik von Determination und Desintegration ergeben. Und zwar aufgrund eben jener Autonomie ästhetischer Mimesis, auf der Adorno stets bestanden hat. Denn mit der Entäußerung der Mimesis zur écriture verschlüsselt sich das Werk zwar zum monadischen Zeichen seiner selbst; es muß aber - entgegen Adornos kritischem Sinnbegriff - nicht zwangsläufig sinnlos werden als eine Affirmation des Sinnlosen. Es negiert lediglich einen Sinnbegriff, der sich selbst noch in seiner äußersten Problematisierung am expressiven Sprachmodell ausrichtet und dessen Verschwinden befreiende Kraft abspricht. Diese aber liegt zunächst darin, daß die bilderlosen Werke - und seien es die improvisatorischer Einmaligkeit - in ungeahnter Weise schön und erhaben zugleich zu werden vermögen, wenn Sie mir hier die Begrifflichkeit Kants gestatten. So können Feldmans Kompositionen durchaus gesellschaftskritisch als eine Musik am Rande des Verstummens gehört werden, nicht weniger jedoch, gerade ihrer esoterikfernen Askese wegen, als eine extrem meditativ, das heißt "bilderlos" gegen die Hierarchien der Zeit und der Klänge gespannte: gegen die mnemonischen Form-Imperative und die Subjektdramaturgie des okzidentalen Ich; im Sinn einer Kunst des intelligibel wie des somatisch Erhabenen, vom Druck der Empirie her wider deren Dissoziationsgewalt gerichtet. Ähnlich wie das Adorno selbst für die Negation des Subjektmoments und seines Ausdrucks zum keineswegs Ausdruckslosen hin formuliert hat, sofern nicht "generell darüber zu urteilen (ist), ob einer, der mit allem Ausdruck tabula rasa macht, Lautsprecher verdinglichten Bewußtseins ist oder der sprachlose, ausdruckslose Ausdruck, der jenes denunziert". Kennt doch "authentische Kunst (...) den Ausdruck des Ausdruckslosen"(57). Deshalb kann auch eine nach Adornos Kriterien immanent sinn-, weil subjektlose Musik in ihrer ästhetisch verzauberten Ordnung durchaus dem Verwertungsexzeß der kapitalisierten Zeitverhältnisse und dem kulturindustriellen Unterhaltungsdelirium opponieren: als Moment einer Art Ritardandokultur gegen die Rastlosigkeit der Profitquanten, gegen die Verwechslung von Existenz und Ökonomie also und die Geiselnahme durch eine temporale Askese, die im utilitaristischen Früher und Später den Augenblick zum bloßen Durchgang zwischen toter Vergangenheit und blinder Zukunft entwertet. Entlarvende Kraft hat Adorno übrigens selbst einmal den "Exzentrizitäten der Schule Cages" attestiert, die "wie polemische Repliken auf die Expansion von Verwaltung bis in die Produktionsvorgänge hinein"(58) wirkten. Zusammen mit dem Moment des Bilderlosen aber signalisieren die von der Grammatik der Subjekt-Expression entbundenen Kompositionen vor allem das Ende einer Pseudo-Naturgeschichte der Musik, deren historisches Agens als die Geschichte des bürgerlichen Subjekts vergessen wurde. Zugleich ratifizieren sie - und zwar ohne regressive Entmischung in den bedeutendsten Manifestationen einer antihierarchisch sequentiellen Musik - die Auflösung des seit der Aufklärung etablierten Bündnisses von Ethik und Ästhetik mit seinem Signum der Katastrophe in der Moderne. Was heute ethisch gegen die Aphasien und Amnesien der Kommunikationsgesellschaft und gegen die tendenzielle Reduktion des einzelnen zur Schnittstelle im Patchwork der elektronischen Delegations- und Simulationszenarien den Impuls von Mnemosyne und Empathie bewahrt, korrespondiert ästhetisch nicht mehr der leidexpressiven Mnemonik des Subjekt-Ingeniums. Mitnichten jedoch kann der Odyssee der Adornoschen Reflexion zwischen der Skylla der Affirmation und der Charybdis des Sinnlosen vorgeworfen werden, ihre Fahrt an irgendeiner Stelle falscher Sicherheiten wegen abgebrochen zu haben. Schließlich dekuvriert Adornos Ontologiekritik auch den Anankasmus des Denkens. Daß die "Gedanken" allein schon "ihrer reinen Form, der logischen Stringenz" nach unfrei sind: "Gewalt", "Zwang, dem Gedachten gegenüber ebenso wie dem Denkenden"(59), entspricht Adornos Analyse der Gewalt ästhetischer Konstruktion. Wenn auch, ähnlich dem Verhältnis der Musik zum formalen Caput mortuum, Denken "ohne Zwangsmoment (...) überhaupt nicht sein (könnte)"(60). Schlüssig verfällt Adornos genealogischem Blick auf Nietzsches Spur somit auch die Kategorie der Kausalität als ein "formallogisches Prinzip", das "Widerspruchslosigkeit (...) als Regel der materialen Erkenntnis von Objekten"(61) unterstellt. Befreit vom mental fundierten Praxisfetischismus, des "Identitätszwangs ledig, entriete Denken" deshalb vielleicht sogar einmal der "Kausalität, die jenem Zwang nachgebildet ist"(62). Was hier im Licht der Utopie für den auf Konsequenzlogik vereidigten Bereich von Begriff und Urteil hinein in Frage gestellt wird, kann jedoch gegen Adornos Bedenken als Vorschein um so eher die rational-mimetische Sphäre der Musik innovativ sprengen. Als eine eben durchaus variable, ja aleatorische "Schichtung der großen Formen aus Teilen, deren jeder tendenziell gleich nahe zum Mittelpunkt ist": Kairos einer Musik, "in der die Gegenwärtigkeit eines jeden Augenblicks die musikalische Perspektive, die Gestaltung nach Erwartung und Erinnerung überwiegt"(63). So wie sich auch das "Omnia-ubique"-Modell im Sinn einer parataktischen Dehierarchisierung in Adornos Motiv des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" fortschreibt und über den ästhetischen Impuls mit zeitgenössischen künstlerischen Tendenzen, vor allem der "Momentform" Stockhausens und ihrer Jetztzeit konvergiert: als eine adäquate Antwort der Moderne auf den Zerfall der subjektdramatischen Zeit(64). Nicht zuletzt könnte von Cage her mit und wider Adorno argumentiert werden, daß der Ausschluß des Irrationalen aus der strengen Rationalität der Musik selber einen Zug des Irrationalen trage. Der Aporie der Reflexion über Musik als einer zwischen dem Allgemeinheitssog des Begriffs und der Individuation des je besonderen Werks begegnen Adornos Schriften als ein obsessives Sprechen im Horizont des Offenen, fragmentarisch und experimentell trotz ihrer leitmotivischen Konstanten. Darin zeigen seine Arbeiten eine Affinität zur musikalischen Avantgarde. Enthebt diese die überkommene Mnemonik der finalen Ökonomie, schließlich sogar der punktuellen kausalen Rudimente, so subvertiert Adornos konfiguratives Denken den szientifischen Richtigkeitskanon des Wissenschaftsideals ästhetisch, zumal die Argumentationsraster der In- und Deduktion und der Widerspruchsfreiheit. Es ist dies im Vergleich mit einem Impuls der neuen Musik der Versuch, das Kraftfeld einer freien Polyphonie zu realisieren, ohne nach Haupt- und Nebenstimmen zu werten. Nicht weniger latent wie die Kompositionen eines Cage oder Feldman inspiriert diesen antiautoritären, antihierarchischen Zug Adornos selbst wiederum die ethische Intention, vom mythischen Schuldzusammenhang repressiver Ausschlußkriterien freizukommen. Mit existentieller Schärfe findet sich das im Porträt Thomas Manns ausgedrückt als die "Ahnung der Schuld", "daß man überhaupt ist, gleichsam ein Anderes, Mögliches um die eigene Wirklichkeit bringt, indem man seinen Platz einnimmt"(65). Diesem Ansatz nach ist Adornos Schreiben tatsächlich "Ketzerei", ein "Verstoß gegen die Orthodoxie des Gedankens"(66): Memento eines radikal vielstimmigen Denkens wider die Selektionsgewalt des Verdrängens und Vergessens. Gegen Lyotards Adorno-Lektüre unter dem Signum einer "Dialektik in der Klemme"(67), die gerade auch die musikphilosophischen Schriften an den Beckettschen Punkt eines negativen Telos banne, müßte deshalb eher von Adornos sisypheischem Movens gesprochen werden, den ethischen Impuls ästhetischer Stimmigkeit rückhaltlos der Erosion des Denkens auszusetzen, ohne ihn aufzugeben. Von Adornos späten Arbeiten her wird deutlich, wie deren rhizomatisches Schreiben diesen Prozeß verstärkt, wie die Textur der Texte sich zunehmend selbst auflöst und immer wieder neu webt: Schreiben als eine Art Penelope-Gewebe also und damit eng verwandt einer der Aporien und Obsessionen moderner Kunst, die Balzacs Chef-d'oeuvre inconnu schon früh im Tableau einer hermetisch verdichteten peinture extatique und ihren im Rausch der Pentimenti bilderlos sich auslöschenden Übermalungen Gestalt werden ließ. Wichtig scheint mir dabei, daß sich in Adornos Denken gegen das Denken(68) auf subtile Weise eine allmähliche Bewegung von der Utopie zur Atopie vollzieht. Ähnlich wie in seiner Analyse des bilderlosen Werks der Avantgarde der Rätselcharakter des Utopischen und der empirische Dingaspekt des Artefakts atopisch ineinander umschlagen(69). Der Ariadnefaden aber, der durch Adornos Sprachlabyrinth geleitet, ist der einer Melancholie am äußersten Rand des metaphysischen Diskurses, die dem Verlöschen des artistischen Subjekts im letzten Aufleuchten seines imaginativen Sensoriums gilt. So, wie Melancholie nicht minder in Adornos Versuch liegt, das "Ganze", das doch das "Unwahre" ist(70), zu denken, ohne es in der endlos-unendlichen Vermittlung der partikularen Einzelurteile als Name fassen zu können. Gleich seinem unversöhnlichen Insistieren auf der Differenz im "Angesicht der Verzweiflung"(71) bleibt auch Adornos ästhetische Reflexion im Verdikt gegen die Sprachlosigkeit der "Kommunikation", das "universale Gesetz der Clichés"(72), und im exilierten Habitus des Überwinterns dem extremen Fluchtpunkt der Tradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Man denke nur an Flauberts Motive des "Elfenbeinturms"(73) oder an Nietzsches Formenkreis vom "Pathos der Distanz"(74) und der "Einsamkeit"(75). So findet sich denn auch in der Fröhlichen Wissenschaft ein charakteristischer Aphorismus zur Kunst im Asyl der Moderne. "Für einen Frommen gibt es noch keine Einsamkeit", heißt es hier, diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen tieferen Unterschied der gesamten Optik eines Künstlers als diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach "sich" -) hinblickt oder aber "die Welt vergessen hat": wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, - sie ruht auf dem Vergessen , sie ist die Musik des Vergessens(76). Bis in einzelne Motive hinein kommuniziert dieser Passus, wenn auch unterschiedlich vom artistischen Subjekt und von der Gesellschaft her akzentuiert, mit folgender exponierter Stelle aus der Philosophie der neuen Musik : "All ihr Glück" hat die neue Musik daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen. Keiner will mit ihr etwas zu tun haben (...). Sie verhallt ungehört, ohne Echo. Schießt um die gehörte Musik die Zeit zum strahlenden Kristall zusammen, so fällt die ungehörte in die leere Zeit gleich einer verderblichen Kugel. Auf diese letzte Erfahrung hin (...) ist die neue Musik spontan angelegt, auf das absolute Vergessensein. Sie ist die wahre Flaschenpost(77). Wenn für Adorno ästhetische Form durch "Synthesis des Geformten (...) Setzung von Sinn" bedeutet, "noch wo Sinn inhaltlich verworfen wird"; wenn Kunst dieser Tendenz wegen "Theologie" bleibt und fraglich ist, ob sie nach deren Sturz und "ohne eine jede überhaupt möglich sei"(78); wenn schließlich am "Ende der Geschichte musikalischer Integration" im "Ideal integralen Komponierens" das "theologische Moment nackt gleichsam" hervortritt(79): dann kann die von Charles und Lyotard propagierte Musik der Zukunft im Namen Cages und mit dem Bankrott der überkommenen Werte und Hierarchien als heidnisch gelten. Wie sollte man auch nach Cage die abgegriffenen Unterscheidungen Ton - Geräusch, "leichte" Musik - "ernste" Musik, ja auch Autor - Interpret, Produzent - Konsument aufrechterhalten? "Die" Musik ist nicht mehr eine schuldig machende Mnemotechnik mit elitärer oder theozentrischer Berufung, sondern eine gigantische Flut, eine maschinenhafte Flut, heidnisch, plebeiisch, mittelpunktslos (...): "Musica mundana". (...) Musikalisch sind die Stillen der Welt und die Stimmen der Welt. Kurz, in der Musik heute genießt man (...) in allen Richtungen, mit dem ganzen Körper, durch alle Welt - man genießt wie man früher sündigte: durch Tun und Unterlassung, durch Absicht und durch Zufall.(80) Überdies liegt das Pagane bei Cage im antimetaphysischen Impuls des Nicht-Wiederholbaren, Antirepetitiven und Unvorhersehbaren der aleatorischen Intention, während das Dauer und Gedächtnis stiftende Formelement der Wiederholung die "vergangene Gegenwart" immer auch "als Wahrheit und Idealität" bewahrt. "Das Wahre ist immer das, was sich wiederholen läßt", entgegen der "Nicht-Wiederholung", der "entschlossenen und rückkehrlosen Verausgabung im einzigen Male, das die Gegenwart verbraucht"(81). Lyotard fordert deshalb eine "Musik der Intensitäten, eine Klangmaschine ohne Finalität", erlöst vom Pathos der Subjektdramaturgie; eine, nach Feldman, "Musik der Oberfläche, ohne Tiefe, die sich der Repräsentation entzieht"(82). Spürbar bleibt über die Zeitdifferenz hinweg die semantische Aura von Nietzsches Hymnus auf die moralferne "Leichtigkeit" der Musik Bizets und Offenbachs und ihren dionysischen élan vital. Und Nietzsches Name fällt denn auch bei Lyotard als Grenzbestimmung der neuesten Musik: Der späte Nietzsche brauchte eine andere Musik: nicht mehr die von Schönberg-Adorno, sondern die von Cage oder die von Kagel. Ihn interessiert nicht mehr der kritische Charakter der Form , sondern das intensive Moment des Tones . Sein Problem besteht darin, das Material wieder aufzuwerten, d. h. den Standpunkt der Kritik (und der Paranoia bzw. der Dogmatik, die in jeder Kritik steckt) zu verlassen, um sich in Beziehung zur Realität den Gesichtspunkt der Affirmation zu eigen zu machen. Man muß die Auflösung der Formen und der Individuen in der sogenannten "Konsum"-Gesellschaft affirmieren und damit zugleich die Auflösung der Regelabstände, die aus der Musik eine Schrift gemacht haben, die den Ton in der Note unterdrückt haben , durch die der Klang, der Ton selbst verworfen wurde.(83) Gegen die Kategorie des Subjekts wie die Theorie des Ausdrucks und der entfremdeten Gesellschaft mit der "Kunst als deren gequälten Zeugen"(84) setzt Lyotard auf einen ästhetischen Potlatsch experimenteller Entfesselung ohne die Schuld der Differenz. Kann mit Adorno gefolgert werden, daß - gleich der Unmöglichkeit, Auschwitz irgendeinem Sinn von Geschichte einzuschreiben -, auch die "Wahrheit" der "avancierten Musik" eher darin aufgehoben sei, "durch organisierte Sinnleere den Sinn der organisierten Gesellschaft" zu dementieren, als "von sich aus positiven Sinnes mächtig"(85) zu sein, dann wird Adornos negative Differenzbestimmung der Sinnleere und des Sinnlosen von Cage und Lyotard als "metaphysische Hinterwelt" verworfen: ein Verwerfungsgestus, der der Bejahungsfigur Nietzsches ebenso verwandt ist wie der zenbuddhistischen Loslösung vom Hierarchiesog und von den Ausschlußstrategien des Sinns(86). Daß mit dem Schwinden der Souveränität des Subjekts und seiner Inszenierung "die tragische Gebärde komisch dünkt und die Komik trübselig"(87), konstatiert auch Adorno. Für ihn changiert deshalb jedoch die zeitgenössische Kunst mit ihrer Tendenz zu einer Kunst jenseits der Dichotomie von "Glück" und "Unheil" zwischen "Versöhnung" und "Entsetzen" kraft der "vollendeten Entzauberung der Welt"(88). Auch wenn die gegen Daseinsapotheosen wie Leidensapologien gleicherweise gerichtete "Kunst ins Unbekannte hinein" die "einzig noch mögliche" ist, "weder heiter noch ernst", bleibt für Adorno das "Dritte (...) zugehängt, so, als wäre es dem Nichts eingesenkt, dessen Figuren die fortgeschrittenen Kunstwerke beschreiben"(89). Dieses Dritte aber wollen Cage und Lyotard enthüllt wissen: als eine musica revelata der flottierenden Energien jenseits von Gut und Böse. Mit dem Wahrheitsgehalt der Werke als der gesellschaftlich gebrochenen Reflexion der zivilisatorischen Stigmata schwindet der ethische Index von Musik nach dem Maß des Richtigen und Falschen unter "Zusammenbruch aller Kriterien für gute oder schlechte Musik"(90). Musik inmitten einer rein innerweltlichen Szenerie, einer Immanenz ohne Transzendenz und sei es die der Idee einer befreiten Gesellschaft, muß sich wohl nach dem Konkurs der metaphysischen Orientierungs- und Sicherungsinstanzen einer repräsentanzlosen Intensität im Sinne Lyotards stellen. Mit dem Wegfall der am diagnostischen Geist orientierten Qualitätskriterien zugunsten eines ästhetischen "Gewähren-" und "Produzieren-Lassens"(91), schließlich einer lebensphilosophischen Attitüde des "Lassens"(92) überhaupt, droht Musik allerdings über den antiasketischen Triebgrund der Affirmation und des Genusses bei Lyotard und Charles wider Willen in den monadischen Konsumbereich eines Zu-sich-selber-Findens abzudriften. Daß so vieles an neuer Musik harmlos, ja ästhetisch zurückgeblieben wirkt, nimmt deshalb wohl am stärksten für die Kompromißlosigkeit der Musikphilosophie Adornos und die von ihr protegierte Musik ein, scheinen seine Kategorien für die Postmoderne-Diskussion auch noch so irrelevant geworden zu sein. Vielleicht spricht indes für das Wagnis der Moderne im verwandelnden Überschreiten des Postulats der "Klage"(93) und des "Odiums der Entmenschlichung"(94) am nachaltigsten, daß der Druck des universalen Leidens auch lähmen und damit dem Bestehenden zuarbeiten kann, wie Adorno selbst dies des öfteren eingeräumt hat. Denn nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossenheit. So hinfällig in ihm alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets wieder gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen(95). Schließlich kann sogar der 'falsche Reichtum'(96) des Pluralismus als ein zweideutiges signum demonstrativum gewertet werden: Widerstandslos dem kollektiven Unwesen ausgeliefert, verlieren sie (sc. die Menschen) die Identität. Nicht ohne alle Wahrscheinlichkeit, daß damit der Bann sich selbst zerreißt. Was einstweilen fälschlich unterm Namen Pluralismus die totale Struktur der Gesellschaft wegleugnen möchte, empfängt seine Wahrheit von solcher sich ankündigenden Desintegration; dem Grauen zugleich und einer Realität, in der der Bann explodiert. (...) Die totale Vergesellschaftung brütet objektiv ihr Widerspiel aus, ohne daß bis heute zu sagen wäre, ob es die Katastrophe ist oder die Befreiung.(97) Angesichts der aktuellen Situation gewinnt deshalb die Konstellation eines zentralen Satzes aus Hegels Ästhetik , zugleich Motto der Philosophie der neuen Musik , an Brisanz: ob am Ende des metaphysischen Zeitalters die hedonistisch-kritische Spannung der Kunst zwischen einer "Entfaltung der Wahrheit" und einem "bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk" nicht zugunsten des letzteren eingezogen werde. Ein Weg des Kompromisses im Sog der Kulturindustrie scheint ausgeschlossen, soll die Rede von Musik noch einen Sinn haben. Allerdings wäre hinsichtlich der Zuspitzungen neuerer französischer Musikästhetik und ihrer von Nietzsche ererbten Dialektik-Idiosynkrasie weniger auf eine Musik des Vergessens(98) zu setzen als auf eine der bewußten Transgression der expressiv-gestischen Mnemonik, ohne einer solchen Musik den Makel des Sinnlosen zuzusprechen. Repräsentiert die gestische Mnemonik zeitgenössischer Neo-Expressionismen immer noch die schal gewordenen Charaktere jener egozentrischen Verfügungs- und Akkumulationsidentität, die eine zur mentalen Okkupation und Kontrolle verinnerlichte und in ihren kapitalisierten Allmachtsphantasien pervers gewordene, wenngleich besessen naturalisierte und stabilisierte Ideologie des Eigentums grundiert, dann nähert sich große neue Musik in der Aufhebung des possessiven Habitus dem, was Adorno als die künstlerische Utopie heute bezeichnet hat: der eben, "Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind"(99). Zu leisten wäre deshalb nichts weniger als eine Philosophie der neuesten Musik auf dem Niveau der Adornoschen neuen. Eine Reflexion also, die einer Musik außerhalb des Monopols der Subjekt-Mnemonik gerecht würde, ohne sich den Zweifeln Adornos zu verschließen. Sie hätte zu sondieren, wie sich die Rätselschrift der Kompositionen nach dem Zerfall des Subjektpathos zur Konzeption einer "Musik als Ernstfall"(100) verhält und welche Konsequenzen sich daraus für den Wahrheitsgehalt der Werke ergeben. Wandeln sich diese als Objektivationen eines "nicht länger synthesierenden Ich"(101) zu einer Art belangloser Konfektionsmusik? Oder liegt im "Bruch" zwischen dem Werk und "allem Bezeichneten"(102) die Möglichkeit einer Entgrenzung, die die Strangulationen der Verdinglichung zumindest punktuell zu subvertieren vermag? Schließlich wäre unter Anlehnung an ein Motiv aus den Hegel-Studien (103) zu fragen, was der Pluralismus der musikalischen Gegenwart vor Adorno bedeutet. Läßt sich darin eine neue ästhetische Freiheit erkennen oder bleibt diese lediglich dem neohistoristischen Verwertungsrapport des "Alles ist erlaubt und möglich" hörig? Es wird sich zeigen, ob künftige Musik den ethisch inspiierten Anspruch der tradierten im Bewußtsein unerlöster Geschichte transformieren kann, ohne zur Klang- und Geräuschkulisse eines Brave New World -Sounds zu regredieren. Für Adorno beträfe das den Anspruch von Wahrheit selbst. Ist doch das "Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, (...) Bedingung aller Wahrheit"(104). Mag sein, daß mit dem Zerfall der Trinität des Guten, Wahren, Schönen auf ihrer äußersten Spitze die Artefakte immer mehr die Inszenierung von Selbstdarstellungen zelebrieren; mag sein, daß mit dem Begriff einer ethisch fundierten Ästhetik auch der einer musikalischen Avantgarde sensu stricto verschwindet: nach wie vor dürfte mit Adorno eine Konstante der Qualität der Werke wie des ästhetischen Urteils im Sensorium für die Dissonanzen der zivilisatorischen marche du progrès liegen. Ohne daß neue Musik im Vertrauen auf ihre Energien der Verwandlung und des "Bilderlosen" weiterhin auf die Expression des Leidens einzuschwören wäre, basiert dieses Sensorium als "Korrektiv" des "verdinglichten Bewußtseins"(105) und seines "Erfahrungsverlusts"(106) im universalen Fanatismus und Konkretismus der "Verwertung des Werts"(107) auf dem mimetischen Verhalten des "vom Anderen Angerührtseins"(108); letztlich auf einer Empathie ohne das Pathos der Maxime und auf der Offenheit für die Differenz zu dem, was ist. Diese Offenheit und ihr kritisches Agens, das sich inmitten einer beängstigend apolitischen Zeit der Restauration an einer Praxis gegen die autoritären Funktionsmuster der Macht auszuweisen hätte, verliert sich aber mit der schwindenden Oppositionskraft der einzelnen. Und mit ihr die Sensibilität für die von der Surplus-Ökonomie des Mangels verhängte agonale Agonie, die das Dasein über den Saturiertheitspegel des Etablierten hinaus bis ins Innerste unter das Diktat des Profitablen zwingt; eine Sensibilität, die angesichts der Panzerungen aus Opportunismus und Ressentiment und der panischen Volte der Verdrängung samt ihrer Funktionsrendite im "stahlharten Gehäuse"(109) des machinalen Lebens immer seltener zu werden scheint. All dies aber bleibt der ästhetischen Sphäre nicht äußerlich. Vielleicht liegt vorerst eine entscheidende Erkenntnis in der Auseinandersetzung mit Adorno darin, daß der postulatorische und regulative Anspruch der Ästhetik vergangen ist. Das mag, wie in anderer Weise der bürokratische Akt von Ethikkommissionen im Dirigismus des verwalteten Lebens, ein Licht auf die Situation von Ethik insgesamt werfen. Ist aber Adornos Philosophie eine des Abschieds, dann weniger aufgrund ihres Zeitkerns als aufgrund des Skandalons, daß die Zeugenschaft Adornos nicht mehr ertragen wird. Anmerkungen 1 Vgl. Adorno, GS 16, S. 402, 633ff. 2 Vgl. Adorno, GS 7, S. 121f., 125, 189, 193, 425. 3 Adorno, GS 16, S. 635. 4 Adorno, GS 7, S. 387. 5 Adorno, GS 16, S. 141. 6 Adorno, GS 4, S. 163. 7 Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung , Frankfurt/M. 1987, S. 26. 8 Ebd., S. 25. 9 Ebd., S. 41. 10 Adorno, GS 16, S. 634. 11 Ebd., S. 634ff. 12 Adorno, GS 12, S. 126. 13 Ebd. 14 Adorno, GS 7, S. 121. 15 Adorno, GS 17, S. 289. 16 Adorno, GS 10,1, S. 450. 17 Adorno, GS 12, S. 118f. 18 Ebd., S. 125. 19 Ebd., S. 124. 20 Ebd., S. 125. 21 Adorno, GS 16, S. 540. 22 Vgl. Adorno, GS 6, S. 184ff.; GS 7, S. 252f., 382ff.; GS 10,2, S. 746ff. 23 Adorno, GS 18, S. 162. 24 Vgl. Adorno, GS 7, S. 234; GS 14, S. 379; GS 16, S. 237; GS 17, S. 270f. 25 Vgl. Adorno, GS 3, S. 295. So ist wohl auch Adornos Verhältnis zu Cages Concert for Piano and Orchestra im Zeichen einer Faszination des Unheimlichen zu begreifen; als das attraktiv-repulsive Wechselspiel von 'Anziehung' und 'Abstoßung', um auf Kants Ästhetik des Erhabenen als die einer "negativen Lust" zu rekurrieren (Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft , Werke in zwölf Bänden, Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. X, S. 165). 26 Adorno, GS 7, S. 329. 27 Ebd., S. 436. Diesem Materialbegriff nach stellt Adorno das notenschriftlich fixierte Werk der Musik seit Bach in den Mittel- punkt seiner Ästhetik. Für ihn bleibt - im Mißtrauen gegen die Improvisationsmodelle der neuen Musik, geschweige denn des Jazz - der Geist der Kompositionen an die Schriftlogik der Notation gebunden: "Ohne Schrift keine hochorganisierte Musik; der historische Unterschied von Improvisation und musica composita fällt qualitativ mit dem des Laxen und des verbindlich Artikulierten zusammen" (GS 16, S. 632; vgl. auch ebd., S. 516f.). Abgesehen von Adornos These, daß keine Musik vor Palestrina, vielleicht sogar vor Monteverdi mehr "unmittelbar aufgefaßt werden kann" (GS 19, S. 616), weist Adorno der Epoche von 1600-1750 mit Ausnahme Monteverdis, Scarlattis, Bachs und Pergolesis den Charakter des "Langweiligen" zu (GS 18, S. 51). An einer Stelle spricht er gar davon, daß für Berg "wie für jeden anständigen Musiker (...) die eigentliche Musik eben doch mit Bach an(fing)" (ebd., S. 494). 28 Adorno, GS 16, S. 626. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 618. Gleichwohl nach Adorno die "Geschichte der neuen Kunst" eine von "metaphysischem Sinnverlust" ist, kann dieser Verlust doch "nicht ihr letztes Wort bleiben" (Adorno, GS 10,1, S. 449f.). Allein schon aus dem Grund nicht, als sich jedes Kunstwerk noch in der Sabotage seines Sinns wiederum zum Sinnzusammenhang konfiguriert. Ästhetisch artikulierte Sinnlosigkeit wird nach Art eines geschlossenen Systems von der Gravitation des Sinns aufgesaugt. Wichtig ist in diesem Kontext Adornos doppelter Sinnbegriff, der zwischen der Idee des Sinns als einer positivistischen Affirmation des Sinnlosen und dessen kritischer Reflexion unterscheidet. Auf ihm basiert Adornos konträre Wertung von Sinn und Sinnlosigkeit bei Strawinsky und Beckett. 31 Im Bereich neuerer Musik liefert die Minimal Music Beispiele einer Tautologie des ästhetischen Positivismus. Etwa Philip Glass' Knee play no. 2 , dessenStereotypie Muster einer alten Technik repetiert und gegen ihre als meditativ sich verkennende Intention bestenfalls den zeitlichen Erwartungshorizont etwas verstört, ansonsten aber eine Komposition schlecht unendlicher Sequenzen zum belanglosen Quietiv zerdehnt. 32 Adorno, GS 10,1, S. 439f. 33 Adorno, GS 16, S. 635. 34 Adorno, GS 12, S. 122. 35 Adorno, GS 10,1, S. 452f. 36 Adorno, GS 14, S. 380. 37 Adorno, GS 16, S. 482. 38 Adorno, GS 7, S. 475. 39 Ebd., S. 65. 40 Ebd., S. 65f. Konsequenterweise schärft sich der Konflikt zwischen ernster und heiterer Musik zu einem Zeitpunkt, als die gesellschaftliche Realität und ihr Emanzipationsversprechen drastisch auseinanderzuklaffen beginnen. So auf höchstem Niveau in den Kompositionen Beethovens und Rossinis während der 1820er Jahre: als eine Spannung zwischen dem ethischen Imperativ des Formgedächtnisses, genauer: der Legierung von Finalität und Ethos, und der virtuosen Artistik des Divertissements (vgl. dazu Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung, Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie , Pfaffenweiler 1992, S. 190f.). Allerdings nicht ohne den Preis eines ethischen Rigorismus bei Beethoven, auf dessen Gewalt Adorno verweist. Ähnlich wie in Hegels System gilt Beethovens Musik der esprit de sérénité gegenüber dem esprit de sérieux als quantité négligeable. - Zur Bedeutung der zentralen Kategorien "Ernst", "Konzentration", "Gedächtnis" und "Anstrengung" in Adornos Theorie der neuen Musik sowie zur erosbetonten Lesart dieser Begriffe von der Imaginationskraft des "spekulativen Ohrs" her (es ist von "Phantasie" und "Liebe" die Rede) vgl. Adorno, GS 17, S. 288ff. 41 Adorno, GS 3, S. 263. 42 Adorno, GS 10,1, S. 315. 43 Adorno, GS 8, S. 230f. 44 Adorno, GS 7, S. 86. 45 Ebd., S. 387. 46 Vgl. z. B. GS 7, S. 214f.; GS 14, S. 161; GS 16, S. 234ff., 504; GS 17, S. 269; Disput zwischen Theodor W. Adorno und Heinz-Klaus Metzger , in: Metzger, Musik wozu. Literatur zu Noten , Hg. Rainer Riehn, Frankfurt/M. 1980, S. 96, 103. 47 Adorno, GS 14, S. 378. Adornos Kritik an der Heteronomie des Allgemeinen, sei es der Subsumtionslogik oder der seriellen Einheitsmanie, verbindet sich mit einem antimythischen Motiv, vergleichbar dem des Hölderlinschen "Unterschiedenes ist gut". Deshalb bleibt Adorno auch trotz seiner Analyse des dialektischen Wechselverhältnisses von Kunst und Künsten deren Vermischungstendenzen in der Moderne gegenüber skeptisch: im Sinn einer Kritik am "falschen Untergang der Kunst" (vgl. GS 10,1, S. 452; GS 16, S. 128f.). Zur Bedeutung des Theorems von der "Verfransung der Künste" bei Adorno vgl. Christine Eichel, Vom Ermatten der Avantgarde zur Vernetzung der Künste. Perspektiven einer interdisziplinären Ästhetik im Spätwerk Theodor W. Adornos , Frankfurt/M. 1993. 48 Vgl. z. B. GS 7, S. 261; GS 12, S. 145ff.; GS 14, S. 161, 378ff.; GS 17, S. 269; GS 18, S. 132, 146, 162. 49 Kant, Kritik der reinen Vernunft , Hg. Raymund Schmidt, Hamburg 1956, S. 140 (Hvhbg. J. B.). 50 Adorno, GS 16, S. 461. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 462. 53 Ebd., S. 225. 54 Ebd. 55 Adorno, GS 6, S. 277. 56 Zur Bedeutung des von Adorno eher en passant behandelten Rezipientenstatus in der modernen Kunst vgl. auch Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno , Frankfurt/M. 1985, S. 103f. 57 Adorno, GS 7, S. 179. Vgl. auch GS 10,1, S. 163; GS 14, S. 157. 58 Adorno, GS 14, S. 393. 59 Adorno, GS 6, S. 232. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Adorno, GS 16, S. 662. 64 Zu Adornos Figur des "Alles gleich nah zum Mittelpunkt" vgl. Johannes Bauer, Sphinx und Ödipus. Subjekt und System in Adornos Musikästhetik , in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos , Darmstadt 1995. An dieser Stelle sei lediglich auf den dialektisch-zweiwertigen Gebrauch dieses Topos bei Adorno verwiesen. Einerseits reflektiert er unter Rekurs auf den Determinationsaspekt der Zwölftonkomposition den Bann letaler Statik und steht damit in Affinität zum Diktum der Negativen Dialektik , in der "totalen Gesellschaft" sei "alles gleich nah zum Mittelpunkt" (GS 6, S. 265). Entsprechend der "durchvergesellschafteten Gesellschaft" (GS 8, S. 59) ratifiziert hier das komponierte "Gleich nahe zum Mittelpunkt" unter Aufhebung des "Unterschieds von Essentiellem und Akzidentellem" die Negation von "Entwicklung" (GS 12, S. 61). Wobei sich die Insistenz auf der qualitativen Artikulation musikalischer Zeit erneut als eines der Zentren Adornoscher Musikphilosophie erweist. Daß beim späten Schönberg "nicht länger dem Kontinuum der subjektiven Erlebniszeit die Kraft zugetraut (wird), musikalische Ereignisse zusammenzufassen und als ihre Einheit ihnen Sinn zu verleihen", "tötet die musikalische Dynamik". Musik bewältigt die Zeit, indem sie sie "durch die allgegenwärtige Konstruktion verneint"; "Bild einer Verfassung der Welt, die, zum Guten oder Argen, Geschichte nicht mehr kennt" (GS 12, S. 62). Ähnlich "gefriert" die neue Musik nach Schönberg immer mehr "zur Statik". "Absehbar wird eine Musik der gesellschaftlichen Entropie" (GS 14, S. 381). Andererseits aber öffnet Adorno gemäß seinem Theorem von der "vollendeten Negativität" als der "Spiegelschrift ihres Gegenteils" (GS 4, S. 281) und in Auseinandersetzung mit der Avantgarde, etwa mit Boulez, sowie gerade unter Berufung auf Schönberg das Motiv des "Gleich nah zum Zentrum" auf die Intensität eines neuen Zeitmodells als eine Veränderung der gesamten Musiksprache hin (GS 16, S. 663; vgl. auch ebd., S. 589 und 623). Daß im ersten Satz von Schönbergs Viertem Quartett "jeder Takt (...) gleich nahe zum Zentrum" ist, "vergleichbar der Erwartung , wo alles dieselbe Intensität ausstrahlt" (ebd., S. 623), wertet Adorno 1966, anders als in der Philosophie der neuen Musik , in Richtung der "Idee einer integralen Form" und ihrer immanenten Autonomie (ebd., S. 623f.). 65 Adorno, GS 11, S. 343. Vgl. auch GS 6, S. 357. 66 Adorno, GS 11, S. 33. 67 Jean-François Lyotard, Intensitäten , Berlin o. J., S. 54. 68 Vgl. etwa Adorno, GS 6, S. 62, 152, 358; GS 11, S. 32. 69 Entsprechend wird bei der Diskussion des Verfransungstheorems Adornos Leitmotiv zur zeitgenössischen künstlerischen Praxis auf den kunstzersetzenden Sog des faktischen Dingmodus hin transparent: "Die Verfransung der Kunstgattungen begleitet fast stets einen Griff der Gebilde nach der außerästhetischen Realität. Er gerade ist dem Prinzip von deren Abbildung strikt entgegengesetzt. Je mehr eine Gattung von dem in sich hineinläßt, was ihr immanentes Kontinuum nicht in sich enthält, desto mehr partizipiert sie am ihr Fremden, Dinghaften, anstatt es nachzuahmen. Sie wird virtuell zum Ding unter Dingen, zu jenem, von dem wir nicht wissen, was es ist" (Adorno, GS 10,1, S. 450). 70 Adorno, GS 4, S. 55. 71 Ebd., S. 281. 72 Adorno, GS 11, S. 307. 73 Gustave Flaubert, Briefe , Hg. Helmut Scheffel, Zürich 1977, S. 195. 74 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist , Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Hgg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980, Bd. 6, S. 218. 75 Etwa in den Zarathustra -Passagen von Ecce homo , KSA 6, S. 335ff. 76 Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft , KSA 3, S. 616. 77 Adorno, GS 12, S. 126. 78 Adorno, GS 7, S. 403. 79 Adorno, GS 16, S. 461. 80 Daniel Charles, John Cage oder Die Musik ist los , Berlin 1979, S. 481 81 Derrida, Die Schrift und die Differenz , Frankfurt/M. 1972, S. 373. - Übrigens treffen sich vom metaphysikkritischen Stand- punkt aus Derridas Artaud-Reflexionen mit Adornos Überlegungen zur Reprise und deren Affinität zum Moment des Statischen in Hegels Philosophie. Auch bei Adorno ergeben sich Zusammenhänge zwischen den Struktiven "Sinn" (GS 14, S. 412.), "Theodizee des Seienden" (GS 13, S. 241.), 'Affirmation' (GS 14, S. 412) und jenem Prinzip der Wiederholung, das sich in Szene setzt, als wäre es "kraft seiner bloßen Wiederkehr (...) der metaphysische Sinn selber, die >Idee<" (GS 13, S. 241). 82 Lyotard, Intensitäten , Berlin, o. J., S. 45. 83 Ebd., S. 27f. 84 Ebd. 85 Adorno, GS 12, S. 28. 86 "Wir wollen dieses Leben bejahen", heißt es in Cages Silence , "nicht Ordnung aus dem Chaos gewinnen oder Vorschläge zur Verbesserung der Schöpfung machen (...)". Natürlich hat dieser Gestus nichts mit zynischer Borniertheit zu tun, wenngleich er angesichts der realen Katastrophen immer auch Züge des Affirmativen und Privatistischen tragen muß. 87 Adorno, GS 11, S. 606. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Adorno, GS 12, S. 17. 91 Lyotard, Intensitäten , S. 28. 92 Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft , Frankfurt/M. 1983, S. 939ff. 93 Adorno, GS 12, S. 119. 94 Adorno, GS 16, S. 482. 95 Adorno, GS 6, S. 396. 96 Adorno, GS 16, S. 176f. 97 Adorno, GS 6, S. 339f. 98 Vgl. Charles, John Cage oder Die Musik ist los , S. 43, sowie Charles, La paume (de) la dent. Aufzeichnungen über Cage und das Vergessen , in: Musik-Konzepte, Sonderband John Cage , München 1978, S. 41ff. 99 Adorno, GS 16, S. 540, 634. 100 Ebd., S. 661. 101 Ebd., S. 635. 102 Ebd. 103 Adorno, GS 5, S. 251. 104 Adorno, GS 6, S. 29. 105 Adorno, GS 7, S. 488. 106 Ebd., S. 489. 107 Karl Marx, Das Kapital , Bd. I, MEW Bd. 23, S. 618. 108 Adorno, GS 7, S. 490. 109 Max Weber, Die protestantische Ethik , Bd. I, Hamburg 1975, S. 188.
- Johannes Bauer, Alkan - Zur Physiognomie des Second Empirer
Alkan oder "Polyphem kann auch polyphon sein" Ein Beitrag zur musikalischen Physiognomie des Second Empire I. Die Szene des Künstlers Bspl. 1: Alkan, La chanson de la folle au bord de la mer ( = Préludes op. 31, Nr. 8) (Interpretation: Ronald Smith) Monotonie der Wiederholung; ein in die extremen Lagen des Klaviers gespaltenes Klangbild; eine Motivik, die in sich kreist, zu delirieren beginnt und schließlich zerfällt. Schon 1846, im Erscheinungsjahr der soeben verklungenen Musik, versetzte deren schwermütiger Ton den Kritiker Fétis in Erstaunen und Betroffenheit und veranlaßte ihn zu einer Art Warnung an die Adresse des Komponisten: "Im allgemeinen dominiert in den Kompositionen dieses Künstlers die Schwermut (...) Seine Produktionen sind von einer Traurigkeit, die wohl weniger seine ursprünglichen Talente als den schmerzlichen Zustand seines Gemüts erkennen läßt (...) Nun wird aber die Melancholie nie populär sein". "Die Menge, insbesondere das gewöhnliche Musikpublikum, begreift nicht viel von solcher Musik und gibt sich nicht die Mühe, aufmerksam zuzuhören." Ein Prélude der Trostlosigkeit also, das aufhorchen ließ. Sein Titel: La chanson de la folle au bord de la mer . Virtuose wider Willen Gut vierzig Jahre nach Veröffentlichung dieser depressiven Stimmungsskizze stirbt am Abend des 29. März 1888 in der Pariser Rue Daru ein exzentrischer Einsiedler. Einer Version nach beim Zubereiten einer Mahlzeit, wohl infolge plötzlicher Herzinsuffizienz. Anderen Zeugnissen zufolge erschlagen von einem Bücherschrank. Der Unglückliche soll ihn zu Fall gebracht haben, als er einen Band des Talmud, der Sammlung jüdischer Gesetzestexte, aus dem oberen Regal zu greifen suchte. Wer war der Schöpfer der eingangs zu Gehör gebrachten Chanson de la folle , dieser Eremit, der inmitten des Taumels des Zweiten Kaiserreichs den rigorosen Rückzug praktizierte? Der einem Nachruf zufolge sterben mußte, um auf seine Existenz aufmerksam zu machen? Und der doch zu den bedeutendsten Klavierartisten des 19. Jahrhunderts zählt, als Komponist die Wertschätzung Chopins, Liszts, César Francks, Anton Rubinsteins, Hans von Bülows und Eugen d'Alberts genoß und noch von Busoni zusammen mit Chopin, Schumann, Liszt und Brahms zu den größten Klaviermeistern nach Beethoven gerechnet wurde. Was verhüllt die Aura des Mysteriösen, die diesen Künstler bereits in den zeitgenössischen Quellen umgibt? Charles-Valentin Morhange, der sich in Anlehnung an den Vornamen seines Vaters Alkan nannte, wurde 1813 in Paris als Kind jüdisch orthodoxer Eltern geboren. Daß der Vater ein Grundschulpensionat mit Schwerpunkt Musik unterhielt, bringt das Talent Charles-Valentins wie das seiner fünf Geschwister früh zur Entfaltung. Bereits mit sechs Jahren fand das pianistische Wunderkind Aufnahme am Pariser Conservatoire. Während seines rund zehnjährigen Studiums läßt sich die Entwicklung des Hochbegabten am Spiegel seiner Erfolge ablesen. Angefangen von der Auszeichnung mit dem ersten Klavierpreis im Alter von zehn Jahren bis zum kometenhaften Aufstieg des Siebzehnjährigen am Pariser Virtuosenhimmel. Schon während der Ausbildung durch seinen Lehrer Pierre-Joseph Zimmermann, einem Cherubini-Schüler, in die Welt der Salons eingeführt, verkehrt Alkan bald in den Zirkeln um Victor Hugo, Lamennais und George Sand. Hier macht er die Bekanntschaft Chopins, der ihm freundschaftlich verbunden bleiben wird. Bewundert selbst von Liszt steht Alkan am Beginn einer glanzvollen Karriere als Pianist. Bspl. 2: Alkan, Grande Sonate op. 33 (Les Quatre Ages) , 1.Satz, Wiederholung des Scherzohauptteils (nach dem Trio) b. z. Ende. (Ronald Smith) Doch die Emphase des Aufbruchs, die dem Ausschnitt aus dem ersten Satz von Alkans bekenntnishafter Grande Sonate von 1847 anzuhören ist, wird sich trüben. Und damit die Verve eines Satzes, der das Motto "Vingt Ans" trägt und in den Vortragsanweisungen "Décidément" und "Victorieusement" die Entschiedenheit der siegreichen Geste auch verbal verdeutlicht. Alkan verweigert sich nämlich der Rolle des umjubelten Virtuosen. Immer seltener stellt er sich dem großen Publikum, was etliche Kritiker bereits um 1845 registrieren, als Alkan noch in der Künstlerkolonie am Square d'Orléans in unmittelbarer Nachbarschaft Chopins wohnt. Schließlich gibt Alkan im Jahr 1849, das ihn nur eine einziges Mal auf dem Podium sieht, das Konzertieren für nahezu ein Vierteljahrhundert gänzlich auf; wenige Monate nach den blutigen Ereignissen der gescheiterten Revolution von 1848. Inwiefern sich der politischen Katastrophe eine weitere für die Person des republikanisch gesinnten Künstlers gravierende Niederlage verbindet, bleibt noch zu erörtern. "Mitunter glaube ich ein Misanthrop geworden zu sein", schreibt Alkan Ende 1849 an George Sand. Unterrichtstätigkeit - Alkan übernimmt nach Chopins Tod eine Vielzahl von dessen Schülern -, religiöse Studien und Komponieren bestimmen von nun an die Zeit der Abgeschiedenheit. Und als Komponist, fast ausschließlich von Werken für Klavier solo, legt Alkan Zeugnis von jener Problematik des Künstlers ab, die die Exzentrik der Biographie auf ihren sozialen Gehalt hin aufhellt und einer nur allzu oft auf den privaten Bereich hin abgestellten Misanthropie die gesellschaftliche Komponente einzieht. Chiffre Faust Bspl. 3: Alkan, Grande Sonate op.33, 2. Satz (Quasi Faust) , Ausgabe: Lewenthal 126/I/1-130/I/4 (Ronald Smith) Der zweite Satz der "Großen Klaviersonate" Alkans, Reflexion des Stadiums des dreißigjährigen Künstler-Helden, trägt den Titel "Quasi Faust". Er basiert auf dem für die Ästhetik des 19.Jahrhunderts brisanten Konflikt zwischen satanischen und göttlichen Kräften; einem Konflikt in der Tradition des triebökonomischen Antagonismus von Geist und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit, Kalkül und Leidenschaft. Als Satanisches aber verschlüsselt sich mit dämonischer Maske die von der Herrschaft des Logos unterjochte und von dessen Zuspitzung zum Diktat der Verwertung geächtete Triebsphäre der Leidenschaft. Sie wird zur nächtlichen Kehrseite des knechtischen Tagesgeschäfts. Ausgeschieden als Verschwendung und Abfall in des Wortes doppelter Bedeutung. "Es sind in jedem Menschen, zu jeder Stunde, zwei gleichzeitige Strebungen vorhanden, die eine Gott, die andere Satan zugewandt. Die Anrufung Gottes, oder Spiritualität, ist ein Begehren hinaufzusteigen; die Anrufung Satans, oder Animalität, ist eine Lust am Hinabsteigen", notiert Charles Baudelaire in seinen tagebuchartigen Aphorismen. Baudelaire, der den Leidensdruck der gesellschaftlich ausgegrenzten Existenz des Künstlers zur Sprache bringt, desgleichen Flaubert und Berlioz, werden im Fall Alkans zu Kronzeugen. Zu Kronzeugen, die das auch für Alkan verbindliche Credo präzisieren, das die Trennung von "spiritualité" und "animalité" als Wunde der Zivilisation auszutragen verlangt. Dementsprechend finden sich auch im zweiten Satz der Grande Sonate sowohl die Erwähnung des göttlichen Namens, "Le Seigneur", wie die Erläuterungen "Le Diable" und "Sataniquement"; jene Trieb-Polarität also, die sich als produktives Movens noch in zahlreichen anderen Werken des Komponisten entdecken läßt und auf biographischer Ebene im Kontrast zwischen Profanem und Sakralem begegnet. So etwas in den bereits angeführten unterschiedlichen Berichten über Alkans Tod mit den zeichenhaften Orten - hier des materiell reproduktiven Bereichs der Küche, dort des spirituellen Bezirks der Bibliothek heiliger Schriften. Im "Faust"-Satz der "Großen Sonate" wird die Spannung zwischen Sinnlichkeit und Vergeisterung, Satanischem und Göttlichem, über die Besonderheit der Verwandtschaft gegensätzlicher und im Gegensatz aufeinander verwiesener thematischer Charaktere ausgetragen. Sie repräsentieren die dramatis personae auf dem inneren Schauplatz einer Dramaturgie des Konflikts gemäß der Goetheschen Zwei-Seelen-Thematik. Um diesen faustischen Zwiespalt in seiner mephistophelisch/göttlichen Brechung zu fassen, wählt Alkan das Mittel motivischer Spiegelung. Es vermag am unmittelbarsten die Spaltung der Triebe und deren gemeinsamen Grund als in ein und demselben Subjekt liegend darzustellen. So wird das Kopfmotiv des eröffnenden ersten Thementeils, Bspl. 4: Alkan, Grande Sonate , 2. Satz, Lewenthal 126/I/1-126/II/3, (Ronald Smith) durch Umkehrung zur diabolischen Chiffre des zweiten: Bspl. 5: Alkan, Grande Sonate , 2. Satz, Lewenthal 129/III/3-129/V/1, erstes Viertel (Ronald Smith) Liszt wird in seiner Faust-Symphonie von 1854 diese innere Zerissenheit in der Konzeption des "Mephisto"-Satzes als eines Zerrspiegels und Themen-Negativs des "Faust"-Satzes formulieren. Alkans Drama zwischen der Dämonie der Verführung und dem Bann der Askese vollendet sich im Schlußakt. Er beginnt mit jenem Abschnitt, der die Einweihung in den Bezirk des Heiligen zu leisten hat. Diese von der Hoheitsform fugaler Technik bestimmte Region scheidet sich von der Arena der Leidenschaft durch vier riesige Arpeggien. Bemerkenswert ist einerseits, daß die Spitzentöne der arpeggierten Akkorde in das krebsförmig gereihte Kopfmotiv des "Faust"-Themas auslaufen. Andererseits nimmt das entdämonisierte Fugato-Subjekt das "Faust"-Motiv in hehr vergrößerten Werten, doch nunmehr wieder in der originalen Reihenfolge auf. Alkan demonstriert somit erneut, daß das Ritual von Reinigung und Triebverzicht aus einer inneren Wandlung des Künstler-Helden zu verstehen ist; nach der Verkehrung im Krebs nun die Umkehr, die Bekehrung zur geläuterten Gestalt. Bspl. 6: Alkan, Grande Sonate, 2.Satz , Lewenthal 140/V/1-140/V/b (Ronald Smith) Mit diesem Thema, das seiner archaisierenden Art nach an das der E-Dur-Fuge aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers erinnert, hebt eine der intrikatesten, an der Grenze der Spielbarkeit liegenden Passagen der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts an: ein siebenstimmiges Fugato, das sich eingerechnet der Verdopplungen und Füllungen zu einem elfstimmigen Piano-Filigran differenziert; plötzlich jedoch fortefortissimo mit dem von kontrapunktischen Fesseln befreiten Thema zur Wirkung einer Epiphanie durchbricht; zu der mit "Le Seigneur" bezeichneten Sphäre der Sakralität. Nach einem treffenden Ausdruck Ronald Smiths - jenes Pianisten, der zusammen mit Raymond Lewenthal nachdrücklich für das Werk Alkans eintritt und sämtliche während der Sendung zu Gehör gebrachten Kompositionen interpretiert -, nach Ronald Smith also vollzieht sich in diesem Fugato ein Exorzismus. Smiths Charakterisierung läßt sich weiter konkretisieren. Alkan verweigert nämlich diesen Takten die enharmonisch vereinfachte Schreibweise und notiert das Terrain der Entrückung bis nach Eis-Dur. Gleichwie zur Verdeutlichung des exorzistischen Habitus verdichtet das Notenbild als symbolisch überformte Augenmusik das Gitter aus bannenden Kreuzen in Form eines Arsenals von Erhöhungszeichen bis zum Dreifachkreuz. Die Klangmassen des triumphalen Schlusses aber verstärken die zeremonielle Armatur mit dröhnendem Glockeneffekt über offenem Pedal, während die motivische Teufelschiffre vom Ostinato des sakralen Fugenthemas gebunden, gefesselt wird. Anweisungen, wie "leidenschaftlich", "erbarmungslos", "flehend", "mit Verzweiflung", "glückselig", "wonnevoll" oder "mit Zuversicht" markieren den Weg einer Befriedung. Der Aufwand der Mittel jedoch zeugt von der Macht der Spannung zwischen Versuchung und Askese, zwischen dem Sog zum Entriegeln zivilisatorischer Triebsublimierung und dem zunehmend verschärften Diktat ihrs Imperativs. Hören Sie nun den weiteren Verlauf dieses in Form eines Sonatenhauptsatzes angelegten "Faust"-Szenariums von Beginn der Durchführung an. Bspl. 7: Alkan, Grande Sonate , 2. Satz, Lewenthal 133/V/2 b. z. Ende (Ronald Smith) Der Künstler als Bürger Die Begeisterung am "Faust"-Sujet grassierte in Frankreich als Folge der faszinierten Rezeption des Goetheschen Dramas seit Beginn der 1820er-Jahre. Musikalisch belegen diesen Enthusiasmus Berlioz' 1828/29 komponierte und später zur Légende dramatique La Damnation de Faust erweiterte "Faust-Szenen". Die Wirkung des "Faust"-Stoffes erklärt sich nicht zulezt daraus, daß er den Fokus jenes Leidens zu schärfen ermöglichte, das der Existenz des romantischen Künstlers das Wundmal des Exils einbrennt. "Oh, wie süß ist das Leben in tiefer Einsamkeit, fern der Menge und ihren Kämpfen!", vertont Berlioz eine Reflexion des Protagonisten im ersten Teil von Fausts Verdammung. Wenig später, beim "Tanz der Bauern", kontrastiert von der bitteren Erkenntnis: "Mein Elend neidet ihnen ihr Vergnügen". Das Asyl, das der Künstler, der Gesellschaft entfremdet, in der poetischen Imagination seines Innern aufschlägt, steht unter dem Patronat der verlorenen, desillusionierten und am Weltschmerz krankenden Gestalten der Dichtung Chateuabriands und Byrons. "Du selbst sollst deine Hölle sein!", lautet das Stigma des ruhelosen Helden in Byrons Manfred . Diesem Aspekt der Ausgrenzung sind auch die beiden letzten Sätze der Alkanschen Klaviersonate verpflichtet: zum einen als unlösbare Wunschfigur der Linderung, als häusliche Idylle nämlich; zum anderen als kompromißloser prometheischer Gestus. Der dritte Satz, "Quarante ans - Un heureux ménage" überschrieben, sucht dem Ambiente des Vierzigjährigen im geruhsamen Eheglück Ausdruck zu geben. Die Anweisung "avec tendresse et quiétude" charakterisiert einen Satz, dessen Ende in eine illustrative Episode mündet: das vernehmbare zehnmalige Schlagen der Uhr sowie der daran anschließende Choral sollen das beschauliche Bild einer sich zur Abendandacht versammelnden und im Gebet vereinten Familie zur Vorstellung bringen. Nach dem Pandämonium des zweiten Satzes aber verblaßt das Wunschbild von Ehe und Familie zum nostalgisch-schalen Glück. Es nimmt trotz der gebrochenen Stimmung Züge salonhafter Sentimentalität an. 1850, kurz nach der Entstehung der Sonate Alkans, wird Flaubert anläßlich der Eheschließung eines Schulfreundes sarkastisch die Beschränktheit der bürgerlichen Existenz sezieren. Vom "Bourgeois und Monsieur" ist die Rede, vom "Reaktionär", der borniert und vereidigt auf "Ordnung", "Familie" und "Eigentum" sein "Leben zwischen seinem Weibchen, seinen Kindern und den Schändlichkeiten seines Berufs" zubringt. Die Einbindung des am Riß der Welt leidenden Künstlers - motivische Varianten der "Faust"-Themen des zweiten Satzes lassen sich in Alkans Sonate auch an mehreren Stellen des langsamen dritten erkennen -, die Einbindung des ausgebürgerten Künstlers also in den gesellschaftlich sanktionierten Moral- und Normenkodex, kann nicht mehr ohne die Spur des Biedermännischen und Selbstzufriedenen vollzogen werden. Bspl. 8: Alkan, Grande Sonate, 3. Satz ("Un heureux ménage") ; Von der Wiederkehr des A-Teils an bis zum Endes des Satzes. (Ronald Smith) Der gefesselte Prometheus Im Revolutionsjahr 1848 wird am Pariser Conservatoire jene Klavierprofessur vakant, die seit gut zwanzig Jahren Alkans Lehrer Zimmermann innegehabt hatte. Obwohl Alkan aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten als aussichtsreicher Kandidat gilt, bevorzugt die Besetzungskommission schließlich zu allgemeiner Verwunderung einen Bewerber zweiter Wahl: Antoine-François Marmontel. Heute wohl weniger als Autor zahlreicher Etüden und eines Buchs über berühmte Pianisten bekannt, als vielmehr aufgrund seines Nachlebens in den Debussy-Biographien: als die Gestalt jenes pedantischen alten Herrn, der den aufbegehrenden jungen Debussy durch Drill und geistlose Regel verständnislos und autoritär zu bändigen suchte. Von Gewicht für die Ernennung Marmontels war ohne Zweifel die Protektion durch den Direktor des Conservatoire, den Opernkomponisten und später von Napoleon III. zum kaiserlichen Hofkapellmeister gekürten Daniel-François-Esprit Auber. Zumal Auber, gestützt auf Ansehen und Einfluß, geschickt die angespannte politische Lage und das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis des Bürgertums nach dem blutig niedergeworfenen Juni-Aufstand der Pariser Arbeiterschaft zu nutzen wußte. Alkan, seinem Ruf nach zwar immer noch berühmt, hinsichtlich der Reputation des Mentors seines Konkurrenten jedoch unterlegen, mag sich womöglich allein schon durch die Fürsprache Georges Sands kompromittiert haben, die bei den staatlichen Organen aufgrund ihrer Rolle während der Revolutionstage ins Zwielicht geraten war. Empört über die offensichtliche Intrige und Ungerechtigkeit und getrieben von Existenzängsten sucht Alkan doch noch eine Wendung zu erreichen. Seine Korrespondenz, unter anderem Briefe an höchste Stellen, legt davon Zeugnis ab. 35-jährig, mit abgebrochener Virtuosenlaufbahn, als Komponist zu wenig um das Komponierte besorgt, sah Alkan in einer Anstellung am Konservatorium neben der finanziellen Sicherheit wohl vor allem auch die Möglichkeit, seine pädagogischen Vorstellungen in der Vermittlung großer Musik zu verwirklichen. Noch seine späten Erard-Konzerte mit ihren Bach, Mozart, letzte Klaviersonaten Beethovens, Schubert, Mendelssohn, Chopin und Schumann umfassenden Programmen belegen etwas von diesem Vorhaben. Infolge der endgültigen Ablehnung zieht sich Alkan völlig vom öffentlichen Leben zurück. Erst 1873, nach einem Vierteljahrhundert, wird sich seine Eremitage wieder für jene berühmten "Six Petits Concerts" öffnen, die er jährlich - vermutlich bis 1877, eventuell bis 1880 - überwigend für einen Kreis von Freunden und Schülern zu geben pflegt. Die depressive Klangregion als Ausdruck von Klausur und innerem Exil aber hatte er schon im Finale der 1847 veröffentlichten "Großen Klaviersonate" entworfen. Bspl. 9: Alkan, Grande Sonate, 4. Satz ("Prométhée enchaité") ; (Nach dem ersten Themendurchgang abblenden) (Ronald Smith) Trübt sich das Refugium des dritten Satzes selbst schon zum Ende hin ein, so setzt der zuletzt gehörte Beginn des Finales vollends eine Zäsur des Schocks. Sie ähnelt dem bei Baudelaire so häufigem Umschlagen halluzinierter Traumparadiese in entzauberte Wirklichkeit. Der vierte Satz trägt neben der Angabe "Extrêmement lent" die Überschriften "Cinquante ans" - "Prométhée enchainé". Dieses 'äußerst langsam' zu spielende Finale, das eine Sonate beschließt, deren zunehmend im Tempo nachlassende Sätze dem finalgesteigerten "Kehraus"- und Apotheosen-Prinzip scharf kontrastieren, erschüttert durch krasse Desillusionierung. Es verweist über die Kombination des Stadiums des fünfzigjährigen Künstler-Helden mit der mythischen Figur des gefesselten Prometheus auf Situation und Problematik artistischer Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft zu Beginn der Moderne. Die Gestalt des antiken Titanen - dem Schlußsatz sind ausdrücklich sieben Zeilen aus Aischylos' Gefesseltem Prometheus vorangestellt - versinnbildlicht die Rolle des Künstlers als die eines charismatischen Außenseiters. Oszillierten schon einige Züge in Beethovens Biographie zwischen dem prometheischen Habitus und dem des Märtyrers, so werden im 19. Jahrhundert weitere Masken des Künstlers zu Requisiten einer Haltung des "Odi profanum vulgus"; etwa die des Dandy, des Sonderlings oder des Heiligen. Übrigens findet sich das soeben zitierte Eröffnungsdiktum der berühmten Horazischen Ode mit ihrem "Haß" auf die "gemeine Menge" wörtlich als Titel in Alkans Œuvre. Hören wir nochmals Flaubert: "zwischen der Menge und uns", den Künstlern, "gibt es kein Band. Umso schlimmer für die Menge, aber insbesonderer umso schlimmer für uns". Doch "muß man, unabhängig von den Dingen und der Menschheit, die uns verleugnet, seiner Berufung leben, seinen Elefantenturm besteigen und dort wie eine Bajadere in ihren Parfums allein mit seinen Träumen bleiben". Abgeschieden und geschunden wie Prometheus, der schmachvoll an den Felsen geschmiedete Feuerbringer und Zivilisationsheros der Menschheit, steht der Künstler isoliert inmitten einer Gesellschaft, die der poetischen Imagination und Kritik gegenüber ertaubt. Diese Erfahrung prägt Alkans Sonatenfinale. Auch Victor Hugos 1856 erschienener Gedichtszyklus Les Contemplations vergleicht den Dichter mit Prometheus, der der Menschheit im Dunkel der Zeiten als Fackelträger voranschreitet. Von nun an bleibt der Stand des Erwähltseins an das Sensorium des Schmerzes gebunden. Überschattet von Einsamkeit, vom Abseits zur Mediokrität der Menge. Genährt aus dem Abgrund des "spleen", des "ennui": von Trübsinn, Leere, Wahn, Todessog und Hoffnungslosigkeit. Im Schlußsatz der "Großen Klaviersonate" verschlüsselt das Lasten der bleiernen Zeit und deren schlechte Unendlichkeit die prometheische Qual der Melancholie. Aus ihr bewirken auch die gehämmerten Takte des Aufbegehrens keinen Ausbruch, die das sakrale Rettungsmotiv des Fugatothemas aus dem zweiten Satz zur manischen Folge verdichten. Vielmehr sinken in der rondoartigen Struktur dieses Finales die zitierten und variierten Themen auch der früheren Sätze in den Abgrund der Schwermut. Einer Schwermut, die dem programmatischen Kontext der Sonate zufolge die bittere Summe des Lebens zieht. Das Genie des Künstlers, kraft seines Ingeniums zwar unsterblich, gleichwohl jedoch verkannt und geopfert auf dem Altar der Saturiertheit, sucht den Kerker der Depression vergebens zu durchschlagen. "Wann wird jemals mir der Mühsal Ende sich zeigen!" - "Seht, welch Unrecht ich erdulde!". Solche Sätze aus Aischylos' Prometheus -Tragödie präzisieren den Ausklang von Alkans Bekenntnismusik. Kehrt das bereits den Satz einleitende, das Rasseln der Ketten wie die Erregung des in Fesseln geschlagenen Künstler-Titanen stilisierende Tonsymbol des Trillers wieder, so schließt sich der mythische, weil unaufhebbare Kreis aus Resignation, Rebellion, Verinnerlichung und Entsagung. Die aufsteigenden Skalen gegen Ende lassen nochmals den Gestus des Flehens assoziieren, bevor der dissonant zerbröckelnde Schluß endgültig den Ausdruck der Hoffnungslosigkeit annimmt. Erstarrung wird zum Signum eines Satzes, der Beethovens zwanzigster Diabelli-Variation als seinem Urbild verpflichtet scheint. Und durch Erstarrung kommt jener Empfindung nahe, die Berlioz' Charakterisierung des "spleen" zugrunde liegt. "Der 'spleen', das ist das Gefrieren", "das ist der Eisblock", heißt es in den Mémoires. Baudelaire aber dichtet unter Aufnahme des "Odi-profanum-vulgus"-Motivs und mit der Trauer des verlorenen Lebens gleichsam das Motto zu Alkans Finale: Gib mir die Hand, mein Schmerz, komm von der Menge weit weg. Vom Himmel über Balustraden neigen verblichene Jahre sich in alter Tracht. Bspl. 10: Alkan, Grande Sonate , 4. Satz; (Ronald Smith) II. Das Mal der Geschichte Bspl. 1: Alkan, Grande Sonate op. 33 , 4. Satz; Rebellionspassage und erste Strophe der Choralpartie (Ronald Smith) Im Mittelpunkt des ersten Teils stand die 1847 publizierte Grande Sonate Alkans. Sechs Jahre vor Liszts h-Moll-Sonate veröffentlicht und dieser in faustischer Emphase verwandt, ließ sie Alkans Tonsprache auf die Spannung zwischen künstlerischer Existenz und gesellschaftlicher Prosa hin durchlässig werden. Der soeben eingespielte Ausschnitt repräsentiert inmitten eines äußerster Ermattung, ja Erstarrung verpflichteten Sonatenfinales die Gebärde der Rebellion. Inmitten eines Sonatenfinales zumal, das seinen Assoziationshof um die Qual des "Gefesselten Prometheus" zentriert, um eine Imago des Künstlers par excellence also. Erinnert sei weiterhin daran, daß die choralartige Partie, in die die Takte des Aufbegehrens münden, den Ausbruch zurücknimmt und dem ausweglosen Zirkel des Satzes integriert. Hören Sie nun nach der Interpretation Ronald Smiths eine Wiedergabe derselben Sektion durch Pierre Reach. Obwohl in dieser Aufnahme das Tempo unzulässig angezogen ist, läßt ihre gesteigerte Heftigkeit den Aspekt der Melancholie um so nachdrücklicher hervortreten. Bspl. 2: Alkan, Grande Sonate , 4. Satz; Rebellionspassage und erste Strophe der Choralpartie (Pierre Reach) Marsch und Choral Anklänge an den Choralton begegnen bei Alkan an zahlreichen Stellen. Beginnend beim späten Beethoven und bei Schubert fungiert das Zitieren der sakralen Sphäre dabei zunehmend als ein Schutz und Protest verschränkendes Sigel. Gleich Enklaven inmitten des motivisch-thematischen Prozesses und dessen destruktiver Energie als Widerhall des Weltlaufs bedeuten jene Ruhepunkte Innehalten, Atemholen, Rekreation. Zu denken wäre an die Suspensionsoasen der Kopfsätze in Mahlers Sechster und Siebter Symphonie . Dem Diktat des Konflikts enthoben, vermitteln solche Takte den Eindruck von Distanz, Entsagung, Verinnerlichung. So auch die choralisch endende Sequenz aus Alkans Vierter Molletüde , dem zugleich ersten Satz seiner Symphonie für Klavier solo . Bspl. 3: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavie r, 1. Satz (= Etüde op.39,4) Lewenthal 41/III/1 b.z.Ende) (Smith) Diese Coda-Takte repräsentieren ein Kompendium Alkanscher Rhetorik. Zunächst wird ein vom Lagenwechsel zwischen Baß und Diskant wechselweise abgedunkeltes und aufgelichtetes Motiv, das sich auf das eröffnende des Hauptthemas bezieht, von der Legato- zur Staccato-Artikulation transformiert. Deren sich steigernde Heftigkeit entäußert sich zu einer H-Dur-Emphase des ehemaligen Schlußgruppenthemas. Sequenzierende Oktav- und Akkordkatarakte folgen, bis der Satz nach der vehementen Wiederaufnahme des Eröffnungsmotivs in einer "piano e sostenuto" zu spielenden Choralassonanz endet und "calando" verlöscht. Bspl. 4 = Wiederholung von Bspl. 3 Aufmerksamkeit verdienen in unserem Zusammenhang die im Staccato gehaltenen Takte sowie das abschließende Choralfragment. Die Staccato-Partie schärft momenthaft die Konturen eines schneidenen Marsches. Durch die Forcierung seines Schlags aber wandelt sich diese Assoziation zum Ausdruck einer inneren Erregung, die sich in der Leidenschaft eines von abstürzenden chromatischen Skalen durchquerten c-Moll-Feldes entlädt und ihrem Charakter nach an Chopins gleichfalls in c-Moll notierte Revolutionsetüde gemahnt. Revolutionär auch insofern, als der passionierte Ausbruch in die Nähe dessen gerät, was sich vom Maß der Vernunft her dem Makel des Exzessiven, Zersetzenden, gar Plebejischen aussetzt. Beargwöhnt wird der innere Furor wegen seiner Korrespondenz zum äußeren Aufruhr, das Pathos der Leidenschaft wegen seiner Nähe zum politischen Aufruhr. In Alkans Coda rumort der bohrende, subversive Ton von Anfang an, zumal aufgrund der Kombination mit dem stilisierten Marschzitat und seinem aufblitzenden republikanischen Idiom. Dagegen wird der Kontrast des Innehaltens und der Verinnerlichung im choralisch verfremdeten Ende hörbar. Schlugen in den vorausliegenden Takten Leidenschaft und revolutionäre Emphase ineinander um, entgegen der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, so wirkt die Schlußstrophe des Abgesangs wie eine der Entsagung. Sie läßt nach der historischen Erfahrung fragen, die in Alkans Komposition widerhallt. Die dürftige Zeit des Goldes Alkans eremitenhafter Rückzug vom öffentlichen Leben fällt in das "Second Empire" Napoleons III. In die Zeit der Finanzaristokratie, des Bankkapitals, der Spekulation und des Aufschwungs der industriellen Bourgoisie, die das ökonomische Tableau immer entschiedener bestimmen wird. In eine Epoche des Größenwahns, der militärischen Großmachtgelüste und des Ausbaus der Großindustrie. So finden schließlich auch die Pariser Weltausstellungen von 1855 und 1867 ihre Bühne in einer Metropole, die sich im Zug der von kontrollstrategischen, verkehrstechnischen und inszenatorischen Belangen diktierten Modernisierungspläne des Präfekten Haussmann zur "Kapitale der Welt" formiert. Von Louis-Philippes "Juste-milieu" und dessen tatkräftig umgesetzter Parole des "Enrichissez-vous!" über deren Steigerung im Zweiten Kaiserreich bis hin zum Finanzkapitalismus und zur imperialen Politik des "Empire français" der Dritten Republik: all diese Stadien zeugen vom Bewußtsein einer Gesellschaft, die "im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips" begrüßt. Oder in der Sprache Gobsecks, der Gestalt des Wucherers in Balzacs gleichnamiger Novelle: "Das Gold vertritt alle menschlichen Kräfte." "Ist das Leben nicht eine Maschine, die vom Geld in Bewegung gesetzt wird?" "Das Gold ist der Spiritualismus der heutigen Gesellschaft." Und doch bleibt im mondänen Taumel des Zweiten Kaiserreichs der Abgrund einer Scheinwirklichkeit fühlbar, den der Hedonismus der Begüterten und deren parasitäre Genußsucht auf dem Rücken der arbeitenden und verelendeten Massen panisch zu überblenden sucht. Eine sich wie improvisiert in Szene setzende Scheinwirklichkeit, die die Züge ihrer eigenen Auflösung vorwegzunehmen scheint. Bspl. 5: Offenbach, La Vie Parisienne , 3. Akt, Finale, Schlußchor (Interpreten vgl. Beiblatt) Zu leicht wird vergessen, daß die Epoche der Profit-Euphorie von einem Unterstrom republikanisch-sozialistischer Ideen grundiert wird, gefärbt vom Blut, überschattet vom Leiden der Opfer der revolutionären Erhebungen von 1830, 1848 und 1871: der Niedergemetzelten, Hingerichteten, Eingekerkerten und Deportierten. Desgleichen: daß diese Epoche vom Elend der geknechteten untersten Klasse zehrt, deren Blutzoll stets den Interessen der Bourgeoisie zugute kam. Marx notiert in der Studie Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte : "Alle Klassen und Parteien hatten sich während der Juni-Tage (1848) zur Partei der Ordnung vereint gegenüber der proletarischen Klasse, als der Partei der Anarchie, der Sozialismus, des Kommunismus. Sie hatten die Gesellschaft 'gerettet' gegen 'die Feinde der Gesellschaft'. Sie hatten die Stichworte der alten Gesellschaft, 'Eigentum, Familie, Religion, Ordnung', als Parole unter ihr Heer ausgeteilt und der konterrevolutionären Kreuzfahrt zugerufen: 'Unter diesem Zeichen wirst du siegen!'." Bspl. 6: Berlioz, Grande Symphonie funèbre et triomphale op.15 , "Marche funèbre", T. 1-47 (London Symphony Orchestra, Colin Davis) 1840 komponierte Berlioz seine Symphonie funèbre et triomphale als Memento für die Opfer der Juli-Erhebung von 1830. In der Tradition der zeremoniellen Freiluftmusiken schlägt das Werk den Bogen zurück zu den Festen der Großen Revolution und Ersten Republik, zu den Postulaten der "Menschenrechte" im Anspruch republikanischer Öffentlichkeit. Von diesen Postulaten zehren noch die Erhebungen insbesondere des Pariser Proletariats während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunders: im Gedanken einer "Sozialen Republik" und der Forderung nach Einlösung des Rechts auf "égalité". In Form von Gedanken also, deren Varianten sich im Rekurs auf humanitäre Prinzipien ähneln, fern einer stichhaltigen ökonomische Analyse. Leroux' Lehre von Solidarität und Gemeineigentum oder Victor Hugos Plan einer Einbürgerung der sozial Entrechteten in die Gesellschaft stehen dabei ebenso Pate wie Lamennais' aufsehenerregedes Buch Paroles d'un croyant ; seine Proklamation der Souveränität des Volks im Namen der Religion, seine Attacke gegen Besitz und Eigentum, sein Mahnruf zur Befreiung der untersten Klasse gemäß dem Gebot der "fraternité" auf der Basis eines von Grund auf veränderten Gemeinwesens. Republikanisches Bewußtsein dürfte bei Alkan, wie bei einem Großteil der künstlerischen Intelligenz, solch vorrangig ethischen Grundsätzen verbunden gewesen sein: der Hoffnung auf eine Beseitigung der gesellschaftlichen Misere im Vertrauen auf die Wirkung des sittlichen Appells. Schließlich verkehrte Alkan, den allein schon seine philosophischen Neigungen und seine verschiedentlich belegte politische Wachheit mit jenen Theorien in Berührung brachten, in jungen Jahren in den Zirkeln Lamennais' und Victor Hugos. Nach dem Ausbleiben der erwarteten Erneuerung und ohne das Instrumentarium einer präzisen theoretischen Durchdringung der Produktionsverhältnisse reagiert die künstlerische Elite vielfach mit einer provokanten Abkehr vom politischen Leben, mit Rückzug, einer generalisierenden Kritik an Materialismus und Geldfetisch oder mit abruptem Gesinnungswechsel. Berlioz, von der Juli-Revolution noch begeistert, wird zum Verächter der "schmutzigen, dummen Republik" und feiert Napoleon III. als "Retter", um schließlich abseits vom Flitterglanz des "Second Empire" in Resignation und Verbitterung zu enden. Baudelaire, Kombattant der Revolution von 1848, brüskiert nach deren Scheitern die Zeitgenossen hinter der Maske des Satanischen durch eine exzentrische Ästhetik der Abgrenzung. Alkan selbst, der 1848 in einem Brief an George Sand noch von seiner "glühenden Liebe" zur Republik spricht, schirmt sich wenig später kompromißlos gegen das Außen ab. "Meine Lage macht mich entsetzlich traurig und elend. Jede musikalische Produktion hat ihre Anziehungskraft für mich verloren, kann ich doch weder Sinn noch Ziel erkennen", schreibt er an Ferdinand Hiller. Im Zeichen des Kondukts Wie bereits zu Beginn der Sendung demonstriert, nimmt das Eröffnungsallegro der Symphonie für Klavier op. 39 den revolutionären Duktus zurück. Bringen wir uns diese Schlüssel-Stelle noch einmal in einer Interpretation Michael Pontis zu Gehör. Bspl. 7: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavier , 1. Satz (= Etudes op. 39, 4) Lewenthal 41/III/1 b. z. Ende (Michael Ponti) Der resignative Abgesang am Schluß des Beispiels vermittelt zur Eintrübung des nachfolgenden zweiten Satzes der Symphonie . In ihm werden die Charaktere von Marsch und Choral auskomponiert: als "Marche funèbre" und als Episode der Verinnerlichung. Während Berlioz' Symphonie funèbre et triomphale das Pathos der großen republikanischen Freiluftmusiken fortschreibt, zieht Alkans Trauermarsch das Forum der Öffentlickeit in das Refugium des Privaten ein; unter Assimilation der symphonisch-orchestralen Klangsprache an das Soloinstrument des Flügels. Als sollte die Not der Klaviertranskription zur Tugend gemacht werden, nachdem Alkans einzige Orchestersymphonie, vier Jahre vor den Unruhen von 1848 entstanden, als verschollen gilt. Steht das Plenum des Orchesters schon von seinem Anspruch her dem Kollektiv der Gesellschaft nahe, so repräsentiert die solistische Aktion eher eine seitens des Publikums delegierte Privatisierung. In Berlioz' Prozessionsmusik zum Gedenken an die Opfer des Juli-Aufstands und zur Einweihung der Bastille-Säule bewahrt der monumentale Kondukt den republikanischen Geist als Appell: in der Umsetzung von kollektiver Trauer in solidarisches Schreiten. Bei Alkan hingegen bringt gerade die Spannung zwischen dem kollektiven Modus des Marsches und seinem Einzug in den sloistischen Bereich den Widerspruch zwischen Postulat und Wirklichkeit zum Ausdruck. Der Verlauf der Symphonie funèbre et triomphale führt von der Erinnerung an die "Kämpfe der ruhmvollen drei Tage" von 1830 zur Schlußapotheose der Hymne der "gloire" im Zeichen der Freiheit. Bei Alkan streift das Finale der Symphonie den Bereich des Dämonischen. Als Konsequenz eines von der Prosa des Alltäglichen in die Innenwelt der Phantasie verlegten Szenariums, das auch die "Marche funèbre" bestimmt. Hier wird das republikanische Idiom als Nachhall des revolutionären Impetus zum Memento für die Abgeschiedenheit des Künstlers im Protest gegen die unerlösten Verhältnisse nach 1848. Als musikalische Imagination jener Strophe verwandt, mit der das letzte der Spleen -Gedichte Baudelaires endet: - Et de longs corbillards, sans tambours ni musique, Défilent lentement dans mon âme ; l'Espoir, Vaincu, pleure, et l'Angoisse atroce, despotique, Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir. - Und lautlos zieht ein langer Leichenzug Durch meine Seele seine schwarzen Bahnen, Die Hoffnung weint. Das Grauen, das sie schlug, Das Grauen pflanzt in meinem Hirn die Fahnen. Bspl. 8: Alkan, Symphonie op. 39 für Klavier, 2. Satz ("Marche funèbre") (=Etudes op 39,5)(ganz) (Ronald Smith) Für zahlreiche französische Künstler waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts politische und ästhetische Revolution nicht voneinander zu trennen. Daß sich die Kraft des "Wahren in der Kunst", so eine Formulierung Berlioz', inmitten der beklagten Profanierung nicht gesellschaftsbildend entfalten konnte, vereitelte jedoch das ersehnte Bündnis. Die Kluft zwischen dem künstlerischen Genie und der Menge der Akteure im seelenlosen Getriebe des ökonomischen Molochs wurde unüberbrückbar. Inmitten einer dem Regime angedienten Repräsentations- und Propagandakunst zudem, die während der "Période autoritaire" des Zweiten Kaiserreichs im Bund mit den Instanzen von Zensur, Militär und Kirche stand. Napoleon III. lag daran, die sozialen Widersprüche zu verschleiern. Er wünschte sich eine "Nation", welche als "Voraussetzung einer stabilen Diktatur (...) voller Aktivität unpolitischen Zielen nachjagt": dem Imperativ des "Bereichert euch!" gesellt sich das Schlagwort des "Embellissement", der Verschönerung, der schönen Fassade, als gängige Formel bei. "Die Musik ist tot", notiert Berlioz im Vorwort der Mémoires . Und an anderer Stelle heißt es über Paris: "Unsere Hauptstadt finde ich wieder vor allem mit materiellen Interessen beschäft, unaufmerksam und gleichgültig gegen das, was die Dichter und Künstler begeistert." Baudelaire konstatiert, "daß Frankreich die Poesie, die echte Poesie, verabscheut". Seine Kritik gilt der "Mechanisierung" und "Erniedrigung des menschlichen Herzens", in der schließlich "alles, was nicht ausschließlich Gier nach dem Golde ist, einer grenzenlosen Lächerlichkeit anheimfallen wird". Alkan selbst entrüstet sich 1859 über die Unmenge an "Schund" auf musikalischem Gebiet und über die Vielzahl derer, die daran sei's mitwirken oder Gefallen finden. Dämon Ökonomie Alkans Anstrengung liegt, vergleichbar der Baudelaires, in der Bewältigung des "ennui" inmitten einer vom Kalkül beherrschten Gesellschaft. Und zwar in einer Bewältigung mit immer auch den Mitteln dieser Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Sie durchdringt seine Kompositionen mit Momenten kompensatorischer Gegenwehr. Im athletischen Kraftakt einer Vituosität beispielsweise, in der sich Eruption und Konstruktion verschränken, entfesselte Sinnlichkeit sich an die Fron pianistischer Arbeit bindet. Wie Baudelaire in seinen Tagebuchnotizen das Ritual von Arbeit und Gebet als einen Damm der Askese gegen den zivilisatorisch tödlichen Sog von Exzeß und Überschreitung beschwört, als ein Heilmittel zudem gegen die Hölle des "ennui", so sinnt auch Alkan im zweiten, "L'Enfer" bezeichneten Satz seines Duos für Violine und Klavier dieser "Hölle" aus Schwermut und Hoffnungslosigkeit nach. Und den strengen, fast puritanischen Habitus, den Zeitgenossen an Alkan bemerken, entdecken wir in seiner Musik an jenen Stellen, an denen rauschhafte Virtuosität ihren Widerpart an Takten der Besinnung, Ernüchterung und Stabilisierung findet. Gegen Ende des "Allegro assai" aus Alkans Concerto für Klavier solo , der achten der 1857 publizierten Etüden op. 39 , unterbrechen zwei Choralstrophen den Satz. Ähnlich Baudelaires Hygiene des Gebets wirken diese Zäsuren wie ein Ort der Meditation vor der tour de force der Coda und ihrer über weite Strecken im Repititionstaumel des "Double Échappement" getriebenen und vibrierenden Erregung. Bspl. 9: Alkan, Concerto für Klavier solo , 1. Satz (=Etüde op.39,8) Costallat 57/III/3 - 63/V/1 (Ronald Smith) Alkans Musik ist vom Körper inspiriert. Häufig begegnet in ihr, wie im zuletzt gehörten Beispiel das stützende Korsett aus Akkord- und Oktavimpulsen, die Obsession des Schlags. Oft in der Gewalt eines Stoßes, der den metrischen Schwerpunkt mit Sforzato-Nachdruck intensiviert. Ein Gestaltungsmittel, in dem sich gesellschaftliche Produktion und ästhetische Opposition legieren. Das Repertoire der Schlagwirkung selbst ist vielfältig. Ob in Form schmerzender Salven zu Beginn der harten Trommelschläge eines Kondukts, Bspl. 10: Alkan, Concerto op.39, 2. Satz (= Etüde op. 39, 9) Costallat 83/IV - 86/1/2 (vor dem "Dolce"-Motiv abblenden) (Ronald Smith) ob als hämmernder Taktimpuls Bspl. 11: Alkan, Concerto, 1.Satz (=Etüde op.39,8) Costallat 69/II/3 -70/I/2 (Smith) oder als akzentverschobender Stoß. Bspl. 12: Alkan:, Symphonie f.Klavier op.39, 3.Satz (=Etüde op.39,6) Lewenthal 57/II/5-58/II/2 (Smith) Insbesondere die beiden letzten Ausschnitte verdeutlichen die Reaktion des musikalischen Sensorium auf die Erschütterung expandierender Technisierung. Die Erfahrung der Zurichtung des Körpers durch die industrielle Maschinerie und deren alltägliche Auswirkungen wird von den Kompositionen um der Bändigung willen eingelassen. Der stampfende Gestus, der immer wieder in Alkans Musik einbricht, demonstriert in einer Zeit der steten Beschleunigung und Mechanisierung somatischen Widerstand. In einer Zeit, die seit der Jahrhundertmitte unerbittlich den Flaneur zum Verschwinden bringt. Über die ästhetische Anverwandluing soll sich der attackierende Stoß zum körperlichen Stimulus fügen. Er soll der Entsinnlichung opponieren, ohne in leibhaft idyllische Zustände zu flüchten. So absorbiert ästhetische Opposition die Gewalt der außerästhetisch gesellschaftlichen Produktion über das beide Bereiche zusammenschließende Medium der Technik. So will ästhetische Opposition die Wirkungen der außerästhetisch gesellschaftlichen Produktion als ein Sediment der prosaischen Verhältnisse jener Formkraft des Werks einverleiben, die durch poetische Umformung des Bedrohlichen und Fremden der Entfremdung standzuhalten sucht. Zeitgenössischen Dokumenten sowie der Struktur seiner Kompositionen ist zu entnehmen, daß Alkan ein Gegner des nur allzuoft übermäßig schwelgenden Rubatos war. "Inflexibilité" lautet ein Titel seines Œuvres, der stellvertretend verdeutlicht, was Alkan generell zu praktizieren pflegte und eingehalten wissen wollte. "Ohne Freiheit, welcher Art auch immer", steht lakonisch über der letzten Moll-Etüde aus op. 39 . Und vergleichbar den Auftritten des Pianisten Saint-Saëns sind es denn auch die kurzsichtigen Vorwürfe eines Mangels an Spontaneität und Poesie, die etliche Kritiken, neben begeisterten Rezensionen, anläßlich der seltenen pianistischen Auftritte Alkans erheben. Alkans Potenzierung von Rhythmus, Schlag und Staccatoartikulation als Teil seines "Style sévère" ist eminent modern. Daß auch der musikalischen Zeit qua "Tempo rubato" nichts mehr zu rauben sei, registriert jenes allgemeine Zeitgefühl, das vom Takt der Profitquanten bedrängt und unterjocht wird. Dennoch: die oft erbarmunglose Rastlosigkeit der Motorik so vieler Partien Alkans bei strikt durchgehaltenem Tempo mißt sich zwar an der Diktatur des maschinellen Takts als dem Emblem industrieller Ökonomie. Sie gewährt ihm allerdings nur so weit Raum, als sie ihn aus der rotierenden Maschinerie immer auch rhythmisch sublimiert, das heißt libidinös entbindet. Von großer Wirkung waren im Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Ideen Saint-Simons. Indem sie die industrielle Produktion und deren Steigerung noch als Mittel sozialer Versöhnung begriffen, wurden auch die mit dem Saint-Simonismus sympathisierenden Künstler zu Propagatoren solcher Zuversicht. Das ist zumindest ein Aspekt von Alkans Komposition Le chemin de fer von 1844, die als eines der ersten musikalischen Werke in seiner perpetuum-mobilehaften Motorik die Welt der Maschine und der Eisenbahn aufnimmt. Offenkundig ist, daß diesen Gedanken eine Korrespondenz zwischen den Gesinnungen von demokratisch liberalen Geist, Fortschrittspathos und Industrie- beziehungsweise Eisenbahnenthusiasmus eigen war. Ebenso offenkundig aber übersetzt sich die das Getriebe der Takte in Gang haltende motorische Energie vom Ausdruck her in die Unrast des Triebs, in Leidenschaft. Die Spannung zwischen dieser die Ökonomie des Formgesetzes erschütternden Leidenschaft und ihrer Rückbindung an die Konstruktion äußert sich oft genug als dämonische Qualität. Sie ist beispielsweise dem Finale der Symphonie für Klavier sol o anzuhören. Bspl. 13: Alkan, Symphonie op. 39 , 4. Satz (=Etude op.39,7) (ganz) (Ponti) Paul Tillich kennzeichnet das Dämonische einmal als das "gestaltwidrige Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen", als ein "Formwidriges, das in eine künstlerische Form einzugehen imstande ist". Diesen dämonischen Aspekt der 'Formwidrigkeit als Form' hatte bereits Baudelaire seiner Ästhetik in der Variante des "Bizarren" eingemeindet. Die "Unregelmäßigkeit, das heißt das Unerwartete, Überraschende, Verblüffende", wurde ihm zum Leitmotiv des künstlerischen Kanons. Musikalische Analogien dazu lassen sich unter anderen in jenen Verfahren erkennen, die einzelne kompositorische Parameter momentweise als vereinzelte verzerren und dadurch den Schein der Geschlossenheit zersetzen. Auch in Alkans Scherzo diabolico ist dieser dämonische Gestus als der einer gestaltwidrigen Verunklärung zu hören. Wie schon der huschende Motivpartikel des Beginns und die nachfolgenden im Pianissimo chromatisch absteigenden, die diatonische Ordnung verwischenden hohlen Oktaven durch die Verweigerung einer prägnanten Themengestalt verunsichern. Wie unmittelbar danach der Fortissimo-Ausbruch jäh einschlägt, und gegen Ende des ersten Scherzohauptteils das von Sforzato-Akzenten durchzuckte Oktavfeld der Baßregion infolge des geöffneten Pedals chaotisch ausufert. Eine Stelle, die entgegen dem Ideal des vom Geräusch gereinigten Tons das krude Material zum Tönen bringen will. Wie weiterhin inmitten des Trios der triumphal-pompöse Ton unversehens und mit der Beischrift "satirico" entmächtigt wird und den Gedanken Victor Hugos von der "Verschmelzung des Grotesken und des Erhabenen" zu parphrasieren scheint. Werden solche Elemente des Aprupten, des Unerwarteten, des "Imprévu" von der Tektonik des Scherzotypus auch stabilisiert, so kündigen sie doch immer wieder des Konsens mit einem an Klarheit und Deutlichkeit orientierten Hören auf. Kierkegaard bestimmt unter Berücksichtigung des Mephistophelischen das "Dämonische" als das "Plötzliche". Diese Definition zielt auf die Wirkung eines Schocks, der im Augenblick seines Einbruchs in die Zeit zugleich mit der einigenden Kraft der Wahrnehmung die Identität des Wahrnehmenden gefährdet. Daß und auf welche Weise das Scherzo diabolico hinaus einsetzt, als Schauder etwa, wird uns noch an einer Stelle der dritten Sendung beschäftigen. Bspl. 14: Alkan, Scherzo diabolico ( = Etüde op.39,3)(ganz) (Smith) III. Musik der Subversion Bspl. 1: Bartók, Allegro barbaro , T. 1-101, erstes Achtel (Robert Hagopian) Allegro barbaro nannte Béla Bartók die soeben angespielte Komposition aus dem Jahr 1911. Ohne das Wagnis kühner Dissonanzen - das Stück enthält im Gegenteil eine große Anzahl reiner Dreiklänge -, schockierte das Werk vor allem durch seine undomestiziert csárdáshaft-rhythmische Verve. Die ebenso rudimentäre wie obsessive Tonsprache mußte gegenüber einer überreifen, gar vergreisten Spättonalität wie ein Kahlschlag wirken; gegenüber einem kraftlos gewordenen Dur-Moll-System des Überschwangs und der Anfälligkeit für falsches Pathos; einer kadenzlogisch bis zu Auflösung unterhöhlten Rhetorik, die sich in ihrer Opulenz selbst überlebt hatte. Wenig bekannt ist jedoch, daß Bartóks Komposition eine Vorläuferin desselben Titels und einer vergleichbaren Intention hat: Alkans fünfte der 1847 publizierten und von Hans von Bülow euphorisch rezensierten Douze études dans les tons majeurs op.35 . Für die Zeit um 1850 weist Alkans Allegro barbaro ein erstaunliches Maß an Ungewohntem auf. Nicht nur, daß das Klavier bereits hier primär als Schlaginstrument fungiert. Die Etüde hebt sich außerdem fremdartig vom eingebürgerten Klang des funktionsharmonischen Dur-Moll ab: obwohl in F-Dur notiert, bleibt in allen Takten die Auflösung des b verbindlich. Stehen damit die Refrainpartien dieser rondoartig und streng symmetrischen reinen Weißetastenkomposition in lydischer Tonart, so weichen die Couplets in den äolischen bzw. dorischen Bereich aus. Die akkordlos kahlen Oktavschläge, der Hang zur Pentatonik, das Abrücken vom dominanten Leittonprinzip, ostinate Rhythmusformeln sowie eine Crescendo und Descrescendo äußerst sparsam verwendende, starre Dynamik - 80 der 120 Takte fordern hartes Fortissimo -: all dies verleiht der Musik einen Ton des Barbarischen. Bspl. 2: Alkan, Allegro barbaro (= Etude op.35, 5) (Smith) Alkans Klausur heute Der Name Alkan steht noch immer für einen Musiker, der im Konzertsaal nicht zu hören ist, vielen Musikinteressierten nach wie vor unbekannt ist, nahezu unauffindbar in Rundfunkprogrammen und schriftlichen Publikationen. Doch schon zu Lebzeiten des Komponisten kam dessen Musik selten genug zur Aufführung. Daß die Gesetze von Markt und Veröffentlichungspraxis für diesen eremitenhaften Künstler eine unwesentliche Rolle spielten, daß er darüber hinaus den Part eines Propagators für sein Werk ablehnte, mögen als zwei der Gründe jener Vernachlässigung unmittelbar, wenn auch vorschnell, einleuchten. Niemals wurde eines seiner zentralen Klavierwerke, beispielsweise die "Große Sonate" op. 33, die "Symphonie" oder das "Concerto", von Alkan in ihrer jeweiligen Geschlossenheit öffentlich präsentiert. Im Fall der beiden letzten Arbeiten, ist lediglich die einmalige Interpretation einzelner Sätze überliefert. Diese Situation darf für das neunzehnte Jahrhundert als bestimmend angenommen werden. Und für das zwanzigste? Busonis Einsatz für den von ihm zeitlebens hochgeschätzten französischen Klaviermeister schlug nach kurzem fehl. Das Engagement seines Schülers Egon Petri vor allem für die Etüden op. 39 ging um 1940 in den politischen Wirren und Katastrophen der Zeit unter. Erst in den sechziger Jahren stieß eine Rundfunk- und Konzertreihe des Pianisten Raymond Lewenthal beim amerikanischen Publikum auf große Zustimmung. Doch auch wenn sich seitdem Künstler wie John Ogdon, Michael Ponti oder Ronald Smith insbesondere mit Alkans Chef d'oeuvre, dem Zyklus der Moll-Etüden op. 39 , auseinandersetzten, blieb eine Resonanz im Musikleben etwa des deutschsprachigen Raums völlig aus. Liegen die Ursachen dafür allein im Bereich der Reproduktion, das heißt der ungemein schwierigen Technik, die Alkan den Virtuosen abverlangt, um dafür womöglich nicht einmal mit publikumswirksamer Brillanz zu entschädigen? Wohl kaum. Weiter führt eine Vermutung, die sich auf das Komponierte selbst einläßt; vor allem auf die Summe der Douze études dans les tons mineurs . Auffällig ist dabei die zwitterhafte Faktur einiger Stücke. Resultat eines Verfahrens, das den von Beethovens klassizistischer Phase her überlieferten Formkanon Elemente des Charakteristischen einsprengt. Es handelt sich um jene mit virtuoser List emanzipierte musikalische Prosa, die die Geschlossenheit der Werke zumeist mit exzessivem Ausdruck unterhöhlen. Momente und Nuancen des Dämonischen, Grotesken, Trivialen werden mit einem streng auf Homogenität und Integration gerichteten Formkanon kombiniert. Dessen Modelle jedoch, beispielsweise das der Sonate, sollen davon unberührt bleiben. Evident wird hierbei die Sonderstellung Alkans gegenüber den dem neuen Material Rechnung tragenden tektonischen Veränderungen eines Berlioz oder Liszt. Zu deren Musik, wie übrigens auch zu der Wagners, verhielt Alkan sich ablehnend. Daß Hans von Bülows Wertschätzung des Komponisten Alkan als eines "Berlioz des Klaviers" diese Differenz der Gestaltung ausblendet, sei am Rande vermerkt. Die Reibungen und Wodersprüche zwischen den Tendenzen des Gehalts und deren formaler Organisation erzeugen bei Alkan mitunter einen Konflikt, der sich zunächst als die Verschränkung von Orginalität und Eklektizismus darstellen mag. Ob das Defizit seiner Rezpetion demnach einem musikalischen Zeitgeist zuzuschreiben wäre, dessen Sensorium sich aus Wunscherfüllung an quasi organischen Konzeptionen orientiert, an Konzeptionen, die auf der Balance von Form und Inhalt beruhen? Ein solches Argument, mit dem Akzent auf einem als Unvermögen unterstellten Epigonentum Alkans, verkennt dessen Komponieren voreilig. Zu überlegen und zu beurteilen ist vielmehr, inwieweit seine hart gesetzten Kontraste, oftmals nahe der Klitterung von Brüchen, als eine bewußt provokante und ästhetisch überzeugende Figur der Unversöhnbarkeit zu verstehen sind. Desgleichen: inwieweit die zuweilen erkennbaren Züge des Ausladenden, Massiven und Redundanten als eine Kompensation des ausgegrenzten Känstlers im Sinne von Selbstbehauptung und ungestillter Integrationssehnsucht zu gelten haben. Oder inwieweit diese Effekte und Eigenheiten durch ihren Kontext hintergründig werden, etwa durch die häufigen Wendungen zum Espressivo der Trauer. Barbarismus als Provokation Bspl. 3: Alkan, Concerto f. Klavier solo, 3. Satz (=Etüde op.39,10) Ausgabe: Costallat 92/I/1 - 98/IV/1, erstes Achtel (Smith) Unterbrechen wir an dieser Stelle einen Satz, es handelt sich um das Finale des Concertos der Etüden op. 39 , der die Verschiedenheit seiner Charaktere nicht zu poetischer Geschlossenheit rundet. Etliche Partien erinnern zwar an Gestaltungsmittel der Sonatenhauptsatzdramatik, wirken aber befremdend, ja bisweilen absurd, insofern sie ihres kadenzlogischen Zusammenhangs entbehren, das Prinzip der Kontinuität abrupt aufkündigen und Versatzstücke von Steigerungen und Höhepunkten montieren. Polonaisen-Grandezza kreuzt sich mit dem Figurenwerk von Etüden, Ausschnitte aus konzentrierter Durchführungsarbeit mit der Eintönigkeit motivischen Leerlaufs. Alkan verschärft den Eindruck des Disparaten noch durch bizarr parodistische Einlagen, wenn die Musik sich in Trillerketten verstrickt und einen Lapsus des Interpreten miteinzukomponieren scheint. Oder wenn sie unbekümmert um ihren Fortgang Gefahr läuft, sich mit einem insgesamt 21mal repetierten Motivmuster und einer wie zufällig anmutenden Harmonik in die Irre zu verlieren, als wäre der Gedächtnisfaden gerissen. Bspl. 4: Alkan, Concerto op.39 , 3. Satz (=Etüde op.39,10) Costallat 104/II/2 - 107/III/1 (Smith) Münden diese Takte unmittelbar in einen schmerzvollen Abgesang, so repräsentiert das plötzlich in den Ernst der Ausweglosigkeit umschlagende Verwirrspiel eine der bei Alkan zahlreichen Konfigurationen von Extremen. Auf sie weist schon die Wahl vieler seiner Titel in Form des Gegensatzes hin, etwa desjenigen von Trauer und Freude, Schwermut und Heiterkeit in Jean qui pleure et Jean qui rit oder in Héraclite et Démocrite . Das kolportagehaft Barbarische im Gefüge des Konzertfinales aus opus 39 aber verdichtet sich in folgender Sektion zum Signet: Bspl. 5: Alkan, Concerto op. 39 , 3. Satz (=Etüde op.39, 10) Costallat 93/I/1 -93/III/2 (Smith) Bestimmend ist unter anderem für dessen Kolorit, es war schon in Alkans Allegro barbaro zu hören, das Intervall der Oktav, das im Diskant eine exotisch wirkende Stimme vom Umfang einer Sext färbt, im Baß dagegen stereotyp in komplementäre Quinten und Quarten zerlegt wird. Eine differenzierte Mittellage fehlt. Basierend auf bewußt primitiv-harmonischen Verhältnissen und einer starren Dynamik, schiebt sich in diesen acht Takten um so stärker der rhythmische Impuls in den Vordergrund. Zu charakterisieren wäre die Passage am ehesten durch das Aussparen der Vielfalt an verfeinerten musikalischen Mitteln. Dreimal kehrt der krude Ton wieder, zuletzt im tieferen Register, bevor er schließlich für wenige glanzvoll gesteigerte Takte vom quasi zvilisierten Idiom getragen, nicht aber triumphal überwunden wird. Bspl. 6: Alkan, Concerto op. 39 , 3. Satz (=Etüde op.39, 10) Costallat 117/II/1 - 118/V/2, erstes Achtel (ab V/1 abblenden) (Smith) Alkans tonal assimilierter "Barbarismus" steht um 1850 für fremdländisches Kolorit. Für ein Kolorit, das den universellen Sprachcharakter des Dur-Moll-Systems epochenspezifisch mit idiomatischen Besonderheiten zu durchsetzen beginnt: mit "couleur locale", mit Orientalismen, mit dem Klangreiz ethnischer Fernen. Bereits 1844 hatte Félicien David, der Vater des musikalischen Exotismus, den orientalischen Impressionismus seiner Ode-Symphonie "Le désert" mit außergewöhnlichem Erfolg in Paris zur Uraufführung gebracht. Bekannt ist, daß bei nicht wenigen französischen Künstlern der Zeit wie Delacroix, Hugo, Nerval, Gautier oder Flaubert Orient-Sujets eine gewichtige Rolle spielen. Schließlich kam Frankreich durch die seit 1830 betriebene Eroberung Algeriens verstärkt mit dem islamischen Kulturkreis in Berührung, mit arabischer Musik etwa, um oft genug die exotischen Entdeckungen als Trophäen im kolonialen Schaufenster der Weltausstellungen zu präsentieren. Goethe kommt 1805 in den Tag- und Jahresheften auf jenen "Trieb zum Absurden" zu sprechen, der "gegen alle Kultur die angestammte Roheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigen Welt wieder zum Vorschein bringt". Eine Bemerkung, die angesichts der zur Diskussion stehenden Takten Alkans das zivilisationskritische Ferment in der Auseinandersetzung mit Exotik und Barbarismus spürt. Gedacht sei an Baudelaires provokanten, wenngleich alles andere als rousseauistischen Vergleich zwischen dem korrumpierten Stand des "homme civilisé" und den heroisierten Eigenschaften des "homme sauvage". Gedacht sei an das Lob des Barbarischen bei Jules Michelet und einer Tradition, der das Barbarische als verjüngendes Lebensingrediens gilt. Oder an weite Partien in Flauberts Salambo -Roman, angesiedelt im Karthago des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. Müdigkeit und Widerwille gegenüber der Zivilisation, dieser - wie der Autor formuliert - "runzligen Fehlgeburt der Anstrengungen des Menschen", gestehen desgleichen viele der während Flauberts Orientreise von 1850 geschriebenen Briefe ein. In diesem Sinn gemahnen auch Alkans eingesprengte Barbarismen an eine Attacke gegen Pläsier und Ornament der zeitgenössischen Repräsentationskunst und deren Funktion als Spiegel des Zweiten Kaiserreichs. Im Unterschied zur pittoresken, manchmal kolonialistisch gefärbten Manier der Orientalismen Camille Saint-Saëns', erweist sich Alkans Kolorit aus der Zeit um 1850 eher den rund zwanzig Jahre später komponierten Schroffheiten Mussorgskys verwandt. Hören Sie zur Demonstration die Takte Alkans flankiert von Ausschnitten aus Saint-Saëns' Fantasie Africa und Mussorgskys Bildern einer Ausstellung . Bsple. 7,8,9: Saint-Saëns, Africa, Fantasie f. Klavier u. Orchester Tutti u. Solo des arabischen Themas (Philippe Entremont; Orchestre du Capitole de Toulouse, Michel Plasson) Alkan, Concerto op. 39, 3.Satz (=Etüde op,39, 10) Costallat 117/II/1 -117/V/2(Abblenden) (Smith) Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung, Die Hütte der Baba Yaga, T. 1-30 (Vladimir Horowitz) Und doch trifft sich die Organisation des "Allegretto alla barbaresca" unter dem Zeichen der Verstörung mit einem Charakteristikum des Divertissements im Zweiten Kaiserreich: mit dem Tableau der atemlosen, das Ausschwingen der Bilder und Gedanken unterbindenden Zerstreuung als der Laune des hektischen Wechsels. Mehr noch: mit der Dramaturgie der politischen Bühne und ihres Hauptakteurs, Napoleons III. "Sprunghafte Ausfälle" und "überraschende Entschlüsselung gehören zur Staatsraison des second empire und waren für Napoleon III. kennzeichnend", vermerkt Walter Benjamin in seinen Baudelaire-Studien . Und Marx beschreibt schon den Präsidenten Louis Bonaparte als einen Mann, der "die Anarchie selbst im Namen der Ordnung erzeugt"; der wie in der Rolle eines "Taschenspielers" genötigt ist, "durch beständige Überraschung die Augen des Publikums auf sich...gerichtet zu halten, also jeden Tag einen Staatsstreich en miniature zu verrichten". Das Abrupte und Unvorhersehbare im Wesen des "Coup d'Etat", des Staatsstreichs, aber findet sein ästhetisches Pendant im pianistisch virtuosen "Coup de main", dem Handstreich im wahrsten Sinn des Wortes. So bereits zu Beginn des "Allegretto alla barbaresca", wenn ein Fortissimo-Zugriff D-Dur und Cis-Dur zusammenzwingt. Tektonisch äußert sich das Prinzip des Unvermittelten jedoch innerhalb eines Satzes, dessen harte Fügung verschiedenster Charaktere wie der kalkulierte Putsch eines "Coup des force" gegen das Postulat des Sinns wirkt. Sinn in diesem Fall verstanden als der nachvollziehbare Plan im Übergang von Affekten. Diese Radikalität des Rhapsodischen, von der das Reglement des Sonatenhauptsatzes zum Verschwinden gebracht wird, läßt den Vorwurf der Klitterung hinter sich. Insofern sich nämlich das Verfahren der Montage als das konstruiert Barbarische dieser "alla barbaresca" überschriebenen Komposition präsentiert. Wie gesagt: Alkans Musik nähert sich dem Kaleidoskop des Amüsements an, um es zu unterhöhlen und die Brüche freizulegen. Wer den Schlußsatz des "Concertos" wörtlich nimmt, verkennt seine Doppelbödigkeit: den Sprengsatz der Ironie inmitten der prätentiösen Schwergewichtigkeit dieses Finales. Bspl. 10: Alkan, Concerto op.39 , 3.Satz (=Etüde op39,10), Costallat 103/III/1 b.z. Ende (Smith) Prosa und ferner Klang Noch in der Wahl der Titel finden sich bei Alkan nicht selten Momente, die das Ideal des Poetischen aufrauhen: Schocks der Harmonik, asymmetrische Periodenstruktur, die Kombination extremer Register, Primitivismen hartnäckiger Wiederholung, das Montagehafte zahlreicher Passagen, Sequenzen des Trivialen. Schumann, der in der Neuen Zeitschrift für Musik zweimal auf Werke Alkans zu sprechen kam, hielt denn auch mit schroffer Ablehnung nicht zurück. Seine Vorwürfe in Richtung einer oberflächlichen, verworrenen, unnatürlichen und unwahren Kunst greifen Motive auf, die bereits seine Rezension der Berliozschen Symphonie fantastique bestimmt hatten. Und Berlioz' Name ist es auch, den Schumann in seine Alkan-Kritik einbringt. Die von Faszination wie von Abwehr gleichermaßen geleitete Analyse der Symphonie fantastique, von der aus sich das Alkan-Verdikt präzisiert, weist gerade das "Rohe und Bizarre" zurück, das Schumanns eigener Vorstellung vom "Poetischen" widersprach. Als "gequält, verzerrt", "platt und gemein" geahndete Harmonien erregen ebenso Anstoß wie die Irregularitäten der Periodik oder das Konzept des Programmatischen. Das Vordringen der Prosa des Wunderbaren, des zum Reich des Schönen und Erhabenen entgrenzten künstlerischen Imaginationsraums, zu beschneiden. Es sei in diesem Zusammenhang eine Stelle aus einem der seltenen Kammermusikwerke Alkans zitiert: aus der Sonate de Concert für Violoncello und Klavier , die 1857 bei Érard zur Uraufführung kam. Der Komponist selbst übernahm den Klavierpart, Cellist war Auguste Franchomme, der schon neun Jahre zuvor zusammen mit Chopin dessen Violoncellosonate aus der Taufe gehoben hatte. Dem dritten Satz seiner Komposition stellt Alkan Worte des Propheten Micha aus dem Alten Testament voran: "Wie Tau vom Herrn, wie Regen aufs Gras, der auf niemand harrt, noch auf Menschen wartet." Der Passus verweist nicht nur auf Alkans intensive religiöse Studien - zur Zeit der Entstehung der Sonate arbeitet der Komponist an einer Bibelübersetzung -, er verschlüsselt überdies dem Kontext nach Erwähltheit und Einsamkeit des Künstlers im sakral chiffrierten Naturbild. In diesem Adagio stößt ein mystisch gefärbter, gleichsam heiliger Klangbereich hart auf die Prosa einer profanen, fast trivialen Melodie. Sie vermittelt in ihrer herb lyrischen Stimmung etwas von jener arte povera, die dem Idiom des frühen Mahler zu eigen ist und schon am Ende des vorhergehenden Satzes zu vernehmen war. Bspl. 11: Alkan, Sonate de Concert op.47 (f. Violoncello u. Klavier), 2. Satz, T. 187-Ende (Interpreten: Yehuda Hanani/Edward Auer) Das Adagio nun gewinnt aus dem Kontrast zwischen der Sphäre der "musica coelestis" und der Niederung der irdischen Melodie einen inneren Monolog der Sehnsucht. In dessen gebrochenen Ton setzt sich ein Wundmal der Fremdheit in Klang um. Sensibilisiert zudem durch die jüdische Erfahrung von Ausgeschlossenheit und Heimatlosigkeit gewinnen diese Takte einen Ausdruck von Wehmut, der sie in die Nähe vergleichbarer Stellen bei Heine und Mahler rückt. Zwar verdichtet sich von der prosaisch unteren Region aus die Aura der himmlischen Musik zur Wunschfigur, doch wirkt der naive Tonfall dieser Takte sentimentalisch reflektiert: als "pseudonaïveté", wie es an einer anderen Stelle Alkans heißt. Was bleibt, wird zur Erinnerung an eine ferne Idylle. Bspl. 12: Alkan, Sonate de Concert op. 47 (f. Violoncello u. Klavier), 3. Satz, T. 16-41 (Hanani/Auer) Triebgrund Natur Die zwölfte der 1857 publizierten Etüden durch alle Molltonarten op. 39 betitelt Alkan mit Le Festin d'Ésope , "Äsops Festmahl". Die Etüde - eine der gelungensten Schöpfungen des Komponisten und einer der großen Variationszyklen französischer Klaviermusik -, offeriert ein Kompendium raffiniertester Pianistik. Die entwirft eine Bühne von 25 Abwandlungen des folgenden achttaktigen Originalthemas: Bspl. 13: Alkan, Le Festin d'Ésope ( = Etüde op.39,12) Lewenthal 2/I/1-2/II/4 (Michael Ponti) Die einzelnen Variationen in Anspielung auf Äsop, den Vater der antiken Fabelliteratur, als prägnante Tierporträts entschlüsseln zu wollen, wäre müßig und verfehlt. Was in Le Festin d'Ésope an das Gestaltungsprinzip der Fabel erinnert, ist in der Faktur der Variationen zu suchen. In ihrer charakteristischen Knappheit, im Esprit der Pointe oder in der verdichtenden Abbreviatur. Desgleichen wären tierhaft-animalische Spuren, gerade im Zusammenhang mit der geistreichen Komik des Stücks, subtil zu entschlüsseln. In Anlehnung an Freud etwa, dessen Überlegung zufolge ein Teil der "komischen Wirkung, welche Tiere auf uns äußern", von der "Wahrnehmung solcher Bewegungen an ihnen" herrührt, "die wir nicht nachahmen können". Bei Alkan erinnert daran das Undomestizierte, das dem von der achttaktigen Periode getragenen Sprachcharakter der Musik zuwiderläuft. So beispielsweise ein mit lauthaft schriller Harmonik eingefärbter, irregulär gestischer Tonfall, der sich mitunter in gehetzt rasende Läufe gleich panischen Fluchtbewegungen verwandelt. Bspl. 14: Alkan, Le Festin d'Ésope , Variationen XIII, XVII, XVIII (Ponti) Entscheidender aber ist in Alkans Zyklus der Kontrapunkt von Natur und Zivilisation, deren wechselseitiges Umschlagen und ihre gegenseitige Brechung. Klar wird dies anhand der dem Reigen der Verwandlung eingesprengten Zitate und Signale von Marsch, Fanfare oder, wie in Variation XXI, von Jagdmotiven. Bspl. 15: Alkan, Le Festin d'Ésope , Variation XXI (Ponti) Solche kulturalen Splitter verweisen, ebenso wie das bereits im Titel angedeutete Arrangement des Festes, auf den zivilisatorischen Bodensatz einer Musik, die den Kanon tonaler Syntax immer wieder vehement unterläuft. Die sich in ihrem oftmals geräuschhaften, fahrigen, wie aufgescheucht wirkenden und dem Laut angenäherten Duktus vom Ausdruck von Natur angleicht. Daß und auf welche Weise aber die Musik das zivilisatorische und naturale Sediment als Vexierspiel entfaltet, verdeutlichen die 23. und 24. Variation. Bspl. 16: Alkan, Le Festin d'Ésop , Variationen XXIII u. XXIV (Ponti) "Tempestoso", "stürmisch", steht über diesem Variationenpaar der verwischten Kontur. In ihm hebt sich mit der zerfließenden Erinnerung an die ursprüngliche Gestalt des Themas die starre Trennung von äußerer und innerer Natur auf. Im Schauer soll der Hörer seiner eigenen Natur bewußt werden. Das durchgängige Tremolo wird zum "tremor", der Außen und Innen verschränkt; sowohl die Gewalt eines Erdbebens wie die Betroffenheit des Erbebens bezeichnen kann. Ähnlich verschmelzen in Alkans Musik Sturm und innerer Aufruhr, schließlich Drohgebärde und Furcht, Schrecken und Erschrecken. Daß sich dieses Aufdecken des Triebgrunds zwischen die Gestaltungen einer Jagdszene und seiner triumphal akzentuierten Marschpartie einschiebt, verstärkt seine Bedeutung als Zivilisationschiffre. Der vom Virtuosen als einem Prospero von des Komponisten Gnaden entfachte Klangsturm legt das archaisch-anarchische Natursubstrat der Gesellschaft bloß. Gut zwanzig Jahre früher, wenngleich bei weitem zahmer, ließ ja schon der Sittenspiegel der hommes-bêtes-Karikaturen in Grandvilles Métamorphoses du jour die bürgerliche Konvention auf ihre animalische Basis hin durchlässig werden. Es war bereits vom Esprit des Komischen als einem der Affektstränge in Alkans Komposition die Rede. Was bewirkt aber im "Festin"-Szenarium diesen Radius der Heiterkeit und seine parodistischen oder satirischen Schattierungen? Nochmals sei Freuds Theorie des Witzes paraphrasiert. Die Art der Abweichung der einzelnen Variationen vom thematischen Grundmodell wird als Kontrastspanne zu der im inneren Ohr ständig präsenten, weil äußerst eingängigen thematischen Ausgangsgestalt mühelos vergleich- und erfaßbar. Alkan übernimmt die Rolle des hintersinnigen Rhapsoden, der die Aufmerksamkeit des Hörers spielerisch am roten Faden des beibehaltenen symmetrischen Themengerüsts entlanglaufen läßt. Von keiner Anstrengung getrübt schafft die Musik damit eine Grundbedingung für die Lust der Komik: die Befreiung vom Zwang angespannter Konzentration. Vor dieser Folie der Rezeption entfaltet Alkan seine skurril witzige Verfremdungstechnik; läßt er die Verwandlungen in abrupten Affektsprüngen Revue passieren, enttäuscht und überrascht er die vom Ausgangsmodell her genährte Erwartung ständig mit einem Feuerwerk der Metamorphosen und der "komischen Differenz". So setzt er unter Ersparnis angestrengter Hörarbeit die überschüssig gewordene Energie der Konzentration zur Abfuhr in den Emotionen "komischer Lust" frei. Eine geraffte Auswahl einzelner Variationen soll die geistreich witzige Methode dieser Travestie knapp und geschärft vor Ohren führen. Bspl. 17: Alkan, Le Festin d'Ésope , Thema und Variationen III,XIX,XXII (M.Ponti) Dieses Verfahren ändert sich in der Coda allerdings schlagartig. Schon zuvor durchsetzt die Musik neben der ironischen Nuance immer wieder ein Ton der Trauer, des "Lamento", auf den die Überschrift einer der Variationen anspielt. Er stellt die Kehrseite der dionysischen Ausgelassenheit vor und verbindet sich der Fesselung des Trieblebens der Töne durch das kulturale Sediment des Variationskorsetts; wie ja Natur selbst in Musik immer nur als zweite Natur imaginiert werden kann. Mit Beginn der Coda wandelt sich Alkans Methode also entscheidend, insofern hier die Arbeit motivischer Fortspinnung eingebracht wird. Indem dieses prozessuale Moment die Gefangenschaft im Maskenspiel der Variationen als einer ständigen Verwandlung des Gleichen sprengen will, ohne an ein Ziel der Befreiung zu gelangen, gewinnt die Musik einen verzweifelten Unterton. Bspl. 18: Alkan, Le Festin d'Ésope , Lewenthal 24/IV/4 -26/III/1 (Ponti) Es klingt, als wollte die Musik im Ausbruchsversuch aus der verhext in sich kreisenden Textur hin zur Wiedergewinnung der befreiten Themengestalt den Ton jenes Wörtchens "Mutabor" treffen, an das in Hauffs Märchen Kalif Storch die Entzauberung vom tierischen zum menschlichen Leib gebunden bleibt. Die Lust der Komik aber, die Alkans tönende Metamorphosen im Hörer erregen und die bei Hauff des Erlösungswort ins Vergessen sinken läßt, erstirbt auch am Ende der Variationenreihe. Als wäre durch diese Lust ähnlich wie im Märchen das magische Unterpfand zur ersehnten Rückverwandlung entschwunden. Das Thema, an das nach dem bis zum Fortefortissimo gesteigerten, dann ermattenden Versuch, dem Labyrinth des Motivzirkels zu entkommen, nur noch eine lakonisch dunkle Referenz erinnert, bleibt entstellt. Bspl. 19: Alkan, Le Festin d'Ésope , Lewenthal 26/III/2 b.z.Ende (Ponti) Nachdem Sie bis jetzt Ausschnitte aus Alkans "Ésope"-Variationen in der Interpretation Michael Pontis gehört haben, soll dieses Alkan-Porträt nun eine Wiedergabe der gesamten Etüde durch Ronald Smith beschließen. Die Widergabe einer Etüde, die zur Allegorie der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen der Entbindung gebrochener Natur und der Verflechtung dieser Entbindung mit immer auch der Fessel geschichtlicher Naturbeherrschung wird. So klagt am Ende die Komposition im dialektischen Changieren von Natur als Geschichte und von Geschichte als Natur deren Unerlöstheit ein. Unter diesem Aspekt aber verweigert Alkan dem Zyklus mit seinen dionysischen Schüben und den Spuren der Trauer als dem Eingedenken von Natur die falsche Versöhnung. Bspl. 20: Alkan, Le Festin d'Ésope (ganz) (Smith)
- Johannes Bauer, Paramusik. John Cages "Atlas Eclipticalis"
Paramusik John Cages Atlas Eclipticalis Ein Radio-Dialog (DRB, 2000) Musik: Atlas Eclipticalis in einer Version - für Orchester (The Orchestra of the S. E. M. Ensemble, Petr Kotik, 1992), - für Kammermusikensemble (Piccolo, Flöten, Bassklarinette, Kontrafagott, Posaune, Kontrabass; The Barton Workshop, 1992), - für solistische Besetzung (Flöte 1 bis 3; Eberhard Blum, 1992). Musikbeispiel 1: Atlas Eclipticalis (Beginn der Orchesterversion) A: Eine ungewöhnliche Musik. Zumindest eine ungewohnte. Ungewöhnlich wohl auch für ein Publikum, das mit Neuer Musik einigermaßen vertraut ist. B: Und dabei handelt es sich um eine Komposition, die bereits vor 40 Jahren entstanden ist. A: Ich frage mich nur, was den Eindruck des Ungewöhnlichen ausmacht. Rührt der Eindruck ausschließlich daher, dass die Musik äußerst kompromisslos sämtliche Orientierungsmöglichkeiten entzieht? B: Vielleicht helfen uns einige Informationen zur Komposition weiter. Cage hat die Musik von Atlas Eclipticalis 1961/62 komponiert. Und zwar zunächst für 86 Instrumentalstimmen. Cage wäre allerdings nicht Cage, wenn die flexibel gehaltene Besetzung nicht zahlreiche Variations- und Kombinationsmöglichkeiten erlaubte. Ich denke, es ist sinnvoll, wenn auch wir zur Demonstration auf verschiedene Versionen zurückgreifen: auf eine für Orchester, auf eine für Kammerensemble und auf eine solistische. Jeder Part von Atlas Eclipticalis ist in „space notation“ geschrieben. Folglich bedeuten die Abstände zwischen den einzelnen Klangaggregaten Zeitrelationen. Der vertikale Abstand entspricht der Tonhöhe. Die Lautstärke hängt von der Größe der Noten ab. Interessant ist zudem, dass Cage für die Komposition Sternkarten benutzt hat, eben den „Atlas Eclipticalis“, ein Verzeichnis sonnennaher Sterne. A: Wie in zahlreichen anderen Werken hat Cage also auch hier Sternpositionen auf Notenpapier übertragen. B: Genau. Er hat, wie er selbst sagt, „Zufallsoperationen benutzt“, um die „Position der Noten aus der Position von Sternen auf Sternkarten“ abzuleiten. A: Nun, Sternpositionen im Rahmen zufallsbestimmter Verfahren zu verwenden: verwunderlich ist das nicht. Ob Cage allerdings geahnt hat, welcher Rattenschwanz an Überlegungen sich damit für die europäische Erkenntnistradition verbindet? B: Sie meinen mit dem zivilisatorischen Leit- und Orientierungsmotiv des gestirnten Himmels? A: Ja und Nein. Natürlich steht die Bedeutung des gestirnten Himmels für regelhafte Ordnungen außer Frage. Im Zusammenhang mit Cage interessiert mich aber genau das Gegenteil: nämlich der Aspekt der Desorientierung. Seit der Renaissance leistet gerade das Universum der Sterne dem Entwurf eines mittelpunktslosen Alls Vorschub. Vor allem bei Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno. In der Formel des „omnia ubique“, des „alles ist überall“, drückt sich diese Dezentrierung am nachhaltigsten aus. Es gibt nicht mehr den einzigen, vor allen anderen ausgezeichneten erd- oder sonnenhaften Mittelpunkt. Solche monarchischen Modelle werden zunehmend republikanisch unterlaufen; durch Modelle, die den Mittelpunkt an jedem Ort und zu jeder Zeit propagieren und damit den Begriff des Mittelpunkts streng genommen aufheben. Kein Wunder, dass Hegel später in der anarchischen Streuung der Sterne den Zufall lauern sah, der sich dem Mittelpunkt verweigert. B: Für Hegel lag der Grund der „philosophischen Betrachtung“ ja schließlich auch darin, „das Zufällige zu entfernen“. Was Sie übrigens zur Entmächtigung des einzigen Mittelpunkts sagen, trifft sich genau mit Cages Plan einer „Vielzahl von Zentren“ in Atlas Eclipticalis . Wir werden darauf sicher noch eingehen. Im Augenblick interessiert mich noch Ihr Hegel-Verweis. Hegel bringt also Sterne und Zufall miteinander in Zusammenhang? A: Ja. Aber vielleicht sollten wir zunächst wieder der Musik zuhören, bevor wir Hegel nochmals das Wort geben. Musikbeispiel 2: Atlas Eclipticalis (Aus der Orchesterversion) A: Um nochmals kurz auf Hegel zurückzukommen. Wir werden gleich sehen, wie wichtig Hegel für unser Thema als Gegenposition ist. Eine Gegenposition schon deshalb, weil in ihm die tonangebende Tradition abendländischen Denkens gipfelt. Ich meine die Tradition der Hypotaxe. Das heißt eine Denktradition, die in erster Linie auf sinn- und zweckgerichteten kausalen Verkettungen basiert, auf der hierarchischen Über- und Unterordnung von Folgerungen und Schlüssen. Hypotaxe und Denken sind gewissermaßen identisch. Im Unterschied dazu, und etwas vereinfacht geredet, setzt die bis in die Moderne verfemte Gegentradition der Parataxe auf gleichberechtigte Bei- und Nebenordnungen. Parataxe: das heißt Offenheit für das, was nicht im möglichst widerspruchsfreien, logischen Korsett der Theorie aufgeht; Offenheit für das Zufällige, Beiläufige, Mittelpunktslose; für Streuung und - Konstellation. Und hier haben Sie schon im Wortstamm „stella“ eine verbale Anspielung auf die Sterne. B: Wie sehr die Parataxe die Wertung nach Zentrum und Peripherie aufhebt, hat ja Mallarmé 1897 in seinem Coup de dés unnachahmlich ins Bild gesetzt. In dieser außergewöhnlichen Gründungsurkunde der Moderne hat Mallarmé stellare Formationen zu einer Streuung der Sprache radikalisiert; im Namen des Zufalls und im Namen der Konstellation, des Sternbildhaften und des Siebengestirns. A: Und wie Mallarmé die Ablösung des alten Denkens zu Gunsten des neuen, parataktischen ins Bild setzt! Als ein typographisches Fanal, das den Satzspiegel sprengt, um die gestreuten Worte in der weißen Unendlichkeit der Buchseite sternenhaft aufblitzen zu lassen. Hegel dagegen spricht von der ‚unbestimmten Vielheit’ der Sterne noch unbeirrt als von einem ‚Licht-Ausschlag’. Man muss sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen: der Kosmos der Sterne eine Krätze des Firmaments. Für Hegel jedenfalls verweigert sich die Vielheit der Sterne dem „Streben (...) nach einem Ort als Mittelpunkt“. Anders als der Zentralismus des Sonnensystems sind die Sterne für den Philosophen des Geistes nichts weiter als ein „Licht-Ausschlag“ und, so Hegel, als dieser Ausschlag ebenso wenig „bewundernswürdig“ wie ein Ausschlag „am Menschen oder als die Menge von Fliegen“. Hegel weiter: „Die Sterne sind das Feld (...), worin das Zufällige“ - hier haben Sie den Zufall – „einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammenstellung hat“. B: Deutliche Worte vom Meister der Hypotaxe, die im Namen von Geist und Vernunft von oben her ansetzt. Klar wird, wieso umgekehrt die gleichberechtigten Elemente der Parataxe mit Natur kommunizieren: sie erweisen sich gegen die Vermittlungs- und Systemstrenge als weitaus sperriger. Konnte man bisher glauben, nicht Cage sondern Hegel sei das Thema unseres Gesprächs - ich denke, allmählich wird klar, dass wir ständig bei Cage waren. Zugespitzt kann man sagen, dass Cage alles stark macht, was Hegel abwertet: die Parataxe, die Streuung, die Dezentrierung, schließlich naturhafte Formationen und das, was landläufig als Zufall gilt. A: Vielleicht wird der Kontrast zwischen altem und neuem Denken schlagartig klar, wenn wir uns von der Abwertung der Parataxe her einmal die negative Besetzung der Vorsilbe „pará“ ansehen. Da ist insbesondere die Rede vom Paradoxen, vom Widersinnigen einer zugleich wahren und falschen Aussage; die die verbürgte Ordnung unerwartet und wie zufällig brüskiert. Insgesamt wäre zu sagen, dass der Katalog des „pará“ ein Feld der Störungen und Auflösungen verzeichnet. Ob im gestörten Realitätsbewusstsein der Paranoia oder in der Zersetzungsmacht der Paralyse. Selbst die Parallelen verlaufen noch ohne einen gemeinsamen Schnittpunkt in selbstvergessener Isolation neben einander her. B: Und nach dieser langen Geschichte der Abwertung - wie Sie sagen -, feiert erst die Kunst der Moderne die verfemten Pará-Aspekte als tragende Ausdrucksmittel, zumal im Bereich der Sprache. Und selbstverständlich greift auch Cage diese Mittel auf; ob als Störung oder Zerstörung des Satzbaus oder insgesamt als jenes Parrhesie genannte, nicht reglementierte Sprechen, das in der pulverisierten Sprache von Cages Empty Words eine ihrer Ausdrucksfacetten findet. A: Oder in den pulverisierten Tönen von Atlas Eclipticalis , dieser wahrhaft punktuellen Musik. Musikbeispiel 3: Atlas Eclipticalis (Beginn der Solo-Version für Flöte) A: Lassen Sie mich nochmals auf die Verwerfungsfigur der Silbe „pará“ zu sprechen kommen. Vielleicht könnte man sagen, so wie diese Silbe die Abweichung vom Hauptstrom der abendländischen Denktradition repräsentiert, so repräsentiert Cages Musik die Abweichung vom Hauptstrom der abendländischen Musik, das heißt von ihrem übermächtigen Werkbegriff: eine Musik entlang der Musik, eine Gegen-Musik, eine Paramusik eben. Übrigens bindet das Ideal der Vernunft wie zur Warnung Parataxe und Wahnsinn eng aneinander. Die vermeintliche Sicherheit von Gedächtnis und Identität: sie zerreißt in den Leerstellen gereihter Punktualität. Hier geht es um andere Kategorien als um die von Dichte und Intensität. Den Versuch, Sinnzusammenhänge herzustellen, lassen die losen Klänge von Atlas Eclipticalis gnadenlos ins Leere laufen. B: Und für diese Zumutung liefern die frühen Interpretationen der Komposition Belege genug. Die Tumulte während der Aufführungen von 1964 mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern dokumentieren eine Verstörung von Sinn-Normen und damit von Macht-Normen. Sobald das Korsett des Gewohnten gelockert wird, schlägt das autoritär trainierte Bewusstsein über die Stränge. Während mit Beginn des bürgerlichen Zeitalters der ästhetischen Zeit zunehmend die Aufgabe zufiel, für Momente von der Askese des Lebens zu erlösen, verweigert Cage seinerseits jegliche affektive Erlebniszeit. Vom Erfahrungsrecycling des wiederholbaren Werks aus geraten Cages Unwägbarkeiten zur narzisstischen Kränkung des Publikums. Denn erst der Zusammenhang von Ordnung und Ortung, von organisierter Struktur und richtiger Platzierung gewährleistet jene Erkennbarkeitsmuster, die zumindest Ansätze von Sicherheit garantieren. Orientierung: schon das Wort verweist auf ein Zentrum, auf den Ort des Sonnenaufgangs, darauf also, die Himmelsrichtungen nach der Sonne zu bestimmen. Und nun frage ich Sie: wäre eine Sonnenmusik bei Cage denkbar? Ich glaube kaum. Wohl aber eine der Sterne. Musikbeispiel 4: Atlas Eclipticalis (Aus der Solo-Version)(ca. 3´) A: Ihre himmelskundlichen Anspielungen bringen mich zu einem anderen Aspekt. Natürlich hat Cages Atlas Eclipticalis nichts mit Astronomie zu tun. Cages Musik ist keine Umsetzung der Theorien vom Urknall, von schwarzen Löchern, Quasaren oder von der Hintergrundstrahlung. Die Auswahl von Sternkonstellationen dient, wie erwähnt, zunächst als Medium: Sternpositionen werden auf Notenpapier übertragen. Dennoch stellt sich die Frage, ob und was diese Musik als gesellschaftliches Phänomen mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen zu tun hat, zum Beispiel mit der modernen Naturwissenschaft. Dazu gleich Folgendes: mir gehen beim Hören von Atlas Eclipticalis zwangsläufig Bezüge zur Chaos-Forschung durch den Kopf; speziell zum Motiv der „Selbstähnlichkeit“. Vielleicht ist Cages Musik eine Umsetzung der visuellen Selbstähnlichkeit in die akustische. B: Das geht mir nun doch etwas zu schnell. Ich weiß nicht, ob Sie mein Misstrauen allen Gutgläubigen gegenüber teilen, die meinen, mit dem Vokabular der modernen Naturwissenschaften den Geist der Neuen Musik destillieren zu können. Als ästhetische Beschreibungsinstanz taugt die Begrifflichkeit der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik oder der Chaosforschung doch lediglich zum kurzschlusshaften Verschmoren einzelner naturwissenschaftlicher und ästhetischer Stränge. Ohne Rücksicht gegenüber den spezifischen Erkenntnisebenen. A: Gleichwohl wäre es absurd zu bestreiten, dass es Gemeinsamkeiten im Ansatz bestimmter Erkenntnismodelle gibt. Sie haben natürlich Recht: diese Gemeinsamkeiten sind sensibel miteinander zu vermitteln. Müsste man ein Leitmotiv der modernen Naturwissenschaft angeben, so wäre es das vom Hinterfragen des Absoluten und von der Rehabilitierung des Zufälligen und Wahrscheinlichen. Dass Einsteins Relativitätstheorie Newtons absolute Zeit, die als die einzig wahre allen Ereignissen das Maß der Gleichzeitigkeit vorgibt, zu Gunsten verschiedener „Eigenzeiten“ außer Kraft setzt; dass die Quantenmechanik mit Wahrscheinlichkeitswerten arbeiten muss, die eine strenge Voraussagbarkeit unmöglich machen; dass die Chaosforschung ein Umdenken vormals umstandslos dem Zufall zugeschlagener Prozesse verlangt: all dies sind Gegebenheiten, die ihre ästhetischen Parallelen finden. B: Damit Sie mich nicht missverstehen: meine Skepsis richtet sich gegen den platten Austausch zweier Begrifflichkeiten, der ästhetischen und der naturwissenschaftlichen. Nicht aber gegen deren behutsame Vermittlung. Die drei von Ihnen erwähnten Aspekte leuchten ein, weil sie wechselseitige Übersetzungen zulassen. Auch im Universum von Atlas Eclipticalis bedeutet Gleichzeitigkeit nach Art einer ästhetischen Relativitätstheorie die Zeitgleichheit unterschiedlicher Eigenzeiten: die Eigenzeiten der jeweiligen Interpreten und Klänge nämlich. Auch im Universum von Atlas Eclipticalis entmächtigt – quantentheoretisch gedacht - die Nichtvoraussagbarkeit der Musik jegliches prophetische Hören. Allein schon weil keine Aufführung der anderen gleicht. Und was den Zufall anbelangt: er ist in der Auseinandersetzung mit Cage zweifellos das Reizthema schlechthin. A: Apropos Zufall: hier gibt es vielleicht die interessanteste naturwissenschaftliche Querverbindung. Und damit wäre ich wieder bei der Chaosforschung. Die Musik von Atlas Eclipticalis verführt regelrecht dazu, sie mit dem in Zusammenhang zu bringen, was in der Chaosforschung „seltsamer Attraktor“ heißt. Einem Grenzbegriff, der deutlich macht, dass so genannte chaotische Systeme alles andere als chaotisch im herkömmlichen Sinn sind. In Wahrheit veranschaulichen die Muster, die der „seltsame Attraktor“ im Phasenraum unberechenbarer Systeme hinterlässt, dass gewisse Strukturen immer wieder durchlaufen werden, ohne dass sich die Strukturen exakt gleichen. Die Ordnung im Chaos zeigt sich somit an der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ereignisse. Könnte das im Fall von Atlas Eclipticalis nicht dazu anregen, in einer langen Serie von Wiederholungen den seltsamen Attraktor dieser Musik und damit deren Gestalt besser zu verstehen; oder sagen wir ruhig: deren Struktur? B: Ich muss gestehen, dass ich mit Ihren Ausführungen momentan etwas Probleme habe. Lassen wir einmal den Gedanken beiseite, im Rahmen einer unendlichen Wiederholung von Atlas Eclipticalis könnten zwei Aufführungen miteinander identisch sein. Ihre Argumentation hat für mich den Beigeschmack, als sollte Cage partout auf Ordnung verpflichtet werden. A: Ich glaube nicht, dass es darum geht, Cage auf Ordnung zu verpflichten. Wohl aber darum, zu begreifen, dass der absolute Zufall undenkbar ist. Und genau in dieser Hinsicht ist einiges von der Chaosforschung zu lernen. Cages Atlas Eclipticalis ist keine Musik des absoluten, des „reinen“ Zufalls, wie Boulez dies generell bei Cage suggeriert hat. Sie ist weit eher eine des deterministischen Chaos: ein unvorhersagbares musikalische Ereignis zwar, das aber gleichwohl Bedingungen unterworfen ist. Und damit meine ich nicht die Bedingungen von Aufführung und Interpretation, sondern die Bedingungen, die Grenzen der Struktur selbst. Grenzen, die der Struktur etwa durch statistische Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeitsverhältnisse Kontur geben. Wahrscheinlichkeitsverhältnisse wie die der Streuung von Stille und Klang oder der Streuung vereinzelter oder sich überlagernder Klänge. Auch wenn dies auf den ersten Blick wenig zu sein scheint: es ist keineswegs gleich null. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, dass die überkommenen Ordnungsmuster nicht mehr greifen, ohne dass die Musik deshalb eine der totalen Sinnlosigkeit wäre. Musikbeispiel 5: Atlas Eclipticalis (Aus der Version für Kammerensemble) B: Gestatten Sie eine Frage. Sollten Ihre Überlegungen zur Struktur bei Cage bedeuten, dass Cages Musik eine Musik der Überdeterminierung ist? Einer Überdeterminierung vom Stand der ausformulierten und als wiederholbar notierten Werke aus? Schließlich hat die Binnenstruktur solcher Werke das Hörbewusstsein samt Hörfähigkeit jahrhundertelang geschult. Meinen Sie also, die Unberechenbarkeitsgrade des Notierten und Interpretierbaren seien bei Cage so hoch, dass selbst flexibelste ästhetische Erfassungstechniken hoffnungslos daran abprallen? Ist Cages Musik also nicht, wie oft behauptet wird, zu simpel, sondern zu komplex? A: Genau das meine ich. B: Mit dieser Ansicht dürften Sie allerdings nicht wenig provozieren; zumindest die vorherrschende geistzentrierte Ästhetik der Form und deren Wertekanon. A: Nun gut. Schon Spinoza hat ja den Zufall als einen Defekt, als eine Überforderung des menschlichen Erkenntnisvermögens charakterisiert. Zufall entsteht erst im Kopf des Erkenntnissubjekts. So wie umgekehrt und in Reaktion auf den Zufall während des Hörens von Atlas Eclipticalis oft genug der Versuch einer Sinngebung entsteht; im Kopf der Rezipienten und ohne dass es dafür irgend einen Anhaltspunkt in den Noten gäbe. Wie gesagt: die Betonung liegt auf „Sinngebung im Kopf der Rezipienten“. Von unserer kausalen Gewöhnung her kann der Zufall fraglos als eine Art Überdeterminierung verstanden werden, als eine Komplexität, für die der Filter der Kausalität zu grob ist. Aber lassen Sie mich nochmals das Thema der Selbstähnlichkeit aufgreifen, das in der neueren Mathematik eine so bedeutende Rolle spielt. Selbstähnlichkeit bedeutet ja, dass ein Gebilde, unabhängig vom Grad seiner Vergrößerung, sich selbst ähnlich bleibt. Eine Merkwürdigkeit, die in populärer Form unermüdlich an den Röschen des Blumenkohls demonstriert wird, auch wenn dieses Beispiel im Vergleich zur mathematisch unendlich wiederholbaren Selbstähnlichkeit etwas krud ist. Allerdings - und das ist im Hinblick auf Cage wichtig - bezieht die Chaosforschung in ihr Konzept der Selbstähnlichkeit auch Abweichungen zwischen Teil und Ganzem ein und spricht in diesem Fall von statistischer Selbstähnlichkeit. Meine These ist nun, dass die Musik von Atlas Eclipticalis dem Zustand der Selbstähnlichkeit exemplarisch nahe kommt, weil sie jedes sprachähnliche und dramaturgische Moment verweigert. B: Ich ahne, worauf Sie hinaus wollen. Demnach behielte auch Cages Atlas Eclipticalis , egal welches seiner Momente man herausgreift, immer die gleichen Struktur-Muster bei. A: Eine Form der ewigen Wiederholung beim Meister des Unwiederholbaren. B: Wobei das Entscheidende dieser entstrukturierten Struktur darin liegen könnte, dass die Punktualität von Atlas Eclipticalis streng genommen kein Vorher und Nachher, kein Früher und Später mehr kennt. Ob Cages Musik dadurch selbst zu einem blinden Spiegel wird, zu einer Musik, die einzig nur noch sich selbst bedeutet, sei dahingestellt. So wie dahingestellt sei, ob seine Musik, die die Verwechslung von Zeit und Ökonomie und die Melancholie im Bruch der Zeiten aufheben will, dies alles nur um den Preis einer Tilgung des Augenblicks einlösen kann. Musikbeispiel 6: Atlas Eclipticalis (Aus der Version für Kammerensemble) A: Übrigens hat es die Geometrie der Selbstähnlichkeit in einer Weise mit Formen der Natur zu tun, wie es sich die alte euklidische Geometrie nicht träumen lassen konnte und wollte. Und Cage? Auch seine Musik nähert sich Naturstrukturen in einem bisher unerhörten Maß. Wir haben dies ja vorhin angedeutet. B: Und in solchen Naturstrukturen liegt wohl auch unstreitig das Verbindende zwischen den Konstellationen des Sternenhimmels und denen von Atlas Eclipticalis. Ausdrücklich wendet sich Cage in seiner Rede an ein Orchester anlässlich einer Aufführung von Atlas Eclipticalis gegen expressive Tongebungen und ihre subjektive Klangverfügung. Cage plädiert für eine anti-expressive Klangentfaltung; und zwar so - Zitat Cage - „wie die Adern eines Blattes oder die sich kräuselnden Wellen eines Gewässers oder alle anderen Erscheinungen, die wir in der Natur beobachten können, Variabilitäten zeigen“. Und noch etwas: ohne alle Naturromantik heißt Natur bei Cage stets auch Widerstand gegen das Netzwerk einer gigantischen Organisations- und Berechnungskultur. Am Schluss derselben Rede heißt es deshalb geradezu beschwörend: „Wenn wir uns als Menschenwesen von dem Geschäft, uns auf Messungen zu verstehen, doch nur ein wenig weiter entfernen und ins Unbekannte vordringen könnten.“ A: Hier kommt übrigens klar zum Ausdruck, dass Cage seine Musik nicht als eine Art Rechenexempel versteht, als eine Art ästhetischer Mathematik, gar noch als eine mit dem Traum der Zeitunabhängigkeit. Während Cages Musik interpretiert wird, bewegen sich der psychologische, der historische und der thermodynamische Zeitpfeil rücksichtslos weiter. B: Sie bringen mich damit auf eine Idee. Gehen wir einmal davon aus, dass Cages Musik eine Musik der bis zum Äußersten gebrochenen Symmetrien ist. Was würde passieren, wenn eine Version von Atlas Eclipticalis rückwärts abgespielt würde? Hätte dies Auswirkungen auf die Struktur? A: Eine zugegeben eigenwillige Frage. B: Lassen Sie mich vor dem Experiment das Problem kurz im Kopf durchspielen. Ich denke, dass die Musik über Strecken relativ unempfindlich gegen ihre Umkehrung sein wird. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass sie vollkommen resistent dagegen ist. Allein schon der, wenn Sie so wollen, menschliche Faktor im Ansatz des Atems der Interpreten und seine Einbettung in die Zeit sowie die Einschwingvorgänge werden das unterbinden. Aber lassen wir die Spekulation. Machen wir einfach einen Versuch. Hören wir uns die folgende Sequenz einmal im originalen Verlauf an: Musikbeispiel 7a: Atlas Eclipticalis (Aus der Version für Kammerensemble: ab 29´36´´ bis 31´23´´)( 1´47´´) Und nun dieselbe Sequenz in zeitlicher Umkehrung: Musikbeispiel 7b: Atlas Eclipticalis (Beispiel 7a rückwärts abgespielt)(1´47´´) A: Interessant. Zumindest ebenso spannend wie verwirrend. Wenn man daran denkt, wie unglaublich widerspenstig etwa eine Beethoven-Symphonie gegen ihre Umkehrung in der Zeit ist. Was sicher vorrangig mit ihrem Sprachcharakter und der davon bestimmten Relation zwischen den Teilen und dem Ganzen zusammenhängt. Umkehrung ist der Tod einer jeden Sprache: sie wird unverständlich, sinnlos - gerade vor dem Hintergrund ihres Sinns. B: Demnach hat die Tatsache, dass Cages Musik streckenweise relativ unempfindlich gegen ihre Umkehrung ist, etwas mit ihrer Entsprachlichung zu tun. Nehmen wir an, dass die Tonalität Sprachstörungen ausfiltert - durch die allgemeinen Gesetze ihrer Grammatik, dann hebt Cage diese Filterfunktion endgültig auf. Und zwar so entschieden, dass er häufig die Grenzen zwischen Kunst und Empirie verwischt oder ignoriert. Seine pulverisierte Sprache, wenn man denn überhaupt noch von einer Sprache reden kann, lässt den Kitt der Bedeutung so porös werden, dass die Musik zeitweise eben sogar ihre Umkehrung verträgt. Unüberbrückbar ist der Abstand zu einer Musik, die im Sinne Newtons die Vorstellung von einer absoluten Zeit kultiviert, deren universelles Zeitmaß allen Ereignissen den Takt schlägt. A: Auch wenn wir zwischen einer Umkehrung der Zeit und einer Umkehrung in der Zeit unterscheiden müssen: dringt mit solcher Umkehrbarkeit auch ins ästhetische Bewusstsein, was Einstein für das Bewusstsein des Physikers behauptet? Dass nämlich die „Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“ hat? Hat der Richtungspfeil der Zeit womöglich etwas mit Statistik zu tun, mit Wahrscheinlichkeit. Einfach, weil bislang noch keine Ausnahme vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik beobachtet worden ist? Von jenem Satz, der das Gleichbleiben oder die Zunahme der Unordnung in geschlossenen Systemen ausweist? Sie erinnern sich an das viel zitierte Beispiel von der Tasse, die vom Tisch fällt, zerspringt, sich wieder aus den Scherben zusammensetzt und auf den Tisch zurückgekehrt. Auch wenn dies bislang niemals beobachtet wurde: von den Naturgesetzen her wäre ein solches Ereignis keinesfalls ausgeschlossen, könnten die Moleküle nur in jenen Zustand gebracht werden, der den umgekehrten Ablauf in Bewegung setzte. Oder reicht der Zeitpfeil doch bis in den Grund der elementarsten Teilchen? Fragen, die in der modernen Physik heftig umstritten sind. B: Zurück zu Cage. Ist Atlas Eclipticalis demnach eine Musik der Unordnung? Immerhin setzt auch Cage noch auf Schriftlichkeit, auf Notation, auf Anweisung. Jedes Klangaggregat in Atlas Eclipticalis zum Beispiel ist eine Zieleinheit im Kleinen, die innerhalb einer bestimmten Zeitvorgabe zu erreichen ist. Gleichwohl bedeutet das Aussetzen der wiederholbaren Form einen Kollaps des Verstehens. Fragt sich nur, welcher Art des Verstehens. Und was heißt überhaupt Sinn, und für wen? Wer entscheidet darüber, wer urteilt? A: Vielleicht hat unser Gespräch - trotz der offenen Fragen – wenigstens eines klar gemacht: dass das Klischee vom Zufalls- und Zenkomponisten Cage einige Korrekturen vertragen kann. B: Wäre da schließlich noch die Sache mit Cages „praktikabler Anarchie“. Bereits anlässlich der Musik von Atlas Eclipticalis hat Cage auf den „Vorteil“ einer „Vielzahl von Zentren“ hingewiesen; sei es von „Klängen“ oder von „Menschen“. Auf einen Vorteil insofern, als man „nicht die Notwendigkeit fühlt, andere zu beeinträchtigen“. Für Cage ist die Aufführung von Atlas Eclipticalis eine soziale Modellsituation mit „annähernd 100 Leuten“. Beispiel einer selbstbestimmten Praxis als Modell eines „besseren Lebens“. Ausdrücklich will Cage den Interpreten durch ‚Kontrollverzicht’ Gelegenheit geben, ein „Individuum eigenen Rechts“ in einer „trefflichen sozialen Situation“ zu sein. Und es geht Cage darum, in einer Welt der universalen Archivierung wenigstens ästhetisch auf Gedächtnisexerzitien zu verzichten: mit Klängen frei von Erinnerung, Ausdruck und Tradition. A: Und vielleicht ist der Ansatz Cages bei allem Vorbehalt gegen ästhetisch begründete Besserungsinitiativen ein Ansatz, den man einmal auch anders erzählen kann als mit Cages Universalfigur der „gegenseitigen Durchdringung und Nicht-Behinderung“. Etwa mit den Worten des Philosophen Odo Marquard. Für ihn sind die Menschen, wie er schreibt, „frei durch Freiheiten im Plural, die ihnen zufallen, indem die Determinanten, die determinierend auf sie einstürmen, durch Determinantengedrängel einander wechselseitig beim Determinieren behindern“. „Nicht die Nulldetermination – das Fehlen aller Determinanten - und nicht die Übermacht einer einzigen (...) Determinante macht den Menschen frei, sondern die Überfülle an Determinanten tut es“, also „die Freiheitswirkung der Überdetermination“. „Der Umstand, dass das Zufällige, das den Menschen zustößt, nicht ein einziger – ungeteilter – Zufall ist, sondern aus Zufällen im Plural besteht: dieser (...) Umstand macht es, dass (...) den Menschen ihr Zufall Freiheit zufällt“. Musikbeispiel 8: Atlas Eclipticalis (Ende der Orchesterversion)(ca. 4´) Musikbeispiele John Cage: Atlas Eclipticalis - für Orchester (The Orchestra of the S. E. M. Ensemble, Petr Kotik, 1992) Schott Wergo, 1993 / 286216-2/WER 6216-2 - für Kammerensemble (The Barton Workshop, 1992) ETCETERA Records, 1992 / KTC 3002 - für Flöte 1 bis 3 (Eberhard Blum, 1992) HAT HUT RECORDS LTD, 1992 / hat ART CD 6111 Beispiel 1: John Cage, Atlas Eclipticalis, Orchesterversion Schott Wergo, 1993 / 286216-2/WER 6216-2 Beispiel 2: John Cage, Atlas Eclipticalis, Orchesterversion Schott Wergo, 1993 / 286216-2/WER 6216-2 Beispiel 3: John Cage, Atlas Eclipticalis, Solo-Version HAT HUT RECORDS LTD, 1992 / hat ART CD 6111 Beispiel 4: John Cage, Atlas Eclipticalis, Solo-Version HAT HUT RECORDS LTD, 1992 / hat ART CD 6111 Beispiel 5: John Cage, Atlas Eclipticalis, Version für Kammerensemble ETCETERA Records, 1992 / KTC 3002 Beispiel 6: John Cage, Atlas Eclipticalis, Version für Kammerensemble ETCETERA Records, 1992 / KTC 3002 Beispiel 7a+b: John Cage, Atlas Eclipticalis, Version für Kammerensemble ETCETERA Records, 1992 / KTC 3002 Beispiel 8: John Cage, Atlas Eclipticalis, Orchesterversion Schott Wergo, 1993 / 286216-2/WER 6216-2
- Johannes Bauer, Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie
Rhetorik der Überschreitung Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie Musikwissenschaftliche Studien, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht, Bd 8, Centaurus-Verlagsgesellschaft, 230 Seiten, ISBN 3-89085-260-2 Beethovens symphonisches Chef d'oeuvre verliert sich im Traditionsschutt ideologischer Vereinnahmungen. Entgegen dieser Hypothek insistiert die vorliegende Monographie auf der Affinität der Komposition zum Reflexionsspektrum des deutschen Idealismus. Mit dem Nachweis, daß das musikalische Denken des Werks zentralen Ideen und Methoden der Philosophie Kants, Schillers, Fichtes und Hegels korrespondiert, thematisiert der Autor Beethovens Neunte Symphonie erstmals im Rahmen einer umfassenden Deutung ihrer Ausdrucks- und Sinncharaktere: durch eine am historischen Kontext orientierte Dechiffrierung der kompositorischen Rhetorik und ihrer programmatischen Leitbahn aus dem Geist der musikalischen Faktur. Ermöglicht doch dieses hermeneutische Regulativ die Präzisierung der Zeitdiagnose und des Humanitätsprinzips der Komposition. Somit ein Verständnis ihrer antagonistischen Signatur, ihrer Zentrierung um die Ästhetik des Tragischen und Erhabenen, der wechselseitigen Kohärenz der vier Satzstadien oder der Wirkung des idealistischen Sublimierungskanons auf das Konstruktionsgefüge. Zugleich schärfen sich der Analyse über die Differenz zwischen der imaginativen Logik der Tonsprache und der kausalen des Begriffs jene subversiven Kräfte der Musik, die die Legierung von Finalität und Ethos immer wieder aufrauhen. Sie entziehen das ideelle Movens des Werks von der Perfektibilität der Geschichte der Euphorie der Verbürgtheit und dem Ankunftstriumph und entrücken es mit der Diktion des Appells zur Fragilität und Offenheit eines Postulats. Gezeigt wird, wie die zerrüttenden und verstörenden Impulse gegen die Mnemonik des Formgesetzes, gegen das Integral des prozessualen Telos, gegen die Ökonomie des tonalen Systems und schließlich gegen den Schein ästhetischer Homogenität auf eine Erschütterung des Auditoriums zielen, indem sie die prosaische Wirklichkeit über ihre restaurative Epochensignatur hinaus artikulieren und zu transzendieren suchen. Daß aber gerade die Dynamik der dissonanten Strukturen Beethovens Intention trägt, das Publikum sympathetisch einer Dramaturgie der Emanzipation zu integrieren, versteht die Studie als Aura der Neunten Symphonie - als die Faszination eines heroischen Mementos der Zerrissenheit und der Hoffnung inmitten einer Gesellschaft gefesselter Alltäglichkeit. Johannes Bauer, Rhetorik der Überschreitung, Annotationen zu Beethovens Neunter Symphonie